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Zu Beginn – ein Vorwort

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Das Handeln von Menschen hat Ursachen oder es verfolgt Ziele, meistens jedenfalls. Wir essen, weil wir Hunger haben, und wir ziehen eine dicke Jacke an, damit wir nicht frieren. Gelegentlich tun wir auch etwas „nur so“, aber selten. Warum oder wozu aber schlagen sich erwachsene, vernünftig denkende Zeitgenossen Abende in Gemeinderatssitzungen um die Ohren, um sich wie der Bürgermeister von Löcknitz den Vorwurf anzuhören, die von der Stadt gerade erst gepflanzten Bäume seien kahl? Warum sind sie am Wochenende nicht bei ihren Familien oder Freunden, sondern diskutieren auf Bezirksparteitagen endlos im Kreis oder eröffnen das x-te Volksfest, natürlich immer bestens vorbereitet und glänzend aufgelegt? Warum sitzen sie am Wochenende nicht „draußen in der Sonne“, wie es sich der inzwischen pensionierte Bürgermeister von Neulewin jahrelang erträumte, sondern im Feuerwehrgerätehaus, wo sie sich die immer gleichen Grußworte anhören und verdiente Mitglieder ehren? Warum erträgt es eine Bürgermeisterin in Brandenburg, nachts um halb zwei von einem wütenden Mitbürger angerufen zu werden, der nicht schlafen kann, weil irgendwo ein Hund bellt? Weil es Ruhm oder Geld verspricht oder wenigstens die Eitelkeit befriedigt?

Fragen, denen Denise Peikert in diesem Buch nachgeht. Sie hat mit Bürgermeistern und Oberbürgermeisterinnen gesprochen. Sie spürt der verborgenen Kraft nach, die sie antreibt. Die muss es geben, denn niemand wird zur Kommunalpolitik gezwungen oder als Stadtdirektorin geboren. Glamour als Triebfeder scheidet aus, denn der Bürgermeisterposten einer 3.000-Einwohner-Gemeinde bringt den Amtsinhaber selten ins Fernsehen, macht aber wie die Kunst viel Arbeit (frei nach Karl Valentin). Eine gewisse Popularität genießen Oberbürgermeister von Großstädten, aber auch die wird außerhalb der jeweiligen Gemarkungsgrenze stark überschätzt: Die Kenntnis der Namen der Rathauschefs von Dresden, Stuttgart, Frankfurt am Main und Düsseldorf dürfte in einer Fernseh-Quizsendung jedenfalls für eine fünfstellige Gewinnsumme reichen. Und dass selbst lokale Berühmtheit nicht immer glanzvoll ist, illustriert der Baudezernent einer hessischen Großstadt so: Er sitzt mit seiner Familie im Wirtshaus beim Essen, ist also erkennbar privat, da tritt ein Mitbürger an den Tisch, zieht einen Stuhl heran und sagt: „Herr Stadtrat, Sie haben doch sicher zehn Minuten Zeit für mich …“

Dabei ist das, wovon dieser Dezernent berichtet, zwar lästig, aber doch noch ein fast wertschätzendes Zugehen auf Lokalpolitiker. Was wir viel häufiger beobachten, ist das Gegenteil: Geringschätzung, Häme, Verächtlichmachung bis hin zu blankem Hass, ja bis zur Gewalt, wie die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker sie erlitten hat, und nicht nur sie. Im Sommer 2019 lud Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 15 Bürgermeister ein, um mit ihnen über Bedrohungen, Anfeindungen und Gewalt zu sprechen, denen Kommunalpolitiker landauf, landab ausgesetzt sind.

Zwar klagte schon Thomas Jefferson über den Volkssport der Bürger, ihre Volksvertreter und Regierenden lächerlich zu machen, neu sind allerdings Maßlosigkeit und Vulgarität der Hetze. Man findet sie nicht nur in den sogenannten bildungsfernen Schichten, sondern auch in den angeblich besseren Kreisen. „Was die Bürgermeister vor allem umtreibt, ist die inzwischen ganz normale Eskalation ganz normaler Leute“, schreibt Denise Peikert. Dass jemand, dem eine Baugenehmigung versagt wurde, Nägel in die Einfahrt zum Privathaus des Bürgermeisters legt, ist zwar nicht an der Tagesordnung, es sind aber auch nicht mehr nur einzelne Durchgeknallte, die so oder so ähnlich reagieren. Es ist auch nicht das Prekariat, das Maß und Mitte verliert und vorübergehende, gerichtlich überprüfbare Pandemie-Vorsichtsregeln in einem Rechtsstaat mit dem Alltag in einer Diktatur gleichsetzt, es sind Hochschullehrer darunter. Und wer kennt nicht die großen und kleinen Wirtschaftskapitäne, die auf IHK-Empfängen abfällig äußern, sie würden den politischen Laden, diese Schwatzbude von Ahnungslosen, schon auf Vordermann bringen, wenn man sie nur ließe?

Aus welchen Denkfiguren speist sich der Affekt? Die einen meinen, Politik sei eine Art Theater, um das Volk bei Laune zu halten und es glauben zu machen, im Bundestag oder im Rathaus würden tatsächlich Entscheidungen getroffen. Wie naiv! In Wirklichkeit habe die Politik doch gar nichts mehr zu melden, die eigentliche Macht liege in den Händen von Lobbygruppen, von anonymen Märkten, der Globalisierung, des Finanzkapitals, der Amerikaner, der jüdischen Weltverschwörung. Die Reihe der finsteren Mächte ließe sich fast beliebig fortsetzen, die Begründungen sind auch Moden unterworfen.

