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Vorwort zur deutschen Ausgabe
ОглавлениеWer über Kultur schreiben will, muss über eine Kultur schreiben.
Kultur existiert nicht abstrakt. Kultur existiert nur in bestimmten historischen und sozialen Formen.
In How to Be Gay bin ich angetreten, über schwule Kultur zu schreiben. Ich habe nicht versucht, sie als Ganzes zu thematisieren. Ich gab mich damit zufrieden, einige ihrer charakteristischen Aspekte herauszustellen. Mein Hauptanliegen bestand darin, die Unterschiede zwischen schwuler Kultur und der Kultur zu beschreiben, die sie umgibt, mit anderen Worten: der heterosexuellen Kultur (auch wenn diese Kultur es vorzieht, sich nicht als heterosexuell zu identifizieren). Selbst für dieses begrenzte Anliegen musste ich über eine schwule Kultur schreiben. Es wäre sinnlos gewesen, mit Verallgemeinerungen zu arbeiten, mit Klischees, mit Stereotypen. Ich habe keine Angst vor Klischees und Stereotypen; tatsächlich habe ich einige von ihnen sogar übernommen. Aber es ist wichtig offenzulegen, woher diese Stereotype stammen. Um das herauszufinden, muss man konkrete Phänomene betrachten, es kommt auf die Details an. Der einzige Weg, eine Kultur zu verstehen, besteht darin, einzelne ihrer Bestandteile sehr nah und ausführlich zu untersuchen: Texte, Bilder, Ausdrucksweisen, Praktiken. Dort sind aussagekräftige Zeugnisse zu finden, und nur ausgehend von solchen Zeugnissen ist es möglich, sich versuchsweise und spekulativ größeren Verallgemeinerungen zu nähern.
Da ich Amerikaner bin, in den USA aufgewachsen bin und dort unterrichtet habe, da ich auf Englisch schreibe, habe ich viele meiner Beispiele schwuler Kultur der schwulen amerikanischen Kultur entnommen. Nicht alle Beispiele, aber viele. Die Übersetzung meiner Arbeit in die deutsche Sprache bringt daher einige Schwierigkeiten mit sich.
Ein Großteil der 550-seitigen Originalausgabe ist der genauen Analyse einer einzigen Szene eines Hollywoodfilms gewidmet: des Films Mildred Pierce aus dem Jahr 1945, für den Joan Crawford mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Die schwule Rezeption dieses Films interessierte mich aus drei Gründen. Zum einen ist die Verehrung des schwulen Publikums für Joan Crawford und diesen Film im Besonderen umfangreich dokumentiert. Ich bin nicht der Einzige, dem das aufgefallen ist, und ich habe es mir nicht ausgedacht. Zweitens ist der Film recht alt und die Verehrung der Schwulen zwar noch nicht obsolet, jedoch ein Phänomen vergangener Zeiten. Aus Gründen der Objektivität hat es gewisse Vorteile für einen Forscher, das Werk einer fremden und nicht der eigenen Kultur zu untersuchen. (Ich sollte das wissen: Der Großteil meiner Studien bezog sich auf das antike Griechenland.) Indem ich über diese Diven-Verehrung schrieb, habe ich nicht über meine eigene schwule Kultur geschrieben (ich bin sehr alt, aber noch nicht so alt); ebenso wenig habe ich meine persönlichen Gefühle für Joan Crawford auf andere schwule Männer projiziert – im Gegenteil, ich habe herauszufinden versucht, ob ich, der einer späteren Generation angehört, meine eigenen Wahrnehmungsweisen so kalibrieren konnte, um jene queeren Frequenzen zu empfangen, auf denen dieser Film anscheinend die Schwulen einer früheren Zeit erreicht hat. Drittens bestand meine Methode, die Besonderheit der schwulen Kultur herauszuarbeiten, darin, mir anzuschauen, wie schwule Männer auf bestimmte Werke der heterosexuellen Mainstreamkultur reagierten – also nicht die Werke einer schwulen Kultur zu analysieren, die von schwulen Männern explizit zu schwulen Themen geschaffen wurden, sondern nach Formen schwuler Aneignung und Wiederverwendungen von Werken der heterosexuellen Kultur zu suchen, mir anzuschauen, wie sich die Reaktion schwuler Männer auf diese Werke von der des heterosexuellen Publikums unterschied. Ich glaubte, wenn es mir gelang, diese Unterscheide genau zu identifizieren, mit einiger Präzision die Besonderheiten der schwulen Kultur benennen zu können. Dementsprechend versuchte ich zu zeigen, wie schwule Männer die kulturellen Codes, die diesen heterosexuellen Werken bereits anhafteten, aufhoben und sie für schwule Zwecke neu codierten. Und dann versuchte ich zu erklären, weshalb schwule Männer so etwas tun.
