Читать книгу Eine irische Ballade - David Pawn - Страница 4

2. Strophe

Оглавление

Am nächsten Morgen kam es, wie es hatte kommen müssen. Wir wussten beide nicht recht, wie es weiter gehen sollte. Ich war als Erste erwacht, war ins Badezimmer geschlichen und hatte mich für den Tag vorbereitet. Als ich zurückkam, stand Daniel betreten in Unterwäsche neben dem Bett und griff gerade nach seiner Hose.

„Zeit zu gehen“, sagte er. Dabei sah er mich an wie ein Hund, den sein Frauchen an einen Laternenpfahl vor einer Autobahnraststätte bindet. Lass mich nicht zurück, sagte der Blick.

„Willst du nicht wenigstens mit mir frühstücken? Außerdem, wie willst du überhaupt zurück nach Freudenstadt kommen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich mache dir einen Vorschlag. Wir gehen gemeinsam runter, essen einen Happen und dann fahre ich dich.“

„Eigentlich kann ich mir das nach der Pleite gestern nicht leisten. Ich kenne ja die Frühstückspreise in Hotels.“

„Ich kann das regeln.“

„Nein, bitte nicht, mach nicht ‚Pretty Woman‘ aus mir.“

„Pretty Man“, verbesserte ich ihn, trat an ihn heran und gab ihm einen Schmatz auf die Wange. „Na los, beeil dich. Ich habe einen Bärenhunger.“

Daniel verschwand für eine Weile im Bad. Frisch duftend, aber verständlicherweise noch immer stachlig kam er zurück. Ich muss bekennen, dass ich keinen Damenrasierer besitze.

Wir frühstückten gemeinsam, und er erzählte mir von dem Tag, der vor ihm lag. Schließlich setzten wir uns ins Auto, und ich chauffierte ihn nach Freudenstadt, wo er eine eigene kleine Wohnung hatte.

„Eigentlich komme ich mit meinen Eltern gut klar“, sagte er. „Während meiner Fachschulzeit habe ich im Wohnheim gewohnt. Diese Unabhängigkeit konnte ich anschließend nicht wieder aufgeben. Aber ich wohne nicht weit weg von meinem alten Zuhause. Wir sehen uns jede Woche, oft nicht nur einmal.“

Es kam der Moment, den wir beide gefürchtet hatten. Die Stelle, wo wir uns die Hände reichen, belanglose Abschiedsworte sagen und getrennte Wege gehen würden.

„Hast du morgen Abend schon was vor?“

„Äh …“ ‚Ich muss arbeiten‘, schoss mir eine blödsinnige Antwort durch den Kopf, die ich gerade noch unterdrücken konnte. Schließlich wollte ich diesen Jungen unbedingt wiedersehen.

„Nein“, sagte ich also nur.

„Könnten wir uns treffen?“

„Gern. Was machen wir?“

Daniels Gesicht hatte bei meiner Zustimmung kurz vor Freude aufgeleuchtet, als ich aber nach seinen Plänen für uns fragte, zeigte sich so etwas wie Verwirrung an der gleichen Stelle. Offenbar hatte er noch nicht darüber nachgedacht.

„Ich …“, setzte er an, unterbrach sich, weil er offenbar nicht wirklich wusste, was er sagen wollte, riss sich aber zusammen und erklärte: „Ich meine, wir haben irgendwie am falschen Ende angefangen, denkst du nicht auch. Der letzte Abend, die Nacht – das war wie ein Traum. Ich kann immer noch nicht glauben, dass mir das passiert ist. Ich würde dich gern besser kennenlernen. Verstehst du, was ich sagen will?“

„Warum gehen wir nicht einfach zusammen ins Kino?“ Ich verstand sehr gut, was Daniel beschäftigte. Mir ging es auch nicht anders. Ich musste mir außerdem noch darüber klar werden, was es für mein Leben als Banshee bedeutete, dass ich die Jungfernschaft verloren hatte. Im Rausch des Augenblicks war es sehr einfach gewesen anzunehmen, dass ich eine normale Frau sein würde, aber im grellen Licht des neuen Tages war mir bewusst geworden, dass ich nicht wirklich wusste, was es bedeutete.

„Wir haben in Freudenstadt ein hübsches Programmkino. Die spielen zwar nicht immer die aktuellsten Filme, aber es ist wirklich schön. Ist im alten Kursaal.“

„Das hört sich gut an. Ich komme zum Mummelsee. Ist das okay?“

„Ich kann dich auch hier abholen“, beeilte Daniel sich zu sagen.

„Nein, ich würde lieber zum See rauskommen.“ Ich würde lange vor der vereinbarten Zeit dort hinausfahren, durch die Wälder streifen und nachdenken. Wenn ich mir über etwas klar werden wollte, zog ich mich gern in die Einsamkeit des Waldes zurück. Das Rauschen in den Wipfeln beruhigte mich. Wenn außerdem ein Bach oder See in der Nähe war, war es perfekt. Diese Affinität zu Wasser und Bäumen muss mit dem Fluch zusammenhängen, aber sie gehört zu jenen Dingen, die mich nicht stören.

„Also gut. Ich bin um sechs Uhr mit der Arbeit fertig.“

„Ich bin pünktlich um sechs da. Ich komme mit dem Bus. Du chauffierst mich doch, oder?“

Daniel lachte. „Wenn Christian mein Auto heil nach Hause gebracht hat.“

„Also abgemacht.“ Ich hielt Daniel die Hand hin wie zu einem Vertragsabschluss. Die Geste kam mir trotz oder gerade wegen der vergangenen Nacht passender vor als ein inniger Kuss vor der Haustür. Wir wollten zu diesem Zeitpunkt beide, dass es mehr als eine verrückte Nacht wurde, dass es Freundschaft oder gar Liebe wurde, darum wollte ich mich von Daniel verabschieden wie von einem guten Freund.

Und Daniel verstand offenbar. „Abgemacht“, sagte er, schlug ein und strahlte dabei wie einer, der gerade den Pot des Tages abgeräumt hatte.

