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3 New York

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Ende Mai 2018 war ich in New York, West Side Manhattan, wo ich mithalf, das Apartment meiner verstorbenen amerikanischen Stiefmutter zu räumen.

Mein bester Freund, der zufällig zur selben Zeit in New York war, bot seine Hilfe an. Wir mussten herausfinden, wo die nächsten Secondhandläden waren, und dann auf die Straße hinausgehen, einem gelben Taxi winken und den Fahrer bitten, sechzehn Tüten mit Kleidern zur West 79th Street zu bringen. Dass ich hier ein fremdes Leben abwickelte (meine Stiefmutter war eine angesehene Wissenschaftlerin gewesen), brachte mich auf den Gedanken, dass ich vielleicht lieber meine alten Tagebücher zerreißen und alle in Jahrzehnten gehorteten Briefe entsorgen sollte. Es war unsäglich traurig, die Blusen, Schals und Hosen meiner Stiefmutter ordentlich gefaltet in den Schubladen zu sehen. Ich hatte angeboten, ihren Wandschrank zu räumen, weil ich meinem betagten Vater wenigstens diesen Schmerz ersparen wollte. Ihr Tod hatte ihn ins Mark getroffen, und als er mich aus Kapstadt (wo sie gestorben war) anrief, um mich zu informieren, hatte ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben weinen hören.

Es gab zwei kleine Glasgefäße mit Knöpfen, die sie von verschiedenen Kleidungsstücken abgetrennt und für eine etwaige Wiederverwendung aufbewahrt hatte. Diese Knöpfe waren das Einzige, was ich von ihr mitnahm. Drei hatten die Gestalt eines Schimmels mit flatternder Mähne.

Im Portfolio meiner Besitztümer hatte ich zu diesem Zeitpunkt eine Wohnung in einem heruntergekommenen Mietshaus, drei E-Bikes und drei hölzerne Karussellpferde aus Afghanistan, handbemalt. Sie stammten aus einem mit Orientteppichen und Lampen vollgestopften staubigen Laden in einem trostlosen Stadtteil von London, wo ich sie gekauft hatte, als meine Töchter klein gewesen waren. Für ein Kleinkind hatten sie die richtige Größe. Ein Freund meinte, sie seien »antik«, womöglich aus den 1930er Jahren, was mir zum Zeitpunkt des Kaufs nicht bewusst gewesen war. Bei »antik« denke ich an Altes und Totes, vielleicht Geisterhaftes; diese Pferde hingegen zogen mich an, weil sie so ausdrucksvoll lebendig waren. Für mich bedeuteten sie Freiheit, auch Schönheit; jedes der drei geschnitzten Tiere verbreitete eine sehr besondere, verhalten trotzige Stimmung. Diese Pferde, etwa sechzig Zentimeter hoch (zwei weiß, eines schwarz), standen jetzt auf dem langen Fenstersims in meinem heruntergekommenen Wohnblock auf dem Hügel. Manchmal legte ich eine Avocado zum Nachreifen zwischen ihre wachen Holzohren. Zu Weihnachten schmückten meine Töchter und ich ihre Köpfe mit Stechpalmen- und Mistelzweigen. Alle waren gern bereit, die Pferde zu küssen (mussten sie ja auch sein angesichts der Küssrituale, zu denen weihnachtliche Mistelzweige auffordern), zugleich aber empfanden wir eine gewisse Scheu. Das schien mir angemessen; schließlich sind Holzpferde keine kuscheligen Plüschtiere. Der Nachbar, der im hinteren Teil des Parkplatzes sein Motorrad neben meinem E-Bike abstellte, sagte, wenn er aufblicke und die Pferde im Fenster stehen sehe, stelle er sie sich als meine Wächter vor.

Eine Frau, die ich kannte – sie war überaus wohlhabend und nie einer Erwerbsarbeit nachgegangen –, wollte sie mir abkaufen. Nur ein einziges Mal wäre ich beinahe eingeknickt, konnte mich am Ende aber doch nicht von den Pferden trennen, die sich zu meinem Erstaunen auch in finanzieller Hinsicht als wertvoll erwiesen hatten. Offenbar waren meine Freiheitspferde schon ein substanzieller Bestandteil im Portfolio meiner Besitztümer.

