Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 334 - Davis J. Harbord, Fred McMason - Страница 5

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27. Juni 1593, auf der Azoren-Insel Flores.

Neun Männer lagen gefesselt in dem feuchten, stockfinsteren Keller unter den Mannschaftsunterkünften des spanischen Stützpunktes auf Flores. Diese Männer waren Philip Hasard Killigrew, Dan O’Flynn, Edwin Carberry, Ferris Tucker, Batuti und Smoky sowie ferner Adriano de Mendoza y Castillo, der Kapitän der durch einen heimtückischen Fangschuß versenkten spanischen Galeone „Confianza“, sein Erster Offizier Alfredo Vergara und sein Zweiter Offizier Juan Luis Benitez.

Die sechs Seewölfe hätten es vermutlich als einen grotesken Witz bezeichnet, wäre ihnen am 16. Juni prophezeit worden, daß sie elf Tage später das Los der Gefangenschaft mit ihrem Gegner teilen würden. Ja, sie hätten wohl nur verächtlich gelächelt, wenn ihnen dann auch noch jemand gesagt hätte, drei Offiziere der spanischen Marine würden sich ihnen als Bundesgenossen anschließen und zu ihren Freunden werden.

Aber das Groteske war geschehen. Sie lagen Seite an Seite mit drei spanischen Offizieren, die allerdings sehr ehrenwerte, tapfere und anständige Männer waren. Ja, daß sie zu kämpfen verstanden, das hatten diese drei Dons bereits bewiesen. Und da war hervorzuheben, daß Kapitän Castillo die gleichen Ansichten wie Hasard vertrat – was zum Beispiel das Vorgehen seiner Landsleute in der Neuen Welt betraf.

Castillo hatte den Mut aufgebracht – besser gesagt, die Zivilcourage –, an höchster Stelle in Spanien gegen die Ausbeutung, gegen die Verfolgung der Eingeborenen, gegen den Terror in der Neuen Welt zu opponieren. Seine Kritik war auf totale Ablehnung gestoßen, vor allem bei der Kamarilla bei Hofe, die seine Denkart für unerhört, ja, für staatsschädigend hielt, aber das auch nur im Hinblick auf die eigenen Pfründe.

Man hatte beschlossen, diesen unbequemen Mann unauffällig aus dem Wege zu räumen. Zum Vollzieher des Mordplans hatte man Ramón Firuso de Fernández ausgewählt, den Generalkapitän jenes Geleitzuges, der am 16. Juni gegen jeden vernünftigen Grund den Verband Hasards angegriffen hatte. Die Unvernunft des Generalkapitäns hatte jedoch tatsächlich einen Grund gehabt. Er hatte das Gefecht mit dem englischen Gegner aufgenommen, um im Zuge der Kampfhandlungen unauffällig die eigene Kriegsgaleone „Confianza“ mit seinem Flaggschiff „Vencedor“ zu versenken und damit – das war seine Absicht – Kapitän Castillo zu liquidieren.

Daß bei dieser Versenkung auch brave spanische Seeleute den Tod finden sollten, hatte für den Generalkapitän de Fernández überhaupt keine Rolle gespielt.

Nun war die „Confianza“ durch den Stückmeister der „Vencedor“, Jaime Rabel, zwar versenkt worden, aber Kapitän Castillo, seine beiden Offiziere und einige Männer der Crew waren gerettet worden – von den Männern der „Isabella IX.“, die wiederum während des Gefechts mit grimmiger Verblüffung Zeuge des „Fangschusses“ geworden waren.

Und sie hatten Kapitän Castillo aufgeklärt über das Geschehen. Sie hatten ferner mit ihm zusammen beschlossen, Flores, der westlichen Azoren-Insel, einen Besuch abzustatten – um die geretteten Spanier abzusetzen und Castillo Gelegenheit zu geben, das Komplott, das gegen ihn geschmiedet worden war, aufzuklären. Denn der Kommandant des dortigen Stützpunktes, Capitán Manuel Orosco Torres, hatte seine schmutzigen Finger im ebenso schmutzigen Spiel.

Allerdings war dieser sehr dubiose Mann zur Zeit gewissermaßen handlungsunfähig, weil ein Untergebener von ihm, der Teniente Menacho, das Kommando über den Stützpunkt rigoros übernommen hatte – einmal, weil er auf den Posten des Stützpunktkommandanten scharf gewesen war, zum anderen, weil er gemerkt hatte, daß mit seinem Kommandanten irgend etwas faul sein mußte.

