Читать книгу Mimikri - Dennis Weis - Страница 5
Die Unbekannte
ОглавлениеDyako war ein alter Mann. Er lebte in einem heruntergekommenen Haus auf dem Land. Seine Frau war schon vor Jahren an der schwarzen Seuche, so nannte er die dunklen Herrscher, gestorben und seine Kinder sprachen kein Wort mit ihm, weil sie ihm vorwarfen, ihnen ihre Mutter genommen zu haben.
Seine Tage glichen einer Routine. Jeden Morgen stand er auf, wusch sich, aß etwas und ging auf seinen kleinen bescheidenen Hof, wo er sich eine ältere Kuh, zwei Ziegen und einige Hühner und ein richtig altes Pferd hielt. Mehrere Katzen streunten ebenfalls herum, aber die gehörten ihm nicht. Dennoch fütterte er sie mit durch, wie auch die anderen Tiere. Die Hühner gaben ihm Eier dafür und die Kuh ihre Milch. Das Pferd allerdings musste fürchten, dass er es irgendwann schlachten musste, auch wenn er es nicht gewollt hatte. Pferdefleisch war zwar widerlich, aber wenn einem der Hunger fest im Griff hatte, war einem das auch gleich.
So verhielt es sich auch an diesen Morgen. Dyako stand auf, wusch sich und aß zum Frühstück zwei Eier und trank etwas von der Kuhmilch. Der Unterscheid zu sonst bestand darin, dass heute Markttag war. Es bedeutete, dass er sich auf den Weg in das nächstgelegene Dorf machte, um Dinge einzukaufen. Gleichzeitig verkaufte er etwas von seinen Hühnereiern, der Milch und seinen Figuren, die er selbst geschnitzt hatte, um so an einige Taler zu kommen.
Er fertigte sie aus herunter gefallen Ästen oder Stämmen, die meist nach einem heftigen Unwetter vorkamen. Die Figuren erfreuten sich äußerster Beliebtheit. Es waren zumeist Tiere, wie Wölfe, Füchse, Dachse oder auch mal Bären. Die Menschen kauften sie und hätten sicherlich noch mehr bezahlt, als Dyako von ihnen verlangt hatte, aber er nahm nur so viel, wie er brauchte, um leben zu können. Ihm ging es nicht um den Ruhm oder Reichtum, sondern darum, satt zu werden und um die Freude an der Arbeit. Dyako war ein Mann des Erschaffens, denn er erschuf gerne Dinge.
Sein Geschick mit seinen Händen kam nicht von ungefähr, denn Dyako war in seinem früheren Leben einmal Schneider und sogar im Dorf angestellt. Die Leute liebten seine Kleider und kauften sie, sodass er mit seiner Familie ein gutes Leben führen konnte. Doch dann kam der Krieg und seine Frau starb und Dyako veränderte sich, weil er zur Flasche griff und sich sein Leben weggesoffen hatte. Er konnte ja nicht einmal seine Frau retten. Wäre er doch nur Arzt gewesen, dann hätte er sie sicher retten können. Oder wäre er in der Kirche, dann hätte diese seine Frau gerettet. Aber Dyako war zu dumm und nicht gläubig und daher musste seine geliebte Frau im Jenseits verweilen.
Ehe er es bemerkt hatte, war er ganz allein, denn seine Kinder hielten es mit ihm nicht mehr aus. Er war so voller Wut, sodass er sie verschreckte, beleidigte und seine hässliche Seite zeigte. Sie gingen, weil sie gehen mussten und kamen nimmer wieder. Es fiel ihnen nicht leicht, diese Entscheidung zu treffen. Aber bei Dyako zu bleiben, der nur noch ein Schatten ihres Vaters gewesen war, bedeutete den sicheren und langen wie qualvollen Tod.
Zu seinem Übel gaben Sie ihm die Schuld daran, dass die Mutter verstorben war. Nicht, weil er sie ansteckte, nein, sondern weil er sich nicht kümmerte. Er war zur damaligen Zeit zu beschäftigt, ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen, sodass er nicht sehen konnte oder wollte, dass es bereits zerstört worden war. Allein dafür hasste Dyako sich selbst und wollte sich das Leben nehmen. Aber selbst das konnte er nicht.
