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3. Unsichtbare Seelen

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Es war freitagnachts, Jen fuhr auf dem Skateboard in die Stadt, den Cap verkehrt herum aufgesetzt. Sie wollte ein paar neue Sommerkleider einkaufen gehen, hatte ihrer Mutter aber versprochen, dass sie um 11:00 Uhr wieder nach Hause kam. Heute waren die Läden ausnahmsweise länger geöffnet, weil irgendein Feiertag war, dessen Namen Jen wieder vergessen hatte. Als sie das Skateboard zum Überqueren einer Straße in die Hand nahm und wartete, dass die Ampel grün wurde, ließ sie ihren Blick über die Menschenmenge gleiten. Doch da sprang ihr ein Mädchen in die Augen und sie schaute wieder zu ihr zurück. Das Mädchen stand ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite und war auffallend hübsch. Sie hatte hellblondes langes Haar und grüne, große Augen. Hippie-mäßig hatte sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden, das dieselbe Farbe hatte wie ihre Augen. Die Ampel wurde grün und Jen wäre beinahe einfach stehen geblieben und hätte die Blondine angestarrt, wenn diese sich nicht abrupt in Bewegung gesetzt hätte. Als sich ihre Wege kreuzten, schaute ihr das Mädchen in die Augen und auf einmal war ihr Blick eiskalt. Jen lief ein Schauer über den Rücken und sie beeilte sich, die andere Straßenseite zu erreichen. Doch einer Intuition folgend drehte sie noch einmal um und vor Überraschung klappte ihr der Mund herunter. Das Mädchen ging zielstrebig auf einen Jungen auf der anderen Straßenseite zu. Einen Jungen mit schönen blauen Augen, dichtem schwarzen Haar und die feinen Gesichtszüge zu einem arroganten Grinsen verzogen.

Nico.

War er die ganze Zeit hinter ihr gewesen?

Jen schloss den Mund mit einiger Anstrengung und verspürte einen seltsamen Stich in ihrer Brust. War sie etwa eifersüchtig, dass Mr. Asozial ein Date mit einer hübschen Blondine hatte? Quatsch! Jen kniff die Augen zusammen und wollte sich gerade wegdrehen, als sie sah, wie sich Nicos Augen beim Anblick des Mädchens erstaunt weiteten. Oder war es Entsetzen? Jen unterdrückte den Drang, der Tussi ihr Skateboard an den Kopf zu schleudern. In dem Moment passierte etwas äußerst Seltsames:

Eine tiefe Stimme, die sich als die von Nico entpuppte, schrie: „Jennifer, lauf!“ und Mr. Asozial drehte sich um und rannte in einem Affenzahn vor dem blonden Mädchen davon.

Jen reagierte, ohne zu wissen warum. Sie rannte los, in Richtung Nico - zu teleportieren war hier in der Öffentlichkeit zu riskant - und realisierte, wie die Tussi Nico hinterher sprintete. Wieso um Gottes Willen rannte er vor seinem - hübschen - Date davon? Was war da los?! Die beiden hetzten aus der Stadt hinaus, eine kleine Gasse hinunter und die Blondine holte immer weiter zu Nico auf. Jen fluchte, stellte sich auf ihr Skateboard und raste hinterher. Die Tussi kam immer näher, aber sie hörte die ungeölten Räder des Boards und legte einen Zahn zu. Zwar hatte sie gegen ein Board keine Chance, doch die Frage war nicht ob, sondern wann. Denn der Abstand zwischen Nico und dem Mädchen wurde immer kleiner, entweder wurde Mr. Asozial langsamer oder die Tussi schneller, Jen wusste es nicht. Sie gab mit dem linken Fuß an, beschleunigte und war fast bei der Blondine angekommen. Im selben Augenblick warf sich die Tussi auf Nico und riss ihn zu Boden. Um ein Haar wäre Jen neben den beiden weggefahren, sprang jedoch vom Skateboard herunter und kickte es beiseite. Die Tussi hatte Nico fest umklammert, dieser schlug ihr gerade sauber die Faust in ihr hübsches Gesicht. Schade.

Eine Bewegung zu Jens Linken ließ sie aufschrecken; da kam ein hochgewachsener Junge mit rostbrauner Hautfarbe auf sie zu und rief etwas, was verdächtig nach „Melissa, ich helfe dir!“ klang.