Leider war es dieser Teniente Menacho gewesen, dem es gelungen war, Hasards in den Stützpunkt eingedrungene Gruppe im Gegenzug zu überwältigen und im Keller unter den Mannschaftsräumen einzusperren.

Er hatte sie mit Stricken fesseln lassen und verkündet, sie sollten am nächsten Tag in Ketten gelegt werden – ein Hinweis, der die Aktivitäten der sechs Seewölfe in der Nacht vom 26. auf den 27. Juni ungemein motiviert hatte.

Wer die Absicht hegte, Seewölfe „an die Kette“ zu legen, der mußte wissen, auf was er sich da einließ. Der Teniente wäre besser beraten gewesen, wenn er über diese, seine Absicht das Maul gehalten hätte.

Daß diese Engländer scharfe Hunde waren, hatte er zwar bereits mitgekriegt, aber daraus keine Folgerungen gezogen. Er hielt das Kellerloch für absolut ausbruchssicher. Fenster waren nicht vorhanden, sondern nur eine schwere Luke über der Kellertreppe, die zum Korridor der Mannschaftsunterkunft hochführte.

Natürlich war diese Luke so verrammelt, daß sie von unten nicht aufgebrochen werden könnte. Da hätten die Gefangenen schon einen Rammbock haben müssen, aber von dem Krach wäre wiederum der ganze Stützpunkt alarmiert worden.

Es gab jedoch keinen Rammbock, außerdem waren die Gefangenen gefesselt, und zudem wurde die Luke oben vom Korridor aus von einem Doppelposten bewacht. Dieser Doppelposten wurde alle zwei Stunden abgelöst. Zwecks „ordnungsgemäßer Wachübergabe“ öffneten nach dem Ablauf der zwei Stunden die beiden alten und die beiden neuen Posten – also vier Soldaten – die Luke und spähten hinunter in den Keller, ob alle Schäfchen noch beisammen waren.

Aber wo sollten die auch hin, nicht wahr? Durch yarddicke Kellerwände – behauenes Felsgestein, durch eisenharten Mörtel verfugt – gelangte kein Mensch. Da hätte er schon ein paar Wochen mit Hammer und Meißel und Spitzhacke arbeiten müssen – und das wäre sogar dem müdesten und dümmsten Soldaten aufgefallen.

Nein, die Soldaten teilten die Ansicht des Teniente, daß es völlig unmöglich sei, aus dem Keller auszubrechen.

Für die Seewölfe hingegen existierten weder die beiden Wörtchen „völlig unmöglich“ noch die Einschränkung „unmöglich“. Die setzten schlicht ihren verbissenen Trotz ein, der ebenso schlicht auf der Tatsache beruhte, keine Ketten tragen zu wollen – und dann noch spanische Ketten.

Zwar hatte ihr Kapitän einen Brummschädel, hervorgerufen von einem hinterrücks geführten Schlag auf den Hinterkopf, aber das hinderte ihn nicht, die alle zwei Stunden stattfindende Kontrolle von vier Soldaten zu registrieren, die durch die Luke starrten und mit Laternen das finstere Loch ausleuchteten.

„Die Luke“, hatte Hasard vor Mitternacht gesagt, „durch die Luke müssen wir raus, Leute! Das ist der einzige Ausgang, der in die Freiheit führt – in eine knapp bemessene und gefährliche Freiheit, denn wir befinden uns mitten im Stützpunkt, in dem nach wie vor die Dons das Sagen haben. Aber erst müssen wir aus diesem Loch einmal raus. Wir bleiben so liegen, wie uns die Kerle hingepackt haben und auch gewohnt sind, uns nach jeder Wachablösung liegen zu sehen. Zwischendurch darf ich euch darum bitten, daß ihr euch mit euren Fesseln beschäftigt.“

Es war gut, daß die Spanier, fromm wie sie waren – oder auch nicht –, auf Flores in unmittelbarer Nähe des Stützpunktes eine Kapelle errichtet hatten. Zu dieser Kapelle gehörte natürlich eine Glocke, besser gesagt ein Glöcklein, ein Ding, dessen Gebimmel den Profos Edwin Carberry schlichtweg nervte.

