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MARKWART PANKE
ОглавлениеDie machen mich krank. Die Polizisten. In weißen Anzügen, mit Kapuzen und Gasmasken, und daneben welche in Uniform. Und welche ohne. Das Rolltor ist auf, weißes Winterlicht strahlt herein. Ein paar Schaulustige werden von rot-weißem Flatterband abgehalten. Zusätzlich stecken auf hohen Stativen große Strahler, die mich von innen ausleuchten.
„Ja, is’ schlimm!“, sagt Kommissar Junicke zu Josef. „Ich glaub’, dat war sicher’n Schock, so wat zu entdecken. Sie könn’ sich noch wat ausruh’n, wenn’se möchten. Aber bevor uns’re Spezialisten den … eh Dingens freilegen, hab’ ich noch’n paar Fragen an Sie.“
Josef nickt nur.
Kommissar Junicke ist ein großer, gut genährter Mann mit einer Knollennase und wuchernden Augenbrauen. Sein Gesicht ist schwitzig, selbst hier unten in meinen kühlsten Räumen glänzt die blasse Haut. Aber er hat freundliche Augen, die gefallen mir: dunkel, belustigt, ein bisschen wie die von Achmed, aber ohne das Strenge, Melancholische. So einer ist Polizist? Er raucht Selbstgedrehte. Ein Beutel ‚Schwarzer Krauser‘ schaut aus seiner dunkelblauen, trotz Kälte offenen Jacke hervor. Darunter ein grob gestrickter, weinroter Wollpullover, der sich über den vollen Rumpf spannt.
Armer Josef. Ich weiß, was du jetzt denkst. Du hast Angst, natürlich, das ist normal. Und vielleicht ein schlechtes Gewissen. Natürlich hast du ein schlechtes Gewissen. Was sind schon 28 Jahre?
Josef bleibt tapfer. Er erzählt, wie es sich zugetragen hat. Wie es sich in den letzten Wochen zugetragen hat. Nicht ein Wort ist gelogen. Wie ihm eines Morgens ein feiner Haarriss auf Lemperts Stellplatz aufgefallen ist. Dann ein paar Tage nicht nachgeschaut, weil das Auto da stand. Dann war da ein Fleck. Länglich, entlang des Risses. Dann wurde der immer größer. Und dann hast du sie gefunden. Zusammen mit Achmed. Und der hat sie dann gerufen. Die Polizei.
Von Li-Xin erzählst du nichts. Du hast sicher Angst, dass sie deine Werkstatt durchsuchen. Dabei haben die gleich gemerkt, dass diese Leiche schon viel zu alt ist. Sie fragen, wann ich erbaut wurde.
1965. 44 Jahre soll der Tote also schon da liegen. Keiner kommt auf die Idee, dass die Tiefgarage später kam.
Ich höre, wie sich zwei von denen darüber streiten, wer die Vermisstenanzeigen aus den 60er Jahren durchsehen soll. Und was das jetzt noch bringt. Nichts wird das bringen, aber sucht nur! Marlene, das war 1981. Josef sagt nichts. Mit etwas Glück wollen sie die Bauakten gar nicht sehen.
„Dat war sicher kein schöner Anblick“, sagt der Kommissar, während er sich eine dreht.
„Danke, es geht schon“, sagt Josef, „ich muss nur gleich zu meiner Mutter. Sie ist 84 und wir haben es gerade noch verhindern können, dass sie hier unten …“
„Verstehe!“
„Sie hat immer so ein Gespür, regt sich sicher auf, meine arme Mutter.“
„Sie könn’n gleich zu ihr, Herr Panke, aber wir wer’n auch Ihre Mutter befragen müssen. Tut mir ja echt leid, aber is’so, müssen wa. Wenn’se schon so lang hier lebt, dann kann’se sich vielleicht an wat erinnern.“
„Oh, es reicht doch, wenn Sie mich fra…“
„Herr Panke, wenn ich dat aus Ihren Personalien richtich deute, war’n’se damals zwei Jahre alt. Aber gehen’se getz nur hoch, kümmern’se sich um die alte Frau.“
Josef geht. Will gerade durch die Stahltür, in den Gang, da kommt ihm einer mit diesen weißen Ganzkörperanzügen hinterher. Hat die Gasmaske abgenommen. Die schlackert ihm jetzt vor der Brust.
„Hallo, Sie sind doch der Hausmeister hier …?!“
Josef sieht ihn nervös an.
„Haben Sie noch ein Verlängerungskabel?“
Schweigen.
Kabel, Josef, der Mann fragt nach einem Kabel! Für einen Moment ist Josef wieder bei Marlene, dieser Knall, dieses Zucken: Wie-so war da überhaupt Strom drauf gewesen? – Ja, Josef, wieso eigentlich?
„Herr, eeeh … Panke?!“
„Ja, ja … Ich habe …“
Gemeinsam gehen sie zu seiner Werkstatt. Aus Josefs Blaumannhose beult sich verräterisch sein Schlüsselbund hervor. Wenn man genau hinhört, dann ist da ein leises Klimpern. Ich fühle Josefs Angst, dass der Mann Li-Xin entdeckt. Aber sein gelbschwarz gestreifter Wollpulli, Mutters Strickwerk, und darüber die alte Arbeitsjacke, werfen einen leichten Schatten auf die Hosentasche.
Vor der Tür fasst sich Josef an den Kopf.