Jetzt war er trocken und trank keinen Alkohol mehr. Darüber hinaus konnte er sich auch keinen mehr leisten. Die ersten Monate litt er Qualen, da die Sucht ihn hat leiden lassen, aber konnte er einigermaßen damit umgehen und seine Sucht erschien nur noch mal wieder, wenn er einen Gedanken daran verschwendete. Schlussendlich konnte er diese nie vollständig loswerden. Er musste lernen, damit zu leben.
Diese Gedanken kamen ihm auch jetzt. Aber er blieb stark. Das Einzige, was von dem einzigen Schneider übriggeblieben war, dass er nun Beutel und einfache Kleidungen anfertigte, statt der üppigen Kleider aus der Vergangenheit, denn ihm fehlte der Stoff und er schneiderte nur noch selten, da es ihn daran erinnerte, was er verloren hatte und weil er für sich keine derartigen Sachen brauchte.
Für ein paar Taler kauften die Leute ihm die Dinge meist alle ab, die er herstellte und er konnte sich dadurch Brot, Käse und manchmal auch Fleisch leisten. Dies war für ein purer Luxus, den er sich selbst eigentlich gar nicht gönnen wollte und somit in einer Art Selbstgeißelung lebte. Dyako war der festen Überzeugung, es verdient zu haben. Dies sollte sein Leben sein, dass er fortan führen musste.
Er packte seine Sachen zusammen in einen Beutel und machte sich auf, um nach Ferruma, so war der Name des Dorfes, zu gehen. Dyako würde erst abends wieder daheim sein und so steckte er sich weitere zwei Eier ein, falls er im Laufe des Tages Hunger bekommen sollte. Er konnte sich nicht mehr mitnehmen, da er sonst zu wenig als Rest haben würde.
Dyako ging immer den üblichen Weg ins Dorf, denn Abseits davon war man nicht sicher. Seit den Zeiten des Krieges gab es Räuber und Diebe, die die Gegend unsicher machten und Leute überfielen ausraubten, angriffen und sogar töteten.
Das Land wurde nun beherrscht von den Nocta, die den Krieg gewonnen hatten. Davor war das Land ein florierender Ort, der von Wohlstand, Handel, Wissenschaft, Kunst und vor allem auch Technik geprägt war. Aber seit dem Ende des Krieges und durch die Gewalt der Nocta ist alles eingebrochen und teilweise lebten die meisten wie vor 500 Jahren. Einzig die Magie hatte überlebt, nur wurde sie gejagt, gefangen und getötet durch die Hand der Nocta, die einzig allein für die Technik lebten und alles verabscheuten, was auch nur im Geringsten mit Magie oder dergleichen zu tun hatte.
Sie duldeten keine Macht neben sich. Ganz gleich welchen Ursprung sie haben könnte. Die Nocta hatten alles an Technik und anderer Ideen an sich genommen oder nahmen es noch an sich. Da sie sich diese Macht genommen hatten, trauten sie niemandem und streuten sogar Spitzel unter das Volk, um auf diese Weise Feinde aufzuspüren. So wurde manch einer zu Tode geprügelt, hingerichtet oder vergiftet, der in Wahrheit gar kein Feind war, sondern nur zur falschen Zeit am falschen Ort oder er nervte einen der Spitzel, die für seine Beseitigung sorgten.
Dyako stellte keine Gefahr dar, daher ließ man ihn größtenteils in Ruhe. Nur bei den Abgaben kamen die Soldaten der Nocta und forderten ihren Tribut. Dabei nahmen sie alles mit, was zu Geld gemacht werden könnte. Bei Aufsässigen töteten sie die Kinder, die Frau oder sogar die Tiere. Sollte es all das nicht mehr geben, schnitten sie ihm eine Hand oder einen Arm ab.
Dyako hatte niemals Probleme damit, da er brav seine Steuer zahlte oder etwas abgab. Er schaute die Soldaten nicht einmal an, wenn sie kamen, sondern senkte seinen Blick zu Boden und war stets in gebückter Haltung, damit sie ihm nichts antaten. Dadurch überlebte er. Durch sein Verhalten verlor über die Jahre mehrere Tiere wie Ziegen oder auch Schafe. Aber was gab man alles für sein Leben? Er selbst sicherlich nichts, denn er hätte es jeder Zeit provozieren können, getötet zu werden, aber dies hätte seine geliebte Frau nicht gewollt.