Er hatte diese Bimmel als „Armsünderglocke“ bezeichnet, also als jene Glocke, die „armen Sündern“ geläutet wird, wenn sie von hinnen gegangen sind und zur letzten Ruhe gebettet werden.

„Nicht mit mir“, hatte er geknurrt. „Nicht mit mir, bitte sehr, der ich zwar ein frommer Pilger, aber mitnichten ein armer Sünder bin. Das Ding hat einen Klang, daß einem die Haare wehtun, Himmel, Arsch und Bimmelei!“

Smoky, der neben ihm lag, bestätigte die Schmerzempfindungen des Profos und erweiterte sie um die Nuance, daß man davon Zahnschmerzen kriegen könne.

„Aber nur jede Stunde“, sagte er.

Und genau das war’s. Daß die Haare wehtaten oder die Zähne schmerzten, war unwichtig. Aber durch die Glockenschläge wurden sie informiert, wie spät es war. Zwölf Glockenschläge hatten den neuen Tag, den 27. Juni, angekündigt.

Noch während der Bimmelei ging das Rumpeln an der Luke los, das ankündigte, daß jetzt wieder eine „Besichtigung“ fällig war. Die neun Männer in dem Kellerloch nahmen Schlafposition ein, um sich zwar besichtigen zu lassen, dabei aber auch selbst verstohlen die Lage peilen zu können.

Das wäre wichtig, hatte Hasard gesagt. Denn sie müßten wissen, wo sich die Kerle an dem Lukenrand postierten. Das hatten sie nämlich um zehn Uhr vor Mitternacht noch nicht so genau mitgekriegt.

„Soldaten“, hatte Hasard erklärt, „haben die merkwürdige Angewohnheit, immer das gleiche zu tun. Das hängt mit dem sturen Drill zusammen. Wenn solche Kerle Posten gehen, marschiert einer wie der andere vier Schritte in die eine und vier Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Deshalb werden sich die vier Kerle da oben auch bei der Wachübergabe an vier festen Punkten hinhocken, um in den Keller zu schauen. Macht der Gewohnheit, nennt man das. Wichtig ist, welche Position der Soldat mit der Lampe einnimmt. Um zwei Uhr werden wir unsere Beobachtungen noch einmal überprüfen. Und um vier Uhr sollten wir dann soweit sein, sie überrumpeln zu können.“

Die Luke krachte also auf, nachdem sie unten im Keller deutlich gehört hatten, wie die Riegel zurückgerasselt waren. Und gleich darauf fiel ein fast greller Lichtschein in den Keller, huschte über die neun liegenden Gestalten und verharrte dann am Fuß der Steintreppe.

In deren Nähe lag Ferris Tucker, und er fuhr hoch, das heißt, er bäumte sich auf, weil er ja an Füßen und Händen gebunden war, die Hände auf dem Rücken, und brüllte nach oben: „Ruhe, verdammt noch mal! Muß man hier dauernd im Schlaf gestört werden? Habt ihr nichts anderes zu tun, als uns alle naselang zu beglotzen?“ Er rappelte das in der spanischen Sprache herunter, ein bißchen falsch in der Betonung.

Die vier Soldaten oben an der Luke fanden das sehr komisch und brachen in Gelächter aus.

Demzufolge lösten sich auch die acht anderen Gefangenen aus dem „Schlaf“ und empörten sich über den „ruhestörenden Lärm“. Und natürlich peilten sie dabei die Lage, nachdem sie lange genug geblinzelt und den Maulwurf markiert hatten, der plötzlich ans Licht gestoßen ist.

Der Soldat mit der Laterne stand an der Schmalseite der Luke, wo die Treppe endete. Er war in die Knie gegangen wie die anderen und leuchtete Ferris Tucker an. Ihm gegenüber an der anderen Schmalseite der Luke hockte noch einer. Die beiden anderen Soldaten linsten von der Breitseite her in den Keller hinunter. Auf der anderen Breitseite befand sich die zurückgeklappte Luke.

Der Soldat mit der Laterne schwenkte jetzt den Lichtschein hin und her, als sei das ein feiner Spaß, die neun Gefangenen zu blenden, und brüllte hinunter: „Maul halten! Oder ich rufe den Zuchtmeister, der euch ein feines Tänzchen zeigen wird – ein Mitternachtstänzchen, bei dem ihr singen und jubilieren werdet!“

„Idiot!“ sagte Carberry grollend. „Mit Zuchtmeistern tanze ich nicht! Habt ihr nicht was anderes zum Jubilieren? Was mehr Weibliches oder so?“

Smoky war am Kichern und sagte glucksend: „Was schön Rundes – oder so!“

„Maul halten!“ brüllte der Laternensoldat zum zweiten Male.