„Den Schlüssel! Ach Mist, habe ich oben vergessen. In meiner Wohnung …“
„Na gut, ich komme eben mit!“
„Nein, tut mir leid, ich muss dringend zu meiner Mutter. Ich bringe später das Kabel, eine Stunde, okay?“
„Na ja, aber wenn ich …“ Der Polizist sieht ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Lassen Sie’s, wir kommen schon irgendwie klar.“
Während die Männer in Weiß langsam und sachte den durchsichtigen Folienbeutel mit Skelett und Leichensud freilegen, steigt Josef in den Fahrstuhl. Im EG kommt die Malevic hinzu. Ich hatte vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt, dass die noch mal raus ist, um sich draußen zu den Schaulustigen zu gesellen. In der Kälte.
„Ah, Herr Panke, gut, dass ich Sie treffe. Was ist denn da los?“ Josef schaut sie an, noch ganz in seinen besorgten Gedanken, und sagt nichts. Das Miststück lächelt, wobei ihre blauen Augen alles andere als harmlos blinzeln.
„Herr Panke?“
Josef schüttelt unmerklich den Kopf. Dann stottert er, versucht ihr ins Gesicht zu sehen, wird aber rot und schaut auf die Konturen ihres Büstenhalters unter ihrer weißen Bluse – nur unzureichend von dem offenen, roten Mantel abgeschirmt.
„Eine … ein Toter. Man hat einen Toten gefunden.“
Ihre Augen sind plötzlich aufgerissen, das Lächeln verschwunden. „Oh Gott! Hier?!“
„J… ja, in der Tiefgarage, aber nich… keine Sorge, machen Sie sich keine Sorgen.“
Josef hebt beruhigend beide Arme, streckt ihr die Hände entgegen, als wollte er ihr auf die Brüste fassen. Nur ich bemerke ihren kurzen, spöttisch durchtriebenen Blick und das winzige Grübchen auf ihrer Wange. Dann schaut sie ihn mit den Augen eines ängstlichen Rehs an.
„Keine Sorgen? Wie soll man sich keine Sorgen machen, ein Toter in der Tiefgarage, unserer Tiefgarage, bei mir zu Hause?“
Wenn sie sich aufregt, durchzieht ein polnischer Akzent ihre Sprache. Nur ganz leicht, aber gerade so, dass alles, was sie sagt, etwas leicht Frivoles bekommt.
„Das ist lange her. Sie brauchen wirklich keine Angst haben! Das ist eine … ein eh … Fund aus der Zeit, als das Haus gebaut wurde!“
Ihre Züge entspannen sich, aber sie sieht ihn ungläubig an. Josef wird etwas selbstbewusster; ich spüre, dass sie ihm gefällt, so, in dieser verunsicherten Kleines-Mädchen-Haltung. Da kann er den Kümmerer spielen. Josef! Glotz sie doch nicht so an!
„Ja, ja, wirklich, eine ganz alte Sache, Sie können da ganz beruhigt sein, der Mörder …“
Das Licht flackert zweimal, und der Aufzug ruckelt, bleibt stehen. „Oh, ich muss drücken …“ Sie lacht. Übertrieben.
„Ja, eh … ich muss hier … meine Mutter …“
„Das finde ich gaaanz toll, wie Sie sich um ihre Mutter kümmern!“
Jetzt hat sie eine Nuance mehr Röte unter den Augen, die viel zu freundlich glänzen.
„Ich muss wirklich keine Angst, keine Sorgen …?“
„Nein, wirklich nicht.“
Josef steht in der Lichtschranke der offenen Schiebetür. Das Gegenlicht des Flurs gibt seinem Körper etwas Silhouettenhaftes, Entrücktes. Es sollte ihr zeigen, dass Josef nicht in ihre Welt gehört. Aber ihr Blick ist unverschämt. Wehe dir, Malevic!
„Ich pass schon auf … auf Sie!“ Er wird ganz rot und dreht sich schnell weg, als wäre er zu weit gegangen. Dass sie ihm hinterher lächelt, während sich die Lamellen schließen, sieht er nicht mehr. Ein Glück! Kurz darauf sitzt Josef bei seiner Mutter im Wohnzimmer. Sie schiebt den Rollator hin und her. Am Fenster, rauchend, beobachtet sie den Auflauf auf der Straße und hat doch nur Sinn für das Mädchen in Josefs Werkstatt.
„Als hättest du das nötig, Josef! Als müsstest du vor mir irgendwelche Geheimnisse haben!“
„Mutter, sie wird verschwinden, ich verspr…“
„Versprechen, Versprechen! Was nützen mir deine Versprechen?
Wenn ich dir lästig bin, dann sag es nur! Dann gehe ich eben ins Altersheim!“
„Mutter …“
Josef versinkt fast in dem braunen Plüschsessel, den sie extra für ihn aufbewahrt hat. Das Sofa und die anderen Sessel sind beige und aus festem Material, viel besser für eine alte Dame. Aber Josef hat das Weiche gemocht, darum hat er noch immer diesen Ehrenplatz in ihrer guten Stube. Als wenn es das ist, womit man Josef glücklich machen könnte. Mutter, du hast keine Ahnung!
Auf einem Beistelltisch steht ein Porträt von Markwart, Josefs Vater. Ein altes Farbbild mit anlaufendem Rotstich und einem schwarzen Balken in der unteren, rechten Ecke.
„Ich habe dir noch nie irgendwas vorgeschrieben! Ich will immer nur dein Bestes! Wenn du mit dem … mit der da unten glücklich wirst, mach doch, was du willst!“
„Mutter, damit kann ich nicht glücklich werden, das ist nur … ach, es tut mir doch leid …“
Josef nestelt mit seinen Fingern an dem Plüsch. Sein Kopf ist gesenkt, das Gesicht ganz rot und die Augen starren auf einen Punkt in der Unendlichkeit unter dem Glastisch.