Es hätte Zeiten gegeben, in denen wäre er am liebsten gestorben, gerade weil die Nocta für den Tod seiner Frau verantwortlich waren, aber seit er seine Dämonen besiegt hat, hielt er am Leben fest, gerade weil es seine Frau nicht dulden würde. Sie hätte von ihm verlangt, zu kämpfen und nicht aufzugeben, so wie er es schon mehrfach gemacht hatte.
Ob er die Nocta tatsächlich am Tod seiner Frau beteiligt waren, wusste er nicht. Man erzählte sich, dass Widerständler oder die, die die Nocta dafür hielten, durch ein Gift umgekommen waren. Dieses Gift nannten sie „den schwarzen Tod.“ Aus diesem Grunde schien es für Dyako die naheliegende Erklärung zu sein, ohne dass er sich dadurch hätte freisprechen wollen.
Noch bevor Dyako den Hof verließ, ging er an das Grab seiner Frau vorbei. Er machte es immer so- stets auf dieselbe Weise. Er erzählte ihr auch jedes Mal seine Gedanken und stellte sich vor, was sie zu ihm sagen würde. Manchmal rollte eine Träne über seine Wange. Gerade dann, wenn er sie vermisste und dies war auch nach all den Jahren immer noch der Fall. Liebe überstand jede Zeit.
Heute allerdings war es nicht so, dass er eine Träne vergoss. Er grüßte seine Frau und schaute, ob am Grab, welches er sehr pflegte, auch alles soweit in Ordnung war. Dann teilte er ihr mit, dass er nach Ferruma wollte, um einzukaufen und dass er gegen Abend zurück sei. An solchen Tagen musste er sich sputen, da der Weg lang war und er nicht mehr der Jüngste. Abends würde er sicherlich Zeit haben, um einige Worte zu seiner Frau zu sagen. In seinen Gedanken verstand sie es. Sie hatte schon immer ein großes Herz.
Dyako hatte seinen Wanderstab dabei, denn die Strecke machte ihm schon Mühe, gerade ab der Hälfte. Sein Alter forderte eben auch seinen Tribut. Die ersten Schritte waren auch immer ein wenig anstrengend, denn die Knochen mussten sich erstmal daran gewöhnen. Die Arbeit auf dem kleinen Hof, die er jeden Tag vollbrachte, hielten ihn auf eine Art fit, aber sie war auch kräfteraubend. Meist war es nach einigen Schritten vorüber und er konnte wandern.
Der Tag begann sehr schön, denn die Sonne schien und nur ein paar Wolken verdeckten ab und zu den die Strahlen. Es sah aber insgesamt nicht danach aus, als würde es heute zu Regen kommen. Es stimmte Dyako ein wenig fröhlich und er ließ sich dadurch ein bisschen von der Natur anstecken, obwohl überall noch Zeichen des Krieges zu sehen waren.
Dyako ging an verlassenen Höfen, Ruinen und zerstörten Bauten vorbei, die mittlerweile von Gräsern und Pflanzen bedeckt waren und teilweise einige Tiere, wie Hasen, Füchse oder auch Mäuse in sich wohnen hatten. Die Natur hatte sich über die Jahre alles zurückgeholt. Die einstigen großen Krieger und magischen Wesen gab es nicht mehr oder die Anhänger verließen ihre Heimat und versteckten sich.
Das einzige Stück, welches zum einen schön war, aber auch gefährlich, war der Wald. Er blieb erhalten und breitete sich nach dem Krieg sogar noch aus. Die Natur war hier am schönsten, fand Dyako und er hatte das Gefühl, sie wurde jedes Mal ein wenig schöner. Andererseits befanden sich in diesem Wald auch Tiere, wie Wölfe und Bären, denen man besser nicht begegnen sollte.