Am folgenden Tag fuhr ich bereits zur Mittagsstunde zum Mummelsee hinauf. Es wimmelte von Touristen, denn das Wetter war prachtvoll. Ich wandte mich eilig vom Hotel ab und ging auf dem Pfad um den See herum zum gegenüberliegenden Ufer.

In der Nacht, das wusste ich, waren die Mümmlein auf dieser Seite des Sees zu Hause. Die Nymphen gehörten, wie viele Tiere des Waldes, zu den Lebewesen des Schwarzwaldes, die die lärmenden Touristen nie zu Gesicht bekommen würden.

Ich suchte mir eine Bank im Schatten einer alten Tanne, setzte mich nieder und blickte auf das dunkle Wasser.

‚War der Fluch gebrochen?‘, fragte ich mich. ‚Hatte ich wirklich einen Mann gefunden, der als Wiedergeburt von William Carr galt.‘

Wie ich bereits erzählt habe, gibt es ein Buch über Magie, durch das ich Einiges über den Fluch einer Banshee hatte in Erfahrung bringen können. Hätte ich es gründlich studiert, müsste ich mir jetzt vermutlich nicht das Hirn über diesen Fragen zermartern. Ich muss jedoch bekennen, dass ich es nur sehr flüchtig gelesen hatte. Ich hatte dieses Buch in die Hände bekommen, als ein Ende des Carr-Geschlechts noch lange nicht abzusehen gewesen war, und eher aus Langeweile, denn aus Interesse darin herumgeblättert. Nach über fünfhundert Jahren als Banshee war ich abgestumpft gewesen.

‚Was soll’s‘, hatte ich damals gedacht.

Jetzt hätte ich mich am liebsten in den Hintern gebissen, dass ich dem Werk nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet hatte.

Ich dachte über all die Dinge nach, die ich in der langen Zeit zu sehen bekommen hatte, seit ich begonnen hatte, die Carrs zu beweinen. Ein Hit der Achtziger des Zwanzigsten Jahrhunderts fiel mir ein. Er hieß „I’ve never been to me“ und handelte von einer Frau, die alles Mögliche gesehen und erlebt hat, ohne je zu sich selbst gefunden zu haben.

“I‘ve been to Nice and the isle of Greece while I sipped champagne on a yacht. I moved like Harlow in Monte Carlo, and showed ‘em what I got.”

Nizza kannte ich, andererseits hatte ich noch keinen Aufenthalt in Griechenland vorzuweisen. Und im Gegensatz zu Jean Harlow, die als Prototyp der Blondine im Film galt, habe ich jetschwarze Haare. Aber auch ich hatte in Monte Carlo schon oft gezeigt, was ich hatte, allerdings wohl anders, als es dieses Lied meinte. Bei mir bedeutete es, dass meine Gegner am Pokertisch ein Blatt zu sehen bekamen, das ihnen klar machte, einmal mehr geschlagen worden zu sein.

Ich kann auch nicht behaupten: „I’ve been undressed by kings“. Im Gegenteil, ich habe oft genug den Besitzer eines Paares Könige mit Assen bis auf das Hemd ausgezogen.

Die nächste Zeile dagegen kann ich unterschreiben: „I’ve seen some things that a woman ain’t s’posed to see.“

Ich war mit Nymphen geschwommen, hatte mit Kobolden gemeinsam eine Bank ausgeräumt und meinen Anteil für einen Geburtsnachweis eingetauscht, und mehr als genug hatte ich Menschen gesehen, die starben.

Sie starben im Bett, weil sie alt oder krank waren.

Sie fielen im Krieg, oft für eine sinnlose Sache. Selbst wenn sie für die Freiheit starben, waren es immer andere, die ihnen sagten, dass es sich lohnen würde, dafür das Leben zu geben.

Sie starben bei Unfällen, manche durch eigene Dummheit, manche durch die Dummheit anderer verschuldet.

Sie töteten sich selbst. Aus Angst, aus Liebe, aus Verzweiflung.

Ich kann nicht mit dem Lied behaupten „I’ve been to paradise.“ Eher war ich hin und wieder in der Hölle. Aber eines ist sicher: „I’ve never been to me.“

Und plötzlich war alles anders. Da war die Chance auf ein richtiges, durchschnittliches Leben. Einige werden jetzt sagen, es wäre blödsinnig sich so etwas zu wünschen, wenn man nicht älter wurde. Es wäre dumm, ein paar glückliche Jahre dafür einzutauschen, normal zu altern und plötzlich nur noch fünfzig oder sechzig davon vor sich zu haben. Aber wenn ein Fluch auf Ihnen lastet, der Sie zwingt, zuzusehen, wie Menschen dem Schnitter anheimfallen, und anschließend tagelang nichts weiter zu tun, als zu heulen, sieht die Sache doch ein wenig anders aus. Dennoch fragte ich mich kurz, ob ich das wirklich wollte. Ob ich wirklich bereit war, alles was ich bisher erlebt hatte, gegen ein paar hoffentlich glückliche Jahre einzutauschen.

„Du weißt nie wirklich, was du willst“, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Es war eine Stimme, die ich gut kannte. Ich brachte sie mit Cornwall in Verbindung und legte absolut keinen Wert darauf, sie jetzt zu hören.

„Sei still, Aimee“, sagte ich. Ein Eichelhäher, der sich gestört fühlte, kreischte aufgebracht und alarmierte so das Getier in meiner Nähe.

Ich erhob mich von der Bank und wanderte ein wenig durch den Wald. Hin und wieder raschelte es im Unterholz. Das mochten kleine Vögel oder andere Tiere sein, oder es waren Kobolde.

Als ich mich endlich auf den Weg zum Hotel machte, musste ich mich sogar sputen, um den Zeitpunkt meiner Verabredung nicht zu verpassen. Ja, ich war eine Frau, es stand mir zu, ihn warten zu lassen, aber ich wollte es nicht gleich beim ersten Treffen darauf ankommen lassen.

Es wurde ein schöner Abend. Und auch der folgende Tag, den wir damit verbrachten, durch die Kuranlagen von Baden-Baden zu lustwandeln, ist mir als wunderbar in Erinnerung.