Jen machte sich unsichtbar, holte mit dem Bein aus und kickte dem Jungen zwischen die Beine. Er krümmte sich, stolperte und fiel zu Boden. Jen setzte ihm nach, schlug ihm die Faust ins Gesicht - wenn auch weniger stark als Nico - und hielt dann keuchend inne, um nach Mr. Asozial zu schauen. Melissas Kumpan lag mit schmerzerfüllter Miene vor ihr auf dem Boden. Nico hatte sich von Melissa befreit und stand umständlich auf. Jen ging auf ihn zu, griff nach ihrem Skateboard, packte Nico am Kragen und zog ihn ruckartig in eine Seitengasse. Dann machte sie sich sichtbar und begegnete Nicos finsterem Blick.

„Ich habe gesagt 'lauf', nicht 'renn mir nach'! Ich hatte alles im Griff!“, schnaubte er.

Augenblicklich flammte Wut in Jen auf und sie hätte Nico am liebsten geschlagen. „Bitte, hab ich gern gemacht!“, blaffte sie, und bevor sie sich beherrschen konnte, schrie sie los: „Ich hab dir gerade verdammt noch mal aus einer Schlägerei geholfen und du könntest vielleicht einmal in deinem Leben deine arrogante Art beiseiteschieben und dich bedanken! Oder ist das zu viel verlangt?!“ Sie holte tief Luft und versuchte, ihren aufgebrachten Herzschlag zu beruhigen. „Und dann erklärst du mir, was zur Hölle da los war!“, fügte sie etwas leiser hinzu, aber dennoch viel zu laut. „Wieso rennst du vor deinem Date weg?! Und was, Mr. Asozial, habe ich dir angetan, dass du mich so hasst?“ Ihre Hand an seinem Hemd zitterte vor Zorn.

Nico schnappte erstaunt nach Luft und starrte sie mit großen Augen an. Er sah aus, als habe Jen ihm einen Kessel Wasser über den Kopf gegossen.

Mist, habe ich ihn ernsthaft 'Mr. Asozial' genannt?

„Ich hasse dich nicht!“, widersprach er dann erstaunlich ruhig und erst jetzt fiel Jen auf, dass er an der Wange blutete. Sie zog besorgt die Augenbrauen zusammen, wartete aber immer noch auf eine längere Antwort von Seiten Nicos. Mit nur diesem Satz würde er nicht davonkommen - sie hatte endgültig die Nase voll von seiner kurzatmigen Art.

„Und... Danke, dass du, hm, mir geholfen hast...“, stammelte er und wurde tatsächlich rot. Er räusperte sich und setzte hinzu: „Und… ich hasse dich wirklich nicht. Tut mir leid, dass ich, ähm, mich so benommen habe…“ Er brach den Blickkontakt ab und schaute an Jen vorbei.

Ach, und wenn du mich nicht hasst, wieso tust du dann so?, dachte Jen misstrauisch.

„Bitte“, murmelte sie ein wenig besänftigt. Als Nico keine Anstalten machte, ihr eine Erklärung für die Schlägerei zu liefern, sondern sich damit begnügte, sie anzustarren, fragte sie verunsichert: „Was starrst du so?“

„Du bist auch eine unsichtbare Seele“, stieß er atemlos hervor.

Jen runzelte die Stirn und nahm die Hand von seinem Kragen. „Bitte?“

„Komm mit.“ Er warf einen beunruhigten Blick nach hinten und zog sie am Arm die Gasse entlang, in die Jen ihn geführt hatte. Sein Griff um ihren Arm war fest und verkrampfte sich immer mehr. Jen beeilte sich, ihm zu folgen und betrachtete ihn von der Seite, um zu schauen, wie tief die Wunde war.

„Du bist verletzt“, bemerkte sie leise.

„Das ist unwichtig.“ Er schüttelte sich die Haare ins Gesicht und verstärkte den Druck auf ihrem Arm.