Aber ebenso wenig sollte man sich vor den Räubern fürchten, die es ausnutzten, dass man im sich im Wald sehr gut verstecken konnte. Zumeist raubten sie ihre Opfer nicht nur aus, sondern verschleppten sie, wenn sie Frauen waren. Oder vergewaltigten sie. Die Räuber hatten kein Gewissen und nahmen sich, was sie wollten. Bei Männern kam es drauf an, ob sie als Sklaven herhalten konnten oder wie im Dyakos Fall einfach nur abgeschlachtet worden. Alte konnte man nicht gebrauchen, genauso wenig wie Zeugen.
Den Wald zu umgehen war zwar möglich, aber sinnlos, wenn man am Abend wieder daheim sein wollte, so wie Dyako. Es war nur ein kleiner Teil, den er zu durchschreiten hatte, ehe er dann den letzten Part in Richtung Ferruma absolvieren konnte. Die meisten hätten aber den Umweg in Kauf genommen oder wären mit mehreren durch das Waldstück gegangen, da die Wahrscheinlichkeit geringer war, überfallen zu werden.
Die Räuber waren zwar durchtrieben und gierig, aber nicht so dumm, sich mit zu vielen anzulegen, gerade wenn ihre Chancen sanken. Wer es sich also leisten konnte, war zumindest ihnen gegenüber geschützt. Die wilden Tiere interessierte es aber nicht und so kam mancher um, weil er sich zu sicher fühlte und wurde am Ende Bärenfutter. Den Rest der Leiche verspeiste praktisch der Wald durch andere Tiere wie Ameisen selbst.
In dem Wald kam sich Dyako immer vor, als sei er in einer anderen Welt. Allein das Licht der Sonne wurde beim Eintritt nahezu völlig verschlungen und es fühlte sich an, als sei schon Abend, obwohl es ein anderes Licht war. Der Wind war kühler und es war viel stiller, sodass man seine eigenen Schritte hören konnte- selbst Dyako in seinem Alter. Dadurch war man stets in einer Art Habachtstellung, denn es könnten Diebesbanden oder gefährliche Tiere lauern. Dyako ließ diesen Gedanken kaum Raum, sodass die Reise für seine Verhältnisse rasch voranging. Es machte keinen Sinn, sich ständig seiner Angst hinzugeben. Man konnte dadurch irre werden und Dyako war zwar ein alter verbitterter Mann, aber er war noch nicht durchgeknallt.
Nach einiger Zeit hatte Dyako es geschafft und den Wald hinter sich gebracht. Es geschah nichts. Tagsüber war die Möglichkeit einer Begegnung mit einem Tier gering, da diese meist abends oder am frühen Morgen jagten. Räuber war unkalkulierbar. Es verhielt sich in diesem Fall wie bei einer Lotterie.
So wie beim Eintritt, war es ebenso beim Austritt aus dem Wald. Die Wärme der Sonne, der Wind und vor allem die Geräuschkulisse durch Vogelgezwitscher, Summen von Bienen und anderen Insekten machten deutlich, dass Dyako wieder auf dem Pfad Richtung Ferruma war.
Der alte Mann sputete sich, denn er war langsamer als die letzten Male. Weshalb es sich so verhielt, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht dachte er zu viel nach und wurde so noch träger als er eh schon wegen seines fortgeschrittenen Alters war. Die Verspätung konnte aber maximal eine halbe Stunde betragen, so wie er es laut Sonnenstand abschätzen konnte.
Er näherte sich den Stadtmauern von Ferruma. Davor standen vier Wachen, allesamt mit allerhand Waffen ausgerüstet, die sowohl Hightech beinhalteten als auch nicht. Dyako hatte kaum Kenntnis über Waffenkunde, deshalb konnte er nicht genau erkennen, was sie alles mit sich führten. Was er aber sehen konnte war, dass diese Soldaten gefährlich waren.
Sie verfügten über Visiere, die jeden scannten, der sich ihnen näherte und zeitgleich trugen sie Schwerter, die mit verschiedensten Modifikationen ausgestattet waren. Welche dies waren, blieb solange geheim, bis sie sie benutzten. Es war auf jeden Fall eine schlechte Idee, sich mit ihnen anzulegen, wenn man sein Leben nicht verlieren wollte.
„Hey, alter Mann“, rief auf einmal eine der Wachen und Dyako wusste ganz genau, dass er gemeint war.