Es begann eine Zeit, in der Daniel und ich uns nahezu täglich sahen, allerdings oft viel zu kurz, weil meine Arbeitszeit in den Abendstunden begann, wenn er endlich frei hatte. Dennoch waren dies die Stunden des Tages, für die wir beide lebten.

Ich hielt mich ziemlich bedeckt, was meine Person betraf, denn ich war mir nicht sicher, wie er es aufnehmen würde, wenn ich ihm von meinem Leben als Banshee berichtete. Daher war ich zumeist diejenige, die die Fragen stellte. Wenn Daniel andererseits etwas über meine Vergangenheit wissen wollte, so lenkte ich ab und fühlte mich schlecht dabei. Mir war klar, dass es so nicht ewig würde weitergehen können, aber ich redete mir ein, dass die Wahrheit mit jedem Tag, den wir gemeinsam verbrachten, leichter auszusprechen sein würde. Er würde mich kennen und lieben gelernt haben, und so nehmen, wie ich war.

Ich erfuhr von Daniel, dass er fast ein Jahr mit einem Mädchen zusammen gewesen war, das in Karlsruhe Musikjournalismus studiert hatte. Wie das bei Beziehungen so passiert, die im Wesentlichen am Wochenende und per Handy stattfinden, hatte sie einen anderen gefunden, der mehr zur Verfügung stand. Daniel war sehr enttäuscht gewesen. Sein Interesse am weiblichen Geschlecht war nahezu ein halbes Jahr lang erloschen. Er war ein Ganz-oder-gar-nicht-Typ. Umso verwunderlicher war es, dass er sich auf meine Einladung ins Hotel an jenem ersten Abend eingelassen hatte. Ich kam immer mehr zu der Überzeugung, hier müsse Magie im Spiel gewesen sein.

Er und seine Verflossene hatten sich durch sein Hobby kennengelernt. Daniel schrieb in seiner Freizeit Lieder und träumte von einer Band. Er war ein Fan von sogenannter Mittelaltermusik, also nicht etwa Musik aus dem Mittelalter, sondern moderner Musik, die in dem Stil jener Zeit gehalten war. Da gab es Bands mit Namen wie „Schandmaul“, „Die Wilden Weyber“ und „Wolfenmond“. Ich wusste nicht recht, was ich von diesen Leuten halten sollte. Ich hatte diese Zeit mitgemacht und fand, sie glorifizierten sie einfach zu sehr. Mag sein, wer den Dreck, das Elend, den Gestank und den Tod nicht miterlebt hatte, fand Gefallen an der Vorstellung von Freiheit, Wildheit und Naturverbundenheit. Aber Leibeigenschaft war das glatte Gegenteil von Freiheit, und wenn Wildheit bedeutet, dass dir irgendein Junker grundlos den Schädel spalten kann, weil es ihn gerade überkommt, und Naturverbundenheit bedeutet, dass der Kot in Bächen durch die Straßen läuft, kann ich gut auf das Mittelalter verzichten.

Aber die Menschen trauern gern vergangenen Zeiten nach und glauben, damals wäre alles besser gewesen.

Im Internet hatte er die angehende Musikjournalistin über ein Forum kennengelernt. Man tauschte die E-Mail-Adressen aus, schrieb sich erst hin und wieder, dann immer öfter und traf sich schließlich in Karlsruhe. Zu meinem Glück hatte es nicht gehalten, sonst wären Daniel und ich uns wahrscheinlich nie begegnet.

Daniel erzählte mir auch von einem Erlebnis aus seiner Kindheit, das ihn damals sehr mitgenommen hatte. Als er zehn gewesen war, wurde einer seiner besten Freunde von einem Autofahrer angefahren und starb. Der Freund war mit seinem Fahrrad unterwegs zu ihm gewesen, und er hatte sich lange Zeit Vorwürfe gemacht.

„Verstehst du, was ich meine?“, hatte er mich gefragt. „Dieser Typ im Auto war betrunken gewesen, als der Unfall passierte, aber dennoch habe ich mich schuldig gefühlt, weil Ben zu mir kommen wollte, als es passiert ist. Ich hätte viel dafür gegeben, wenn ich es hätte ungeschehen machen können.“

Als Daniel das sagte, wurde mir schwer ums Herz. Was würde er nach so einem Erlebnis von einer Banshee halten?

Im Oktober eröffnete mir Daniel, dass er eine Anstellung in Baden-Baden gefunden hatte, im Hotel „Zum Hirsch“. Es ist ein altes Bürgerhaus, Jugendstil außen und in den Zimmern, mit schmiedeeisernen Balkonen und einem Hirschmosaik direkt vor der Eingangstür im Straßenpflaster. Und als besonderes i-Tüpfelchen gibt es Thermalwasser in den Zimmern. Daniel war stolz wie ein Spanier. Besser konnte es im ‚Brenners‘ auch nicht sein, nur teurer.

Daniel und ich begannen, ein gemeinsames Leben in einer Wohnung zu zweit zu planen.

Wie gesagt, hatte ich bis zu dieser Zeit wenig über meine Vergangenheit gesprochen. Daniel musste annehmen, ich wäre eine normale, junge Frau von 23 Jahren, die sich einfach in ihn verliebt hatte. Letzteres, also das einfach verliebt haben, stimmte natürlich, bloß das Alter stimmte nicht. Aber wenn wir eine gemeinsame Zukunft beginnen wollten, musste er alles wissen. Also erzählte ich es ihm eines Abends bei Kerzenschein in einem spanischen Kellerrestaurant. Ich hatte einen öffentlichen Ort für die Offenbarung gewählt, weil ich mir dachte, dort könne er nicht einfach laut schreiend davon laufen.

Ich begann, nachdem wir unser Dessert verputzt und einmal mehr mit Rotwein angestoßen hatten, mit der ältesten Einleitung der Welt: „Ich muss dir was beichten.“

Daniel sagte nichts, sondern guckte mich nur neugierig über den Rand des Glases hinweg an.

„Ich bin nicht die Frau, für die du mich hältst, und ich möchte, dass es keine Geheimnisse mehr zwischen uns gibt, wenn wir wirklich zusammenbleiben wollen.“ Daniels Augen wurden mit jedem Wort größer. Er wusste, dass es keine Eröffnung über eine sexuell ausschweifende Vergangenheit sein konnte, keine Beichte der Art: „Ich war eine Pornodarstellerin.“ Er musste sich also fragen, was ich ansonsten auf dem Kerbholz haben könnte.