Für das deutsche Publikum dieses Buches besteht das Problem, dass Mildred Pierce in Deutschland weder sehr bekannt noch leicht zugänglich ist, und dasselbe gilt für viele andere Kunstwerke, die ich in meinem Buch diskutiere, wie zum Beispiel Broadway Musicals oder Popsongs. (Marlene Dietrich wird nur beiläufig erwähnt.) Einige der Schlüsselbegriffe und Kategorien sind nicht in der deutschen Kultur beheimatet, wie zum Beispiel Camp, trade oder queer (in der doppelten Bedeutung von schwul und abnorm oder abweichend). Französische und spanische Übersetzungen haben versucht, mit diesen Problemen so gut wie möglich fertigzuwerden: für eine detaillierte Beschreibung dieser Übertragungsprobleme verweise ich auf das Vorwort zur französischen Ausgabe, L’art d’être gai, übersetzt von Marie Ymonet (Paris 2015:11-26). Bei der italienischen Ausgabe handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Für die deutsche Ausgabe wurde entschieden, nur die abschließende Zusammenfassung zu veröffentlichen, die eine eigenständige, in sich abgeschlossene Argumentation darstellt, jedoch auf der ausführlichen vorangegangenen Analyse aufbaut. Leser*innen, die tiefer in die Details eindringen wollen, bleiben auf das englischsprachige Original verwiesen.
Was hat Sexualität mit Kultur zu tun? Das ist die grundlegende Frage, der ich nachgehen wollte. Wie sind die kulturellen Vorlieben schwuler Männer zu erklären? Und warum mögen schwule Männer bestimmte kulturelle Formen, Objekte oder Ikonen, die heterosexuelle Menschen nicht annähernd so sehr oder auf dieselbe Weise mögen? Diese Frage bezieht sich nicht allein auf die Vergangenheit. Es ist noch immer wichtig zu fragen, warum Schwule auch jetzt, heutzutage, einige spezifische Verhaltensmuster im Umgang mit Kultur zeigen, die nicht identisch mit denen der Heterosexuellen sind.
Ich stelle diese Fragen nicht, weil ich der zeitgenössischen, explizit mit schwulen Themen befassten Kultur feindlich gegenüberstünde, einer Kultur, die von Schwulen handelt oder Erfahrungen des schwulen Lebens direkt anspricht.
Das Gegenteil ist der Fall: Ich bin ein großer Fan zeitgenössischen schwulen Schreibens. Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, Romane oder Filme über schwule Männer und schwules Leben lesen bzw. anschauen zu können. Doch ich merkte, wie schwer es war, die künstlerischen Errungenschaften der gegenwärtigen schwulen Kultur meinen zwanzigjährigen Student*innen zu vermitteln. Diese Student*innen, von denen viele schwul waren, waren nicht uninteressiert an zeitgenössischen Romanen, Gedichten, Theaterstücken und Filmen von und über schwule Männer, aber ihnen lag weit mehr an nicht-schwulen kulturellen Formen, die dennoch für sie eine schwule Bedeutung hatten: zum Beispiel Fernsehserien über verrückte Frauen und deren zickigen Umgang mit ihren männlichen Liebhabern. Ich wollte verstehen, wie sich die Tatsache erklären ließ, dass die Entstehung einer lebendigen, unverblümten, expliziten, unzensierten und kompromisslosen schwulen Kultur den Reiz, den nicht-schwule Werke auf schwule Männer ausüben, nicht zerstören konnte. Und ich wollte wissen, was eine Erklärung dieses Sachverhalts zum Verständnis des schwulen Lebens und der schwulen Identität heutzutage beizutragen hat.
In dem gekürzten Buch, das Sie lesen werden, argumentiere ich, dass die Zunahme schwuler Rechte nicht gleichbedeutend ist mit dem Ende der heterosexuellen Kultur. Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass die Formen schwuler Kultur, die ich beschreibe, in absehbarer Zeit verschwinden werden. Unter der Voraussetzung des Fortbestands einer dominierenden heterosexuellen Kultur (nicht notwendigerweise einer dominierenden heterosexuellen Sexualität, sondern von Heterosexualität als Kultur) ist der Fortbestand der schwulen Kultur meiner Ansicht nach eine gute Sache. Aber ich kann verstehen, dass dieser Fortbestand für diejenigen ein Ärgernis ist, die glauben, dass wir an der Schwelle zur totalen Integration schwuler Menschen in die heterosexuelle Gesellschaft stehen, denn der Fortbestand der schwulen Kultur ist ein Zeichen dafür, dass Sexualität für die soziale Konstitution moderner Subjektivität noch immer eine große Rolle spielt. Und dafür, dass Schwule nicht verschwinden werden.
Zugleich glaube ich nicht, dass es eine, und nur eine schwule Kultur gibt, dass alle schwulen Männer ihr angehören oder folgen sollten, und dass es nur eine einzige Art gibt, ein schwules Leben zu führen. Ich glaube, dass die Ehe eine heterosexuelle Lebensform ist, die sich mit schwulen Lebensweisen nicht vereinbaren lässt, und ich kann mir nicht vorstellen, selbst zu heiraten. Aber ich erwarte nicht, dass alle so leben wie ich: Ich versuche nicht dafür einzutreten, dass Schwule nicht heiraten sollten, und kritisiere keine Schwulen, die heiraten möchten. Aber ich habe auch die Nase voll davon, dass andere Schwule mir sagen, dass ich heiraten sollte und dass es mir besser ginge, wenn ich so lebte wie sie.