Jene Bekannte erzählte mir, sie sei jedes Mal um eine Antwort verlegen, wenn berufstätige Mütter sie fragten: »Und was machen Sie?« Ich riet ihr, darauf zu antworten: »Ich bin Erbin.« Damit wären diese Gespräche, die sie als so misslich empfand, vermutlich beendet. Und in der Tat, es klappte. Erbin zu sein war ja auch ihre Hauptaufgabe. Das große Vermögen musste verwaltet werden, ebenso ihre zahlreichen Liegenschaften. Das Portfolio ihrer immobilen Besitztümer war so umfangreich, wie meines winzig war. Sie besaß Häuser in Paris, Wien, Schottland, Spanien, London und auf Paxos und widmete ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich dem Erhalt ihres Vermögens, der Zubereitung veganer Mahlzeiten, ihren drei Hunden und ihrer Olivenplantage in Spanien. Für mich war sie eine in vielerlei Hinsicht beeindruckende Frau. Im Winter trug sie keinen grünen Filzhut mit Fasanenfeder im Hutband, sondern eine schlichte Wollmütze, und sie war so etwas wie eine Buddhistin. Eine Buddhistin mit irdischen Reichtümern, aber ganz einfachem Geschmack. Manchmal, wenn wir uns trafen, hatte sie ein paar perfekte Aprikosen aufgehoben, die sie als Köstlichkeit für uns mitbrachte, oder auch eine Handvoll Mandeln oder ein Stück italienischen Hartkäse aus regionaler Herstellung, den ich unbedingt probieren sollte; sie lebte ja strikt vegan. Mit dem kleinen Messer, das sie immer in der Handtasche bei sich hatte, schnitt sie mir hauchdünne Scheiben ab und zauberte dann noch ein paar violette Feigen hervor: freundliche Gefährten für den Käse. Die Erbin war selbst eine freundliche Gefährtin. Ihr Ehemann, der aus Neapel stammte und kein Veganer war, verstand sich darauf, Mozzarella zu flechten, und stellte zu festlichen Anlässen aus drei Käsesträngen Zöpfe her. Mozzarella, erklärte sie mir, sei eine pasta filata, ein Käse aus »gesponnenem Teig«, und dafür werde bevorzugt die Milch des Wasserbüffels verwendet. Das brachte mich auf den Gedanken, dass die Wasserbüffelkuh womöglich ebenso geehrt und bekränzt werden sollte wie die heilige Kuh in Indien, doch ich stellte sie mir lieber ekstatisch sich suhlend in Sümpfen, Flüssen und Weihern vor.

In meine Alltagsprobleme weihte ich die Erbin ebenso wenig ein wie in meinen Traum von einem stattlichen alten Haus mit Granatapfelbaum im Garten. Sie war schließlich Erbin. Mein Leben und mein Broterwerb waren sehr weit entfernt von ihrem Leben und Broterwerb, doch die intelligente und spielerische Art, wie sie mit ihren turbulenten Familienproblemen umging, nötigte mir Respekt ab.

Jedes Jahr kaufte ich bei der Erbin Olivenöl als Weihnachtsgeschenk für Freunde. Dieses Öl, das von ihrer Plantage in Andalusien stammte, war Lebenselixier, grün und pfeffrig und von überraschendem, fast erschreckendem Geschmack. Es sei »aus erster Pressung«, sagte sie, naturreines Öl, und sie kämme es sich jeden Freitag ins Haar. Aus jeder Olive seien nur ein oder zwei Tropfen Öl zu gewinnen – man stelle sich vor, wie viele Oliven es für ein einziges Kilo Öl brauche! Manchmal schnitt ich eine saure grüne Tomate in Spalten, bestreute sie mit Meersalz und tunkte sie in das scharfe smaragdgrüne Olivenöl. Es war, als sei ich auf einen Schatz gestoßen, der für mich im Bereich des Möglichen lag.

