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Pieter Hendrik Beeveren hieß der grobschlächtige Kerl mit den hellen Augen und dem groben Hackklotzgesicht. Mit aufreizender Gelassenheit pustete er den Rauch von der Laufmündung der Pistole, aber sein kalter Blick wich um keinen Deut von den Kerlen. Wagte da vielleicht noch einer, das Maul aufzureißen?

Nein, keiner muckste. Sie standen wie ihre eigenen Denkmäler und starrten zu Boden. Keiner riskierte, seinem Blick zu begegnen.

Beeveren spuckte zur Seite. Die Spucke landete neben dem Kopf des dritten Toten und vor den Stiefeln des vierten Toten. Beide gehörten zu dem Trio, das über den Häuptling hergefallen war. Mit denen hatte er also abgerechnet, aber einer war noch übrig.

Dem schlotterten jetzt schon die Knie.

Beeveren sagte: „Du warst der dritte Hurensohn, Jan Visser, der über seinen Kapitän hergefallen ist. Hast du dafür eine Entschuldigung?“

„Ich – ich hab’ dich in der Dunkelheit nicht erkannt, Kapitän“, murmelte Jan Visser, „und war wohl auch blind vor Wut, weil ihr auf uns geschossen habt.“

„Du bist ein Hurensohn, Jan Visser. Sag, daß du ein Hurensohn bist.“

„Ich bin ein Hurensohn.“

„Sehr schön. Und jetzt sage, ich bin ein Hurensohn und habe den Strick verdient, weil ich über meinen Kapitän hergefallen bin.“

In Jan Visser regte sich Trotz. „Wir haben gedacht, ihr seid die fremden Teufel, die jetzt unser Lager besetzt haben. Wir konnten ja nicht wissen, daß ihr auf uns schießen würdet!“

„Ich gab dir eben einen Befehl, Jan Visser“, sagte Beeveren kalt, „und ich pflege meine Befehle nicht zu wiederholen. Oder willst du jetzt auch noch meutern?“

„Ich laß mich nicht hängen!“ brüllte Jan Visser, sprang gleichzeitig zurück und riß den Säbel aus der Scheide.

Er hatte ihn kaum heraus, da war Beeveren an ihm dran und stieß den Degen vor.

Jan Visser war der fünfte Tote. Verglichen mit dem Strick, war dieser Tod schnell und fast schmerzlos.

„Wir brechen auf“, sagte Beeveren ohne die geringste Gefühlsregung. Er hätte auch sagen können: Was für eine schöne Nacht!

Sie starrten ihn verwirrt an.

Einer sagte: „Wir haben keine Schaluppe mehr, Kapitän.“

Beeveren, der seine Pistolen nachlud, drehte den Kopf zu ihm. „Ach ja? Hast du das auch schon gemerkt, Dummkopf?“

„Ja, aber …“

„Kein aber!“ schnappte Beeveren. „Wir marschieren. Etwa fünfzehn Meilen südlich stehen Pfahlbauten an der Küste. Und was liegt an den Pfahlbauten vertäut?“

„Auslegerboote“, sagte der Kerl.

„Richtig, Auslegerboote.“ Beeverens Augen glitzerten. „Und wohnen in den Pfahlbauhütten nicht auch Weiberchen, Dummkopf?“

Da fing die Horde wieder an zu johlen. Kapitän Beeveren hatte immer noch die besten Ideen. Muskatnußbäume der Spanier oder Portugiesen umzulegen oder ihre Gewürzplantagen und Schiffe zu überfallen, war die eine Sache und mit Arbeit verbunden, manchmal auch mit ein paar Beulen oder Blessuren, wenn es sich um die Schiffe handelte. Und „Weiberchen“ einfangen, war die andere Sache, die am meisten Lust und Spaß brachte. Da gab’s zwar auch hin und wieder Kratzer bei der Zähmung, aber das erhöhte ja das Vergnügen.

Fünfzehn Meilen, na und? Wenn es um „Weiberchen“ ging, würden sie auch einhundertfünfzig Meilen laufen. In einem Stück würden sie die abreißen.

