Читать книгу KIGALI - Dantse Dantse - Страница 8

3. Kigali, Ruanda April 1994 Rückblick: Genozid in Ruanda – Trauma eines Kindes. Das 1. Martyrium von Kigali – Jessy ist 11 und heißt noch Kigali.

Оглавление

(Mit dem Genozid von Ruanda wird der Völkermord der von Frankreich und der UNO unterstützten Hutu an den Tutsi bezeichnet. Er begann am 6. April 1994 und dauerte bis Mitte Juli 1994 an. Innerhalb von nur 4 Monaten wurden fast 1.000.000 Menschen vor den Augen der UNO und mit Unterstützung aus Frankreich zum Teil bestialisch umgebracht).


Kigali war noch nicht eingeschlafen als sie hörte, wie ihre Eltern im Wohnzimmer nebendran fast flüsternd redeten. Seit Wochen lag ein komisches Gefühl in der Luft.

Die Nervosität ihres Vaters war nicht zu verbergen. Ihre Mama war seit Tagen sehr still geworden und es war auch komisch, dass alle Kinder, die normalerweise im Internat zur Schule gingen zurück nach Hause gekommen waren. Es waren aber noch gar keine Ferien.

Sie war immer sehr froh, wenn ihre älteren Geschwister nach Hause kamen, da sie dann noch mehr Spielkameraden hatte. In dieser Zeit unternahmen sie viel zusammen und sie konnte sie begleiten, wenn sie zu ihren Freunden gingen. Sie liebte es, mit im Auto zu sein, wenn der große Bruder mal in die Stadt fuhr, um etwas zu kaufen. Ja, wenn sie da waren, brauchte sie ihre Mama oder ihren Papa fast nicht mehr. Sie kamen in den verschiedenen Ferien immer zurück nach Hause.

Aber diesmal war alles anders. Es gab noch keine Ferien, aber trotzdem waren sie zu Hause. Es gab keine große Erklärung dafür und der Vater riet ihnen, vorsichtig zu sein und selten in die Stadt zu gehen, oder Freunde zu besuchen.

Die Stimmung war sehr bedrückt. Etwas war nicht in Ordnung. Der Vater ging zwar arbeiten, rief aber fast jede Stunde die Familie an und fragte, ob alles okay sei. Normalerweise kam er immer sehr spät nach Hause, aber in letzter Zeit war er nun immer schon sehr früh zu Hause und ging nicht mehr weg.

Ihre Mama ging nicht mehr arbeiten Sie behauptete Urlaub zu haben, aber Urlaub hatte sie schon vor wenigen Monaten genommen.

Kigali war das jüngste Kind der Familie und verstand nicht, was los war, aber sie ahnte schon länger, dass etwas nicht in Ordnung war.

Was sie diese Nacht hörte, konnte sie mit ihren elf Jahren gar nicht verstehen, aber es hörte sich nicht gut an. Sie konzentrierte sich noch viel mehr, um besser zu verstehen, was ihre Eltern da redeten.

„Was haben deine französischen Freunde gesagt?“, fragte ihre Mama den Vater.

„Freunde? Die Franzosen machen Politik, und ihr Freund bist du nur, wenn sie dich noch brauchen, um Profit zu machen. Du weißt nicht, wie sie Spezialisten darin sind, die Seiten zu wechseln, ohne Skrupel. Es ist komisch, ich kann viele gar nicht mehr erreichen. Ich versuche seit Tagen, Colonel Le Choux-Noir zu treffen ohne Erfolg, auf einmal.“

„Meinst du den Militär, mit dem du so oft unterwegs bist? Er hat keine Zeit mehr für dich?“, staunte ihre Mutter.

„Ja, genau der.“

„Das heißt, es ist vielleicht wahr, dass etwas vorbereitet wird? Alles, was wir vom Propaganda-Sender Radio-Télévision Libre des Milles Collines hören glauben die Menschen wirklich?“, fragte ihre Mama.

„Klar, etwas Schlimmes wird passieren. Wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen. Am Samstag fährt einen Freund Richtung Grenze zum Kongo (ehemaliges Zaire). Er wird dich und die Kinder mitnehmen. Ich bleibe allein hier und komme nach. Du erzählst den Kindern, dass ihr einen kleinen Urlaub macht und Onkel Rama in Cyangugu besucht. Das liegt direkt an der Grenze zum Kongo, etwa 200 Kilometer südöstlich von hier, so werdet ihr unerkannt bleiben. Falls es schlimmer wird, werde ich euch dort treffen und wir werden schnell nach Bukavu im Kongo flüchten. Dort habe ich sehr gute Kontakte. Auf jeden Fall ist es dort sicherer als hier in Kigali. Wenn nach einem Monat alles weiter ruhig ist, dann kommt ihr zurück“, sagte ihr Vater zu ihrer Mama.