„Dem fällt auch nichts anderes ein“, sagte Carberry und brüllte zur Luke hoch: „Ich rede, wann’s mir paßt, verstanden? Und von mir aus hol euren Zuchtmeister. Und sag ihm gleich, ich sei ein Kollege, den’s mächtig jucke, ihn mal streicheln zu dürfen.“

Der Soldat leuchtete Carberry an, und der zuckte nicht mit der Wimper.

„Du bist auch ein Profos?“ fragte der Soldat.

„Bin ich“, erklärte Carberry grimmig, „aber keiner von der Sorte, die darauf scharf ist, anderen mitten in der Nacht ein feines Tänzchen zu zeigen – zum Singen und Jubilieren. Laß uns schlafen, mein Sohn. Morgen ist auch noch ein Tag. Und jetzt sei friedlich und mach das Schott dicht. Ich brauche meine Ruhe, was, wie?“

„Merkwürdiger Kerl“, sagte der Soldat, der dem Laternenmann an der Schmalseite der Luke gegenüberhockte. „Was der für Narben im Gesicht hat!“

An der Längsseite nörgelte einer der beiden anderen Soldaten: „Wollt ihr mit denen noch lange herumpalavern? Dann tut das, aber ohne mich. Ich hab die Schnauze voll und möchte mich aufs Ohr legen.“

Der Kerl neben ihm sagte: „Guter Gedanke. Ich auch. Habt ihr übernommen? Ist alles klar?“

Der Laternenmann und der Soldat ihm gegenüber nickten. Und der Laternenmann sagte: „Alles klar. Wache übernommen!“

Und die Luke krachte zu.

Wieder waren die neun Männer in totale Finsternis gehüllt. Die Kellerluke war absolut dicht, keine Spalte zeigte sich. Das lag wohl an der feuchten Luft in dem Keller. Da quoll das Holz. Die Feuchtigkeit verhinderte, daß es schrumpfte.

Hasard lächelte in die Dunkelheit und sagte leise: „Bei uns dürfte auch alles klar sein. Habt ihr euch die vier Positionen gemerkt?“

Zustimmendes Gemurmel erklang.

„Gut“, sagte Hasard. „Um zwei Uhr bei der nächsten Wachablösung kontrollieren wir unsere Beobachtung. Um vier Uhr brechen wir aus. Jetzt laßt uns zusehen, daß wir die Stricke loswerden. Am besten Rücken an Rücken.“

Da sich die „Pärchen“ fanden, blieb einer übrig, und das war Edwin Carberry, der ganz außen lag. Er maulte herum, weil er unbeschäftigt blieb und niemand an „seinen Strippen herumzupfte“, wie er sich ausdrückte.

„Ed, sei friedlich“, mahnte Hasard, „sobald einer von uns frei ist, werden auch deine Strippen aufgezupft.“

Und Dan O’Flynn, der mit Smoky Rücken an Rücken lag, fügte hinzu: „Du hast sowieso viel zu dicke Wurstfinger, um diffizil geknüpfte Knoten aufknibbeln zu können, Ed!“

„Diffizil, eh?“ grunzte Carberry.

„Genau“, sagte Dan O’Flynn und wußte – es war ja finster –, daß Carberry jetzt Fragezeichen in den Augen hatte, weil er sich an dem Wörtchen „diffizil“ festgehakt hatte, von dem ihm nicht klar war, was das bedeuten sollte. Aber er ließ ihn zappeln.

