Читать книгу Melissa - Leben mit Vergangenheit - Denise Devillard - Страница 5

2.Kapitel

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Melissa saß noch immer am Fenster und konnte diese Gedanken an ihre Vergangenheit einfach nicht abschütteln. Immer wieder holten sie sie ein, wie unheilvolle Gespenster, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen.

Fast fünfzehn Jahre hatte sie Albträume wegen ihres verstorbenen Vaters. Höllische Träume, die ihr den Schlaf raubten. Sie träumte dann immer von einer Gruft, in der sie stand, und fühlte, dass dort ihr Vater anwesend war. Grauenhafte Fratzen tauchten immer wieder auf und sie hatte schreckliche Angst. Sie wusste nicht, wie sie diese Träume verhindern konnte. Sie war diesem teuflischen Spuk hilflos ausgeliefert.

Zudem hatte Melissa eine Gabe, die es ihr im Leben nicht gerade leichter machte. Sie konnte Geister fühlen, spüren, wenn etwas anwesend war in einem Raum. Das erste Mal schon als kleines Kind mit sieben Jahren.

Nur konnte sie damals nichts damit anfangen, sie fühlte nur, dass etwas nicht in Ordnung war.

Das erste Mal, dass sie diese Gabe bewusst wahrgenommen hatte, war am ersten Todestag ihres Vaters gewesen.

Sie war wie immer zu Bett gegangen und schreckte des Nachts um drei Uhr ganz plötzlich hoch. Panik machte sich breit, als sie spürte, dass etwas im Zimmer bei ihr war. Ein leises Scharren am Teppichboden, ein stöhnendes Röcheln war zu hören. Sie schaltete vor Angst, sofort alle Lampen die sie im Zimmer hatte, ein. Und auch den Radio, nur um diese Geräusche zu übertönen. Aber es half alles nichts, die Geräusche wurden nur noch stärker. Sie rannte ins Schlafzimmer, wo ihre Mutter mit deren Freund schlief, und weckte sie.

Diese war sehr verärgert über die nächtliche Störung, aber auf Drängen ihrer

Tochter hin, ging sie nun doch mit in Melissas Zimmer.

Doch sie hörte nichts und sagte: „Ach, du spinnst doch total! Hast du jetzt einen totalen Vogel oder was? Geh’ ins Bett und gib Ruhe!“

Melissa begriff nicht, warum ihre Mutter nichts hören konnte, sie hörte es doch auch klar und deutlich.

So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder ins Bett zu legen und abzuwarten, dass der ganze Spuk vorüber ging.

Erst am nächsten Tag wurde ihr bewusst, dass es der erste Todestag ihres Vaters gewesen war. Da war ihr sofort klar, dass es nur ihr Vater gewesen sein konnte, der zu ihr gekommen war, doch sie wusste nicht warum.

In den nächsten Monaten kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Melissa und ihrer Mutter. Auch wegen Christoph. Sie waren inzwischen wieder in die Stadt in eine Wohnung gezogen, weil der Weg in die Arbeit für ihre Mutter von dem Haus der Mutter ihres Freundes, einfach zu weit gewesen war. Melissa war darüber sehr froh, denn die ewig langen Schulwege waren sehr zermürbend für sie gewesen.

Inzwischen hatte sie auch ein paar Freunde gefunden, mit denen sie auch in das nächste Jugendhaus ging. Sie war knapp sechzehn Jahre alt und es machte ihr Spaß, mit Freunden dort Zeit zu verbringen. Jeden Freitag und Samstag war dort auch Jugenddisco. Am meisten mochte sie das Tanzen. Sie hatte sogar einmal einen Tanz aus einem Video mit einer Freundin einstudiert und dort vorgetanzt. Sie kannte die meisten anderen Jugendlichen dort ganz gut und fühlte sich dort sehr viel wohler als zu Hause.

Die ewigen Schreiereien ihrer Mutter hingen ihr einfach zum Hals heraus, weil sie nie ein gutes Haar an ihr ließ, egal, wie sehr sie sich auch bemühte. Und wenn sie auch nur mal eine halbe Stunde zu spät heimkam, kam es nicht selten vor, dass ihre Mutter zu ihrer Reitgerte oder auch mal einem Kleiderbügel griff und auf sie einschlug.

Melissa hatte immer das Gefühl, dass ihre Mutter allen Hass, den sie auf sie wegen ihrer Existenz hatte, dann auf ihr ausließ.

So kam es mit der Zeit immer wieder mal vor, dass Melissa lieber bei Freundinnen über Nacht blieb, sie wollte einfach nicht nach Hause. Ein zu Hause, in dem sie ja nicht willkommen und nur geduldet war.