Um die Toten kümmerten sie sich nicht. Gleich ihrem Kapitän hatten sie Herzen aus Stein und die Gemüter von Fleischerhunden. Gewalt war ihr Handwerk. Doch zum ersten Male, seit sie hier an der Küste des Golfes von Davao im Südosten der Philippinen-Insel Mindanao ihr Unwesen trieben, hatte sich die Gewalt gegen sie gewandt, und mit dem Verlust ihrer vier Schaluppen waren sie zum Rückzug gezwungen.

Wer ihr Gegner war, das wußten sie nicht. Spanische Bastarde, hatte Pieter Hendrik Beeveren gemeint und dabei wieder einmal ausgespuckt, wie er es immer tat, wenn er etwas verächtlich fand.

Aber es waren nur zwei Schaluppen gewesen, mit denen sie es zu tun gehabt hatten. Zwei lächerliche Schaluppen, besetzt mit nur je sechs Kerlen, und die hatten die Hölle losgelassen.

Tief in Pieter Hendrik Beeveren fraß die Wut. Oh, er würde es diesen spanischen Bastarden heimzahlen, mit Zins und Zinseszins. Wer einem Pieter Hendrik Beeveren auf die Füße trat, dessen Stunden waren gezählt – wie bei den drei Hurensöhnen, die gewagt hatten, sich an ihm zu vergreifen.

Dennoch, neben der Wut spürte Beeveren etwas, das ihm bisher fremd gewesen war, nämlich Unsicherheit. Noch nie war ein Gegner derart mit ihm umgesprungen. Er war es gewohnt, die Schläge zu verteilen und über einen Gegner zu triumphieren. Keiner war ihm ebenbürtig.

Darum auch hatte ihn die ehrenwerte Handelsgesellschaft der ebenso ehrenwerten Kaufherren Heyndrick Hudde, Reynier Pauw, Pieter Hasselaar und Jan Karel in Amsterdam großzügig ausgerüstet und beauftragt, „im Land der edlen Gewürze“ Handelsposten zu errichten, sich einzunisten und sich nicht zu scheuen, den Gewürzhandel der Spanier und Portugiesen auf jede erdenkliche Weise zu schädigen, zum Erliegen zu bringen und selbst an sich zu reißen.

Jawohl, für diesen Auftrag war er der richtige Mann, und die ehrenwerte Handelsgesellschaft hatte ihm mit Billigung der „Sieben Provinzen“, die sich im Jahre 1579 von der spanischen Herrschaft losgesagt hatten, volle Handlungsfreiheit gegeben. Er konnte nach eigenem Ermessen vorgehen – auch und gerade mit Gewalt.

Daß er jetzt der Gegengewalt weichen mußte, war für ihn eine neue Erfahrung, eine Erfahrung, die ihn verunsicherte, obwohl er sich einredete, nur einen „taktischen“ Rückzug anzutreten, aus dem heraus er wieder zum Angriff vorprellen würde.

Es ging ihm nicht in den Kopf, wie es nur zwölf Kerlen hatte gelingen können, ihn zu überrumpeln, mit ihm Katze und Maus zu spielen und ihn schließlich zum Abbruch seines Lagers zu zwingen.

Dabei hatten diese Bastarde bisher keinen einzigen Kratzer abbekommen – und als er gemeint hatte, die eine ihrer beiden Schaluppen zerschossen zu haben, da stellte sich heraus, daß es ihr eigenes Schiff gewesen war – ihr letztes. Und er selbst, Pieter Hendrik Beeveren, hatte dazu den Feuerbefehl gegeben!

Er war weit davon entfernt, Selbstkritik zu üben. Was er tat, war immer richtig. Die Idioten hätten ja vorher rufen können, daß sie es seien, nicht wahr?

Er schob die lästigen Gedanken beiseite und befahl seinen Kerlen, ihre Waffen und für sich selbst etwas Proviant mitzunehmen. Sein Zeug mußte natürlich einer der Kerle zusätzlich mitschleppen. Was denn sonst?