Kigalis Mutter sah sehr traurig und unglücklich aus.

„Machen sie dir immer noch Druck? Fordern sie weiter von dir, dass du dich von mir, bzw. von uns trennen musst?“, fragte sie.

Ihr Mann strich über seine Nasenspitze und schaut auf den Boden, ohne eine Antwort auf diese Frage zu geben. Seine gefühlvolle Frau wusste genau was das bedeutete, insistierte nicht weiter und stellte eine andere Frage.

„Aber die UNO ist doch da. Ich glaube nicht, dass wir Angst haben müssen. Die Blauhelme werden nicht zulassen, dass es hier einen Bürgerkrieg gibt, sie sind doch da, um Frieden zu bringen, Menschen zu schützen.“

„Ja, wenn es nur um einen Bürgerkrieg gehen würde, wäre ich noch gelassener. Was sich da vorbereitet, könnte die Geschichte Ruandas verändern. Es ist viel schlimmer. Es wird von ethnischen Säuberungen gesprochen. Ja, vor zwei Wochen erfuhr ich von einer Gruppe von Offizieren, dass die Tutsi Rebellen bald alle Hutu in ihrem Gebiet umbringen werden. Deswegen müssen die Hutu schneller reagieren und den Tutsi zuvorkommen und sie zuerst töten. Diese Information gab ich Colonel Le Choux-Noir, unserem französischen Freund. Und was sagte er mir? Lapidar meinte er, dass das doch jeder wisse und dass ein Hutu oder Tutsi mehr oder ein weniger Frankreich nicht schade. Weiter meinte er, ich sei doch ein Hutu, wovor hätte ich Sorge und Angst? Frankreich steht an eurer Seite und unterstützt euch finanziell, logistisch und mit Waffen‘, erklärte er lachend.“

„Baba, ich bin überzeugt, dass die UNO der Bevölkerung helfen wird.“

„Ha Reh, vergiss es. Ich bin mir sicher, dass sie nichts machen werden. Was haben sie getan, seitdem sie die Gerüchte hören? Seitdem die Medien und manche Politiker und Militärs ganz offiziell Hass und Mord predigen? Nichts. Es wird nichts getan. Kein Druck kommt aus Frankreich, Belgien, Amerika und so. Im Gegenteil, sie machen ihre Ohren zu und bald werden sie auch ihre Augen verschließen, um nicht sehen zu müssen, wie das Blut vor ihren Augen vergossen wird. Sie werden dann nach der Katastrophe kommen und die Helfer spielen. Die Guten, die den Armen helfen wollen. Deswegen lassen sie die Armut oder den Krieg entstehen, bevor sie handeln. So profitieren sie noch mehr von ihrer Hilfe und nehmen noch mehr Einfluss auf uns. Es ist offensichtlich, dass sich ein Massaker anbahnt. Ein Völkermord steht bevor und alle Botschaften der westlichen Länder wissen es, und vielleicht erwarten sie ihn oder wünschen ihn sogar? Ich habe viele geheime Informationen weitergegeben. Warum machen sie denn nichts? Nein, ich muss euch in Sicherheit bringen, bevor es explodiert. Das ist eine Sache von nur noch wenigen Wochen.“


Kigali hatte alles mitgehört und hatte nun verstanden. Sie ging ins Zimmer und wiederholte das Gespräch in ihrem Kopf, dabei schlief sie ein, und als sie aufwachte war es schon 9 Uhr. Sie blieb im Bett und dachte über das Gespräch nach, als ihre Mama ins Zimmer kam.

„Kigali, du bist noch im Bett, steh auf!“

„Mama, ich habe Kopfschmerzen“, log sie. „Mama, ist es wahr, dass es Krieg zwischen den Tutsi und den Hutu in Kigali geben wird? Wird Papa sich von dir trennen müssen?“, fragte sie.

Die Mama war sichtlich überrascht. Sie hatte nicht erwartet, dass das kleine Mädchen so eine Frage stellen würde.