„Das sagst du immer. Nie ist es was Ernstes. Warum aber machst du dann so was? Schämen muss ich mich für dich!“
Josef sieht unterwürfig hoch.
„Aber ich kann doch nichts Ernstes anfangen mit einer Plas…“
Er stockt. Und begreift endlich, dass Mutter gar nicht gemerkt hat, dass Li-Xin aus Plastik ist. Sein Mund zuckt. Als müsste er grinsen und wollte es unterdrücken.
„Was ist das für ne’ Landsfrau? Wo ist die her? Kommt die vom Ausland?! Ich fasse es nicht!“ Ihr fällt fast die HB-Schachtel aus der Hand, als sie sich die nächste Zigarette in den Mund schieben will.
Josef sieht ihr zum ersten Mal offensiv ins Gesicht.
„Wieso war die Tür auf?“, fragt er.
„Wieso?!“
„Mutter, ich hatte die Tür abgeschlossen! Ich bin mir ganz sicher, ich …“
„Ich glaub’s ja wohl nicht!“ Mutters Stimme wird dunkel und laut. „Was unterstellst du mir eigentlich?“
„Aber ich bin mir wirklich sicher …“
Sie ruckelt mit dem Rollator bis vor seine Füße.
„Bin ich etwa bei dir eingebrochen? Ist es das, was du hören willst?“
„Nein, nein, ich meine nur …“
„Ja, Junge, ich weiß, ich hab’ doch eh Hausverbot bei dir. Wenn es nach dir ginge, müsste ich den Herrn sogar fragen, ob ich Aufzug fahren darf, was?!“
„Mutter, ich wollte doch nur …“
Josef sieht weg, hält ihren Blick nicht aus und schaut auf das Porträt seines Vaters.
Ein strammer Kerl, dieser Markwart. Kleinwüchsig war er, aber das sieht man auf dem Bild nicht, ist geschickt von schräg unten aufgenommen. Nur hat das den Nachteil, dass sein ohnehin kleiner Kopf noch ein wenig kleiner aussieht. Und das Kinn hatte er vorgeschoben. Das hatte er allerdings immer so gehalten. Das Kinn aggressiv nach vorne gereckt, bildete es die Grundlinie eines gleichschenkligen Dreiecks, gestützt von sehr, sehr breiten Schultern, die er sich in jungen Jahren durch Schwerstarbeit im Dortmunder Hafen antrainiert hatte. So war er immer wie ein Bomber im Tiefflug gewesen. Auch größere Kerle mussten Angst vor ihm haben – zumindest hat er immer gerne damit geprahlt, dass es so sei.
Der Blick in die Kamera ist entschlossen, stolz. Vielleicht darauf, seinen Lebtag nie durch Krankheit ausgefallen zu sein. Oder darauf, seiner frigiden Frau ein Kind gemacht zu haben. Denn dass sie frigide war, lag für ihn auf der Hand. Nichts in diesem forschen Blick deutet darauf hin, dass mit seiner Manneskraft etwas nicht stimmen könnte. Und genau so hat Josef ihn in Erinnerung. Durch und durch ein Mann, sein Vater. Josef kann es nicht besser wissen. Nur Mutter weiß es besser, aber sie würde Markwart nicht bloßstellen. Ich dagegen würde, wenn ich nur könnte. Ich habe den Kerl gehasst! Seit dieser Prügelorgie.
Mutter hat sich umgedreht und ist zurück zum Fenster. Da steht der Aschenbecher. Sie sieht hinaus. Wimmert leise.
Josef schaut zu ihr hoch.
„Mutter, ist ja gut, ich meinte doch nur …“
„Ich geh ins Altersheim!“ Sie schluchzt: „Ich weiß doch selbst, dass ich dir nur im Weg bin.“
„Nein Mutter, bist du nicht!“
„Da auf der Ablage, siehst du die Prospekte? Habe ich mir bestellt. Alles Altenheime. Da kümmert man sich wenigstens um mich!“
„Mutter, ich kümmere mich doch …“
Sie heult. Kann sich kaum am Rollator festhalten. Sie heult wie nachts die Hunde aus den Schrebergärten hinter dem S-Bahngleis.
„Huuuuu … Huhuuuu!“
Josef weiß, dass er jetzt aufstehen müsste, sie trösten, sie in den Arm nehmen. Das tun, was sein Vater nie getan hat. Und Mutters Vater auch nicht. In ihrem Leben hat es nie Trost gegeben. Seine Hände falten sich, kratzen sich, spielen ein eigenes Spiel, ohne sein Dazutun. Als Josef im Sessel verharrt, dreht Mutter sich um. Ihr Gesicht ist ganz zerfurcht, Tränen auf den runzligen Wangen, die Augen tief gerötet und verschleiert hinter den beschlagenen Gläsern.
„Dein Cousin, der Martin, der ruft mich wenigstens mal an! Der sagt immer: ‚Ach, Tante Magda, wenn ich in Dortmund wohnen würde, ich käme jeden Tag vorbei‘!“
„Aber ich bin doch hier!“
„Ja ja ‚hier!‘. Der Martin, der hat deine Tante Mechthild überall hingefahren. Der war immer so gerne bei seiner Mutter, der hat …“
„Ich bin doch …“ Josef schüttelt empört den Kopf.