Er blieb sofort stehen und schaute nur etwas nach oben, um nicht unhöflich zu sein, aber nicht zu viel, damit er sein Leben nicht riskierte, denn Dyako wollte, dass die Wachen ihn auf keinen Fall als Bedrohung ansahen, denn dann machten sie kurzen Prozess mit ihm.
„Ja, Herr?“ fragte er mit schwacher Stimme, um seine Schwäche offen zu demonstrieren.
„Was liefern sie?“ stellte die Wache ihm und kam näher.
„Eier und etwas Milch“, antwortete Dyako so schnell er konnte.
„Gut, das brauchen wir nicht“, sagte die Wache und winkte ihn weiter, „Opa, du kannst passieren.“
„Danke, Herr“, hauchte Dyako und senkte seinen Kopf wieder nach unten- das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass ihm die Wachen alles abnahmen, was er mitgebracht hatte und er mit leeren Händen nach Hause gehen musste.
Er wollte innerlich rasch weitergehen, wenn nicht gar laufen, aber sein Verstand sagte ihm, dies nicht zu tun und ruhig zu bleiben. Er würde sonst auffallen und dies bedeutete auf jedem Fall Ärger, Schmerzen oder gar den Tod. Eine andere, ganz leise Stimme wiederum meinte, dass es nicht verkehrt wäre, denn was für einen Sinn machte so ein trostloses Leben, wie er eines führte, überhaupt noch? Er musste sich zusammenreißen, um diesen Funken im Keim zu ersticken. Die Stimme seiner Frau hinderte ihn daran.
Ohne weiter einen Gedanken daran zu verschwenden, sich in selbstmörderischer Absicht mit den Wachen anzulegen, begab Dyako sich an eine freie Stelle des Marktes und bot seine Eier und die Milch an. Es dauerte etwas, ehe er alles loswurde und ein wenig Taler damit gemacht hatte. Durch das viele Feilschen, war es weniger als das letzte Mal, aber genug, um zu überleben und darum ging es immerhin. Die Leute hatte halt nicht mehr so viel Geld, wie noch vor Jahren, da sie immer weiter ausgebeutet worden. Seine Figuren hatte er vergessen und würde diese beim nächsten Besuch mitbringen. Dann würde es wieder etwas mehr sein.
Dyako kaufte davon Brot, Käse und Äpfel, den Rest behielt er. Dann machte er sich auf dem Heimweg. Irgendwie war heute der Wurm drin und er lief dem Tag hinterher. Heute war er später dran und er fürchtete, dass die Sonne untergegangen war, ehe er zu Hause ankam. Hauptsache war, dass er den Wald durchquert hatte, sonst würde er wohl bis zum Morgengrauen nicht hinausfinden.
„Hey, alter Mann, da bist du ja wieder“, fiel der Wache auf, als Dyako erneut das Tor passieren wollte.
Sofortig hielt er inne und blickte, wie zur Hinreise wieder nur zur Hälfte nach oben. Dass die Wache sich an ihn erinnerte, ließ bei Dyako ein ungutes Gefühl aufkommen. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn Soldaten der Nocta sich das Gesicht gemerkt hatten. Zu oft hatte er mitbekommen, dass es für jene mit übelsten Verletzungen oder sogar tödlich endete. Aber was sollte Dyako unternehmen? Weglaufen konnte er nicht.
„Was hast du nun dabei?“ fragte ihn die Wache.
„Äpfel, Käse und Brot“, teilte Dyako wahrheitsgemäß mit, „und noch drei Taler, mein Herr.“
Dyako wollte ehrlich sein, denn er war der Überzeugung, dass sie ihn durchsuchen würden, hätte er gelogen oder auch nur den Anschein gemacht. Mit der Wahrheit riskierte er, alles zu verlieren, aber er behielt sein Leben und des war ihm wichtig geworden. Seine Frau hätte nicht gewollt, dass er sich auf eine dumme Art opferte.
„Das trifft sich gut, denn ich habe Hunger und noch nichts Vernünftiges in meinem Magen“, sagte die Wache, „magst du mir dein Essen geben?“
Dyako wusste, dass die keine wirkliche Bitte war, sondern vielmehr eine Fangfrage. Dyako war nicht dumm, aber auch er hatte Hunger und freute sich schon den gesamten Tag, nach Hause zu kommen, um das Brot, den Käse und die Äpfel zu verspeisen.