„Ich habe dir erzählt, ich sei dreiundzwanzig, aber das ist nur mein biologisches Alter. Ich wurde in Wirklichkeit am 20. Mai 1394 in Irland geboren und im Alter von siebzehn verflucht. Seitdem alterte ich pro hundert Jahre etwa ein Jahr. Ich war eine Banshee und habe die Todesfälle einer irischen Familie beklagt. Ich glaube, der Fluch ist gebrochen worden, als ich mit dir geschlafen habe.“

Ich erzählte noch ein bisschen mehr über mein früheres Leben. Einiges davon wissen Sie schon.

Als ich fertig war mit meiner Beichte, sah ich Daniel direkt in die Augen, konnte aber nicht ergründen, was er gerade dachte. Seine Miene hätte perfekt an einen Pokertisch gepasst. Schließlich schüttelte er den Kopf und fragte: „Das ist ein Witz, oder?“

„Nein, das ist mein bisheriges Leben gewesen.“

Einige Augenblicke sah Daniel weiterhin konsterniert drein, dann hellte sich seine Miene auf. „Du meinst, du machst Rollenspiele? Aber das ist doch keine große Sache. Ich habe mich bloß noch nie so intensiv mit diesen Spielen befasst.“

„Nein, nein, du verstehst nicht. Ich war tatsächlich eine Todesfee, vielleicht bin ich es auch heute noch. Ich habe oft tage- und nächtelang geweint und geheult.“

„Das ist verrückt. Das glaub‘ ich einfach nicht.“ Daniel griff nach dem Rotwein vor seiner Nase und leerte das Glas in einem Zug. Dann blitzte Verstehen in seinen Zügen auf, doch statt mich freundlich anzublicken, verfinsterte sich sein Ausdruck.

„Warum tust du das?“, fragte er ziemlich unvermittelt.

„Was?“

„Mir so einen Unsinn auftischen? Willst du dich nur über mich lustig machen, weil ich davon träume mit einer Band Mittelaltermusik zu machen? Oder ist das eine neue Art, Schluss zu machen?“

„Schluss zu machen?“, echote ich. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. „Nein, ich wollte dir die Wahrheit über mich erzählen, weil wir doch zusammen eine Wohnung suchen wollen. Da wollte ich dir sagen, worauf du dich mit mir einlässt.“

„Ja, das wüsste ich tatsächlich gern.“ Daniel klang erbost. „Eine Todesfee! Einen größeren Unfug habe ich mein Lebtag noch nicht gehört. Als du gesagt hast, dass du mir etwas beichten müsstest, habe ich bei mir gedacht, dass ich dir alles vergeben kann. Ich habe gedacht, ich liebe dich so sehr, dass es nichts geben könne, was uns trennen würde, aber jetzt …“ Daniel stockte.

„Ich liebe dich doch auch“, sagte ich leise. Ich hatte Angst.

„Warum erzählst du mir dann diesen Quatsch. Ich bin ja nur ein dummer Koch – da kannst du mit deinen Pokerfreunden über den leichtgläubigen Idioten lachen. Als Nächstes schickst du mich zum Bahnhof Baden-Oos, Gleis 9 ¾ suchen.“

Daniel war immer lauter geworden bei den letzten Sätzen. Ich sah eine Frau, die sich zu unserem Tisch umblickte, aber das war mir egal. Ich brach in Tränen aus.

„Aber … das ist … die Wahrheit“, schluchzte ich. „Ich bin eine irische Banshee. Ich habe nahezu 600 Jahre lang der Familie Carr gedient. Als ich dich kennengelernt habe, ist ein Teil des Fluches von mir genommen worden. Darum konntest du … konnten wir …“ Ich stotterte herum und hob in einer hilflosen Geste die Hände.

„Nein! Nein, das kann ich nicht glauben. Ich glaube ja nicht einmal an Gott, wie soll ich da irgendwelche alten Legenden für wahr halten. Was tischst du mir als Nächstes auf? Kobolde?“

Ich verkniff mir die Bemerkung, dass Kobolde durchaus real seien. Es würde einige Zeit dauern, bis ich Daniel über alles berichten konnte, was ich gesehen und erlebt hatte. Vielleicht würde ich ihm auch nie wieder etwas erzählen.

Er atmete tief durch. „Ich muss nachdenken“, sagte er. „Über dich, über uns. Bitte geh.“

Wie versteinert blieb ich trotz seiner Worte sitzen. Ich sah ihn nur mit großen Augen an. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich hörte das Klappern von Tellern und Besteck. Ich war für einen Moment wie aus der Wirklichkeit gefallen.

„Aber …“ Ich wollte etwas sagen und wusste nicht was. Das war das Ende. Daniel wollte einen Schlussstrich ziehen.

„Bitte, Síochána, wenn dir etwas an mir liegt, an uns liegt, dann geh jetzt. Ich melde mich bei dir, wenn ich weiß, ob …“ Jetzt wusste auch er nicht mehr weiter. Ich sah Tränen in seine Augen treten. „Wenn ich mir sicher bin, melde ich mich bei dir“, sagte er.

‚Rufen Sie uns nicht an. Wir rufen Sie an.‘ Die allgemein übliche Formel, wenn man abgewiesen wurde.

Ganz langsam erhob ich mich von meinem Platz. Ich blickte auf Daniel hinunter, der mit ineinander verkrampften Fingern dasaß. Er sah nicht zu mir auf.

„Ich rufe dich an“, sagte er noch einmal leise. „Bald.“

In den nächsten beiden Tagen saß ich in meinem Hotelzimmer und starrte mein Handy an. Wider jede Vernunft hoffte ich doch auf einen Anruf von Daniel, hoffte seine Stimme etwas sagen zu hören, was die vergangenen achtundvierzig Stunden tilgen würde.

