Читать книгу Schokosucht - Denny van Heynen - Страница 6
Kapitel 1: Kein Erbarmen
ОглавлениеEs rumorte in meinem Bauch. Ich wusste, dass mir beim Aufstehen eine Enttäuschung bevorstehen würde. Der gestrige Abend mit meinem Freund Ben war sehr schön gewesen, nicht nur, weil wir uns geliebt hatten, sondern auch, weil wir es uns vor unserem Fernseher mit Chips und Schokolade gemütlich gemacht hatten.
Schokolade...
Nachdem ich die Augen geöffnet hatte, merkte ich, dass es draußen noch dunkel war. Ich hörte Ben´s Atem neben mir. Seit drei Jahren waren der Fitnesstrainer und ich schon zusammen. Seine Arbeit hatte einen entscheidenden Vorteil: sie machte ihn zum Adonis. Breite Schultern, muskelbepackte Oberarme und einen Bauch, an dem Steine wie an einer Mauer abprallen würden – vorausgesetzt man wäre so bekloppt und wollte meinen Schatz steinigen. Ben war 1,90 Meter groß, hatte braune, mittellange Haare und grüne Augen. Seine Haut war im Unterschied zu meiner braungebrannt, was wahrscheinlich vom Tussi – Toaster kam, auf den er sich jede Woche mindestens einmal draufschwang.
Dagegen war ich Typ moppelig und hielt mich von jeder sportlichen Betätigung fern, wie der Teufel vom Weihwasser. Na ja, fast jeder sportlichen Betätigung.... Noch immer etwas müde stand ich auf und machte mich mit Stoßgebeten auf den Weg zur Waage im Badezimmer. Vorher stieß ich mir aber noch den dicken Zeh am Türrahmen.
„Aua!“ entfuhr es mir schmollend.
Das hatte gerade noch gefehlt und war ausnahmsweise mal nicht meiner Ungeschicklichkeit zuzuschreiben, sondern vielleicht eine Strafe von da oben. Ich machte das Licht an, hielt einen Moment inne und schaltete dann mit meinem verletzten Fuß die Waage ein, die sich neben dem Waschbecken befand. Betriebsbereit – und sich vermutlich die digitalen Finger reibend – blinkte sie auf.
Okay, jetzt bloß nichts falsch machen, dachte ich mit einem Anflug von Nervosität.
Mein linker, heiler Fuß fand den Weg als erstes auf das teuflische Mess – Monstrum. Als mein verletzter Fuß schließlich auch den Weg fand, sprang ich so schnell ich konnte mit dem Po auf das Waschbecken. Es knarzte zwar ein wenig, aber sonst geschah nichts. Ich kniff meine Augen zusammen. Der Moment der Wahrheit war gekommen.
Bitte, bestrafe mich nicht so, damit ich mir heute Abend – oder gleich – noch was Süßes reinhauen kann.
Doch die Waage kannte für gewöhnlich keine Gnade. Ich musste den Po gezielt und im richtigen Augenblick auf das Waschbecken schwingen, um die Waage – und vielleicht auch mich selbst – ein wenig austricksen zu können, falls der himmlische Herr nicht gnädig sein wollte. Ich hielt mir eine Hand vor das Gesicht, deren Finger ich nur zögerlich spreizte. Langsam öffnete ich meine Augen und versuchte mit dem rechten nach unten zu sehen, was mir allerdings nicht gelang.
Bevor mein Augapfel plötzlich herausfällt, lasse ich es lieber, dachte ich.
„Jonas?“
Mein Name erklang ein Zimmer weiter.
Scheiße, Adonis ist aufgewacht.
In diesem Moment war auch ich hellwach, da nun alles schnell gehen musste. Ich zog meine Hand jetzt komplett herunter, beugte mich nach vorn und erblickte mit beiden Augen das ganze Ausmaß der Katastrophe.
„Jonas?“ ertönte es erneut.
Fast fiel ich vor Schreck in die Dusche neben mir, fand allerdings noch rechtzeitig Halt am Handtuchhalter und sprang von der Waage. Die Elektronik war ja ein Fortschritt, aber dass es so ewig lange dauerte, bis sich die Anzeige der Waage wieder zurück auf Null stellte, war ein eindeutiger Rückschritt. Bei den analogen Waagen ging der Pfeil ruck zuck zurück und nie erfuhr jemand das schwergewichtige Geheimnis.
Die Tür ging auf. Ich spürte Ben´s Atem in meinem Nacken.
„Schatz, was machst du.... Oh mein Gott!“
Tja, jetzt war es raus. Ich konnte nun wählen: Dreißig Minuten vor meinem Freund auf die Knie gehen und ihn so um Verzeihung für meine stetige Gewichtszunahme bitten oder mit ihm ins Fitnesscenter wandern. Ja, wandern, denn fahrbare Untersätze trugen seiner Meinung nach eine Mitschuld an der immer korpulenter werdenden Gesellschaft.
„89 Kilo. Ich fasse es nicht, Jonas.“
Mein Freund hatte sich mit mir inzwischen ins Esszimmer begeben. Hinter ihm war der Kühlschrank.
Wenn er mir jetzt eine Standpauke hält, hab ich wenigstens einen Grund zu fressen, lautete mein sehnsüchtiger Gedanke.