In Ruanda gibt es zwei große Stämmen, die seit je immer Probleme miteinander hatten, aber irgendwie auch miteinander leben konnten: Es handelt sich um die Hutu, sie sind die Mehrheit, und die Tutsi.

Kigalis Mama war eine Tutsi und ihr Vater ein Hutu.

Seit einigen Monaten propagierten manche Extremisten die Idee einer ethnischen Säuberung und deswegen sollten alle Hutu sich von Tutsi-Partnern trennen, sonst würden sie als Verräter gelten. Diese Leute wollten auch, dass Baba, wie man ihn nannte, sich von Reh trennte. Was er selbstverständlich ablehnte.


Reh versuchte, schnell wieder eine entspannte Ausstrahlung zu haben, und lächelnd sagte sie zu ihrer Tochter: „Ach, meine Tochter, wo hast du den Blödsinn her? Nichts wird passieren in einem Land, wo es Blauhelme gibt. Da wo die UNO ist, ist die Welt vor Ort. Die Welt wird nicht zulassen, dass so etwas passiert. Steh auf. Wir müssen zu Farima fahren. Hast du das vergessen?“

Kigali war trotzdem nicht beruhigt, stellte aber keine weiteren Fragen mehr. Sie hatte keine Lust, irgendwo ohne ihre Familie zu sein, aber gestern hatte sie sich mit Farima, der Tochter einer befreundeten Familie, verabredet. Sie wollten den ganzen Vormittag zusammen verbringen.

„Mama, ruf sie bitte an und sag, dass ich krank bin. Ich will zu Hause bleiben. Bitte Mama“, bat sie.

„Okay, das tue ich, mein Schatz“, antwortete Mama und ging hinaus.

Den ganzen Tag beruhigte sie sich mit der Anwesenheit der Blauhelme vor Ort, aber die Nachrichten, die sei mitbekam waren sehr beunruhigend. Berichte von Menschenrechtsorganisationen, wie Human Rights Watch, legte schon Anfang 1994 offen, dass neben Macheten, die an die Bevölkerung verteilt worden waren, Kriegswaffenlieferungen in erheblichem Umfang nach Ruanda gingen. Die Geheimdienste der Weltmächten müssen doch informiert sein und ganz sicher tun sie etwas dagegen, überzeugte sie sich selbst.

Dieser Tag, Mittwoch der 6 April 1994, verlief ansonsten ruhig. Im Rundfunk war zu hören, dass der Präsident des Landes in Daressalam war und am Abend zurück nach Kigali flog. Deswegen warteten sie mit dem Abendessen nicht auf Baba, der ein Offizier der Armee war. Er musste bei solchen Gelegenheiten, wenn der Präsident nach Hause zurück kam oder ins Ausland flog, immer in Bereitschaft sein.

Sie waren fertig mit dem Essen und schauten ein Video von Rambo, als Baba vollgeschwitzt und außer Atem ins Wohnzimmer platzte.

„Schnell, schnell, packt eure Sache, sofort!“, schrie er sehr aufgeregt.

„Was ist los Baba?“, fragte Reh.

„Ich sage es dir unterwegs. Macht schnell. Wir haben keine Zeit. Nur paar Kleidungsstücke und wichtige Sachen. Ich muss euch sofort in Sicherheit bringen.“

„Was ist los Papa?“, fragte der älteste Sohn Paul, der 18 war.

„Frag nicht so blöd. Mach, was ich dir sage. Wir müssen sofort weg hier. Habt ihr keine Nachrichten gehört?“

Der Sohn machte das Radio an und suchte den Sender RFI, einen französischen Sender für Afrika. Er hörte kurz zu und schrie laut auf.

„Schnell, weg hier. Ein Attentat auf den Präsidenten. Präsident Habyarimana ist tot. Sein Flugzeug wurde bei der Landung abgeschossen und die Hutu machen die Tutsi dafür verantwortlich“, sagte der Vater.

Nach 15 Minuten waren alle Kinder – Kigali (11), Bernard (13), Mireille (15) und Paul im Auto und warteten auf ihre Eltern.