Ich mochte die Erbin und war nicht besonders neidisch auf ihre Immobilien. Der mangelnde Neid überraschte mich, offen gestanden (zumal wenn man bedenkt, dass jede einzelne ihrer zahlreichen Villen meinem erträumten Heim sehr nahe kam). Tatsächlich nannte sie so viele Häuser ihr Heim, dass sie im Grunde heimatlos war. Ich hatte den Eindruck, dass sie Monat für Monat über Ländergrenzen hinweg zwischen ihren Liegenschaften hin- und herreiste. Wenn sie mich anrief, erschien jedes Mal eine andere Ländervorwahl auf meinem Display. Meine Wohnung hingegen war, obwohl klein und bescheiden, fraglos mein Heim, unser Heim, unser Horst unter dem Himmel, auch wenn ich eine gewisse buddhistische Gelassenheit brauchte, um die grauen Gemeinschaftsflure zu ertragen. Jüngst hatten die Eigentümer Risse und zerfranste Stellen im betagten Teppichboden vor dem Aufzug mit blauem Abdeckband geflickt. Für diese Reparatur berechneten sie den Mietern einen enormen Betriebskostenaufschlag. Nichtsdestoweniger war es ermutigend, in den Himmel hinauszuschauen und zu wissen, dass alles sich andauernd ändert, dass ein dunkler Himmel einer anderen, helleren Stimmung weicht.

Unterdessen aber war ich in New York und bemühte mich, nicht den Hitzetod zu sterben, während ich die Wohnung meiner Stiefmutter ausräumte. Die Wohnung war unvergleichlich schicker als meine, und mir wurde bewusst, wie wenig ich von ihrem Leben vor meinem Vater wusste. Jetzt ging ich ihre Duschhauben, Wolljacken, Baskenmützen, Nachthemden, Schirme und verschiedenen Schachteln mit Make-up und Lockenwicklern durch. Irgendwie lernte ich sie dabei besser kennen, was traurig und sonderbar war. Nach dem Tod unserer leiblichen Mutter hatte mein jüngerer Bruder den Hauptteil dieser schrecklichen Aufgabe übernommen, und mir wurde jetzt klar, wie viel Elend er mir erspart hatte. Seitdem ich zufällig mitbekommen hatte, wie eine Frau ihn fragte, weshalb seine Schwester (ich) gern in einem Schuppen arbeite, und seine Antwort hörte, denke ich, er kennt mich besser als jeder andere Mensch. Er sagte: »Ich glaube, sie braucht einen naturhaften Raum zum Schreiben.«

Nachdem unsere Mutter gestorben war, hatte sich mein Beitrag zu den unumgänglichen Nachwehen darauf beschränkt, diesen sehr erschreckenden Tod den Behörden zu melden und im Bestattungsinstitut ihre Asche abzuholen. Die behördliche Abmeldung war das Schlimmste, denn als ich an die Reihe kam, verschiedene Dokumente zu unterschreiben, rief der Sachbearbeiter den Namen meiner Mutter auf, als sei sie noch am Leben, was zur Folge hatte, dass ich ein heulendes Elend war, noch bevor ich das Büro des Sachbearbeiters betreten hatte. Vielleicht war mein Bruder deshalb der Meinung, es sei einfacher, wenn er die Haushaltsauflösung allein schulterte. Er fand lediglich, ich solle mir von den vielen Büchern in ihren Regalen welche aussuchen. Als ich sie zu Hause auspackte, stellte ich fest, dass die Seiten vergilbt und staubig, fleckig und klebrig waren, und, schlimmer, hier und dort war ein Satz unterstrichen, und sie hatte Kommentare an den Rand der Seite geschrieben. Wie hätte ich ihre geisterhaften Gedanken, die aus diesen zerfallenden Büchern zu mir sprachen, wegwerfen können?

An meinem dritten Tag in New York fuhr ich mit einem klobigen Mann und seinem goldenen Labrador im Aufzug. Er erzählte mir, dass seine Hündin (Goldie hieß sie, wie auch meine Tante) sich den Schwanz in der Aufzugstür eingeklemmt hatte. Er habe geschrien und geheult, auch die Hündin habe gejault (währenddessen hoffte ich innig auf einen glücklichen Ausgang der Geschichte), doch in Etage vier (es gab deren einundzwanzig) hielt der Aufzug, und, ja, alles war gut, Goldies Schwanz frei und unbeschädigt. Ich betrachtete Goldies Schwanz. Er wirkte ein bisschen verloren, als hätte er Gewaltiges überstanden.