Was kann man darauf antworten? Vermutlich nur, dass die Welt und die Politik scheußlich komplex sind, komplexer jedenfalls, als es sich die Vertreter der schlichten Handlanger-Theorie vorstellen. Außerdem gibt es in der Welt da draußen keine verborgenen, objektiv „richtigen“ Lösungen, die man nur erkennen und durchsetzen muss, was angeblich jeder Stammtischstratege oder Wutbürger kann, nur eben die bekanntlich unfähigen Politiker nicht. Schön wär’s, kann man nur sagen. Und ja, Lobbygruppen gibt es, sie haben auch Einfluss, aber das ist in offenen Gesellschaften nicht unmoralisch – zumal nicht nur die Automobilwirtschaft und die Energieerzeuger Einflussagenten haben, sondern auch Gewerkschaften, Umweltverbände und Naturschützer.

Ein anderer Topos lautet, in der Politik gehe es längst nicht mehr um „die Sache“ – wobei in der Regel offenbleibt, welche Sache gemeint ist –, sondern nur um Pöstchen und Wiederwahl. Ja, darum geht es auch. So wie in Sportvereinen, in Schulelternbeiräten und in Entwicklungshilfe-NGOs ebenfalls. Die Politik ist nämlich kein Philosophenhügel, auf dem nur die Kraft der Argumente zählt. In der Politik geht es um Interessen, um Einfluss, auch um Imponiergehabe. Kurzum: Es geht zu wie im richtigen Leben.

Häufig ist auch das Ressentiment zu hören, „die im Rathaus“ oder „die in Berlin“ wüssten ja gar nicht mehr, was „uns“ bedrücke, weil sie in ihrer eigenen Welt lebten. Mehr als ein Drittel der Bürger fühle sich durch die Politik nicht mehr vertreten, referiert Denise Peikert eine Studie von 2019. Das sollte zumal Kommunalpolitiker aufhorchen lassen. In einem Stadtteil von Frankfurt am Main kam es im Frühjahr 2020 zu einem tödlichen Unfall an einem Bahnübergang. Jahrelang hatten Anwohner auf die Gefahrenstelle hingewiesen, im Rathaus, im Ortsbeirat, bei der Bahn. Geschehen war – nichts. Es ist jener Frankfurter Bezirk, in dem die AfD bei der hessischen Kommunalwahl im März 2016 den höchsten Anteil in der ganzen Stadt bekam. Auf der Suche nach Erklärungen bekamen Lokaljournalisten schon seinerzeit immer wieder diesen Bahnübergang zu hören, viel häufiger als „die Flüchtlinge“, als Beispiel für die Entfremdung der Stadtverwaltung vom Lebensalltag der Bürger, für das verbitterte Gefühl, in einem abgehängten Stadtteil zu leben.

Und dennoch: Die große Mehrheit der Kommunalpolitiker – viele von ihnen arbeiten ehrenamtlich –, die sich für oder gegen eine Umgehungsstraße, für oder gegen ein Gewerbegebiet einsetzen, weil ihre Gemeinde ihnen am Herzen liegt, hat es weder verdient noch nötig, sich als ahnungslose, abgehobene, postengierige, lobbyhörige Clique abkanzeln zu lassen. Auch dafür liefert Denise Peikerts Buch reichlich Anschauung. Wer es liest, versteht, wovon Kommunalpolitiker sich leiten lassen, was sie antreibt und warum sie am Wochenende vielleicht auch lieber in der Sonne säßen, es aber für ihre staatsbürgerliche Pflicht halten, der freiwilligen Feuerwehr die Ehre zu erweisen.

Eine Pflicht übrigens, die sie aus eigenem Entschluss übernommen haben, weil sie wissen, dass Demokratie und Bürgergesellschaft in nicht geringem Maße von der freiwilligen Übernahme von Verantwortung leben. Frei nach Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der freiheitliche Staat kann politische Teilnahme nicht erzwingen, sonst gäbe er seinen freiheitlichen Charakter auf, deshalb kennen wir beispielsweise auch keine Wahlpflicht. Wenn aber niemand mehr aus freien Stücken Verantwortung übernimmt, wenn alle zwar Radfahren wollen, aber niemand mehr bereit ist, Planfeststellungsbeschlüsse für neue Radwege zu erarbeiten – ja, das macht Arbeit bis spät in die Nacht –, dann sägen wir am Ast, auf dem wir sitzen. Erst wenn die letzte Bürgermeisterin und der letzte Stadtrat resigniert aufgegeben haben, werden die Pöbler und die Nägelausleger merken, dass Wutbürger keine Schulhäuser sanieren und keine Neubaugebiete ausweisen.

Vielleicht stellt ja die Corona-Krise die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße. Eine Forsa-Umfrage von Ende Mai 2020 lässt den Schluss zu, dass unter dem Eindruck des von den meisten als umsichtig und angemessen empfundenen Handelns von Bund, Ländern und Kommunen das Vertrauen in die politischen Institutionen wieder wächst – bei allem berechtigten Dissens im Einzelnen. Mehr als die Hälfte der Deutschen und damit wieder mehr als zuvor vertrauen ihren Bürgermeistern und Oberbürgermeistern (58 Prozent), den Gemeindevertretungen (57 Prozent) und den Stadtverwaltungen (56 Prozent). Wer weiß, vielleicht müssen die Neulewiner demnächst ja nicht mehr so lange darauf warten, dass sich jemand bereitfindet, das Bürgermeisteramt zu übernehmen.

Werner D‘Inka Autor und ehemaliger Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Bürgermeister - was sie antreibt, wer sie umtreibt

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