Jen presste die Lippen aufeinander, Nico hatte ganz schön Kraft. „Du tust mir weh.“

Erschrocken ließ Nico sie los. „Tut mir leid.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Wir müssen weg von Mel und Jason. Sie sind jetzt bestimmt auch hinter dir her.“

Jen beschleunigte das Tempo, damit sie mit Nicos langen Schritten mithalten konnte. Was meinte er mit 'auch hinter dir her?'. Vielleicht war er ja paranoid...

Abrupt hielt Nico an und Jen lief beinahe in ihn hinein. Jen sah sich um und staunte nicht schlecht, als sie vor sich das Haus Lupos erkannte. Wo waren sie nur durchgegangen? Sie waren in kaum fünf Minuten von der Stadt zum Haus Lupos gekommen; anscheinend wusste Nico da eine Abkürzung, die Jen in den letzten fünf Jahren übersehen hatte. Interessant.

„Hier rein.“ Nico vergeudete nicht viel Zeit mit Staunen, öffnete die Tür und ließ sie vor. Im Dachboden angekommen setzten sie sich auf eine Kommode und Nico begann mit einem Seufzer zu erklären: „Du und ich sind unsichtbare Seelen. Ich hab’s mir schon gedacht, als ich dich zum ersten Mal sah, deshalb ging ich dir aus dem Weg. Wollte ich dir aus dem Weg gehen“, korrigierte er sich und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. „Melissa und Jason haben ein Serum entwickelt, um unsichtbaren -“

„Moment mal“, unterbrach Jen ihn. „Was ist eine unsichtbare Seele?“

Nico schaute sie verblüfft an. „Das weißt du ni... Ich meine, das sind Menschen, die teleportieren und sich unsichtbar machen können.“

Jen krallte sich an der Kommode fest. Es gab also einen Namen für ihre Spezies. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie das positiv oder negativ aufnehmen sollte. Nicos Worte dröhnten in ihrem Kopf: eine unsichtbare Seele... teleportieren...

„Und Melissa und Jason und ihre Leute, die Seelenjäger, wollen uns die Kraft rauben und zu ihren Zwecken gebrauchen. Dafür haben sie ein Serum entwickelt, mit dem sie uns die Kräfte entziehen können. Ich weiß auch nicht viel... Aber ich wollte nicht, dass sie dich entdecken und hab deshalb versucht, dich auf Abstand zu halten - was offensichtlich nicht geklappt hat. Auch wenn ich nicht sicher war, ob du tatsächlich eine unsichtbare Seele bist...“ Er hielt inne und lächelte sie anzüglich an. „Normalerweise kann ich ganz charmant sein“, behauptete er und lachte.

Jen grinste und lockerte den Griff um die Kommode. „Und was machen sie, wenn sie uns kriegen?“ Ihre Stimme zitterte.

„Davon abgesehen, dass sie uns die Kräfte stehlen? Ich weiß es nicht. Aber sie scheinen nicht friedlich gestimmt zu sein... Die beiden, die uns angegriffen haben, waren vielleicht 'nur' Teenager, sind aber sehr gefährlich.“

Jen wurde allmählich schwindelig. Zwar wusste sie jetzt, dass sie nicht die einzige mit Superkräften war, aber da gab es offenbar auch Leute, die gegen sie arbeiteten. Das konnte sie echt nicht brauchen. Andererseits hatte sie endlich eine Antwort, wieso Nico immer so unhöflich zu ihr gewesen war; er wollte sie nämlich nicht auf die Liste der Seelenjäger setzen, indem er sich mit ihr blicken ließ. Das war eine um einiges bessere Lösung, als dass er sie nicht mögen würde. Und dieser Gedanke stimmte Jen um all die anderen aufwühlenden Informationen herum doch ein wenig glücklich und erleichtert. Doch sie musste beim Thema bleiben. Bei den Seelenjägern, die sie verfolgten. „Gibt es viele unsichtbare Seelen? Und wie wurden Melissa und Justin, - äh, Jason, oder wie auch immer - auf uns aufmerksam?“

Nico ließ sich Zeit mit der Antwort. „Hm, gute Frage“, meinte er dann bedächtig. „Aber nachdem ich die Kraft hier bekommen habe, hab ich ... äh ... geträumt, dass es da Leute gab, die unsichtbare Seelen suchen und verfolgen und dass ich es nicht weitererzählen darf.“ Er wandte den Blick ab und errötete, offenbar war es ihm peinlich, diese Informationen via einen Traum erfahren zu haben.