Mit uns im Aufzug stand eine junge Frau mit zwei To-go-Bechern Eiskaffee von Starbucks, die schokostreuselverzierte Schlagsahnehäubchen trugen. Sie freue sich auf das Zuckerhoch, sagte sie. Eigentlich, fügte sie hinzu, sei es geradezu ein Universalhoch, auf das sie sich freue. Als ich meinem besten Freund davon erzählte, wünschte auch er sich ein Universalhoch. Ein Universalhoch zu sein, sagte er, das sei ein großartiges Lebensziel.

Im Lauf des Tages, als ich beim Wohnungsputz eine Pause brauchte (ich hatte Staub auf den Wimpern), sah ich eine Afroamerikanerin, die auf einem Manhattaner Gehweg ihre Katze spazieren führte. Es war eine silbrige Langhaarkatze mit silbernem Halsband. Die Frau trug ein bauchfreies Top mit aufgedruckten Augen und cremefarbene Plateauschuhe, die Spitzen mit je einem galaktischen Wirbel bemalt, und die Gesamterscheinung – Katze und Schuhe und aufgedruckte Augen auf dem Oberteil – brachte mich auf den Gedanken, dass sie so etwas wie ein Universalhoch sein könnte.

Sämtliche Schuhe einer angesehenen Frau, eingeschlossen ein brandneues Paar Sportschuhe, noch unbenutzt und in Seidenpapier im Karton, zum nächsten Secondhandladen zu schleppen war ein Erlebnis, das mich erschütterte. Um mich wieder abzuregen, ging ich in den Central Park. Es war ziemlich plötzlich warm geworden, und ich litt derart unter dem Jetlag, dass ich fürchtete, jeden Moment umzukippen. Ich suchte mir einen Platz unter einem Baum nahe dem Parkeingang und ließ mich ins Gras fallen. Wie ich dort auf dem Rücken lag und zwischen den Blättern zum weiten amerikanischen Himmel hinaufblickte, sah ich etwas in der Baumkrone hängen. Einen Schlüssel. Es war ein Schlüssel an einem roten Band, den jemand an einen Ast gehängt und dann vergessen hatte. Erst litt ich mit der Person, die ihren Schlüssel vergessen hatte, doch dann kam mir der Gedanke, es könnte Absicht gewesen sein, weil die Schlüsselbesitzer die dazugehörige Tür – und mit ihr – ein für alle Mal abgeschlossen hatten. Vielleicht wollten sie auch ein Kapitel in ihrem Leben abschließen, und die Aussetzung des Wohnungsschlüssels verlieh diesem Wunsch Nachdruck. Schlüssel haben immer etwas Heimliches und Geheimnisvolles. Sie sind das Instrument, mit dem verschiedene erstrebens- und nichterstrebenswerte Wirkungsstätten betreten und verlassen, geöffnet und verschlossen, auf- und zugesperrt werden können.

Auf der Suche nach meiner ganz eigenen Wirkungsstätte hatte ich sehr viel Lebenszeit vor den Schaufenstern von Immobilienmaklern verbracht und mir die Nase an der Scheibe platt gedrückt, umringt von den Geistern anderer Träumer, die wie ich auf der Suche nach einem Zuhause waren, das wir uns nicht leisten konnten. Nichtsdestoweniger war ich überzeugt, dass ich mir eines Tages, wenn ich erst groß wäre, den Schlüssel zu einem eigenen Haus, einem mediterranen mit geißblattbewachsenen Balkonen, verdienen könnte. Und parallel dazu sagte eine fiese kleine Stimme in meinem Kopf: »Das ist nicht real, das kriegst du nie.«

Ja, ich hatte mich lange um ein bürgerlicheres Leben bemüht, aber derlei war für mich anscheinend nicht vorgesehen. Meine Kolleginnen und Kollegen, die tatsächlich ein gut entwickeltes bürgerliches Leben hatten, waren ständig um weniger Bürgerlichkeit bemüht, und mich zog es genau dorthin, in ihre Nachbarschaft.

Bonjour, ist die Luft hier nicht reine Wonne? Seht unsere Landhäuser mit ihren rankenden roten Rosen. Seht den See, den wir dank natürlicher Quellen auf unserem Grundstück angelegt haben. Seht nur! Und seht auf Twitter: Unsere Enten schlafen unter den Weiden! Seht unseren Esstisch und seine Konstellation von Stühlen, seht die Kunst an unseren Wänden, seht unsere Pergola, unsere Salatschalen und den türkischen Mohn, seht das viktorianische Porzellan und unsere Blumenwiesen! Seht diese Toastscheibe mit zerlaufender Butter neben der Bauhaus-Lampe. Seht! Und seht euch, wie ihr uns auf Instagram folgt! Das sind wir vor dem Aufbruch zum Landspaziergang mit Molly, unserer gutmütigen Tigerpython!