Carberry räusperte sich und sagte: „Und was ist das?“

„Erzähl ich dir später“, sagte Dan, „muß mich jetzt konzentrieren.“ Und weil Smoky kicherte, fuhr er ihn an: „Halt die Flossen still, du Zappelphilipp!“

Smoky gluckste verhalten und sagte in Richtung Carberrys: „Ed, diffizil ist was ganz Schwieriges, verstehst du? Spanische Knoten sind zum Beispiel diffizil …“

„Ein Murks sind die!“ fauchte der Profos. „Und wenn, dann haben die auch keine anderen Knoten als wir! Knoten ist Knoten. Außerdem habe ich keine Wurstfinger, verflucht und geteert. Ich verbitte mir solche Verunglimpfungen meiner Finger. Und ich hab in meinem Leben schon mehr Knoten aufgeknibbelt als dieser Hüpfer O’Flynn. Als der noch in den Windeln ums Überleben kämpfte, weil er im eigenen Wässerchen schwamm, knüpfte und entknibbelte ich bereits Knoten, von denen ihr keine Ahnung habt! Und …“

„Ed!“ mahnte Hasard ein zweites Mal. „Laß es gut sein. Ich kann mich bei Batuti auch besser konzentrieren, wenn hier Ruhe herrscht. Beim nächsten Mal kannst du ja zeigen, wie fix du als Entfesselungskünstler bist. Einverstanden?“

„Aye, Sir, einverstanden. Du wirst staunen, Sir, wie schnell ich so was hinkriege. Ich hab da nämlich ein Gespür für, ehrlich! Ich taste den Knoten ab und weiß sofort, wo die Part ist, an der ich zupfen muß. Du kennst doch Knoten, Sir, nicht? Da ist immer eine Part, von der die andere bekniffen wird. Und wenn du die bekneifende Part lockerst …“

Ferris Tucker, der sich mit den Fesseln Kapitän Castillos beschäftigte, stöhnte laut und deutlich und knurrte: „Gibt’s hier niemanden, der diesem Mister Carberry die Luke dichtnagelt? Der ist zu dämlich, um zu begreifen, daß er uns mit seiner Quasselei stört!“

„Aha! Aha!“ Und dann verstummte Edwin Carberry, was darauf schließen ließ, daß er schwer eingeschnappt war.

Sicher, man konnte einem Mann wie dem Profos Edwin Carberry nichts Schlimmeres antun, als ihn zur Untätigkeit zu verdammen. Und das war es ja auch, was ihn so erboste. Aber er hatte nun mal keinen Partner, an dem er Knoten entknüpfen konnte, von denen die anderen „keine Ahnung“ hatten. Andererseits stimmte, was Dan O’Flynn gesagt hatte. Um es anders auszudrücken: Carberry hatte mächtige Fäuste, Dinger aus Eisen, hart und schwielig, zernarbt von zahllosen Kämpfen – und nicht mehr sensibel genug, um mit den Fingern Knoten abzutasten und zu lösen. Eben Wurstfinger!

Das wurmte ihn natürlich. Er war auch ein bißchen ungeduldig, dieser Profos. Dafür aber würde er um so besser sein, wenn’s ans „Aufräumen“ ging. Da war seine Pranke mehr als Gold wert.

Hasard ordnete das richtig ein und sagte versöhnlich: „Ed, um vier Uhr wirst du der Mann sein, der den ersten Schlag führt. Oben an der Kellertreppe bei dem Kerl, der die Laterne hält. Der muß sofort ausgeschaltet werden, damit die anderen gar nicht erst begreifen, daß wir auf dem Sprung sind. Das muß blitzschnell gehen, verstehst du? Eventuell mußt du in die heiße Lampe greifen, um sie ihm zu entreißen.“

Carberrys Grunzen klang sehr zufrieden. „Aye, Sir! Verlaß dich auf mich. Das regele ich.“

„Gut, Ed“, sagte Hasard.

Eine halbe Stunde später war es Dan O’Flynn, der als erster Erfolg hatte und Smokys Handfesseln aufknüpfte.

„Wir haben’s geschafft“, sagte Dan zufrieden, während Smoky sich bereits aufgesetzt hatte, um die eigenen Fußfesseln zu lösen.

„Wurde auch Zeit“, brummte der Profos. „Bei mir wär’s schneller gegangen.“

„Natürlich“, sagte Dan mit Spott in der Stimme, „wie beim Futtern, nicht? Da bist du auch immer der Schnellste und holst dir schon den dritten Schlag, wenn wir noch beim ersten sind.“

„Gute Esser sind gute Arbeiter“, erklärte Carberry ungerührt. „Und wer war denn früher der Vielfraß an Bord, he?“

„Das hast du fein gesagt, Ed“, erwiderte Dan O’Flynn. „Dann muß ich auch ein guter Arbeiter gewesen sein. Es ehrt mich, von dir gelobt zu werden.“

Bevor Carberry das Thema weiterverfolgen konnte, sagte Smoky: „Meine Füße sind frei. Wem soll ich helfen?“

„Nimm dir Dan vor“, sagte Hasard. „Ich glaube, ich bin bei Batuti auch gleich soweit.“

„Aye, Sir“, sagte Smoky.