Ihr war es jedoch im Moment völlig egal, wie er gewarnt wurde, sie wünschte sich eher, dass auch sie einen Traum erhalten hätte.

Denn in diesem Moment begriff Jen, wie sie ihre Kräfte bekommen hatte. Plötzlich war das alles ganz logisch und Jen konnte sich nicht erklären, weshalb sie das nicht früher erkannt hatte. Das war die einzige Erklärung! So froh darüber, endlich Einsicht bekommen zu haben, plapperte sie mit klopfendem Herzen los. „Ich hab zwar nichts geträumt“, meinte sie aufgeregt und brachte ihn somit noch mehr in Verlegung. Rasch sprach sie weiter: „Aber du... du hast diese Kräfte auch hier bekommen? Im Haus Lupos?“

Nico nickte.

„Wie...? Also, ich ging vor fünf Jahren da rein, weil ich es aufregend fand-“ Nico lachte leise und Jen warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie ihre Erklärung weiterführte: „und da lag eine Frau in einem Bett, und außer ihrer Hand, die in einem schwarzen Handschuh steckte, konnte ich nichts von ihr sehen. Die Decke hatte sie vollkommen bedeckt. Dann hat sie meine Hand berührt und gesagt verrate niemandem was. Und ich hab Angst gekriegt und bin abgehauen und zu Hause bewusstlos geworden und hab nur meiner Mutter und Lucy davon erzählt und...“ Sie verstummte und merkte, wie lächerlich ihre Erklärung klang und wie Recht Gollum damit hatte, wenn er sagte, sie benutze zu viele 'und's.

Nico aber hatte ihr aufmerksam zugehört und sagte jetzt trocken: „Hm, das hat dich offenbar nicht davon abgehalten, jeden Tag hierhin zu kommen.“

Jens Blick verdüsterte sich, als sie seinen belustigten Unterton bemerkte. „Wie war's bei dir?“, blaffte sie, bevor sie sich zurückhalten konnte. Offenbar hatte er trotzdem nicht nur charmante Seiten, auch wenn er jetzt beschlossen hatte, dass es nichts mehr brachte, wenn er sie auf Distanz hielt.

Nico lächelte halb. „Ähnlich. Aber die Frau lag auf dem Sofa.“

Jen lachte. „Ein bedeutendes Detail.“

Er zuckte mit den Schultern. „Und ich ging erst wieder hierher, als ich bemerkt hatte, dass Melissa und Jason hinter mir her sind. Im Haus Lupos kann einem eben nichts passieren“, fügte er hinzu. Wahrscheinlich wusste er das von seinen Träumen, überlegte sich Jen, traute sich aber nicht zu fragen. Stattdessen betrachtete sie ihn, als ihr auf einmal einen Haken an der Verfolgungsjagd heute einfiel.

„Wieso bist du denn vorhin nicht teleportiert?“, fragte sie verwundert. Er hatte ja diese Fähigkeit auch. „Als wir hierhin gegangen sind?“

Nico wich wieder ihrem Blick aus. „Ich hatte keine Kopfbedeckung...“, murmelte er beschämt.

„Hm, achso“, machte Jen. Das war natürlich ein Hindernis – deswegen trug sie beinahe immer einen Cap. Nico hatte den Kopf so von ihr weggedreht, dass ihr Blick auf die Wunde an seiner Wange fiel. Sie blutete nicht mehr, hatte aber dennoch einen roten Striemen hinterlassen. Ohne zu überlegen, hob sie die Hand und berührte ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen an der entstehenden Narbe. Er zuckte überrascht zusammen und sah Jen mit einem intensiven Blick an. Rasch nahm diese die Hand wieder weg. „Du bist verletzt“, wiederholte sie besorgt, was sie schon auf dem Weg bemerkt hatte. „Tut es weh?“

Nico schüttelte hastig den Kopf und Jen verdrehte die Augen. Sie hätte sich denken können, dass er sowieso nein sagen würde... Als die Stille anhielt, in der die beiden sich bloß anschauten, wechselte sie schnell das Thema.

