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1 Heimreise
Оглавление„Martin Schöller.“ Der Klassenlehrer hielt Martin das Zeugnis hin. Martin nahm es ihm aus der Hand, verstaute es sorgfältig in einer Plastikhülle und steckte es in eine der Mappen in seiner Schultasche. Ohne es gelesen zu haben. Er brauchte nicht hinzusehen, er wußte ohnehin, was drinstand. Versetzt in die nächste Klasse, Oberprima, Klasse dreizehn. Noch ein Jahr, dann würde er sein Abitur machen. Matura, wie es hier hieß.
Martin verließ den Klassenraum zusammen mit den Anderen, achtzehn insgesamt, die mit ihm in der gleichen Klasse waren. Große Abschiedsszenen gab es keine an diesem letzten Schultag vor den großen Ferien. Ein flüchtiger Gruß. Achtlos hingeworfene Wünsche nach schönen Ferien. Die meisten von ihnen, die Internatsschüler zumindest, würden sich ohnehin noch einmal treffen, um die Versetzung zu feiern, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten, gleich heute Nachmittag, für diejenigen, die über ein eigenes Auto verfügten oder am nächsten Tag, wenn die Heimreise mit Flugzeug oder Zug erfolgte.
Auf dem Gang herrschte Gedränge. Schüler kamen aus den Klassenräumen, gingen oder rannten zum Ausgang, je nach Temperament und Alter, oder sie standen allein oder in Gruppen zusammen und diskutierten mehr oder weniger lautstark den Inhalt ihrer Zeugnisse. Martin drängte sich hindurch und ging hinaus auf den Hof zwischen dem Schulgebäude und der „Villa“, in der die Schlafräume lagen. Auch auf dem Schulhof wimmelte es von Schülern aller Altersstufen. Nicht alle wohnten auf dem Gelände, im Internat, so wie er, die meisten kamen aus der Stadt oder der Umgebung, wo sie bei ihren Eltern lebten. Draußen auf der Straße stauten sich die Schulbusse. Die Menge der Schüler setzte sich langsam in Bewegung dorthin. Bald würde der Schulhof leer sein, nur die etwa hundertzwanzig Internatsschüler blieben.
Martin ging hinüber zur „Villa“, einem prachtvollen, etwa hundert Jahre alten Jugendstilbau, der, einst von einem reichen Industriellen erbaut, nun einem Teil der Internatsschüler als Wohnhaus diente. Dort teilte er sich ein Zimmer mit Christoffer, einem Winzerssohn aus dem Badischen, der sich nach der Zeugnisausgabe gleich aus dem Staub gemacht hatte. Hinunter in die Stadt, die Versetzung feiern. Martin hatte dafür weder die Lust noch das Geld. Ein Stipendium ermöglichte es ihm, dieses sündhaft teure Internat im österreichischen Klagenfurt zu besuchen.
Er packte die Sachen, die er während der zweimonatigen Sommerferien brauchen würde in einen mittelgroßen Koffer. Allerlei Krimskrams, der sich im Laufe des Jahres angesammelt hatte und den er ebenfalls mit nach Hause nehmen wollte, verstaute er in Taschen und Tüten. Alles zusammen trug er hinunter zu seinem Auto, einem uralten Golf in einer schmutzigblauen, im Laufe der Jahre matt gewordenen Farbe, den er von seinem im vergangenen Jahr verstorbenen Großvater geerbt hatte. Die Großmutter hatte das Auto auf ihren Namen umschreiben lassen, bezahlte Steuern und Versicherung und hatte es ihm überlassen. Es nahm sich reichlich schäbig aus auf dem Parkplatz, zwischen all den hochglanzpolierten und chromblitzenden Cabrios und Sportwagen, die einige seiner Schulkameraden fuhren. Aber das war ihm gleichgültig. Er war unendlich froh über diesen fahrbaren Untersatz, und er hütete ihn wie seinen Augapfel. Endlich nicht mehr die elend lange Zugfahrt von Schleswig-Holstein im Norden Deutschlands nach Kärnten in Österreich, mit mehrmaligem Umsteigen, wo man mit dem Gepäck aufpassen mußte, sowohl der eigenen, beschränkten Transportkapazität wegen, als auch im Hinblick auf den unzureichenden Stauraum in den Reisezugwagen. Ein großer Automechaniker war er nicht gerade, aber mit den Freunden und Bekannten zu Hause schaffte er es, den Wagen trotz des hohen Alters, tiptop in Schuß zu halten.