„Und wer küßt mich?“ fragte Carberry, der immer ungeduldiger wurde.

„Oh!“ flötete Dan O’Flynn. „Sind Sie mit mir einverstanden, Mister Carberry?“

„Du Affenarsch!“ sagte Carberry mit Überzeugung.

Alles Weitere war kein Problem mehr. Als die Glocke der Kapelle die erste Morgenstunde einläutete, waren alle neun Männer von ihren Fesseln befreit und reckten und streckten sich.

Allerdings mußten sie dann wieder ihre alten Positionen einnehmen und sich auch die Fesseln zur Täuschung der Soldaten anlegen, natürlich nicht verknotet, sondern lose.

Sie verdösten die Stunde bis zum Wachwechsel der Posten um zwei Uhr. Da wurde es über ihnen wieder laut, die Riegel rasselten zurück, und die Luke krachte wie bei den anderen Malen auf den steinernen Korridorboden. Es hatte den Anschein, als legten die Kerle auf den Krach ganz besonderen Wert nach der Devise: warum sollen die Gefangenen pennen, wenn wir Wache gehen.

Daß sie den Gefangenen aber damit Gelegenheit gaben, hochzufahren – oder so zu tun –, darüber dachte wahrscheinlich keiner von ihnen nach.

Der übliche Ritus wickelte sich ab – unten im Keller wurde wegen des Lärms geschimpft, oben schwenkte der Kerl die Lampe, um die Gefangenen abzuleuchten – und natürlich zu ärgern.

Die neun Männer waren wieder am Blinzeln und konnten dabei feststellen, daß die Kerle die gewohnten Positionen einnahmen. Der Laternensoldat hockte an der Schmalseite, wo die Treppe hochführte, und Carberry merkte sich genau dessen Position. Zwei beugten sich über die Längsseite, und der vierte Posten befand sich dem Laternenmann gegenüber.

Es wurden Freundlichkeiten gewechselt, wobei sich der Laternenmann genüßlich darüber ausließ, daß der Schmied der Garnison die Ketten schon bereitgelegt hätte, und das seien sehr feine Ketten, wie sie Galgenvögeln als Zierde zuständen.

„Natürlich schön schwer“, sagte der Kerl, „damit ihr ordentlich was zum Herumschleppen habt und nicht auf krause Ideen verfallt.“

„Na, das ist aber sehr freundlich“, sagte Carberry. „So ein Kettchen am Fuß hab ich mir schon immer gewünscht. Das sieht so neckisch aus, was, wie?“

„Was ist das denn für einer?“ sagte einer der beiden Soldaten an der Längsseite. „Spinnt der?“

„Das ist ’n Profos“, sagte der Laternenmann verächtlich. „Große Schnauze und nichts dahinter.“

Das wurmte den Profos, aber er verkniff sich eine Antwort. Warte nur, Bürschchen, dachte er, vielleicht sehen wir uns in zwei Stunden wieder, dann zeig ich dir, was hinter der großen Schnauze steckt.

Der Kerl an der Längsseite sagte: „Ach so, ’n Profos. Dachte schon, der sei aus dem Urwald entsprungen.“ Er gähnte. „Also gut, abgelöst, wir übernehmen.“

Damit war auch die zweite Morgenstunde abgehakt. Die Luke krachte zu und wurde verriegelt.

„… dem Urwald entsprungen“, murmelte Carberry erschüttert. „Sir, was sagst du dazu?“

„Das mußt du anders sehen, Ed“, erwiderte Hasard vorsichtig. „Der hatte wahrscheinlich Angst vor dir …“

„Soll er auch“, knurrte Carberry und fügte etwas unlogisch hinzu: „Weiß gar nicht, was die immer ausgerechnet bei mir herumzustänkern haben und mich anöden.“

Hasard lenkte ab und sagte: „Hast du dir die Position des Laternenmanns gemerkt, Ed?“

„Hab ich, Sir.“ Er schien zu grinsen. „Der hält die Laterne so tief, daß ich nur zuzulangen brauche – mit links, Sir. Und mit der Rechten klopf ich ihm was aufs Maul. Es wird mir eine Ehre sein. Sir.“

„In Ordnung, Ed. So müßte es gehen. Du mußt nur schnell sein. Dann schlage ich vor, daß Batuti ebenfalls auf der Treppe steht und sich den Mann schnappt, der an der anderen Schmalseite hockt.“

„Aye, Sir, geht klar“, sagte Batuti.