Wenn Grundbesitz sowohl Selbstporträt als auch Klassenporträt ist, so ist er auch ein Körper, der seine Gliedmaßen zum Zweck des Verführens arrangiert. Ich konnte mir, offen gestanden, nicht erklären, warum er nicht intensiver mit mir flirtete, der Grundbesitz, warum er mir nicht schmachtenden Blicks Angebote machte, die ich keinesfalls ablehnen konnte. Immerhin konnte ich jetzt endlich vom Schreiben leben. Jetzt, im Central Park, wo ich unter dem Baum mit dem ausgesetzten oder vergessenen Schlüssel lag und über das alles nachsann, fand ich es zu deprimierend, immer wieder die realen und pragmatischen Gründe dafür durchzukauen, weshalb ich nach wie vor an dieser Halbruine festhielt, die mein Londoner Wohnblock war.

Mit Anfang zwanzig hatte ich zu schreiben begonnen, mit siebenundzwanzig hatte ich zum ersten Mal einen Verlag, obwohl meine Theaterstücke schon seit einigen Jahren aufgeführt wurden. Es war eine ungeheure Erfahrung von Macht, Personen auf einer Bühne Worte in den Mund zu legen, aber leben konnte ich davon kaum. Ich dachte an die englische Autorin Rebecca West, deren Bücher ihr, als sie vierzig war, so viel Wohlstand eingebracht hatten, dass sie sich einen Rolls-Royce und ein stattliches Landhaus, ein Anwesen in den Chiltern Hills, zulegen konnte. Als ich vierzig war, war meine zweite Tochter drei Monate alt, und ich probierte aus, wie man aus Linsen und anderen Hülsenfrüchten (sehr günstig) Dal macht. Während Rebecca West ihrer neuen Nobelkarosse entstieg, befasste ich mich mit der Kombination von Gewürzen und der Frage, ob man Dal mit Reis serviert oder lieber lernen sollte, Roti und andere indische Flachbrote zu backen. Ich entschied mich für Letzteres: Vollkornweizenmehl, Wasser, Öl und Ghee, jenes butterschmalzartige indische Speisefett. Ja, es machte mir echtes Vergnügen, wenn ich Butter zerließ und seihte und zusah, wie der Teig in der Pfanne Blasen warf und sich blähte. Später ging ich daran, Parathas zu machen, was viel vertrackter ist, weil der Teig dafür geschichtet werden muss. Es war unfassbar. Ich machte Dal und köstliche Rotis und Parathas, um meine Familie zu ernähren, und nachts schrieb ich, auf Du und Du mit jedem Autoalarm, der um vier Uhr morgens losplärrte. Im selben Alter parkte Rebecca West ihren neuen Rolls-Royce auf ihrem Anwesen in den Chiltern Hills, und Camus nahm den Nobelpreis für Literatur entgegen.

Nur ein Teil in uns ist geistig gesund, nur ein Teil in uns liebt die Freude und länger währendes Glück, möchte neunzig Jahre alt werden und friedlich im eigenen Haus sterben, das auch denen Schutz bietet, die nach uns kommen. Die andere Hälfte in uns ist dem Wahnsinn nahe, sie zieht das Unangenehme dem Angenehmen vor, liebt den Schmerz und möchte in einer Katastrophe untergehen, die das Leben auf seine Anfänge zurückwirft und von unserem Haus nichts als das verkohlte Fundament hinterlässt.