Die Eltern blieben noch 15 Minuten im Haus. Als die Kinder draußen waren, hatten sie sich in die Augen geschaut und Lust bekommen, noch einmal miteinander zu schlafen, als ob sie etwas Schreckliches ahnten. Als ob sie wussten, dass sie so etwas Schönes und Inniges nicht mehr haben würden. Es war wie ein unbewusster Liebesabschied. Dieses Mal war der Sex anders. Er war sehr schön und schmerzhaft. Zum ersten Mal, seitdem sie zusammen waren, erreichten sie gleichzeitig den Höhenpunkt. Dabei weinten sie, wie kleine Kinder. Sie standen beide auf und nahmen sich nackt in die Arme und drückten sich so fest, dass, sie kaum noch atmen konnten.

„Ich liebe dich, Baba, und werde dich immer lieben, verstehst du?“, sagte Reh.

Baba hielt sie weiter fest und sagte nichts dazu.

„Warum sagst du nichts, Baba, warum sagst du nicht, Reh, habe keine Angst, alles wird gut? Warum versuchst du nicht, mich zu beruhigen?“

„Ich liebe dich über alles, Reh“, sagte Baba. „Alles wird gut, mein Schatz. Bleib ruhig“, hörte er sich ohne Überzeugung sagen.

„Ist das wahr, Baba? Ich kann wirklich ruhig bleiben? Kommen wir jemals zurück in dieses Haus, mein Tarzan? Kannst du es mir versprechen?“


5 Minuten später waren sie auch im Auto und fuhren los. Reh drehte sich um, sah das schöne Haus und sagte entschieden und laut, dass es alle hören konnten: „Haus ich wünsche mir, dass wir wieder zurückkommen. Du bist unser Zuhause und nirgendwo anders.“

Vielleicht hätte sie niemals diesen Wunsch äußern sollen?

„Passt auf, was du dir wünschst, Reh. Es könnte wahr werden und in unserer Situation wäre es kein gutes Zeichen“, sagte Baba.

„Werden wir gezielt gesucht?“, fragte Bernard.

„Sie haben eine Liste. Ja, sie haben eine Liste und sind dabei, von Haus zu Haus zu gehen und Menschen wie mich, die abgelehnt haben sich von ihren Tutsi-Ehefrauen zu trennen, umzubringen“, antwortete Baba.

„Und die UNO, die UNO, was macht sie denn? Warum lässt sie morden? Warum lässt Amerika es zu? Warum lässt Frankreich es zu? Warum?“, fragte Reh weinend, als sie nun langsam wie ihr Mann erkannte, dass die UNO doch keinen Schutz bot und vielleicht sogar Teil des Problem war.

„Mama, ich habe dir schon immer gesagt, auf Frankreich können wir Afrikaner nicht zählen. So schlimm ist es auch noch nicht, Mama. Schau mal, die Straßen sind noch ganz ruhig. Man hört nichts. Vielleicht ist es morgen schon wieder vorbei“, versuchte der älteste Sohn seine Mama zu beruhigen.


Nach 20 Minuten Fahrt erreichten sie einen Treffpunkt, an dem jemand mit einem anderen Auto auf sie wartete. Sie wechselten das Auto und stiegen in das Taxi, das sie in ein Geheimversteck außerhalb der Hauptstadt Kigali führen sollte. Der Fahrer war ein vertrauter Babas: Er war sein Dienstfahrer André.

„Ici la centrale, l´opération Nettoyage est en cour. Ou êtes-vous?“ (Hier die Einsatzzentrale. Die Operation „Säuberung“ ist im Gang. Wo sind Sie?“) rauschte es aus seinem Walkie-Talkie.

Baba hatte keine Zeit mehr. Er musste nun sehr schnell wieder weg.

„Ihr werdet heute Nacht in diesem Versteck schlafen. Morgen, sobald sich die Gelegenheit ergibt, wird André euch zu der Grenzstadt fahren. Ich komme nach.“

Baba wusste nicht, dass er sich gerade für immer von seiner Familie verabschiedet hatte und sie das letzte Mal lebendig gesehen hatte. Er konnte nicht ahnen, was am nächsten Tag in seinem Haus passiert würde. Er konnte sich ganz sicher zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, mit welcher unvorstellbaren Grausamkeit seine Familie umgebracht würde. Er konnte nicht ahnen, dass ausgerechnet ein Vertrauter, einer der jeden Tag mit der Familie zusammen war, viel mit ihr gemacht hatte, der wie ein Sohn der Familie war, die Kinder miterzogen hatte, der Anführer der Menschen war, die dieses Verbrechen begehen würden. Er wusste auch nicht, dass er selbst nur noch weniger als 48 Stunden zu leben hatte.

KIGALI

Подняться наверх