Die letzte Tasche war verstaut. Er schlug den Kofferraumdeckel zu und rieb sich zufrieden die Hände. Heute würde er noch im Internat übernachten und morgen dann, in aller Frühe, nach Hause fahren. Acht Wochen Sommerferien.
Auf dem Weg zurück in die „Villa“ wurde er aufgehalten.
„Du, sag mal, Du bist doch der Martin Schöller aus der Zwölf?“
Ein Mädchen stand vor ihm und blickte ihn aus großen, braunen Rehaugen und mit kessem Gesichtsausdruck an. Er kannte es vom Sehen, nicht näher. Sie hatten noch nie miteinander gesprochen, er wußte nicht einmal, wie sie hieß, noch, in welche Klasse sie ging. Nur daß sie ebenfalls im Internat wohnte. Mit der Zeit prägten sich die Gesichter ein, denen man beim Frühstück oder den anderen Mahlzeiten immer wieder begegnete.
Auf jeden Fall war sie um einiges jünger als er, fast einen Kopf kleiner und ziemlich hübsch, wie er auf einen kurzen Blick hin feststellte, hübsch genug, um noch einmal hinzusehen. Sie trug einen reichlich kurzen Jeansrock und ein verwaschenes, hellblaues T-Shirt, das entweder eingelaufen oder ihr von vorneherein zwei Nummern zu klein war und das sich nun über ihren winzigen Brüsten spannte und ein Stück ihres Bauches freiließ. Ihre dünnen Arme und Beine ließen sie zerbrechlich aussehen. Die Riemchensandalen wirkten klobig an den zierlichen, nackten Füßen. Die langen, glatten, braunen Haare fielen beinahe bis zum Bund ihres Minirocks über ihren Rücken. Das hübsche Gesicht mit den leicht hervorstehenden Wangenknochen zierte ein Stubsnäschen, ein fein geschwungener Mund mit blaßrosa Lippen und ein energisches Kinn.
Martin fand sie recht niedlich. Er grinste sie an. „Falsch. Das heißt, der Name stimmt schon. Aber die Klasse nicht. Seit einer Stunde dreizehn, nicht mehr zwölf.“
Sie schnitt eine Grimasse. „Ha-ha-ha, sehr witzig. Aber okay. Ich wollte Dich mal fragen, ob Du mich mitnehmen kannst?“
Er war verblüfft. „Mitnehmen? Wie, mitnehmen? Wohin denn mitnehmen? Ich geh auf keine Zeugnisparty, wenn Du das meinst.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nee, das mein ich nicht. Nicht auf ‘ne Party, nach Hause. Du fährst doch bestimmt jetzt nach Hause. In die Ferien. Ich hab gesehen, wie Du Dein Zeug ins Auto geladen hast. Und da würd ich gern mitfahren.“
„Ja schon. Sicher fahr ich nach Hause. Allerdings nicht jetzt sondern erst morgen früh. Aber weißt Du denn überhaupt, wo ich hinfahre?“
Sie nickte. „Neustadt bei Kiel. Ungefähr meine Richtung. Und Du bist der Einzige, der in diese Richtung fährt. Ich hab mich erkundigt.“
Er betrachtete sie noch einmal. Eigentlich hatte er sich auf eine lange Autofahrt ohne Gesellschaft gefreut. Früh aufstehen, in den Sonnenaufgang hineinfahren, Musik hören, die Gedanken schweifen lassen und vor allem, mit niemandem reden müssen. Jetzt kam diese Kleine daher und bat darum, mitfahren zu dürfen. Dreizehn war sie, vielleicht vierzehn, ein giggelnder, schnatternder nerviger Teenager im schlimmsten Alter. Wahrscheinlich würde das Geschnatter von der Abfahrt bis zur Ankunft nicht aufhören, und wenn, dann nur, um Klagen über das unbequeme Auto, die langsame Fahrweise, die scheußliche Musik, die stickige und heiße Luft, den unerträglichen Durst oder das Bedürfnis nach dem Gegenteil dazwischenzuschieben. Er konnte es sich genau vorstellen. Schon ihr Gesichtsausdruck hatte etwas ungeheuer Hochnäsiges. Ein Prinzeßchen, das gewohnt war, nur mit den Fingern zu schnippen, um jedesmal genau das zu bekommen, wonach ihm gerade der Sinn stand. So jemand hatte ihm gerade noch gefehlt. Fast war er soweit, ihre Bitte abzulehnen. Aber dann lächelte sie ihn an, und ihr Lächeln war einfach hinreißend, unwiderstehlich.