Woran dieses Buch Kritik übt, ist nicht die Homo-Ehe, sondern das Eintreten für eine Ethik der Ehe als – in beliebiger Reihenfolge – (1) der richtigen Art zu leben; (2) Form von Tugendhaftigkeit; (3) Grund, sich Unverheirateten überlegen zu fühlen; (4) Symbol schwuler Normalität; (5) Zeichen dafür, dass Schwule genauso sind wie Heterosexuelle; (6) Beweis für soziale Assimilation und Integration von Schwulen; (7) den Beweis, dass Schwule keine eigene Kultur besitzen; (8) eine Proklamation von Monogamie; (9) Mittel, andere Formen des Eintretens für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit und gegen Diskriminierung, Homophobie etc. zurückzuweisen oder gering zu achten. Kurzum, ich bin gegen die Homo-Ehe als Beweis dafür, dass die schwule Kultur tot ist, veraltet, sinnlos, rückwärtsgewandt und politisch verwerflich. Ich bin gegen die Homo-Ehe als symbolischen Weg, den Tod der schwulen Kultur zum Ausdruck zu bringen oder gar als Versuch, diesen Tod herbeizuführen.
Schwule Kultur, so wie ich sie zu verstehen gelernt habe, ist die instinktive Antwort und der radikale Widerstand gegen Formen sozialer Ungleichheit, die die meisten von uns lieber ignorieren. Unsere Gesellschaft ist natürlich nach Hierarchien der Klassenzugehörigkeit organisiert, verstärkt durch Hierarchien der Geschmacksurteile. Schwule Kultur versucht, einige dieser Hierarchien zu unterlaufen. Doch diese Hierarchien sind nicht das einzige Organisationsprinzip; daneben gelten mächtige, implizite, weitgehend unausgesprochene, aber dennoch sehr effektive Hierarchien sozialer und ästhetischer Werte: Abstufungen von Ernsthaftigkeit und Unernsthaftigkeit, Authentizität und Unauthentizität, Natürlichkeit und Unnatürlichkeit, Wesen und Erscheinung. Diese Hierarchien entsprechen wiederum Hierarchien von Geschlecht, Männlichkeit und Weiblichkeit.
Die meisten fortschrittlichen Gesellschaften weisen explizit jede automatische Verknüpfung von Männlichkeit mit Ernsthaftigkeit oder Weiblichkeit mit Leichtfertigkeit zurück. Wenn man sie fragt, ob sie Männer für ernsthafter halten als Frauen, werden die meisten Menschen Nein sagen, zumindest in den Teilen der Gesellschaft, die sich selbst für aufgeklärt (d.h. ernsthaft) halten. Aber auch wenn diese Hierarchien von Rang und Geschlecht lächerlich wirken, wenn man sie als Behauptung oder Idee formuliert, sind sie dennoch mächtig, wenn sie ihre Wirkung im Verhalten, in unreflektierten Einstellungen, unartikulierten Annahmen und unausgesprochenen Gefühlen entfalten. Hier geraten sie oft gar nicht ins Bewusstsein, weshalb viele von uns glauben, wir hätten sie abgelegt oder überwunden.
Bei meinem Studium der schwulen Kultur habe ich herausgefunden, dass ein Großteil davon als Strategie der Konfrontation, des Widerstands oder Ausweichens gegenüber Formen sozialer Hierarchien verstanden werden kann, die die meisten von uns ignorieren, denen wir nicht ins Gesicht sehen, die wir für verschwunden halten oder deren Macht wir nicht länger ernstnehmen. Das Ergebnis meiner Analyse war deshalb ein stärkeres Bewusstsein der Art und Weise, wie Rang und Hierarchie weiterhin ein großes Feld sozialer und ästhetischer Werte strukturieren, die wiederum Hierarchien von Geschlecht und Sexualität stärken und wiederbeleben, von denen viele von uns glauben, dass sie im Niedergang befindlich seien.
Meine Überlegungen zeigen im Gegenteil, dass Fragen von Männlichkeit und Weiblichkeit, besonders Weiblichkeit, weiterhin die soziale Welt strukturieren und eine große Menge kultureller Werte beeinflussen. Schwule Kultur hat sich als erhellendes Forschungsgebiet erwiesen, weil ihre Gestalt und ihr Ausdrucksgehalt zeigen, wie umfassend und tiefgreifend Geschlecht und Bedeutungen von Geschlecht das Feld der Kultur durchdringen und jedes seiner Elemente prägen, praktisch jedes soziale und ästhetische Urteil beeinflussen. In diesem Kontext ist schwule Kultur sehr aufschlussreich: Sie repräsentiert eine sehr scharfe, präzise, intuitive und letztendlich politische Antwort auf Formen der Ungleichheit, von denen wir voreilig angenommen haben, sie seien aus unserer sozialen Welt verschwunden.
Allein aus diesem Grund, wenn schon aus keinem anderen, verdient es die schwule Kultur, dass wir sie in Ehren halten. Sie hat uns viel zu bieten – uns allen.