Mein bisheriges Höchstgewicht hatte bei 85 Kilo gelegen, aber der gestrige Abend und die Naschereien zwischendurch hatten wohl ihren Tribut gezollt.
„Du kommst um neun ins Center und wehe, ich sehe dich dort nicht.“
Na ja, auch gut. Statt Bettakrobatik, musste ich einen auf Mucki – Herrscher machen.
„Ja, um neun bin ich dort“ versprach ich kleinlaut.
Einige weitere Diskussionen später, verabschiedete sich mein Herzblatt unter die Dusche. Ich dagegen wollte das Badezimmer heute lieber nicht mehr betreten.
Um 7:30 Uhr verließ mein Schatz wie jeden Morgen das Haus. Ich musste erst um 10:15 Uhr los, weil die Buchhandlung, in der ich arbeitete, göttliche Zeiten hatte. Zeit, die ich nutzen wollte, um noch ein wenig in mich hinein zu schaufeln.
Dieses Mal gönnte ich mir ein großes Glas Nuss – Nougat – Creme. Mein Freund würde es sowieso nicht bemerken, seine Ernährung bestand nämlich hauptsächlich aus leichten Aufstrichen und Sojadrinks. Nur sehr selten wählte Ben mal fettarme Chips, so wie er es am Vorabend getan hatte. Anscheinend wurde diese Disziplin von seinem eigenen Ehrgeiz und seinem Beruf genährt. Mir dagegen waren Äußerlichkeiten nicht wichtig. Wichtiger war mir dagegen, dass ich meiner Lust auf Schokolade frönen konnte. Das Glas mit dem Schokoaufstrich lächelte mich an, wodurch ich wusste: nun würde ich sündigen, aber da ich in knapp einer Stunde ohnehin ins Fitnessstudio musste, war es doch eigentlich egal, oder?
Ich warf meinen Esslöffel auf den Boden, kramte nervös in der Küchenschublade herum und kam zu meinem Glas Nuss – Nougat – Creme mit einem Soßenlöffel zurück. Oh ja, wie gut die Schokolade roch... Beim ersten Mal tunkte ich den Soßenlöffel noch zaghaft hinein, beim zweiten wurde ich schon fordernder. Niemand würde je herausbekommen, dass ich, Jonas, derjenige war, der das Glas leerte. Schließlich konnte es auch Oma Erna gewesen sein – ach nein, konnte sie nicht, denn sie war ja im letzten Jahr an Diabetes verstorben. Mir würde das nicht passieren. Ganz sicher sogar...
Zu Lebzeiten hatte Oma Erna nämlich gerne mal drei Tafeln Schokolade am Tag verputzt, die sie mit einem ordentlichen Schluck Schokolikör hinuntergespült hatte. Davon war ich noch weit entfernt. Schließlich hatte ich meine Tafelanzahl erst neulich auf zwei Tafeln pro Tag erhöht. Und Alkohol mochte ich nicht.
Erna, das ist mein Vorteil, du gieriges Luder, dachte ich schadenfroh.
Nie hatte sie mir bei meinen Besuchen etwas abgegeben. Stattdessen hatte sie mir einen Teller oller Kekse auf den Tisch gestellt. Schon damals hatte ich gewusst, dass Erna sie nie selbst aß, weil eben keine Schokolade an ihnen gehaftet hatte.
Ich musste gar nicht kauen, das süße Elixier wollte geschluckt werden. Wie Medizin floss die Schokolade meinen Hals hinunter.
Das hilft bestimmt gegen meine gelegentlichen Halsschmerzen, spekulierte ich beim Gang zum Wohnzimmerschrank.
Dort drinnen herrschte das reinste Paradies. Schokolade in allen denkbaren Formen und Variationen: Weiße Schokolade, braune, welche mit Nuss – oder Nougatanteil – manche auch mit beidem. Die üblichen 100 Gramm Tafeln, einige in extragroßer Ausführung und hinten, in der Ecke, lagerten sogar noch fünf Weihnachtsmänner vom vergangenen Jahr. Wieso ich die wohl noch nicht verputzt hatte?
Ben erlaubte mir die kleine Schokoladenabteilung unter der Bedingung, dass ich nicht zu viel auf einmal davon aß. Ich brach mir die Hälfte einer Nussschokolade ab, stopfte sie in meinen Mund und griff eine Etage tiefer nach einem Fotoalbum, mit dem ich mich wieder an den Esszimmertisch setzte. Dabei wurde ich von Oma Erna´s Bild angestarrt. Ihre grauen Haare, die zierliche Figur von hundertfünfzehn Kilo und die rot gefärbten Hamsterbäckchen, in denen sie vermutlich weitere Schokolade bunkerte, waren Erna, wie sie leibte und lebte. Im Hintergrund stand ihr Schokolikör auf einer Anrichte.
„Ach Oma, die süße Versuchung habe ich von dir geerbt...“ meinte ich in Gedanken versunken.
Ein weiterer Soßenlöffel fand Platz in meinem Bauch. Mittlerweile war es kurz vor neun. Nun musste ich los. Ich gab dem Glas Schokoaufstrich einen Kuss, versteckte es wieder im Kühlschrank, zog mich an und lief zur Haustür.