Was sollte sie dort? Warum sollte sie nach Hause gehen? Es gab für sie keinen ersichtlichen Grund dafür, außer dieses: MUSS. Mehr nicht.

Ihre Mutter drohte fortan immer wieder mit dem Jugendamt.

Melissa war nicht ein Mädchen, das sich tagelang herumtrieb oder irgendwelchen Mist baute, nein, sie hatte nur einfach keine Lust, daheim zu sein, weil sie spürte, dass sie bei Freunden einfach besser aufgehoben war. Und sie mochte auch den Freund ihrer Mutter nach wie vor nicht leiden. Einmal kam es vor, dass Melissa bei ihrem Freund übernachtete und erst am nächsten Vormittag heimkam. Ihre Mutter war nicht da und Christoph bestand darauf, dass Melissa in ihrem Zimmer blieb, bis ihre Mutter von der Arbeit käme. Er sperrte sie in ihrem Zimmer ein.

Da sprang Melissa kurzerhand aus dem Fenster, auf die unterhalb der Wohnung liegende Terrasse, eines darunter liegenden Büros. Es waren in etwa vier bis fünf Meter, und Melissa biss sich auf die Lippen vor Schmerz, als sie mit dem rechten Fuß aufprallte. Tapfer humpelte sie bis zur nächsten Tankstelle, wo sie jemanden kannte, der dort arbeitete und bat ihn, sie zu ihrem Freund zu fahren.

Zwei Stunden später war klar, dass der Fuß gebrochen war und Melissa musste ins Krankenhaus und bekam einen Gips.

Nach einer knappen Woche wurde Melissa entlassen und ihre Mutter holte sie vom Krankenhaus ab. Sie war deprimiert darüber, dass sie nun nicht einmal wegkonnte von daheim, weil sie ihren Fuß nicht so viel belasten durfte.

Nach vier Wochen war der Gips weg und Melissa froh, sich wieder mit ihren Freunden treffen zu können. So ging das Spiel von vorne los. Melissa war meist unterwegs und ihre Mutter stinksauer.

Dann kamen die Sommerferien und Melissa war wieder bei ihrer Großmutter. Sie hatte viel Spaß mit Leuten, die sie dort kannte, und hielt sich die meiste Zeit im nahen gelegenen Freibade auf.

Sie liebte es, bei ihren Großeltern zu sein, weil sie dort ganz sie selber sein konnte. Niemand, der dort gemein und böse zu ihr war. Alle waren immer sehr liebevoll zu ihr.

Dann, zwei Wochen vor dem Ende der Ferien, holte sie ihre Mutter ab.

Als sie zu Hause ankamen, und Melissa ausgepackt hatte, hieß ihre Mutter sie sich anzuziehen und mitzukommen.

Auf Melissas Nachfrage hin, wo sie denn hinfahren würden, bekam sie keine Antwort. Melissa spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.

Nach einer halben Stunde Fahrt kamen sie an ein großes Haus, das sehr kalt wirkte von außen.

Ihre Mutter wies sie an auszusteigen, und sie gingen zur Haustüre.

Melissa wusste genau, wenn ihre Mutter so geheimnisvoll tat, konnte das nichts Gutes bedeuten. Ein Mann mittleren Alters öffnete ihnen.

Sie gingen hinter ihm die Steintreppen hinauf. Sie kamen in einen großen Raum, in dem ein Schreibtisch mit Computer und Kästen stand, und auf der anderen Seite eine Eckpolstergruppe, die viel Platz bot.

Als vor Melissa auch noch ihr Betreuer vom Jugendamt stand, bei dem sie vor Monaten schon einmal ein Gespräch mit ihrer Mutter hatte, war ihr klar, auf was das hinauslaufen würde.

Der Jugendamt-Betreuer sagte zu ihr: „So, meine liebe Melissa, deine Mutter und ich haben uns beraten, was wir tun können, um die Situation bei euch zu Hause zu ändern, und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass du hier vielleicht einziehen möchtest, wenn du dich zu Hause nicht wohlfühlst und es immer wieder daheim Probleme gibt.

Ich zeige dir das ganze Haus und dann müsstest du dich freiwillig dafür entscheiden, hier einzuziehen, denn wir können dich nicht dazu zwingen.“ Melissa war stinksauer und Hass gegen ihre Mutter stieg in ihr hoch. Sie kochte geradezu innerlich. Wie konnte ihre Mutter ihr das nur antun? Sie hatte nicht ein Wort gesagt und das alles hinter ihrem Rücken schon lange geplant gehabt!