Als dieser Anruf schließlich tatsächlich kam, hätte ich ihn beinahe verpasst, weil ich meinen Kummer an die Hotelbar getragen und in irischem Whisky ertränkt hatte. Ich war gerade mit schwerem Schritt wieder in mein Zimmer gekommen, als das Telefon klingelte. Dessen Bedienung war meinem benebelten Hirn ein nahezu unlösbares Rätsel. ‚Daniel‘ prangte auf dem Display, aber das war gar nicht nötig, denn ich erkannte den besonderen Klingelton. Panisch fummelte ich an dem Gerät herum, immer wieder das Mantra aller einen Anruf erwartenden, dann in Panik verfallenden Menschen vor mich hin murmelnd: „Leg nicht auf. Leg nicht auf.“

Schließlich schaffte ich es doch.

„Hallo!“

„Síochána?“

Wer sonst sollte an mein Telefon gehen? „Ja.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Liebst du mich noch? Kommst du zurück? Bleibst du bei mir? Alle diese Fragen blieben ungestellt.

„Können wir uns treffen?“

„Gern. Wann? Wo?“ Ich war schlagartig beinahe wieder nüchtern. Jedenfalls glaubte ich das in diesem Moment.

„Jetzt. Ich stehe vor dem Hotel. Wir könnten einen kleinen Spaziergang machen.“

„Ich komme sofort.“ Ich war schon unterwegs, während ich diesen kurzen Satz sagte.

Der Fahrstuhl wollte nicht kommen, also nahm ich die Treppe und wäre beinahe hinuntergefallen. Mein Kopf schien zwar einigermaßen klar, aber die Motorik war noch immer gestört.

Daniel stand im Foyer, blickte zum Fahrstuhl und rang die Hände. Er sah mich nicht, da ich einen anderen Weg genommen hatte. Mein erster Gedanke war, ihm von hinten um den Hals zu fallen, aber es meldeten sich rechtzeitig ein paar vernünftige Hirnzellen zu Wort, die das zu einer schlechten Idee erklärten. Also tippte ich ihm nur auf die Schulter.

„Hallo Daniel“, sagte ich zaghaft.

Er drehte sich um, sah mir in die Augen und sagte: „Hallo Síochána! Können wir gehen.“

Ich nickte heftig. Es war eine dieser überzogenen Gesten, die Betrunkene machen, wenn sie sich um Kontrolle bemühen.

Daniel bemerkte meinen Zustand offenbar nicht, er machte sich auf den Weg nach draußen und ich folgte ihm. Erst als ich auf dem Weg erneut ins Stolpern geriet und mich an ihm festklammerte, fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Er blieb stehen, sah mich an und fragte: „Was hast du?“

„Nichts.“ Ich schüttelte vehement den Kopf, meine Haare strichen ihm durchs Gesicht. Mit diesem Wort flog offenbar auch eine Wolke Whiskydunst zu ihm hinüber und strafte mich Lügen.

„Du hast getrunken. Síochána! So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich war auch noch nie so verzweifelt“, erwiderte ich.

„Komm, gehen wir an die frische Luft. Halt dich bei mir fest.“ Ich hakte mich bei ihm ein und wir gingen nach draußen.

Wie bekannt, ist frische Luft bei einem leichten Rausch eher ein Mittel, diesen kurzfristig zu verstärken oder massiver in seinen Auswirkungen sein zu lassen. Ich weiß nicht, was aus medizinischer Sicht hier korrekt ist. Und als ich mit Daniel nach draußen trat, wusste ich kaum noch, an wessen Arm ich da hing. Ich zerrte ihn nach rechts und links, und wir bewegten uns in sanften Kurven bis zur Oos und an dieser entlang zur Gönneranlage. Was mochten nur die Kurgäste von meinem Begleiter halten, der da eine sichtlich angetrunkene Person abschleppte.

„Síochána, bitte“, sagte er. „Wir müssen wie erwachsene Menschen miteinander reden. Ich konnte zwei Tage lang kaum schlafen. Immer wieder habe ich dein Gesicht vor mir gesehen und mich gefragt, wie es weitergehen soll.“

„Ich habe dich so vermisst“, gurrte ich und sah ihn schmachtend an. Der Whisky und ich waren einer Meinung.

Wir erreichten eine Bank.

„Komm, setz dich.“ Daniel hatte sich bereits niedergelassen und klopfte auf das Holz zu seiner Rechten. Ich versuchte, mich auf seinen Schoß zu setzen, aber er schob mich sanft zur Seite, so dass ich an seinem Schenkel abglitt und auf der Bank zu sitzen kam.

„Versuch vernünftig zu sein, bitte.“ Daniel sah mich mit traurigen Augen an.

Ich konnte nicht anders. Ich warf beide Arme um seinen Hals, drückte ihm jeweils einen Schmatz links und rechts auf die Wange und sagte: „Du bist zurückgekommen. Du bist zu mir zurückgekommen.“

Erst schien mir, als wollte er sich aus der Umarmung befreien, aber er ließ mich doch gewähren. So saßen wir eine ganze Weile in der wärmenden Sonne – er gerade wie ein Stock und ich an seinem Hals hängend. Dann spürte ich plötzlich seine Hände auf meinem Rücken, die mich streichelten.

„Wenn ich ehrlich bin“, hörte ich ihn sagen, „hätte ich es auch nicht mehr länger ohne dich ausgehalten. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum du mir diese Banshee-Geschichte aufgetischt hast. Ich habe keine vernünftige Erklärung gefunden.“

„Es gibt einen ziemlich einfachen Grund“, sagte ich mit schwerer Zunge. „Es ist die Wahrheit.“

„Aber das ist doch verrückt. Sieh mich an.“

Ich gehorchte, nahm meinen Kopf von seiner Schulter, wo er gerade geruht hatte, und blickte ihm in die Augen. Alles drehte sich. Trotzdem versuchte ich, seinen Blick so fest und geradlinig zu erwidern wie möglich. Einmal mehr sah ich Williams Augen vor mir, seinen verzweifelten Ausdruck, als ich seine Werbung ausgeschlagen hatte. Obwohl dieser junge Mann aus Baden keine Beziehung zu den Carrs haben konnte, so musste er doch auf irgendeine Weise etwas mit William gemein haben, das weit über die Augen hinausging. Man sagt, die Augen seien das Fenster zur Seele. War es das? Waren sie seelenverwandt?