„Zieh doch das nächste Mal einen Hoodie oder so an“, schlug sie leise vor und fügte dann mit einem belustigten Unterton hinzu: „Und schlag sie unsichtbar mit deinen Büchern zusammen.“

Nico lachte. „Gar keine so schlechte Idee.“ Er hatte ein ausgesprochen angenehmes Lachen, wenn er so befreit war, fand Jen. Tief und … charmant. Dennoch brauchten sie eine Lösung für Melissa und Jason! Es konnte ja nicht sein, dass sie in ewiger Angst lebten, jemand könne sie von hinten angreifen. Es war beängstigend, wie Jens Gedanken in der letzten halben Stunde schon tausend mal umhergehüpft waren, immer wieder in andere Richtungen.

„Wie lösen wir das Problem mit Mel und Jason?“, fragte sie und biss sich dann ertappt auf die Lippen, als sie merkte, dass sie ganz automatisch angenommen hatte, Mr. Asozial würde ihr helfen. Andererseits war er ja nur so abweisend gewesen, weil er nicht wollte, dass sie hereingezogen wurde. Außerdem war ja auch er in Gefahr. Es gab also keinen Grund, warum sie nicht zusammen arbeiten könnten.

Nico schien das „wir“ entweder nicht zu bemerken oder es störte ihn nicht. „Hm, ich schlage mal vor, wir beginnen beim Anfang...“ Er lächelte.

Erst wollte Jen empört auf seine leicht beleidigende Antwort reagieren, doch dann begriff sie, dass er das mit Humor meinte und musste selbst lachen. Sie traf so wenige Leute mit gutem Humor - siehe Gollum - dass sie nicht mit einer ironischen Haltung auf Leute zuging, da man nie wusste, ob das Gegenüber es richtig aufnahm. Zumal Nico nun wirklich eine ausgeprägte Portion Sarkasmus besaß. „Ich meine es ernst“, erwiderte Jen nun doch noch.

„Wir sollten zuerst mal herausfinden, weshalb die beiden unsere Kraft wollen. Wegen der Macht oder wegen einem besseren Grund?“, meinte Nico überraschend sachlich. „Wobei ich letzteres bezweifle.“

Jen nickte. „Okay.“ Das schien logisch. Dann fiel ihr noch etwas ein. „Ähm, Nico, eins verstehe ich noch nicht...“, begann sie zaghaft. Jetzt, da sie das Geheimnis beinahe gelüftet hatte, wollte sie alles genau wissen. Seit 5 Jahren hatte Jen nicht gewusst, von wo und wieso sie ihre Kräfte hatte, und hatte es längst aufgegeben, es herausfinden zu wollen. Das Unwissen hatte sie jedoch immer beschäftigt, merkte sie jetzt. Aber Nico wusste vielleicht mehr - endlich hatte sie eine Chance, das Ganze zu klären. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie sich daran erinnerte, wie sie ihre Kräfte erlangt hatte. Durch den Kontakt mit dieser unheimlichen Frau.

„Was denn?“, unterbrach Nico sanft ihre Überlegungen.

Jen fasste sich wieder. „Also... weshalb bekommen wir diese Kräfte, bloß weil wir eine Frau berühren? Woher kommen diese Kräfte überhaupt? Wie weiß sie, ob wir damit umgehen können?“

Nico ließ sich sie Haare ins Gesicht fallen und seine Mundwinkel zuckten. „Allzu viel weiß ich auch nicht... Aber - es ist schwer, das zu glauben – die Dame hatte diese Kräfte auch. Und aus irgendeinem Grund hat sie uns diese übertragen, als wir sie anfassten. Woher diese Kräfte kommen - wieso - das kann ich nicht sagen. Aber... wenn du dich in ein fremdes, verstaubtes Haus traust, kannst du nicht ganz so hilflos sein und bist bestimmt nicht ungeeignet für eine solche Fähigkeit...“

„Lebt sie noch?“, fragte Jen aufgeregt und versuchte, die Informationen zu verdauen. Diese Frau war auch eine unsichtbare Seele? Und wieso lag sie damals nur herum?