In dem Moment, wo sie das begriff, war ihr alles egal. Sie holte aus ihrer Tasche eine Packung Zigaretten heraus, und zündete sich im Beisein ihrer Mutter eine an. Sollte sie doch schimpfen, ihr war es egal. Sie war doch sowieso abgeschrieben bei ihr. Und es war die ideale Gelegenheit, ihr unerwünschtes Kind nun endlich loszuwerden. Bis zu dem Zeitpunkt hatte sie immer nur ab und zu heimlich geraucht. Aber jetzt war es doch völlig egal, was ihre Mutter davon hielt, sie war abgeschoben, verlassen, weggegeben worden. So wie sie es doch schon immer wollte. Von ihrer Mutter kam kein Wort.

Nun hatte sie doch noch ihr Ziel erreicht und war ihre Tochter losgeworden für immer.

Aus lauter Hass und Wut über so viel Hinterlistigkeit, blieb Melissa freiwillig in der Mädchen-Wohngemeinschaft. Sie wollte ihre Mutter in diesem Moment einfach nie wieder sehen. Sie hatte ihr Leben lang immer nur böse Worte für sie übrig und eine echte Mutter, wie man es sich wünscht, war sie nie für sie gewesen.

Sätze wie: „Du bist doch eh für alles zu blöd!“, waren an der Tagesordnung wie so vieles andere auch.

Sie hatte ihrer Tochter nie Mut gemacht, sie unterstützt und gefördert. Im Gegenteil, sie hat sie ein Leben lang demoralisiert, unterdrückt und verachtet.

Das war ihre Mutter, die letztlich nie eine Mutter für sie war. Ihre Mutter verließ lächelnd das Haus, und ließ sie zurück.

So, nun saß sie da und wusste nicht, wie ihr geschehen war.

Melissa wurde ein Zimmer zugewiesen, in dem noch ein zweites Bett stand, das zurzeit jedoch unbenützt war. Sie hatte das Zimmer für sich alleine, bis das nächste Mädchen einzog.

Sie ließ sich das ganze Haus zeigen und erfuhr noch am selben Abend, dass im zweiten Stock, in welchem sie auch wohnte, sich in der Badewanne ein Mädchen die Pulsadern aufgeschnitten hatte und gestorben war.

Melissa war geschockt und angeekelt. Hier sollte sie sich dann auch darin baden müssen? Ihr lief es eiskalt über den Rücken bei dem Gedanken daran.

Drei Stunden später brachte ihre Mutter mit deren Freund Christoph all ihre Sachen. Sie verabschiedete sich nicht einmal und ging danach grußlos. Nicht der Funken einer Gefühlsregung, war bei ihr zu erkennen.

Aber was hatte Melissa auch erwartet? Es war ja noch nie anders gewesen. Sie kannte sie nicht anders.

So ergab sie sich der Situation, und räumte ihre Sachen in ihr Zimmer.

Viel hatte sie ja nicht und so war das auch bald erledigt.

Sie setzte sich aufs Bett und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte, sie war jetzt ganz auf sich gestellt.

Die anderen Mädchen waren sehr zurückhaltend ihr gegenüber, sie war ja „die Neue“.

Sie war in einer völlig fremden Umgebung und musste sich irgendwie damit zurechtfinden.

Da sie keine Geschwister hatte außer einem Halbbruder von Seite ihres Vaters, den sie aber noch nie gesehen hatte, war es für sie sehr ungewohnt, plötzlich mit so vielen Mädchen unter einem Dach zu wohnen.

Sie musste abwechselnd mit den anderen Mädchen auch kochen und putzen im Haus. Und wie alle anderen war auch sie nicht erfreut darüber. Die Mädchen, die hier wohnten, waren alle sehr unterschiedlich und manche extrem durchgeknallt. Für Melissas Begriffe „zu“ durchgeknallt. Abends kamen manchmal bei einigen im ersten Stock, Jungs durchs Fenster, was natürlich nicht erlaubt war. Manche schlichen sich auch heimlich fort, um in die nächste Disco zu gehen oder sich eben mit Jungs zu treffen. Melissa distanzierte sich von diesen Mädchen, weil sie keinen Ärger haben wollte. Auch war es wirklich nicht ihre Art. Sie war erst seit Kurzem mit einem Jungen zusammen, den sie sehr mochte. Er hieß Patrick und war gerade mal sechs Monate älter als sie. Sie hatte ihn durch Zufall kennengelernt. Auch er war nicht begeistert, dass sie nun dort wohnte, aber es war ihm trotz allem lieber, als wenn Melissa noch zu Hause gewesen wäre. Er wusste, dass ihre Mutter eine unerträgliche Person war, die er nicht mochte und die Melissa nur Leid zufügte.

Jungs, das war so ein Thema, bei dem Melissa schon sehr misstrauisch war, nachdem was sie schon alles erlebt hatte….

Melissa - Leben mit Vergangenheit

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