„Und die beiden Kerle an der Längsseite?“ fragte Smoky.

„Die übernimmt Ferris, ebenfalls von der Treppe aus. Das wird etwas eng für euch, aber ihr wißt ja, wo ihr steht, damit ihr euch nicht gegenseitig behindert. Wir sind ja auch noch da, um einzugreifen, falls was schiefläuft. Ferris, du solltest nach links und rechts greifen – Front zur Längsseite – und die Köpfe der beiden Kerle zusammenbringen. Du verstehst?“

„Und ob“, sagte Ferris Tucker zufrieden. „In so was hab ich Übung.“

Ja, die hatte er, das war keineswegs übertrieben, vor allem, wenn man bedachte, über was für ungewöhnliche Körperkräfte der rothaarige Schiffszimmermann verfügte.

Kapitän Castillo, der bisher schweigend zugehört hatte, sagte: „Da bleibt für Señor Vergara, Señor Benitez und mich wohl gar nichts mehr zu tun, Kapitän Killigrew?“ Es klang, als erheitere ihn das alles.

„Da noch nicht, später schon“, sagte Hasard. „Entschuldigen Sie, Capitán Castillo. Aber wir sind auf so etwas gut eingespielt. Die drei Männer, die zunächst aktiv werden, wissen genau, wie sie ihre Sache anzupacken haben. Und darauf kann ich mich verlassen. Wenn das geklappt hat, wird sowieso noch eine Menge zu tun sein. Wir befinden uns ja sozusagen in der Höhle des Löwen. Also keine Bange, daß Sie nur zuzusehen brauchen.“

„Verstanden“, sagte Kapitän Castillo.

„Ed, Ferris, Batuti“, sagte Hasard, „probiert mal – aber bitte leise –, wie ihr euch auf der Treppe plazieren könnt. Ed, du wirst am weitesten hochsteigen müssen.“

Sie probierten es und tappten in der Finsternis die Treppe hoch. Zuerst Carberry, dann Ferris Tucker und zuletzt Batuti. Sie tasteten die Luke ab, um sich zurechtzufinden. Carberry stieg so weit hoch, bis er sich zusammenkrümmen mußte. Sie zählten die Stufen ab. Ferris Tucker würde vier Stufen unter ihm stehen, etwas gebückt. Drei Stufen tiefer würde sich Batuti befinden. Er war ja ein Riese. Wenn er hochlangte, würde er sich seinen Mann schnappen können. Ja, sie hatten genügend Bewegungsfreiheit auf der Treppe, das stand fest. Da war nicht zu befürchten, daß sie sich gegenseitig behinderten.

Carberry wäre am liebsten gleich da oben auf der Treppe in Lauerstellung hocken geblieben, wurde aber von Hasard wieder nach unten beordert, mit der Maßgabe, die zwei Stunden bis vier Uhr auszuruhen. Das galt auch für die anderen. Man mußte sich eben in Geduld üben und die Zeit ausnutzen, um zu entspannen.

Die Glocke kündigte die dritte Morgenstunde an – nur Batuti überhörte sie. Der schlief den Schlaf des Gerechten. Wahrscheinlich hatte er auch die besten Nerven.

Den Disput darüber – weil sich nämlich Carberry über den „Penner“ erregte – unterband Hasard kurzerhand mit der Bemerkung, die Gentlemen sollten sich doch, bitte sehr, ein Beispiel an dem Riesen aus Gambia nehmen.

So kehrte wieder Ruhe ein. Das Dösen ging weiter, Hasard blieb wach, und die Zeit tropfte dahin. Er war davon überzeugt, daß die beiden Posten oben an der Luke keineswegs wie scharfe Hunde lauerten. Die gestatteten sich garantiert ein Nickerchen, an der Korridormauer sitzend, den Kopf auf die Brust gesenkt. Auf und ab gingen sie jedenfalls nicht, wie sie das kurz nach der Wachablösung getan hatten. Das war deutlich zu hören gewesen.