„Nein.“ Nico sah weg und es war klar, dass er keine weitere Auskunft darüber geben wollte. Obwohl sie gerne gewusst hätte, weshalb die Frau nicht mehr lebte, beließ sie es dabei - sie wollte ihn nicht drängen und auf einmal schien sein Blick verschlossen. „Danke für... die Hilfe“, sagte sie stattdessen und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie an diesem Tag mehr zusammen geredet hatten als in den ganzen letzten paar Wochen. Und es war erstaunlich angenehm gewesen.

Nico schenkte ihr ein Lächeln, das ihr Herz einen Schlag aussetzen ließ. „Kein Problem. Ganz meinerseits.“

Jen lächelte zurück und ihre Blicke trafen sich. Nicos Augen leuchteten in einem so intensiven Blau, dass Jen unwillkürlich ans Meer denken musste. Teilweise waren seine Augen von seinem dichten Haar bedeckt, aber das machte sie nur noch mysteriöser.

Nico schaute als erstes weg, wenn sich Jen nicht täuschte, waren seine Wangen gerötet. „Wie wär’s, wenn wir uns morgen für weiteres treffen?“, fragte er.

Jen nickte erfreut. „Können wir machen. Morgen ist Samstag, oder?“, fragte sie, eher um etwas gefragt zu haben, als dass sie es tatsächlich nicht wusste. Sie war aufgeregt wegen den Seelenjägern, aber auch ein wenig wegen... naja, Nico.

Nico nickte. „Ja. In dem Fall morgen? Oder hast du was vor?“

„Nein, morgen geht klar“, bestätigte Jen.

Der Abschied war schwierig. Keiner der beiden wusste recht, wie verabschieden - umarmen oder etwa die Hand schütteln? - und Jen winkte ihm schlussendlich einfach kurz zu und setzte den Cap auf. Eine Sekunde später war sie verschwunden. Nico schaute einen Moment auf die Stelle, an der Jen gerade noch gestanden hatte und ein sanftes Lächeln verzog sein Gesicht, als würde er sich an schöne Strandferien erinnern.


Samstag, 11:00 Uhr

Das Mädchen nahm den Jungen neben ihr bei der Hand und setzte sich zielstrebig in Bewegung.

Sie hatten schon zu viel Zeit damit vertrödelt, die Adresse der Göre herauszufinden, als dass sie jetzt so vor sich hinschleichen konnten! Unwirsch warf sie sich die langen blonden Haare über die Schulter und durchdachte erneut ihr Vorhaben. Sie würden die Kraft der unsichtbaren Seelen an sich reißen und nichts und niemand würde sie dieses Mal aufhalten. Alles war vorbereitet, sie mussten sie nur noch in die Falle locken. Es konnte doch nicht so schwierig sein, einen kleinen Jungen und ein rebellisches Balg zu fangen! Denn diese Kraft der unsichtbaren Seelen gehörte allein ihr. Naja, und noch ihrem Freund. Aber sie hatte es verdient, denn sie würde sie so anwenden, wie man eine solch große Gabe benutzte! Man versteckte sich nicht vor den Leuten, sondern man zeigte ihnen, was man ist. Eine solche Gabe gehörte in die Öffentlichkeit, gehörte gefeiert. Wenn sie den beiden ihre Kräfte rauben konnte, würde sie endlich in der Lage sein, das zu tun, wozu sie geboren war. Sie verzog ihre vollen Lippen zu einem hinterhältigen Lächeln, als sie daran dachte, wie einfach ihnen die zweite unsichtbare Seele in die Hände gerutscht war. Man brauchte diesen Burschen nur kurz in ein Haus zu setzen und schon verliebte sich eine in ihn. Wie töricht. Das Mädchen hätte sich eigentlich denken könnte, dass die beiden sich im Haus Lupos treffen würden, wo das doch der Ursprung des Ganzen war. Sie warf einen Blick auf ihren Begleiter. Mit den dunklen Augen, dem breiten Körperbau und der rostbraunen Haut sah er ziemlich gut aus - und war auch einschüchternd genug für ein kleines Mädchen. Als ihr Freund ihren Blick bemerkte, warf er ihr ein diabolisches Lachen zu, auch er freute sich auf dem bevorstehenden „Besuch“.

Das Mädchen erwiderte das Lächeln mit einem leisen, boshaften Kichern und ging die letzten Stufen zu einem schlichten Haus hoch. Dann warf sie sich die Haare über die Schulter und klingelte Sturm.


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