Rebecca West, Schwarzes Lamm und grauer Falke (1941)

Ein Stück weit war ich bei ihr, aber nicht, was die geschwärzten Grundmauern betrifft. Wenn Sie nicht wohlhabend sind, wollen Sie keine Katastrophe, bei denen Ihr Haus bis aufs Fundament niederbrennt. Meine Pferde! Mein Wok! Meine kleine Lampe mit weißem Bommelbesatz! Dennoch, diese unsichtbaren Jahre, in denen wir unsere Kinder großziehen und mit einer Flut von Parathas klarkommen – sie zählen zu den prägendsten meines Lebens. Damals wusste ich es nicht, aber ich war auf dem Weg, die Schriftstellerin zu werden, die ich sein wollte. Ich war im Begriff, in sie einzutreten und sie in mich. Es freute mich, dass ich eben kein festes Schuhwerk trug, während ich die Geschichten, Romane und Stücke schrieb, die mich in meinen Zwanzigern beschäftigten. Sondern mir – mit silbernen Plateauschuhen – einen Weg durch den Wald suchte, um dort den Wolf zu finden. Wer oder was ist der Wolf? Vielleicht der Zweck des Schreibens schlechthin.

Auf die Gefahr zumarschieren, etwas treffen, das womöglich das Maul aufreißt und brüllt und der Schreibenden den Rest gibt, war Teil des Abenteuers Sprache. Jeder, der scharf, frei und ernsthaft nachdenkt, rückt dem Leben und dem Tod und allem, was uns unterwegs begegnet, näher. Jede Putzfrau, die im Morgengrauen aufsteht, um Büros, Bahnhöfe, Schulen, Krankenhäuser zu wischen, wird mit dieser Art des Denkens vertraut sein. Sie weiß, dass sie stärker sein muss als ihre furchtsamsten Gedanken, stärker als ihre Erschöpfung. Nicht unwahrscheinlich, dass zahlreiche Menschen sie hören und sehen, obwohl sie vielleicht nicht auf Instagram ist (Seht! Seht die Stunden, die ich arbeite! Seht meine drei Jobs! Seht meine Hände!), aber das hält sie nicht davon ab, große Gedanken zu denken. Denken ist Sprache. Denken vermeiden ist Sprache. Einmal habe ich eine Schreibwerkstatt geleitet, bei der wir uns ausschließlich mit den Begriffen Ja und Nein in allen Spielarten und Erscheinungsformen befassten. Wir waren uns einig, dass ein Schild an einem Tor, auf dem Keine Schwarzen, keine Juden, keine Zigeuner steht, die verarmteste Sprache überhaupt ist. Auch die Schilder an öffentlichen Schwimmbädern in den 1970er Jahren waren interessante Texte: Kein Tauchen, kein Petting, kein Essen, kein Spritzen. Warum nicht gleich ein Schild aufhängen, auf dem Nicht. Nicht. Nicht. steht? Und was ist, wenn wir das Schild umdrehen könnten? Doch. Doch. Doch.

Ja, doch. Ich wollte ein Haus. Und einen Garten. Ich wollte Land.

Der Schlüssel, der über mir in den Zweigen jenes Baums im Central Park hing, öffnete die Türen zu vielen weiteren Häusern in meinem Geist.

James Baldwin, das wusste ich, hat seine letzten siebzehn Lebensjahre in der französischen Stadt Saint-Paul-de-Vence verbracht. Soweit ich weiß, hatte er ein Steinhaus mit Orangenbäumen und Palmen gemietet, von dem aus er aufs Meer und auf die Berge blickte. Es war seine Zuflucht vor der Feindseligkeit gegenüber seiner Hautfarbe und seiner Homosexualität im Amerika der 1970er. Er schrieb in seinem gemieteten Steinhaus, den Aschenbecher auf dem Schreibtisch, im Rücken den offenen Kamin. Miles Davis, Stevie Wonder, Nina Simone, Ella Fitzgerald: Alle machten sich auf die Reise, um ihn zu besuchen, und er redete bis tief in die warme mediterrane Nacht hinein mit Freunden am Tisch im Garten. Sein früherer Liebhaber, ein Schweizer, wohnte mit seiner Familie im Gartenhaus und pflegte Baldwin, als der an Magenkrebs erkrankt war. Anscheinend traf Baldwin Anstalten, das Haus zu kaufen, als er schon vom Tod gezeichnet war, aber dazu kam es nicht mehr. Als er gestorben war, wurde sein gemietetes Anwesen kein James-Baldwin-Museum. Eine Pilgerfahrt dorthin hätte ich allein deshalb unternommen, um den gläsernen Aschenbecher auf seinem Schreibtisch zu sehen. Wie gern hätte ich einen Blick auf den Ort geworfen, an dem er schrieb und dachte und Freunde empfing. Sein Haus war nicht nur ein häuslicher Raum, sondern auch ein politischer. Er hatte sein Land verlassen müssen, um sich in einem gemieteten Haus in der Fremde eine freundlichere Welt zu schaffen. Es war nicht das erste Mal, dass er vor dem Rassismus in Amerika hatte fliehen müssen, um leben und schreiben zu können. Im Winter 1948 war er mit vierzig Dollar in der Tasche von New York nach Paris gekommen. In der ersten Zeit wohnte er in einem schäbigen Hotel in der Rue de Verneuil. Ein gemietetes Haus an der Côte d’Azur mit Orangenbäumen und Palmen im Garten und in lieber Gesellschaft von Freunden, das war ein ermutigendes Bild. Jahrzehntelang begleitete es mich im Geist wie ein altes Foto aus dem Familienalbum.