„Es ist einfach so“, sagte ich. „Ich war eine Banshee. Du hast …“ Ich musste geistig Anlauf nehmen, um den Satz zu beenden. „… mich erlöst.“

„Meine Güte, du bist verrückt. Mein Verstand sagt, ich müsse jetzt aufstehen und endgültig gehen. Entweder bist du irre oder ein Gespenst. Ich muss weg. Ich muss …“ Er brach ab und schluckte. Dann sagte er: „Aber meine Gefühle sagen alle was anderes. Ich habe es nicht ausgehalten, von dir getrennt zu sein. Ich kann nicht auf meinen Verstand hören. Ich brauche dich. Ich muss auch irrsinnig sein, wenn ich jetzt hier sitzen bleibe. Aber ich kann nicht anders.“

Ich sagte nichts. Ich legte nur eine Hand an seine Wange, lächelte dümmlich und blies ihm Whiskydunst ins Gesicht. Schließlich kam mir eine Idee. Es war einer von diesen Einfällen, die einem im benebelten Zustand genial vorkommen, die man nüchtern betrachtet aber für völlig verrückt halten würde.

„Ich will dir was zeigen“, sagte ich, sprang auf die Füße und schwankte erst einmal einen Schritt rückwärts. Dann winkte ich Daniel, mir zu folgen. „Komm mit.“

Mit großen Schritten eilte ich voraus an den Tennisplätzen vorbei. „Síochána, wo willst du hin? Warte doch mal.“

Ich blieb stehen und sah mich um. Daniel war drei bis vier Schritte hinter mir, jetzt schloss er zu mir auf. „Ich wollte mich mit dir aussprechen, nicht hinter dir herrennen.“

„Du glaubst mir immer noch nicht. Ich muss es dir beweisen. Und dazu brauchen wir einen Platz, wo wir niemanden stören.“

„Ähm, Síochána …“ Daniel dachte in eine ganz falsche Richtung.

„Komm weiter.“ Ich nahm seine Linke. Gemeinsam überquerten wir die Oos und erreichten die Lichtentaler Allee. Hier gab ich Daniels Hand wieder frei.

„Bleib ein Stück hinter mir“, sagte ich.

Ich stolperte über den Rasen des Kurparks, weg von den interessiert blickenden Kurgästen und flanierenden Pärchen zu den Hecken und Bäumen am Hang, wo sich nur Vögel und Kleingetier in der Nähe aufhielten. Daniel folgte in einigem Abstand. „Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“

„Ich werde dir beweisen, dass ich dir keinen Bären aufgebunden habe. Komm nur. Du wirst staunen.“ Ich blieb unter einem Baum stehen, in dessen Geäst es sich ein Vogelpärchen bequem gemacht hatte. Weit über mir sang es seine Lieder.

„Bleib da stehen“, rief ich aus, als Daniel noch drei Schritte von mir entfernt war.

„Ich dachte, du willst mir was zeigen?“

„Ja, aber du musst Sicherheitsabstand wahren.“

„Okay.“ Sein Blick war sehr zweifelnd. Offenbar hielt er die ganze Aktion für eine Folge meines Whiskykonsums, aber er blieb dennoch stehen.

„Jetzt werde ich singen“, verkündete ich pathetisch und begann passenderweise mit dem irischen Kneipenlied an sich: „Whiskey in the jar.“ Es gibt wohl kein Lied sonst, bei dem man so gut im Takt sein Glas auf den Tresen klopfen kann.

„Whack for the daddy ‘ol - whack for the daddy ‘ol – there’s whiskey in the jar”, schmetterte ich. Immer wenn ich an dieser Stelle des Refrains ankam, steigerte ich meinen Gesang, der ohnehin alle Katzen in der Umgebung zum Mittun anregen konnte, zu einem Crescendo und ließ meine Stimme gleichzeitig in ungeahnte Höhen klettern. Ich erzeugte Töne, die für Menschen nicht mehr hörbar waren, die die Hunde in der Umgebung aber in Aufruhr versetzten. Diese Stimme, die unsere einzige Verteidigung ist, diente in den alten Zeiten dazu, uns im Wald die Wölfe, echte und Lykanthropen, vom Halse zu halten. Außerdem betäubt sie Vögel und kann bei empfindlichen Menschen dazu führen, dass ein paar Äderchen im Gehirn platzen. Dieser Tatsache verdanken wir unseren schlechten Ruf.

Die Vögel über mir waren leider schon geflohen, als ich mit der ersten Strophe begonnen hatte. Sie fühlten sich bei ihrem eigenen Gesang gestört. Als jedoch eine Krähe über mir einen Anflug Richtung Wald wagte, geriet sie in meinen Schalltrichter, kam ins Trudeln und schmierte ab.

Ich sah ein paar Leute auf dem Weg, die die Hände an die Ohren pressten und wie von Furien gehetzt Richtung Kurhaus davonstoben. Nur Daniel stand ungerührt keine drei Schritte entfernt da. Er sah und hörte interessiert zu.

Die Krähe konnte mit Mühe eine totale Bruchlandung vermeiden. Sie blickte mit ihren Kohlenaugen zu meinem Begleiter auf und flüchtete zu Fuß.

Ich sang lauter. Vom Dach eines unweit stehenden Hauses fiel eine Taube auf die Straße, als der Held des Liedes gerade erklärte, dass man Wasser nicht schießen könne. Die alten Iren kannten keine Wasserwerfer.

Wieder kam ich beim Refrain an. Eine weitere Krähe fiel mir zum Opfer. Diese kam tatsächlich Schnabel voran wie ein Kamikaze-Flieger auf dem Rasen auf und war hinüber.

Daniel machte einen Schritt auf mich zu. „If anyone could help …“ Ich verstummte mitten im Vers. Obwohl ich den Eindruck gewonnen hatte, dass meine Stimme für Daniel keine Gefahr darstellte, wollte ich doch kein Risiko eingehen.