„Was?!“ fragte die Wache, nachdem Dyako gezögert hatte, „willst du nicht?“
„Doch, natürlich, mein Herr“, antwortete Dyako, um sich aus der Situation zu retten, aber es war zu spät, denn das leichte Zögern vernahm der Soldat und kam näher.
Die Wache holte aus und knallte dem alten Mann seine flache Hand mitten ins Gesicht, als ob Dyako ein kleines Kind wäre, dass nicht gehorchen kann.
„Nun rück‘ das Essen schon raus, bevor ich ungeduldig werde, du alter Bastard“, verlangte die Wache.
Dyako beugte sich nieder, ohne sich die schmerzende Wange zu halten. Er griff in seine Tasche und holte alle heraus, was sich darin befand und hielt es der Wache hin. Er drehte seinen Beutel einfach um. Das Essen lag allesamt auf den Erdboden.
„Bitte, der Herr“, hauchte er.
„Warum nicht gleich so?“ fragte die Wache und nahm alles an sich und drehte sich von Dyako weg.
Dyako konnte es nur sehen, weil er auf die Schuhe des Mannes starrte. Es machte sich ein wenig Erleichterung in ihm breit. Dies änderte sich schlagartig, als die Wache sich erneut umdrehte und einen Schritt auf Dyako zumachte.
„Bevor ich es vergesse“, meinte er, „die 3 Taler möchte ich ebenso…, weil du nicht gehorcht hast, Bastard.“
Dyako gab ihm das Geld, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Er machte es sehr rasch, auch wenn er sich am liebsten die Wange halten wollte, denn der Soldat hatte erstaunlich gut getroffen. Er guckte dabei weiterhin zu Boden. Sein Hunger war in diesem Moment verflogen, da Angst sich in ihm breit machte. Was, wenn er nicht mehr lebend nach Hause kam? War er nun so weit, um zu seiner Frau zu gehen? Etwas in ihm wollte dies unbedingt, aber etwas anderes nicht.
Es war wie ein Traum als er die Stimme seiner Frau hörte, wie sie ihm sagte, dass alles gut werde und er nicht aufgeben sollte. Sie wolle nicht, dass er trauere, sondern dass er lebe. Ein verschmähtes Leben war gar kein Leben. Sie wolle nicht, dass er so ende.
„Bastard?“ fragte die Wache und unterbrach seine Gedanken.
„Ja, Herr?“ reagierte Dyako im letzten Augenblick, ehe die Wache auf andere Gedanken kam.
„Viktor?“ rief die andere Wache fragend in die Richtung der beiden.
„Was?“ rief der Angesprochene widerwillig, denn er wusste wohl, was kommen würde.
„Lass‘ ihn laufen“, sprach die andere Wache mit einem sehr energischen Ton.
Viktor sagte nichts, aber Dyako verspürte, dass es ihm nicht passte, wie die andere Wache mit ihm sprach. Dennoch hatte er wohl keine andere Wahl und ließ von Dyako ab. Er drehte sich um und ging schnurstracks zu seinem Wachkameraden. Dyako war wie erstarrt und traute sich nicht, aufzustehen oder fortzugehen. Vielleicht war es eine Falle?
„Du kannst gehen“, meinte die andere Wache, „los, alter Mann, bevor ich es mir anders überlege.“
Schnellstens machte sich Dyako auf. Er schnappte sich seinen Stab, seinen leeren Beutel und zog von dannen. Als er aus Sichtweite war, blieb er stehen und fing an zu weinen. Es begann mit einigen Tränen und endete in einen kurzen Heulkrampf. Er musste sich am Stab abstützen, um nicht zusammen zu brechen.
Zum einen war er erleichtert, aber zum anderen war ihm in diesem Moment bewusst, dass er nie wieder hier vorbeikommen könnte, wenn Viktor Dienst hatte. Er würde dort fortsetzen, wo er heute aufhören musste. Er würde sich für die Worte der anderen Wache an Dyako rächen. Die andere Wache würde nicht immer im Dienst sein, wenn Viktor dort war.