Im Gänsemarsch, Beeveren an der Spitze, setzten sie sich in Bewegung – mit ihrem Kapitän noch vierunddreißig Kerle, die meisten von ihnen lädiert und angeschlagen, teils vom Gegner, teils durch sich selbst, als sie aufeinander losgedroschen hatten.

Die fünf Toten blieben dort liegen, wo sie zusammengebrochen waren.

Erst jetzt fiel Beeveren ein, daß die „spanischen Bastarde“ Marten de Groot gefangen hatten, seinen Späher, den er losgeschickt hatte, um das Lager nach Norden abzusichern.

Scheiße! dachte Beeveren. Marten war sein bester Mann. Aber der würde sich eher die Zunge abbeißen, als den Hunden zu verraten, wo sie ihr Kastell errichtet hatten.

Und dann fiel Beeveren der Wachposten ein, der das Lager nach Süden hatte absichern sollen – Brouwer, dieses Tränentier. Wo steckte der Kerl? Hatten sie ihn auch gefangen? In diesem Moment wurde Beeveren klar, daß Brouwer versagt haben mußte. Er hätte die Schaluppe sehen müssen, die von Süden heraufgesegelt war und vor ein paar Stunden das Lager beschossen hatte – mit Erfolg. Denn dabei war jene Schaluppe zum Teufel gegangen, der sie gerade den neuen Mast verpaßten.

Beeveren stoppte und drehte sich zu den Kerlen um.

„Was ist mit Brouwer?“ knurrte er. „Hat den jemand zufällig gesehen, vielleicht nach dem letzten Überfall der Olivenfresser?“

Sie schüttelten die Köpfe.

„Der sollte doch südlich unseres Lagers Ausguck gehen“, sagte einer.

„Das weiß ich selbst!“ blaffte Beeveren, wölbte die Hände vor den Mund und brüllte: „Brouuuwer!“ Und noch einmal.

Sie lauschten.

Und da hörten sie von irgendwoher undeutliche Laute, eine Art Grunzen, aber ein tierischer Laut war das nicht. Das klang eher nach einem Menschen, dem der Mund verschlossen war.

Geknebelt, dachte Beeveren grimmig und wandte sich in die Richtung, aus der die Laute zu ihnen drangen. Die Kerle trotteten hinter ihm her. Und so fanden sie Brouwer, geknebelt unter einer umgestürzten Kokospalme, an die er kunstvoll gefesselt war. Am Hinterkopf hatte er eine wüste Beule.

Natürlich wußte er von nichts.

„Sie haben mich von hinten überfallen“, sagte er und vermied es, Beeveren in die Augen zu sehen.

„Ob von hinten oder vorn, spielt keine Rolle, sie hätten dich sowieso erwischt“, sagte Beeveren kalt. „Du hast nämlich auf dem Stamm gesessen und gepennt, du Hurensohn. Da sind deine Stiefelabdrücke, und daneben ist der Abdruck von der Kolbenplatte deiner Muskete, die du an den Stamm gelehnt hast. Und hinter dem Stamm, genau hinter deinem Sitzplatz, sind die Fußspuren von den Kerlen, die dir was über den Schädel gehauen haben. Belügen des Kapitäns und Schlafen auf Wache – nach den Artikeln unserer Bordgesetze verurteile ich dich hiermit zum Tode, Brouwer. Hast du noch etwas zu sagen, du Hurensohn?“

Die Kerle traten aus der Schußrichtung, als Beeveren die Pistole zog und den Hahn spannte.

„Gnade“, flüsterte Brouwer mit Schweißtropfen auf der Stirn. „Ich bitte um Gnade, Kapitän.“

„Du bist ein Arsch, Brouwer“, sagte Beeveren. „Wiederhole, daß du ein Arsch bist!“

„Ich bin ein Arsch“, winselte Brouwer.