„Natürlich bist du das! Ich will mich ja nicht beschweren. Hast es ja auch nicht leicht. Dein Vater …“
Jetzt schaut Mutter zu dem Bild. „Dein Vater war ja nie da. Immer auf Arbeit. Und früh gestorben. Du schon so lange ohne Vater, na ja, wie gut, hattest du wenigstens mich!“
Das bezweifle ich, Mutter. Und ich glaube, Josef bezweifelt das auch. Er betrachtet ebenfalls das Bild. Und ich kann mir vorstellen, dass er sich an andere Dinge erinnert als seine Mutter. Ich jedenfalls erinnere mich sehr gut an jenen Abend …
Josef war zehn gewesen, da widersetzte er sich einer väterlichen Anordnung; ich weiß nicht mehr welcher. Vielleicht, weil Josef die Schule geschwänzt hatte? Weil er mit diesen Rüpeln in seiner Klasse nicht klarkam? Josef ist vormittags oft beim alten Hausmeister gewesen. Der hat den Jungen in seine Werkstatt gelassen, da, wo jetzt Li-Xin liegt. Der alte Hausmeister hat ihn nicht verpetzt. Manchmal tut es mir heute noch leid um ihn. Denn er hat ja meinen Josef gemocht. Hat ihm gezeigt, wie man rostige Ventile löst, hat ihn mit Batterien und Kabeln spielen lassen.
Ein blauer Brief lag an dem besagten Abend in der Küche. Und hat Markwarts Zorn ausgelöst. Der kleine Josef trug bereits seinen abendlichen Schlafanzug, als die Auseinandersetzung eskalierte. Markwart jedenfalls brüllte. Tobte vor Josefs Zimmertür, während Mutter in der Küche den Tisch abräumte, vielleicht aber auch schon im Wohnzimmer vor dem Fernseher lag. Doch Josef wagte sich heraus, noch kleiner als sein kleiner Vater und viel schmaler, aber er schrie zurück, verweigerte sich, was Markwart umso mehr aufregte. Mit aufgerissenen Augen, voller angeschwollener roter Äderchen auf dem Weißen, diese ohnmächtige Wut vor der Uneinsichtigkeit eines kleinen Jungen! Daran erinnere ich mich gut. Seine Wangen schlackerten, als er den Mund aufriss, aus dem es feucht sprühte. Ich sah die alten Zähne unter der zitternd hochgezogenen Oberlippe. Nein, Josef wollte immer noch nicht, woraufhin Markwart ausholte und seinem Sohn mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Der Junge taumelte, aber er fiel nicht. Ihm liefen die Tränen – ich glaube, für viele Jahre das letzte Mal. Markwart schrie noch lauter, doch Josef blieb bei seinem Nein. Oh ja, ich weiß noch, dieses Zucken in Vaters Körper, dann noch ein Schlag, der ihn zurück ins Zimmer wirbelte. Der Junge landete auf dem Teppich, und sein Vater stampfte davon.
„Ich hasse dich!“, schrie Josef heulend. Plötzlich wütender Galopp, eine Stampede, und schon polterte der bullige Mann herein, kreischte wie eine rostige Tür, riesige Pranken, die den schmächtigen Josef packten, hochrissen, durch die Luft wirbelten, wobei der dünne Schlafanzug zerriss und der Junge sich in die Fetzen einrollte wie ein gehäuteter Igel, immer und immer wieder malträtiert von den Schlägen. Josef verstummte, während der massige Rumpf des Vaters auf ihm herumtrampelte und seine unanfechtbare Autorität wieder herstellte …
Mutter und Josef schauen für einen Moment einträchtig auf das Bild. Schweigen – endlich einmal. Sie erinnern sich an diesen Abend, der nur einer von vielen dieser Art gewesen war. Und doch war es der Entscheidende; der, der Josef gebrochen hat. Seitdem war er anders. Er war auch vorher still gewesen, schüchtern, für sich, aber an dem Abend war die Angst hinzugekommen. Auch wenn er wieder regelmäßig zur Schule ging, irgendwie war das nur noch ein gespieltes Funktionieren gewesen. Mutter hatte das Ganze damals auf sich beruhen lassen. Sie mochte es nicht gebilligt haben, aber einmischen wollte sie sich auch nicht. Der Einzige, der Markwarts Vergehen nicht vergessen wollte, war ich …
Es klingelt.
„Ich geh’ scho…“
„Bleib sitzen!“ Mutters Rollen quietschen, als sie zur Sprechanlage an der Wohnungstür geht.
„Frau Panke, hier is’ die Polizei. Ihr Sohn hat sicher schon erzählt, un’ ich hätt’ da noch ’n paar Fragen …“ Ich sehe den Kommissar und eine weitere Gestalt verschwommen durch die geriffelte Eingangstür vor der Klingelanlage.
„Wer sind Sie?“, dringt Mutters Krächzen dumpf aus dem Kasten. „Polizei, wir …“
„WAAAS?!“
„Hat Ihr Sohn nich’ …?“
„JOOOSEF!“
„Könnten’se uns jetzt reinlassen?“
Es summt, und neben Junicke betritt mich auch eine voluminöse Frau, mit glatten, nicht ganz schulterlangen braunen Haaren, rundem Gesicht und einem dunklen Haarflaum über den vollen Lippen. Sie hat warmherzige Augen und scheint über Mutters Art belustigt zu sein. Vielleicht sind sie es auch beide, denn während sie am Aufzug warten, sehen sie sich mit einem vielsagenden Grinsen an.