Dyako hatte keine Zeit zum Nachdenken- er musste nach Hause! Die Sonne war schon in der Nähe des Horizonts und drohte zu verschwinden. Also macht er sich der alte Mann auf- mit Tränen, die er sich wegwischte und einer schmerzenden Wange. Und dann war es so, wie es immer war, wenn es schnell gehen musste: Es ging nicht.
Dyako war vom Tag und von dem Vorfall sehr erschöpft und hastete aus nur einem einzigen Grund nach Hause- wegen der kommenden Dunkelheit. Die Sonne war schon zur Hälfte vom Horizont verschlungen worden und war bereit für ihren täglichen Untergang, als Dyako gerade erst den Wald betrat. In diesem Moment fühlte er, dass es bereits zu spät war. Wäre er jünger, könnte er rennen und hätte den Hauch einer Chance, aber so? Sicher nicht!
Im Wald war es bereits duster und Dyako hatte alle Mühe, noch etwas zu erkennen, aber es reichte, um die Umrisse zu sehen, damit er nicht vom Weg abkam. Sein Stab half ihm dabei, nicht an Wurzeln der Bäume oder an Steinen zu stolpern. Dennoch kam er auf diese Weise nur allmählich voran, was ihn störte.
Gerade, als er sich mitten im Wald befand und die Dunkelheit nun völlig eingekehrt war, hörte er ein Geräusch, welches er nicht zuordnen konnte. Zuerst dachte er, er habe sich verhört oder es sich gar eingebildet, aber dann ertönte es nochmal, denn auch seine Sinne waren nun geschärft. Es klang wie ein Tier oder war es doch ein Mensch? Es war schwach und so blieb der alte Mann stehen, um seine Konzentration komplett dem Geräusch zu geben. Die Zeit war für ihn nun aufholbar, das war ihm bereits bewusst.
Der Vorteil war, dass er es jetzt nicht mehr überhören würde, sobald es erneut ertönen sollte. Der Nachteil allerdings und dies wurde ihm nach und nach bewusst, war, dass er nun die Laute des gesamten Waldes vernahm, was ihm zunehmend ängstigte. Vielleicht war er bereits in einer Falle von einer Räuberbande.
Das Heulen der Eulen, den leichten Wind, das Zirpen der Grillen und vielleicht einen Fuchs, der gerade durch das Geäst schlich konnte Dyako wahrnehmen oder bildete es sich nur ein? Er war sich nicht sicher und blieb wie angewurzelt stehen. Eigentlich wusste er es besser, denn das Verharren seiner Person war ein optimaler Angriffspunkt für mögliche Diebe- aber aus einem irgendeinem ihm nicht erklärbarem Grund- blieb er stehen.
Für einige Momente verharrte er an Ort und Stelle als er dann beschloss, weiter zu gehen, da er den Gedanken hatte, er halluziniere das Ganze nur. Es war ein langer Tag und kein erfolgreicher. Er war erschöpft und seine Sinne fantasierten vor sich hin. Er sollte zusehen, dass er sich schleunigst vom Acker machte, dachte er sich, als der Laut abermals ertönte und wieder kurz innehielt.
Dieses Mal war Dyako sich sicher, dass es real war. Er drehte sich sofortig in die Richtung aus der er das Geräusch vermutete und schritt vorsichtig voran. Natürlich kam er vom Weg ab, aber das war ihm gleich, da die Neugier in ihm siegte. Er war sich gewiss, dass es sich um eine Stimme einer Frau handelte.
In ihm regte sich abermals der Gedanke, dass es sich auch um eine Falle handeln könne, denn schließlich hielten sich keine vernünftigen Menschen in diesen Wald auf und schon gar nicht zu dieser späten Stunde. Wer war denn so verrückt? Er selbst war es!
„Hallo?“ fragte er vorsichtig und mit leiser Stimme.
Und wieder erwischte er sich, wie dumm er doch war. Nun würden potenzielle Räuber erst recht wissen, wo er sich befand und ihnen würde es leichter fallen, ihn zu auszurauben. Andererseits, was hatte er denn zu bieten? Außer sein Leben?