„Du bist wirklich eine Banshee?“ Ich nickte. „Wie viele hast du auf dem Gewissen?“

Das alte Missverständnis, da war es wieder. „Ich habe niemanden auf dem Gewissen“, erklärte ich. „Alles was eine Banshee tut, ist trauern, bevor ein Todesfall eintritt. Ich kann vorhersehen, wenn jemand aus der Familie stirbt, mit der ich verbunden bin, aber ich rufe nicht den Tod herbei. Und in der Nacht, bevor wir uns kennenlernten, ist der letzte der Familie Carr verstorben. Ich war plötzlich frei, aber auch … heimatlos.“

Ich wusste nicht, wie ich es besser hätte ausdrücken sollen.

„Und was war das gerade?“ Daniel wies auf die tote Krähe zu unseren Füßen.

„Damit können wir uns verteidigen. Früher lebten Banshees meist allein im Wald. Da gab es wilde Tiere, Räuber und Schlimmeres.“

„Schlimmeres?“ Daniel sah mich forschend an.

„Werwölfe. Die sind aber ausgestorben. Zusammen mit den echten Wölfen. Es gibt irgendwo im Nordosten der USA eine Restpopulation.“ Ich wedelte mit den Händen in die Richtung, in der ich gerade den Atlantik vermutete – also irgendwo hin. „Im Bundesstaat Maine, wenn du weißt, wo das ist. Sind aber nicht mehr viele. Man sollte die Art eigentlich unter Schutz stellen, wenn du mich fragst.“ Mit noch immer unsicherem Schritt trat ich zu Daniel. Am Rand der Wiese, auf der wir jetzt standen, gab es einen kleinen Menschenauflauf. Alle blickten zu mir und meinem Begleiter hinüber.

„Komm, lass uns verschwinden, ehe jemand die Polizei ruft. Wir sind hier in einem Kurort, da wollen die Leute ihre Ruhe und keine lärmenden Betrunkenen.“

„Ich bin keine lärmende …“ Ich verstummte. Natürlich war ich angetrunken. Gelärmt hatte ich reichlich. Was würde also jeder von mir sagen?

Wir kehrten auf den Kiesweg zurück und machten uns eilig auf den Weg in Richtung Hotel. Wir bogen jedoch nicht dorthin ab, sondern folgten weiter dem Lauf der Oos. Die Zahl der Kurgäste, die sich noch bis hierher verliefen, war spärlich.

„Glaubst du mir jetzt?“, fragte ich.

„Ja. Ich weiß nur nicht, ob es das für mich leichter macht.“

„Wieso?“ Ich blieb stehen. Daniel verhielt den Schritt ebenfalls, wandte sich zu mir um und sah mich an.

„Du sagst, du kannst vorhersehen, wenn jemand stirbt?“ Er blickte mich seltsam an, als er das fragte.

„Nicht irgendjemand. Jemand aus der Familie, zu der ich gehöre … gehört habe.“

Dann stellte er die eine Frage, die ich, jetzt wo er mir glaubte, am meisten gefürchtet hatte: „Was hast du gesehen, als wir uns kennengelernt haben?“

Er fragte gar nicht erst, ob ich etwas gesehen hätte. Das war ihm bereits klar.

Ich schluckte. So nüchtern wie in diesem Moment war ich seit Stunden nicht mehr. Die Wahrheit? Konnte ich ihm wirklich sagen, er wäre bei einem Unfall gestorben, wenn ich nicht eingegriffen hätte? Nein, das war keine Grundlage für eine Beziehung. Das war mir selbst angesichts einer Wirklichkeit klar, die sich leicht um mich zu drehen schien.

„Christian“, log ich. „Ihr hättet einen Unfall auf dem Rückweg gehabt und er wäre dabei ums Leben gekommen. Ich weiß nicht, wie dein Leben weitergegangen wäre, aber ich kenne dich inzwischen gut genug, um zu ahnen, dass du dir dein Leben lang Vorwürfe gemacht hättest. Du hast mir von diesem Schulfreund erzählt, und wie du dich damals gefühlt hast.“

„Und da hast du sofort eingegriffen. Ist das normal für eine Banshee?“

„Nein, eigentlich nicht, aber, ich hab’s ja schon gesagt, der Letzte der Carrs war gerade gestorben. Damit war ich keine richtige Banshee mehr. Vielleicht wollte ich auch einfach keine mehr sein. Jedenfalls sah ich diesen Unfall und dachte, ich müsste nur dafür sorgen, dass du und Christian nicht gemeinsam heimfahren, dann würde sich die Zukunft in eine andere Bahn bewegen. Und so ist es auch gewesen.“

„Wenn ich Christian das …“, begann Daniel.

„Nein“, unterbrach ich ihn sofort, „bitte nicht. Er darf es niemals erfahren.“

Daniel wurde wieder still und dachte nach. „Das heißt, du hast in jener Nacht nur mit mir geschlafen, weil du Christian retten wolltest?“

Ich schüttelte den Kopf. Anschließend umhalste ich Daniel einmal mehr und hielt ihn fest, damit er nicht wieder davon lief. Und auch damit er sich nicht weiter drehte. „Nein. Ich hätte dich auch nach ein paar Drinks nach Hause schicken können, so wie du es damals vorgeschlagen hast. Du hättest nicht mehr fahren können und ihr hättet ein Taxi genommen. Ich habe mit dir geschlafen, weil ich damals schon gespürt habe, dass du jemand Besonderes bist.“

„Sicher?“

„Ganz sicher. Lass dir das von einer weisen, alten Frau gesagt sein. Ich habe meine große Liebe ziemlich spät getroffen.“

„Bist du sicher, dass das wahr ist?“ Daniel war noch immer skeptisch in Bezug auf unsere Beziehung.

„Wie meinst du das?“ Ich ließ ihn los, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Du hast etwas von einem Fluch gesagt, der durch mich gebrochen worden ist. Vielleicht … vielleicht bin ich nur ein Mittel zum Zweck. – Warte! Hör zu! Mag sein, du bist dir gar nicht darüber klar. Du denkst, du liebst mich, aber in Wirklichkeit bist du nur dankbar, weil ich diesen Fluch gebrochen habe.“ Er verstummte.