Wieder blickte ich zu dem Schlüssel am Zweig über mir hinauf. Sollte ich ihn jemandem von der Parkverwaltung bringen, der für Fundstücke zuständig war? Nein. Hätte ich einen Schlüssel verloren, wäre mir irgendwann wieder eingefallen, wo ich ihn hatte liegenlassen, und ich wäre (panisch) zu dem Baum zurückgerannt, um ihn mir zu holen.

Ich wollte nicht zurück in die jetzt leere Wohnung meiner Stiefmutter, sondern verbrachte den restlichen Tag in einem Hotel, von dem ich schon wusste, dass es auf dem Dach einen Swimmingpool hatte. Und weil ich unter meinem Kleid schon den Badeanzug trug, schien mir dies wie ein unausweichlicher Auftrag. Es war schwül. Drei kleine Militärflugzeuge flogen in Formation über das Schwimmbad hinweg. Ein DJ war damit beschäftigt, seine Anlage aufzubauen. Er war ein magerer Weißer mit Goldbrille und Jeans. Attraktive junge Frauen und Männer sonnten sich auf Liegestühlen. Es war ein verrückt heißer Tag. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und bemühte mich, nicht einzuschlafen. Zuerst spielte der DJ Soul. Der Hudson war nicht weit. Und die High Line. Nahe der Bar versuchte ein schäbiger Bananenbaum in einem Topf zu überleben. Mein Nordlondoner Bananenbaum war viel gesünder. Tatsächlich wuchs und gedieh er und war schon fast einen Meter zwanzig hoch. Meine Tochter hatte mir jüngst ein Foto geschickt und mir versichert, das dritte Kind werde jeden Tag gegossen.

Ich bestellte eine Bloody Mary. Sie kam mit zwei aufgespießten Riesenoliven, in denen zwei Essiggurken steckten. Weil selbst eine Riesenolive klein ist, waren die Gurken zwergenhaft. Die Selleriestange hatte das Format eines Babyarms. Während ich noch mit den Größenverhältnissen des Beiwerks zu meiner Bloody Mary rang, erschien ein Mann meines Alters mit seinen zwei kleinen Töchtern. Der DJ spielte einen Song mit dem Refrain I want to sex you up. Der Vater wurde fortgeschickt, weil Kinder sich nach 11:30 Uhr nicht mehr auf der Dachterrasse aufhalten durften. Eine Tochter trug Schwimmflügel in Neonorange, die andere eine Art Taucheranzug mit Nylonschuppen und ausgewachsenem Fischschwanz. Zum ersten Mal sah ich eine Meerjungfrau mit Beinen und Schwanz; ein cleveres Design. Wer Beine und Fischschwanz hat, der, so könnte man wohl sagen, hat alles.

Ich wollte ebenfalls in dem winzigen Pool schwimmen, zweifelte aber, ob ich die Scham ertrüge, in meinem schwarzen Speedo-Badeanzug Bahnen zu ziehen, beobachtet von hinreißenden Männern und Frauen mit makellosen Körpern, die am Beckenrand Mojitos schlürften. Das Becken war so tief wie meine Bananenpflanze hoch, einen Meter zwanzig. Nach einer Weile aber hielt ich es nicht mehr aus und sprang hinein, zweibeinig, ohne Schwanz.