Als ein kurzes ‚Ping‘ das Öffnen der Schiebetür ankündigt, geht meine Haustür noch einmal auf und herein kommen Aabid und Khalid, zwei der drei jungen Araber aus dem Achten. Sie lachen. Und schlucken das Lachen sofort hinunter, als sie die Polizisten sehen. Dabei wissen sie noch gar nicht, dass es welche sind. Aber sie sind immer so vorsichtig, ängstlich oder übertrieben respektvoll, wenn sie ältere Erwachsene treffen. Aabid, ein hagerer Kerl von 24 Jahren mit einer mächtigen Hakennase und einem schmalen, langen Kinn, trägt eine Umhängetasche, gefüllt mit Studiensachen und mindestens einer Flasche Bier, die aus der Seite herauslugt. Khalid, ein eher rundlicher Typ mit einem Moslembart und einer Brille auf der pickeligen Nase, hat zwei Aktenordner dabei, die er sich vor den weichen Bauch drückt. Ich glaube, Junicke fällt, ebenso wie mir, das Stadtwappen von Dortmund auf dem Ordnerrücken auf.
Die Frau an seiner Seite versucht, sich zu orientieren. Mein Aufzug ist ganz einfach. Eine aufrechte Reihe mit schwarzen Druckknöpfen, daneben meine neun Stockwerke.
Aabid hat schon die Acht gedrückt, dann fragt er: „Kann ich helfe?“
„Madam’ Pankä, s’il vous pl… eh, bitte schön!“, sagt sie mit exotischem Akzent.
„Das ist hier!“, sagt er und drückt selber die Eins.
„Was ist das? Polizei draußen?“, fragt Aabid mit einem vorsichtig verstohlenen Blick. Khalid sieht ihn dafür beinahe strafend an. Als wäre schon diese Frage zu viel.
„Da könn’wa no’ nix drüber sagen …“, beginnt Kommissar Junicke.
„Soll einer ermordet sein?“, fragt Aabid nach.
„Wissen wa noch nich’“, sagt Junicke.
„Wohnän Sie ’ier?“, fragt nun die Kollegin des Kommissars.
Die Jungs sehen sich an.
„Wir haben nichts damit …“, sagt nun der kleine, dicke Khalid. „Ja, wir wohn’ hier“, unterbricht ihn sein Mitbewohner.
„Sie wohnän … zusammän?“ Die Frau lächelt. Junicke dreht sich eine Zigarette.
Khalid wird rot und schaut auf die Zahlen, die die Etagen anzeigen. Aabid antwortet: „Wir studieren!“
„Wie lange sind’se schon hier?“, fragt Junicke.
„Oh, eh, vier Jahr’, ich glaube.“
„Glaubän Sie?“, fragt Frau Tallec.
„Architektur?“, fragt Junicke und schaut erneut auf die Ordner mit dem Stadtwappen und der Aufschrift „Bauakte“. Khalid presst die Akten noch fester an sich, als fürchte er, der Kommissar wollte sie ihm gleich entreißen.
„Bauingenieur!“
Die Eins blinkt. Junicke, der sich die Selbstgedrehte über das rechte Ohr schiebt, und die Frau steigen aus.
Während der Aufzug hochfährt, zischelt Khalid auf arabisch seinem Freund ein paar böse Flüche an den Kopf. Der verteidigt sich, will etwas – was auch immer – herunterspielen. Aber ich verstehe ihre Sprache nicht.
„Schön’gu’n Tach Frau Panke, Kommissar Junicke mein Name, und dat is’ meine Kollegin Frau Tallec aus Amiens, dat is’ in Frankreich, unsere Partnerstadt, da ham’wa so’n polizeilichet Austauschprogramm …“
„Bonjour!“, unterbricht ihn die Kollegin ungewollt und lächelt.
Mutter lässt die beiden eintreten, ist für einen Moment zu sprachlos, um zu antworten. Der Rauch in ihren Augen lässt sie blinzeln. Nachdem sie die Tür geschlossen hat, stolpert sie ihnen hinterher und hustet dabei laut und gespielt.
Josef ist aufgesprungen, streckt Frau Tallec linkisch die Hand entgegen und schüttelt sie kräftig. Viel zu kräftig.
„Darf man hier rauchen?“, fragt Junicke.
„Bei mir darf jeder rauchen!“, antwortet Mutter.
Der Kommissar zündet sich eine an. Mutter winkt die beiden zum Sofa. Nur sie selbst will sich nicht setzen. Sie hängt an dem Rollator und schaut die beiden Polizisten misstrauisch an.
„WAS haben Sie da gefunden?“
Junicke berichtet ihr in wenigen Worten von dem Fund, lässt – dem schwachen Herzen einer alten Dame zuliebe – sämtliche Details weg und beginnt schließlich zu fragen, während Frau Tallec Mutter mit wohlwollendem Blick anschaut.
1966 ist sie eingezogen, erzählt Mutter, die ihrem Sohn ein paar überraschte, wütende Blicke zuwirft, sich ansonsten aber nichts anmerken lässt. Nein, sie hätte damals nichts Verdächtiges bemerkt, keinen Streit unter den Nachbarn, keinen Ärger mit dem Vermieter, der schon damals Gadowahn hieß.
„Und die Tiefgarage? Hat’s die damals schon gegeben?“
Mutter sieht Josef fragend an.
Der sagt „Ja, ja, nicht wahr, Mutter?“ und nickt etwas übereifrig.
Frau Tallec runzelt die Stirn.
Mutter verzieht das Gesicht, als müsste sie nachdenken.
„Oder no’ nich’?“, fragt Junicke nach. Er nimmt einen tiefen Zug und sucht nach dem Aschenbecher. Josef springt auf und holt einen rot glasierten, ausgemuldeten Steinklumpen aus der furnierten Anrichte.
„Die war schon da, natürlich war die schon da.“
„Leben hier no’ mehr Leute aus der Zeit? Kennen’se jemand’, der von Anfang an hier wohnt?“
„Nein“, sagt Mutter.
„Und Gadowahn?“, fragt Josef.