Beeveren nickte, entspannte die Pistole und sagte: „In meiner unendlichen Gnade schenke ich dir das Leben, Brouwer. Deine Heuer wird bis zur Rückkehr nach Holland gestrichen und der Kapitänskasse zugeführt.“ Die Stimme Beeverens wurde gesalbt. „Ich werde deine Heuer nach unserer Rückkehr an die Witwen und Waisen unserer tapferen Männer verteilen, die auf dieser Reise ihr Leben lassen mußten. Bist du damit einverstanden, Brouwer?“

„Ich danke dir für deine Güte und Großmut, Kapitän“, erwiderte Brouwer, „und ich bin einverstanden, daß du meine Heuer für einen guten Zweck verwendest.“

Das war die reinste Heuchelei – Brouwer wußte es, und Beeveren wußte es. Die Witwen und Waisen waren Fiktion. Beeveren würde die Heuer mit Saufen und bei den Huren von Amsterdam durchbringen – genauso wie die Heuer der Toten, die wiederauferstanden, wenn Kapitän Beeveren die Mannschaftsliste den ehrenwerten Kaufherren in Amsterdam zwecks Auszahlung der Heuer präsentierte. Je mehr Tote – desto fetter die Geldkatze, mit der Kapitän Beeveren das Kontor in Amsterdam verlassen würde.

Am Strand entlang marschierten sie weiter südwärts.

Sie erreichten noch vor dem Morgengrauen die Pfahlbauten weiter unten im Süden an der Westküste des Golfes von Davao. Beeveren hatte seine Kerle mächtig angetrieben. Sie mußten an Ort und Stelle sein, bevor die Eingeborenen wach waren und mit ihren Auslegerbooten zum Fischfang auf den Golf hinaussegelten. Ohne die Boote war kein Rückzug möglich, es sei denn, sie bauten Flöße, aber Beeveren hatte nicht die Absicht, Zeit zu vertrödeln. Er wollte so schnell wie möglich zum Stützpunkt zurück – zum Inselkastell.

Als die Pfahlbauten vor ihnen auftauchten – und mit ihnen die an den Pfählen vertäuten Auslegerboote –, atmete Beeveren auf. Diese Affen schliefen also noch.

Für Beeveren waren die Badjao Affen, obwohl sie mit denen nichts gemein hatten – es gab keine Affen, die in der Lage waren, schnelle Boote zu bauen und sie auch meisterhaft zu handhaben. Diese Bezeichnung war also unsinnig, aber typisch für Beeveren, der andersfarbige Menschen lediglich als Tiere einstufte, allenfalls brauchbar, um sie zu benutzen.

Die Hütten waren aus Bambus errichtet und mit Schilfdächern versehen. Die Bauten standen jeweils auf sechs Pfosten, auf denen die Plattform ruhte, welche die feste Basis für die Hütte darstellte. Alle Teile hielten mittels verzahnter Kerben und einer Verschnürung mit Rotanseilen zusammen. Nägel kannte man nicht.

Tagsüber verliefen Bambusstege zum Land und von Hütte zu Hütte. In der Nacht holte man die Stege ein. Aber das war kein Hindernis für Beeveren und seine Kerle, die jetzt verschnauften, aber bereits glitzernde Augen hatten. Was in deren wüsten Köpfen zur Zeit vor sich ging, konnte sich Beeveren ausmalen – er dachte in ähnlichen Bahnen, aber Schnaps war Schnaps, Weiberchen waren Weiberchen – jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Den Spaß konnte man im Inselkastell nachholen.

Leise sagte Beeveren – sie waren noch an die fünfhundert Yards von den Pfahlbauten entfernt: „Hört zu, ihr kleinen Teufelchen! Die Weiber sparen wir uns auf, bis wir im Kastell sind. Wichtig sind für uns zuallererst die drei größeren Ausleger – jene mit dem vorderen Dreibeinmast, die Langboote, die von diesen Affen ‚Balanghais‘ genannt werden. Die werden zuerst beschlagnahmt und besetzt. Das besorgen jeweils drei Mann, die sich die Dinger schnappen und sofort zum Land bugsieren.“ Er teilte neun Kerle für diese Aufgabe ein.