Auf dem Rückweg zur Wohnung meiner Stiefmutter entdeckte ich einen Markt. An einem der Stände gab es gefrorene Oreos. Ich kaufte Sonnenbrillen für meine Töchter, auch eine für meinen besten Freund, und Gewürze – Kreuzkümmel und Paprika – für seine Frau Nadia, die gern damit kochte. Während ich in meiner Tasche nach Dollars kramte, trat eine Frau mit einer extravaganten Jacke auf mich zu und ließ mich wissen, dass sie von meinen Lochmusterschuhen mit ihren riesigen schwarz-weißen Zungen begeistert sei. Ich bin Brooklyn, sagte sie, also mir kommt man nicht blöd. Aber sie wolle mir sagen, dass sie selber sieben Paare Brogues besitze, zwei in einer Farbe, die sie »Tomate« nannte, eines in Zitronengelb und vier in verschiedenen Blauschattierungen, von Himmelblau bis Nachtblau. Für mich hörte sich das überhaupt nicht nach Brogues an. Sie sei Digitalchefin von irgendetwas, sagte sie, und ihr Mann Arzt, und damit entfernte sie sich. Es war äußerst seltsam. Weshalb ich diese Information bekommen hatte, war mir ein Rätsel, ich ging aber davon aus, dass die Zahl der Schuhe im Portfolio ihrer Besitztümer beträchtlich war. Nachdem ich eben sämtliche Schuhe meiner Stiefmutter in einem Müllsack zum Secondhandladen geschleppt hatte, hoffte ich, die extravagante Brooklynerin werde die ihren dereinst jemandem vermachen, der mit ihnen etwas anfangen konnte.

Als ich in die Wohnung in Manhattan zurückkehrte, wies mein bester Freund mich darauf hin, dass er in allen Zimmern den Fußboden gewischt habe, während ich mich im Swimmingpool auf einem Hoteldach geaalt, eine Bloody Mary gezischt und den Tag mit einem Einkaufstrip auf dem Markt abgerundet hätte.

»Wie wär’s mit einem Universalhoch?«, schlug ich vor, das Haar noch nass vom Schwimmen. Als ich ihm ein Glas starken kalten Kaffee reichte, schüttelte er betrübt den Kopf.

»Der leidet unter Zuckermangel, muss ich sagen«, beschwerte er sich. »Das ist nur ein Koffeinhoch, kein Universalhoch.« Währenddessen erzählte ich ihm von dem Schlüssel am Zweig eines Baums im Central Park.

»Irgendwie«, sagte er, »bist du wie meine Frau. Sie hat auch eine Schlüsselobsession. Nur mit dem Unterschied, dass sie glücklich ist und behauptet, sie sei unglücklich, und du bist unglücklich und behauptest, du seist glücklich.« Er ließ das Eis in seinem enttäuschenden Koffeinhoch rotieren und zog dann an seinem rechten Ohrläppchen, wie immer, wenn er sich anschickte, einen provokanten Spruch loszulassen.

»Nachdem deine Jüngste bald von zu Hause auszieht, könntest du dir eigentlich einmal einen Gefährten suchen.«

Als er mit dem Ohrzupfen fertig war, zuckte er des Nachdrucks halber sogar noch mit den Augenbrauen.

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Fairway Market, wo ich uns eine Melone fürs Frühstück holen wollte, sah ich eine Frau auf dem Gehweg Tauben füttern. Vielleicht war es ihre Art, sich geschätzt und geliebt zu fühlen. Und vielleicht wäre sie, statt einer Nebenfigur, eine interessante weibliche Hauptfigur; den Vorschlag könnte ich der Filmproduktionsgesellschaft bei unserem nächsten Termin machen. Dann aber sah ich, dass sie sich mit einem Stift die Brauen nachgezogen hatte, und zwar so, dass die eine wesentlich höher war als die andere. Eine jähe Erschöpfung überkam mich. Ich sah sie als Kind mit beiden Brauen am rechten Fleck und fühlte mich nicht in der Lage, die Maloche ihrer Vorgeschichte auf mich zu nehmen: Ich müsste ja den langen weiblichen Weg nachzeichnen, bis die linke Braue zum Haaransatz hinaufgewandert war – was als Struktur eines Films durchaus seinen Reiz hätte. Ich dachte auch an die Bemerkung meines besten Freunds über seine Frau: Nadia sei glücklich, behaupte aber, unglücklich zu sein. Warum glaubte er, dass sie ihm etwas vormachte?

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