„Gadowahn war damals ein kleines Kind!“ Mutter hustet, wischt sich mit der Hand durch das tränende Auge.
„Gadowahn?“
„Der Vermieter. Aber der Vater ist vor ein paar Jahren verstorben.“ Mutter seufzt. „1996. Er hat sich verschluckt. Das war schrecklich!“
„Un’ der Sohn, wie alt is’ der?“
„Der ist von … ’55“, sagt Mutter.
„Und däär wohnt ’IER? In DÄÄM ’aus?“
Was ist an mir so schrecklich? Plötzlich kann ich die Tallec nicht mehr leiden.
„Ja, hat ja alles verloren, alles, was sein Vater ihm eigentlich vererben wollte. Wenn er gekonnt hätte. Jetzt hat er nur noch uns!“
„Aber der müsste dat doch wissen“, meint Junicke, „dat mit der Tiefgarage, oder?“
„Sie mit Ihrer Tiefgarage!“, schnauft Mutter.
„Hat der denn die Bauakten, oder ham Sie die, Herr Panke?“ Josef zuckt zusammen.
„N… nein, die hat … habe … ich weiß nicht …“
„Als Hausmeister ham’se doch Baupläne, oder?“
„Ja … nein … wozu?“
Der Kommissar seufzt. Mir ist auch danach. Josef ist so ein Dilettant. Junickes Blick fällt auf das Porträt von Vater.
„Ihr Mann?“, fragt er Mutter. Frau Tallec sieht ihn an. Scheint besorgt, dass ihr Kollege Mutter überfordert.
Von der Acht werde ich abgelenkt. Die Araber haben einen heftigen Streit, von dem ich kein Wort verstehe. Aabid und Khalid scheinen das Fahrstuhlgespräch mit Junicke und Tallec zu diskutieren. Und Ziyad, ein messianisch wirkender Jüngling mit langen Haaren und Vollbart, scheint die Position von Khalid zu unterstützen – was immer die auch ist. Das hysterische Schimpfen von Khalid hallt durch den Flur.
Die Malevic hat vergessen, die Schlafzimmertür zu schließen. Sie setzt sich auf, reibt sich die Augen. Himmelblau hat sie mich eingefärbt, die Wände, die Decke. Sogar ihr Bettzeug ist himmelblau. Und ihr Nachthemd rosa. Und halb durchsichtig. So rosa wie die zwei amöbenartigen Stofftiere auf dem Bett. Das war nur ein kurzer Schlaf gewesen, und jetzt ist sie sauer.
Nun sehe ich Erhan. Er kommt aus dem Fahrstuhl, direkt gegenüber ihrer Wohnung, läuft ein paar Schritte in meinem zitrusgelben Flurgang. Und klingelt bei den Jungs. Doch bevor die öffnen, geht die Tür der Malevic auf. Ihr Haar hängt strähnig herunter und sie trägt einen Bademantel, auch himmelblau. Sie lehnt sich in den Rahmen und schaut gegen das vom Kopfende des Ganges hereinstreuende diffus-graue Tageslicht.
„Was ist das so laut?“, fragt sie, als sie Erhan erblickt.
„Ich keine Ahnung!“, sagt der achselzuckend. „Haben Streit. Ich sage Bescheid, dass Ruhe is’.“ Er verrenkt sich fast den Hals, um von ihr unterhalb des Halsansatzes irgendetwas zu sehen. Sie bemerkt das und grinst. Wie unbeabsichtigt nimmt sie die Hand von dem Bademantelkragen, sodass der etwas aufschlägt. So kann Erhan den Ansatz ihrer Brüste erkennen. Sie kommt noch einen halben Schritt vor, streift sich eine lange Locke aus dem Gesicht und fragt: „Worüber streiten die denn? Verstehst du das?“
„Nicht versteh’n. Ich spreche nicht arabisch.“
Erhan klingelt noch einmal. Will nicht hinschauen. Tut es dann doch, muss grinsen. Sie grinst zurück. Erst als sich die Tür öffnet, verschwindet sie in ihrer Wohnung.
„He, bleibt cool, Leute“, ruft Erhan und wirft seine Schultasche auf den Boden, „die wissen hier schon alles von euch. Ihr Hamas!“ Er lacht. Doch ihm geht die Malevic nicht aus dem Kopf. Ich merke das …
Josef ist froh über den Themenwechsel.
„Ja, mein Vater!“, sagt er anstelle von Mutter. Er nimmt das Bild in die Hand, schaut es sich erst selbst an, und dann zeigt er es, mit einer übertriebenen Geste, im Zimmer herum. „Ist schon lange tot.“ Junicke nickt.
„’aben Sie ihn denn – noch – gekannt?“, fragt Frau Tallec.
„Josef war noch jung.“ Mutter will darüber nicht sprechen.
Josef spricht für sie.
„Gekannt, na ja. Ich war siebzehn, als er … als man … als er vor der Tür lag.“
„’ier? Vor der Wohnungstür?“
„Nein, draußen. Erfroren.“
Ja, Josef, ich erinnere mich sehr gut daran. Markwart hat sich nie bei dir entschuldigt. Hat es einfach vergessen wollen. Nicht wahrhaben, was er angerichtet hat. Und ich habe lange nicht gewusst, was ich tun sollte. Was ich tun konnte. Erst seit Marlene war das anders. Seit Marlene weiß ich, was möglich ist …
Josef war an jenem Prügelabend ein anderer geworden. Und Markwart hat das gefühlt. Darum hat er in den darauffolgenden Jahren immer mehr getrunken. Richtig gesoffen hat er. Du hast das nie gemocht, Josef. Hast dich immer versteckt, wenn dein Vater mich mit glasigen Blicken betreten hat. Nicht immer kam er zu spät von der Arbeit, aber oft genug, sodass mit dem Abendessen nicht gewartet wurde. Graubrote mit Scheibenwurst und Kakao, und danach in der Plüschgarnitur mit Mutter fernsehen. Markwart kam dann irgendwann aus dem Fahrstuhl getorkelt, der Schlüssel zitterte in seinen Händen, denn er hatte dieses Nervenleiden, dessen er sich schämte, das aber bei Alkohol nicht zu unterdrücken war. Er brauchte also immer eine Weile, bis er das Schloss aufbekam. Aber er hat nie geklingelt. Wäre unter seiner Würde gewesen.