„Die anderen“, fuhr er fort, „werden mit je vier Mann die sechs Hütten entern und die Weiberchen aussortieren, die wir mitnehmen. Ich bitte mir knackige Weiberchen aus, keine alten Tanten mit flachen Brüsten, Runzeln und zahnlosen Schnuten. Damit das klar ist.“

Das war die richtige Ansprache für diese Kerle, ihr Grinsen zeigte das. Einem neutralen Beobachter hätte es bei diesem Grinsen gegraust.

„Was die anderen Affen betrifft“, sagte Beeveren und spuckte nach links, „da tut euch keinen Zwang an. Wer das Maul aufreißt, der kriegt was drauf, wie sich das gehört. Na, ihr wißt schon – mit einem Messerchen kann man vieles regeln. Geschossen wird nicht, ich will keinen Krach. Wir waten bei den Hütten ins Wasser und schwimmen hinüber, lautlos, versteht sich. Erst wenn wir alle an den Plattformen sind, wird geentert. Ich gebe dafür das Zeichen. Noch Fragen?“

Sie schüttelten die Köpfe. Unternehmen wie dieses hatten sie oft genug durchgeführt, und sie wußten, was zu tun war. Im Handwerk der Gewalt hatten sie alle mehrfach ihren Meisterbrief erworben und ihre Prüfungen bestanden.

Ihr Innungsmeister nickte ihnen zu, und sie schlichen binnenwärts des Strandgebüschs weiter, bis sie die Pfahlbauten querab hatten. Dort legten sie Musketen und Pistolen sowie ihre Segeltuchbeutel mit dem Proviant ab und behielten nur die Blankwaffen bei sich.

Nachdem sie sich auch ihrer Stiefel entledigt hatten, verteilten sie sich, überquerten den Strand und wateten ins Wasser. Noch lag die Morgenstille über dem Golf. In einer knappen Stunde würden die Vögel zu lärmen beginnen und den neuen Tag verkünden, einen Tag wie jeden anderen, nur für die Badjao nicht, die ein holländischer Kapitän und Schlagetot „Affen“ nannte.

Sie wateten, bis ihnen das Wasser über die Brust stieg. Dann schwammen sie – sechs Gruppen, die sich den Pfahlbauten unaufhaltsam näherten.

In den Hütten regte sich nichts. Sie waren zu sorglos, diese Badjao, obwohl sie gesehen hatten, daß die Schiffe der Fremden an der Küste entlang in den Golf gesegelt waren – das große Schiff mit den drei Masten und später die vier kleineren Schiffe mit dem einen Mast.

Und sie hatten auch von Norden her das dumpfe Geräusch der Rohre gehört, die Feuer ausspuckten, Feuer und Kugeln aus Eisen. Igna, der Alte, hatte bedächtig gemeint, es sei wohl wieder an der Zeit, weiterzuziehen, dorthin, wo sich noch keine weißen Fremden gezeigt hätten. Er vermied es, diese Fremden Teufel zu nennen.

Sie hatten genickt und Ignas Rat erwogen. Sie kannten keine Tage oder Monate oder Jahre. Sie fühlten sich eingebunden in den ewigen Kreislauf der Natur, die ihnen alles gab, was sie brauchten. Und sie brauchten nicht viel, weil sie genügsam und anspruchslos waren. Sie lebten von den Früchten des Meeres, von den Wurzeln der Maniokgewächse und von Kokosnüssen. Ihre Gemeinschaften bestanden aus Familiengruppen, die sich in mehr oder weniger großer Anzahl zusammengetan hatten, ohne einen direkten Häuptling zu haben. Hier waren es sechs Familien mit durchschnittlich acht Mitgliedern.

Nein, sie ahnten nichts, auch wenn ihnen die weißen Fremden nicht geheuer waren. Aber sie würden ja in den nächsten Tagen mit ihren Booten weiterziehen, vielleicht hinüber zum Golf von Moro und dann in die Inselwelt des Sulu-Archipels. Sie hatten keine Eile. Sie wollten nichts von den Fremden, und sie erwarteten, daß auch die Fremden von ihnen nichts wollten. Man mied sie, das war alles.