„Nein.“ Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, da ist mehr. Wir waren in den letzten Wochen so oft zusammen. Da ist etwas in mir, das mich zu dir hinzieht. Das kann nicht nur Dankbarkeit sein.“

„Dann sag es.“

„Was?“

„Dass du mich liebst. Sprich es aus.“

Und das tat ich. „Ich liebe dich.“ Dann umarmte und küsste ich ihn. Ihm sollten Hören und Sehen vergehen, ohne dass ich meine Stimme zum Einsatz brachte.

Daniel erwiderte meine Umarmung. Eine Weile standen wir nur da und hielten einander fest.

Schließlich hakte ich mich bei ihm ein, und wir lustwandelten in den Kuranlagen einher, wie es sich für ein normales Liebespaar gehört. Ich zog ihn dabei in leichten Schlängellinien den Weg entlang, wie der Alkohol in meinem Hirn es gerade befahl.

Während wir so unsere Bahn zogen, erwachte die Neugier in ihm, und er fragte mich über mein Leben als Todesfee aus.

Ich hatte reichlich zu erzählen. Ich zählte all die Länder auf, die ich in den Jahren gesehen hatte.

„Bis hinter den Ural hat es mich mal verschlagen“, sagte ich. „Da gab es keinen Whisky – nur Wodka. Ein untrinkbares Gesöff, wenn du mich fragst.

„Was hast du da gemacht? Auch gepokert?“

„Nein, zu der Zeit spielte man Bakkarat. Das ist aber ein reines Glücksspiel, nichts für mich.“

„Nie gehört“, sagte Daniel und ich erklärte ihm kurz die Regeln des Spieles, das ja immerhin den Rahmen für eine Oper, nämlich „Pique Dame“, bildet.

Dann erzählte ich, was mich eigentlich nach Russland getrieben hatte.

Ein Familienzweig der Carrs war zu jener Zeit nach Russland ausgewandert, um dort bei der Erschließung von Bodenschätzen im Ural zu helfen. Das Familienoberhaupt hieß Jason Carr und war Bergbauingenieur. Nachdem er in Irland keine Anstellung gefunden hatte, bei der Aufgabe und Bezahlung seinen Vorstellungen entsprachen, hatte er sich mit seiner Familie einer Gesandtschaft aus England angeschlossen, die zu irgendwelchen Verhandlungen mit dem Zaren oder dessen Ratgebern zusammentraf. Der Zar brauchte, wie jeder Herrscher vor und nach ihm, Geld. Es war bekannt, das im Ural und mehr noch in Sibirien riesige Vorkommen von Gold und Edelsteinen zu erwarten waren. Nur erschlossen war damals nichts. Man war sehr froh, einen Ingenieur zu finden, der bereit war, in wilde Landstriche vorzudringen.

Ich folgte Jason Carr und seiner Familie, als diese auswanderten, weil mich das Leben in Irland von Zeit zu Zeit einfach langweilte. Wenn man, so wie ich, das Leben mehrerer Generationen lebt, muss man einfach hin und wieder aus dem alltäglichen Trott ausbrechen.

Es war ein sehr abenteuerliches Leben, auf das diese Carrs sich eingelassen hatten. Eines der Kinder wurde von einem Bären getötet und zum größten Teil auch gefressen. Man fand nur den Kopf wieder.

All das erzählte ich Daniel, der fasziniert zuhörte.

„Du sprichst also russisch?“, fragte er.

„Leidlich. Da habe ich viel vergessen. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn man so viele Jahre lebt wie ich, vergisst man mehr als man lernt.“

Daniel lachte. „Das kann ja wohl nicht sein.“

„Nimm nicht immer alles so wörtlich“, erwiderte ich. „Ist schon klar, dass man nicht wirklich mehr vergessen als lernen kann. Aber ich müsste, zum Beispiel, etwa zehn Sprachen sprechen, wenn ich mal davon ausgehe, wo ich mich überall rumgetrieben habe. Aber das meiste kann ich allerhöchstens radebrechen. Englisch ist klar, Deutsch, Französisch geht noch ganz gut, Russisch ist nur noch Gestammel und mit Spanisch, Dänisch, Holländisch, Polnisch, Ungarisch und so weiter würde ich nicht mehr weit kommen.“

Schließlich wollte er auch wissen, ob ich noch andere von meiner Art kannte. „Da muss es doch sehr lange Freundschaften geben, wenn ihr so viele Jahre lebt“, sagte er.

„Nein, Banshees sind eher Einzelgänger. Ich kannte eine in England, mit der ich mich ein paar Jahre hindurch immer wieder getroffen habe, aber eine richtige Freundschaft war das auch nicht.“

„Warum nicht? Ihr seid doch so etwas wie Leidensgenossinnen, da solltet ihr euch doch besser verstehen als mit anderen Menschen.“

„Wir passten nicht besonders gut zusammen“, antwortete ich. Das war milde ausgedrückt. Als wir uns getrennt hatten, hatte ich die Andere für eine besserwisserische Zicke gehalten und sie mich für eine dumme Pute.

Ich war froh, als Daniel dieses Thema fallen ließ und mich über andere Dinge ausfragte.

„Meine Güte, deine Lebenserfahrung“, sagte er schließlich. „Was du alles gesehen und erlebt haben musst? Ich muss dir doch erscheinen wie ein kleines Kind.“

Ich strich ihm durch das Haar und sagte: „Nein, du bist schon ein richtiger Mann.“

„Du lachst mich aus. So habe ich es nicht gemeint. Aber du weißt viel mehr vom Leben, als ich je erfahren werde.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur mehr vom Sterben. Das Leben habe ich erst durch dich wieder kennengelernt. Das war der eigentliche Fluch. All diese Jahre zogen an mir vorbei, ich war Zuschauer, aber ich durfte nicht mitspielen. Du musst sehr sanft mit mir umgehen. Ich habe, wie man so sagt, nah am Wasser gebaut.“

„Ich werde mich bemühen.“

In diesem Moment hatte ich im Geiste tatsächlich mit meinem alten Leben abgeschlossen und geglaubt, nie mehr den Tod eines Menschen vorhersehen müssen.

I’m a rover seldom sober. I’m a rover o’ high degree. It’s when I’m drinkin’ I’m always thinkin’ how to gain my love’s company.


Eine irische Ballade

Подняться наверх