Und dann setzte er sich dazu. In genauso einen Sessel wie der, in dem jetzt Josef sitzt. Mutter und Josef gaben sich alle Mühe, den Herrn des Hauses – wie er sich sah – zu ignorieren. Aber man roch den penetranten Tabak-Grillwurst-Bier-Geruch. Eine Weile saßen sie da, aus dem Fernseher kam wenig Unterhaltsames. Eigentlich war es totenstill, und die synthetischen Klänge sollten lediglich über diese Stille hinwegtäuschen. Josefs Körper war angespannt, trotz Plüsch, trotz des Versuchs der Gemütlichkeit. Sein Körper erstarrte in dieser Haltung und er war nicht mehr in der Lage gewesen, dem Moderator oder dem Spielfilm zu folgen. Wie ich fühlte er die Stille dahinter.
Nur Markwart schaffte es, diese zu durchbrechen: „Könnt’ mich amüsieren!“
Weder Mutter noch Josef reagierten.
„Könnt’ mich amüsieren!“, wiederholte Markwart, und dann sah ihn Josef an. Verunsichert, denn Vater war in diesem Zustand unberechenbar.
„Glotzen’se dahin auf diese Scheiße! Könnt mich amüsier’n über so viel Stumpfsinn!“
Markwart, der sonst nie viel über die Verhaltensweisen seiner Mitmenschen reflektiert hatte, erhaschte in solchen Momenten einen Anflug von Intellektualität, den er dann für das ganze Universum kritischen Denkens hielt. Es war dabei noch nicht einmal falsch, was er sagte. Meine Bewohner hockten wie abgeschaltet vor den Flimmerkisten. Wohin ich mich auch begab, in allen Stockwerken, in allen Fluren. Das war damals wie heute nicht anders. Und meistens saß Markwart selbst so da – ohne sich zu ‚amüsieren‘.
Markwart war nicht jedes Mal gewalttätig. Mutter hat er in Ruhe gelassen, zwischen den beiden herrschte ein fragiler Waffenstillstand. So wie er bei Mutter seinen Jähzorn im Zaum hielt, so unterdrückte sie bei ihm ihr Mundwerk. Dafür bekam Josef beides zu spüren.
An diesem Abend, es war der 10. Januar 1982, da war Markwart in besonders gesellschaftskritischer Laune. Er hatte Josef beim zurückliegenden Weihnachtsfest zwei Hundertmarkscheine gegeben, die auch Mutter erstaunten. Die Prügelorgie war schon viele Jahre her gewesen. Doch Markwart hatte mal wieder das Gewissen gepackt.
Josef reagierte allerdings nicht so dankbar, wie sein Vater das erwartet und insgeheim gefordert hatte. Josef freute sich – irgendwie –, wie sich ein junger Kerl über so was eben freut. Aber Josef hat auch gewusst, wofür die Scheine wirklich waren.
Markwart hatte sich daraufhin so besoffen, dass er die ganze Heilige Nacht brüllte und mit Mutter heftige Auseinandersetzungen führte, was Josef nicht schlafen ließ. Und so ging das zwei Wochen lang. Jeden Tag war Markwart betrunken. Kam schon so von der Arbeit, die er mit einem Besuch in irgendeiner Kneipe beendete, und stand zwischen neun und zehn vor meiner Haustüre. Fummelte brummelnd mit seiner Zitterhand am Schloss herum, hat mir sogar einmal das Foyer vollgekotzt und ist dann mit dem Aufzug ins Erste. Zu der Wohnung, in der auch heute noch Mutter lebt. Meist blieb er friedlich. Aber er hat gespürt, dass er ihnen über war. Er war auch mir über gewesen.
„Was is’n daran so toll? He?“, blaffte er. Natürlich hatte er recht. Peter Alexander mochte ich auch nicht. Aber Peter Alexander sollte auch nur von Markwarts Anwesenheit ablenken. Als keine Antwort kam, verfiel Markwart in einen Monolog und glaubte, eine Rede zu halten.
„Das ’s Volksverblödung! Die woll’n ein’ doof machen. Guckt euch do’ma’ an! Sitzt da wie die Ölgötzen und glotzt. Fresst alles, was die euch hinschmeißen. So ’ne Scheiße! Totale Scheiße ist das! Wie bescheuert seid ihr eigentlich? Total bescheuert!“
„Is’ jetzt mal gut!“, sagte Mutter. Josef sagte gar nichts. Die Angst vor Prügel ließ ihn im Polster versinken. Er wäre am liebsten zwischen die Ritzen gekrochen, unter den dicken Schaumstoff.
„Nix is’ gut!“ Nun wurde Markwart richtig laut. So laut wie damals, als er Josef halb tot geschlagen hat. Das ließ Mutter verstummen.
„Ich lass mich do’ nich’ verarschen! Weder von den’ da, noch von euch! Is’ do’ kein Leben sowat!“
Markwart stand auf, schwankte und ließ einen knatternden Furz. „Schulligung!“ Er grinste stolz.