Der Teniente Menacho, der das Kommando über den Stützpunkt an sich gerissen hatte, schien auch keinen Wert darauf zu legen, seine Wachposten zu kontrollieren. Seit sie hier in dem Keller waren, hatte er sich um die Gefangenen nicht mehr gekümmert.

Der scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein, dachte Hasard. Das sprach auch dafür, daß man einen Ausbruch der Gefangenen aus dem Keller für ausgeschlossen hielt. Das Unmögliche wurde absolut nicht ins Kalkül einbezogen. Nur hinterher – da war man dann auf einmal schlauer geworden. Fragte sich nur, wie das „hinterher“ dann aussah.

Hasard nickte auch etwas ein, bis er oben im Korridor die Tritte hörte – und kurz darauf Stimmengemurmel, das unwirsch klang. Er brauchte seine Männer nicht zu Wahrschauen. Die waren plötzlich blitzwach.

Und Carberry befand sich bereits oben an der Luke.

„Los geht’s, Leute“, sagte er leise, aber mit deutlicher Genugtuung in der Stimme.

Da war die Stimme von Ferris Tucker. „Alles klar, Ed!“

Und Batuti: „Bei mir auch!“

Und sie standen alle, nach oben lauernd.

Hasard sagte leise: „Tretet etwas von der Treppe zurück, aber stürmt sofort hoch, sobald Ed, Batuti und Ferris ihre Sache erledigt haben. Laßt mir den Vortritt, ich stehe unten an der Treppe etwas höher als Batuti.“

Sie murmelten ihr „Verstanden“.

Der nun schon vertraute Klag des Riegelklirrens ertönte. Carberry duckte sich zusammen wie eine sprungbereite Riesenkatze. Die Luke wurde angelüftet und flog zurück.

Carberry schnellte hoch wie ein Kastenteufel. Er befand sich dem Laternenmann genau gegenüber. Dessen grinsende Miene wechselte jäh in einen Ausdruck totalen Erschreckens. Vielleicht hielt er den Profos für ein fürchterliches Monster, für einen Fürsten der Hölle oder zähnefletschenden Kellergeist.

Einen Lidschlag später hatte er keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Alles ging viel zu schnell in einem geradezu rasenden Tempo.

Carberry entriß ihm die Lampe und hämmerte ihm gleichzeitig die rechte Pranke unter das Kinn. Der Kerl hob ab, sauste davon, beschrieb eine flache Flugkurve und landete rücklings, mit dem Kopf zuerst, auf dem Korridorboden. Der war, wie gesagt, aus Stein. Da der Kerl einen Helm trug, klang es, als habe die Glocke der Kapelle noch ein fünftes Mal geläutet, denn Sekunden vorher war gerade der vierte Glockenschlag verhallt.

Carberry drehte sich um – er stand schon im Korridor – und sah noch, wie zwei Helme an der Längsseite der Luke zusammenkrachten. Das war der sechste Glockenschlag. Die beiden Kerle verneigten sich nach vorn und kippten in die Luke, wobei Ferris Tucker ihnen half, weil er die Helmketten noch nicht losgelassen hatte. Sie plumpsten wie Mehlsäcke in den Keller.

Der vierte Soldat befand sich in unfreiwilliger Umarmung. Batuti hatte ihn zu sich heruntergerissen, war mit ihm nach hinten in den Keller getaucht und verpaßte ihm dort einen Jagdhieb an die Schläfe, nachdem er ihm den Helm abgenommen hatte. Vor lauter Entsetzen hatte der Kerl keinen Ton hervorgebracht. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

Bei den drei anderen war das genauso gewesen.

Hasard fegte bereits die Treppe hoch und sah mit einem Blick, daß der Korridor frei war. Er atmete zischend aus. Bis jetzt hatte alles geklappt.

„Gut, Ed“, sagte er. „Ab mit deinem Kerl in den Keller. Alle vier fesseln und knebeln. Nehmt ihnen alle Waffen ab. Die werden jetzt von uns gebraucht.“

„Aye, Sir“, sagte Carberry und grinste wild.

Minuten später lagen die vier Soldaten gefesselt und geknebelt unten im Keller und durften nunmehr der Ruhe pflegen. Das Blatt hatte sich gewendet. Jetzt würde über ihnen selbst die Luke verriegelt.

Hasard und die acht Männer schlichen zum Ausgang des Korridors.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 334

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