War es Neugierde, die ihn weiter herausfinden lassen wollte, was es damit auf sich hatte? Oder war es die pure Dummheit? Dyako hatte keine Antwort auf diese Frage und forschte weiter.
Es kam keine Antwort, nur ein weiteres Stöhnen folgte, was seine Vermutung, dass es sich um ein menschliches Wesen beziehungsweise eine Frau handelte, extrem verstärkte. Er machte ein paar weitere Schritte und lugte durch das Gebüsch, um zu schauen, wo da jemand liegen könnte.
„Hallo?“ fragte er dabei abermals, denn wenn Räuber vorhatten, ihn zu überfallen, dann hätten sie es längst getan, denn er- der alte Mann- war doch für solche Diebe kein Gegner, den sie fürchten müssten. Oder sie wussten nicht, dass er ganz allein war.
Erneut gab es keine richtige Antwort. Vielmehr hatte Dyako den Eindruck, dass die Person verletzt sein müsste, so wie sie klang. Bedingt durch die Dunkelheit konnte er nicht richtig sehen, wer da auf er Erde lag, aber die Umrisse ließen erkennen, dass sich dort jemand befand.
„Hallo?“ fragte er nun ein drittes Mal und war lauter als de Male zuvor.
Etwas in ihm machte ihm bewusst, dass die Person Hilfe brauchte. Schnell war seine ursprüngliche Furcht wie verflogen. Zudem machte er sich keine Gedanken mehr darüber, was Gründe für ihre Verletzungen sein könnten. Dyako wollte helfen. Er tastete sich heran und bemerkte, dass die Person an der betroffenen Stelle nackt war.
Dyako wich ein wenig zurück, denn er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er ihr etwas antun wolle. Ganz im Gegenteil, er wollte wirklich helfen. Er versuchte nochmal, sie zu berühren, da es sein könnte, dass sie nur an dieser einen Stelle und er konnte nicht einmal sagen, wo er genau angefasst hatte, nackt war.
Aber er irrte sich. Sie war dort ebenso nackt. Schnell schreckte er zurück. Er zitterte, denn unsittliche Berührungen waren nicht seine Absicht. Allerdings hatte er auch noch das Gefühl, nun ihre Brust berührt zu haben, was seine Scham steigerte.
„Entschuldigung“, sagte er reflexartig und machte einen Satz nach hinten, um einen angemessenen Abstand zu ihr zu halten.
Dabei stieß er sich an einen Ast, der ihm am Hinterkopf traf. Zuerst dachte er, er würde angegriffen werden und drehte sich um, aber als dann nichts weiter folgte, außer ein weiterer Ast, der sich leicht in seinem Gesicht schlug, wandte er sich wieder der Frau zu. Die entstanden Schmerzen ignorierte er.
„Es tut mir leid“, sprach er, „ich wollte Sie nicht…“
Er stockte bei dem Gedanken, das auszusprechen, was er ebengerade gemacht hatte. Er war religiös erzogen worden und er respektierte Frauen. Dyako wusste, dass der Rest der Welt, gerade die Räuberbanden und ebenso die Schergen der Nocta, dies anders sahen und sich anders verhielten. Sie nahmen sich die Frauen und vergewaltigten sie.
Die Frau entgegnete nichts. Sie versuchte aufzustehen und Dyako eilte zur Hilfe. Sie stützte sich an ihm ab und spürte ihre Nacktheit an seinem Mantel. Es war ihm höchst unangenehm, dennoch blieb er an ihrer Seite, da sie sonst fallen und weitere verletzen würde. Er reichte ihr den Stab, den sie griff, um sich weiter auf den Beinen zu halten.
„Ich kann Ihnen meinen Mantel geben“, bot er an und er merkte, wie sich sein ganzer Körper erhitzte und besonders, wie sein Kopf hochrot wurde, „damit Sie nicht frieren müssen.“
Rasch ließ er sie los und sie hielt sich durch den Stab, aber zitterte kräftig. Die Frau kämpfte, um stehen zu können. Dann zog er seinen Mantel aus und legte ihn über ihre Schultern. Der Mantel war lang, sodass er bis zu ihren Waden reichte. Anschließend bot er seine Schulter erneut an, damit sie eine Absicherung hatte, um nicht zu Boden zu fallen.