Beeveren langte bei einer der mittleren Pfahlbauten an, hielt sich an einem Pfosten fest und blickte nach links und rechts. Als er sah, daß die jeweils drei Kerle bei den Balanghais waren, bedeutete er ihnen, die Fahrzeuge von den Leinen zu lösen und zum Strand zu bugsieren.

Sie kappten die Leinen mit ihren Messern, richteten die Boote auf den Strand aus und schoben sie vor sich her strandwärts. Da war nur ein leises Plätschern zu hören, mehr nicht. Es reichte nicht aus, die „Affen“ zu alarmieren. Beeveren wartete, bis die drei Balanghais den Strand erreicht hatten. Seine restlichen Kerle hatten sich inzwischen um die sechs Pfahlbauten verteilt, jeder auf einer anderen Seite der jeweiligen Plattform, so daß sie sich gegenseitig nicht behindern würden, wenn sie sich hochschwangen.

„Enter auf!“ brüllte Beeveren.

Sie schnellten aus dem Wasser, stemmten sich an den Kanten der Plattform hoch, warfen sich vor, zogen die Beine nach und herum und sprangen Sekunden später auf, die Messer wieder in den Fäusten, die sie vorher zwischen die Zähne geklemmt hatten.

Sie fackelten nicht lange. Zwei Hiebe mit dem Messer genügten, um die Rotanseile zu durchtrennen, die als Türangeln dienten. Dann reichte ein Fußtritt, um die Tür aus Bambusstäben ins Hütteninnere zu befördern.

Was folgte, war an Brutalität und Menschenverachtung kaum zu überbieten. Sie griffen wahllos zu, zerrten die Überrumpelten, die viel zu verängstigt waren, um sich zu wehren, an den Haaren hinaus auf die Plattform, begutachteten das Opfer – da sich ihr Kapitän ja „knackige Weiberchen“ ausgebeten hatte – und stießen es ins Wasser, wenn sie es als „unbrauchbar“ taxierten. In der Regel waren das die Alten, die Kinder und die Männer. Die Kinder schleuderten sie schwungvoll davon – sie schwenkten sie an den Füßen durch die Luft. Und auch die Messer setzten sie ein, obwohl nicht der geringste Widerstand geleistet wurde.

Sie johlten und wieherten und grölten und lachten. Sie gleichfalls als Affen zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung für diese Tiergattung gewesen.

Die Badjao waren ausgezeichnete Schwimmer und Taucher – von klein auf. Auch die Verletzten schafften es, den Strand zu erreichen, abseits der neun Kerle am Wasser, die nur darauf lauerten, ebenfalls mitzumetzeln. Nur die Toten trieben ab und sanken.

Igna, der Alte, aber ein zäher Alter, überlebte mit einem Messerstich in der Schulter. Er sammelte seine Leute, kümmerte sich um die Kinder und führte alle in tiefes Dickicht, wo sie in Sicherheit waren.

Eigentlich waren sie noch genug, um die neun Kerle bei den Balanghais zu überfallen und blitzschnell mit ihren drei Fahrzeugen zu verschwinden, bevor jene Teufel auf den Plattformen reagieren konnten. Aber sie hatten nicht gelernt, sich zur Wehr zu setzen. Sie kannten keine Kämpfe, weil ihre Welt in Ordnung war, eine Welt ohne Neid und Mißgunst, ohne Gier auf des anderen Besitz. Daß sich diese Welt zu verändern begann, ahnten sie nicht. Es war auch unvorstellbar für sie, denn wie sollte sich eine Welt verändern, die seit urdenklichen Zeiten so bestand, wie die Badjao sie kannten?

Mit acht jungen Frauen zogen die weißen Fremden ab. Sie waren „aussortiert“ worden und entsprachen der lüsternen Vorstellung des Pieter Hendrik Beeveren. Seine und seiner wüsten Kerle letzte Untat bestand darin, die Pfahlbauhütten in Flammen aufgehen zu lassen, bevor sie mit den drei Balanghais nach Süden segelten.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 524

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