„Also, ich bin mir su schade für die Scheiße. Ich will no’ wat erle’m im Leben!“
Er torkelte raus aus dem Wohnzimmer, schwankte zur Wohnungstür und stolperte ohne Mantel ins Treppenhaus. Mit einem lauten Rumms fiel die Tür ins Schloss.
Mutter schniefte, während Udo Jürgens über griechischen Wein sang. Sie wimmerte, und flüsterte dabei Halbsätze wie „Warum habe ich nur?“ oder „Ich hab dir doch nichts getan!“.
Josef sollte sie trösten. Das war deutlich zu spüren. Aber Josef schlich sich aus dem Wohnzimmer und ging ohne „Gute Nacht!“ ins Bett.
Markwart blieb lange aus. Und ich wollte ihn nicht mehr in mir haben. Während draußen die kälteste Nacht des Jahres begann, blieb ich bei Josef und hasste mit ihm seinen Vater. Der Junge lag lange wach. In der Dunkelheit reflektierten seine Augen das Restlicht der Straßenlaternen, das die feinen Schneeflocken an sein offenes Fenster wehten. Er starrte an die Decke, drehte sich, zerknautschte seine Federbetten. Er kam nicht mehr richtig aus sich heraus. Irgendetwas hatte sich seiner bemächtigt.
Vaters Klingeln hörte er nicht. Das war um drei Uhr morgens. Josef schlief endlich. Mutter hörte das Klingeln. Aber sie blieb liegen. Wollte ihren Mann nicht mehr sehen.
Ich beobachtete ihn. Durch das Riffelglas. Undeutlich, verschwommen, von der Leuchte unter dem Vordach angestrahlt. Ein gedrungener, lallender Körper, der vergeblich versuchte, seinen Schlüssel in das Türschloss zu bekommen. Es ging nicht. Mein Schloss war eingefroren. Ihm war kalt, das konnte ich erkennen. Der bullige Rumpf schlotterte. Mein Vordach ist, glaube ich, nur sehr kurz. Jedenfalls schlugen immer wieder winzige Schneeflocken, von einem schneidigen Nordwind getrieben, gegen das Glas. Manchmal blieben sie daran haften. Sie schmolzen nicht. Es war einfach zu kalt.
„Vvv’dammte Scheisse!“, brüllte Markwart. Mehrmals klingelte er, aber Mutter blieb liegen. Er hämmerte mit der Faust vor das Glas.
„Hau die Tür kaputt!!!“
Das Riffelglas ist von einem feinen Stahldrahtgitter durchzogen.
Und Markwart hatte schon keine Kraft mehr.
Er verschwand.
Josef schlief.
Nach ein paar Minuten stand Markwart wieder da draußen. Ich hörte den Schlüssel klimpern. Seine Worte waren zu undeutlich, um sie zu verstehen. Mehr noch als der Alkohol, ließ ihn die Kälte verstummen. Er zitterte. Obwohl so verschwommen, sah ich in dem Glas, wie der dunkle Rumpf vibrierte. Noch einmal versuchte er, den Schlüssel in meinen vereisten Schlitz zu stecken. Ich glaube, er hätte es trotz Alkohol und Nervenkrankheit sogar geschafft. Wenn der Tod nah ist, dann schaffen auch Betrunkene so einiges. Aber durch das Gefrorene kam er nicht.
Er kreischte, aber schon ziemlich schwach, und dann drückte er sämtliche Klingeln. Ich wurde belebt, in vielen Wohnungen standen Leute auf. Die Sprechanlage ging an, von mehreren Mietern gleichzeitig.
„Will rein hier Scheiße!!!“, kläffte Markwart in die Sprechvorrichtung.
Herr Lemperts, ein gestandener Familienvater – Markwart gar nicht unähnlich –, öffnete das Schlafzimmerfenster im Dritten, brüllte „Hau ab, du besoffenes Schwein!“ und knallte es wieder zu.
Niemand betätigte den Türdrücker.
Markwart presste sein Gesicht auf das Glas und sah mich an. Kaleidoskopartig verteilten sich seine rosig-gelblichen Bestandteile in den Feldern der Gitterstruktur. Die Augen funkelten wie die Facetten einer Fliege.
„U’ scheiße Haus, Scheißßu Hause hier!“
Seine Hände patschten ebenfalls auf die glatte Fläche. Der Mund öffnete sich, als wollte er mich küssen. Dabei glitschte seine Zunge über das Glas. Mir war, als kitzelte das.
„Aumpf“, machte er. Das war zu kalt. „Is’ ’ir ’och scheißegal, wenn ich kaputt geh! Hause Scheiße!“
Langsam sank sein Körper hinab, fiel direkt an der Tür in sich zusammen und begann sofort zu schnarchen. Das dauerte zehn Minuten, dann wurde das Schnarchen weniger. Irgendwann war es still und ich verkroch mich. Blieb bei Josef, der friedlich schlief. Er träumte. Was Schönes. Was Warmes. Mutter dagegen konnte nicht schlafen. Aber mit Markwarts Tod hätte sie wohl nicht gerechnet.
Ich sah Josefs Vater erst wieder, als gegen halb sechs der Zeitungsbote beim alten Hausmeister klingelte. Der machte Licht im Foyer und konnte die immer noch eisige Tür erst aufdrücken, als der Bote den schweren Körper zurückgewuchtet hatte. Da lag Markwart nun. Hatte ein weißes Schneefell auf dem dunkelblauen Hemd. Ohne Mantel, aber mit einer ordentlichen Krawatte unter dem wachsfarbenen Gesicht – und leeren, ins Nichts starrenden Augen …