Er entschied sich gegen sein Gefühl. „Na, gut, ich nehm Dich mit“, hörte er sich sagen und war überrascht darüber. Darum schränkte er gleich ein: „Nur, ich werd ziemlich früh losfahren, so gegen vier morgen früh, damit mußt Du Dich abfinden.“ Er hoffte, damit das Ende ihrer Mitfahrgelüste heraufbeschworen zu haben.
Doch sie zuckte gleichmütig die Achseln. „Macht nix. Ich werd’s überleben. Um vier Uhr also, hier bei Deinem Auto?“
Er nickte. „Aber sei bitte pünktlich.“
„Gut, Ich werde dasein. Bis dann also.“ Sie hob grüßend die Hand, drehte sich um und ging. Ihr kurzes Röckchen wippte bei jedem Schritt, ebenso wie die langen Haare. Sie sah wirklich niedlich aus.
Martin sah ihr verwundert nach. Was war das jetzt? Aus heiterem Himmel quatscht ihn ein hübsches Mädchen an und bittet um einen Lift. Nicht einmal ihren Namen hatte sie genannt. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie nur eine Mitfahrgelegenheit gesucht hatte. So eine wie die hat sowas nicht nötig. Andererseits war es noch viel unwahrscheinlicher, daß sie hinter ihm her war. Das paßte schon vom Alter her nicht. Und außerdem, was sollte eine wie die schon an ihm finden? Er war gespannt, ob sie tatsächlich auftauchte. Eine Viertelstunde würde er ihr geben, mehr nicht, dann würde er losfahren. Mit ihr oder ohne sie, das lag an ihr.
***
Sie wartete seit einer Viertelstunde. Sagte sie jedenfalls. Martin kam um drei Minuten vor vier auf den Parkplatz und fand dort ein vor Kälte schlotterndes Mädchen. Kein Wunder, mit ihrem dünnen Spaghettiträgertop, den Shorts und den nackten Füßen in den Riemchensandalen war sie passend gekleidet für den Gang ins Freibad aber nicht für die Kühle einer eben zu Ende gehenden Sommernacht. Zitternd saß sie auf ihrem großen Koffer und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen.
Martin war diesbezüglich passender gekleidet. In seinem Sweatshirt, den Jeans und den Turnschuhen fühlte er sich ganz behaglich.
„Mädchen, wie läufst Du denn hier rum? Du holst Dir ja den Tod.“ Er schloß das Auto auf und öffnete die Beifahrertür. "Los, rein mit Dir. Das kann man ja nicht mit ansehen.“
Sie lächelte ihn an mit blauen Lippen und ihrem unwiderstehlichen Lächeln, und er fand sie wirklich bezaubernd. Lachend und kopfschüttelnd streckte er ihr die Hand hin und half ihr auf die Füße. Stirnrunzelnd betrachtete er ihren voluminösen Reisekoffer.
„Na, das wird knapp“, meinte er.
Tatsächlich mußte der Koffer auf der Rückbank verstaut werden, keine Chance, ihn im Kofferraum unterzubringen. Es war umständlich bei dem zweitürigen Auto, aber es klappte. Fünf Minuten nach der geplanten Abfahrtszeit waren sie unterwegs. Geredet wurde nicht. Martin konzentrierte sich auf die Straße, seine Mitfahrerin sah schweigend geradeaus. Bereits als sie auf der Autobahn den ersten Tunnel Richtung Villach passierten, war sie eingeschlafen. Martin betrachtete sie kurz. Noch immer hatte sie blaue Lippen und eine Gänsehaut. Also hielt er auf dem nächsten Parkplatz an, kramte eine Decke aus dem Kofferraum und deckte sie damit zu. Den Sitz kurbelte er ein wenig weiter nach unten. So lag sie bequemer. Sie bemerkte nichts davon. Nur einmal knurrte sie kurz im Schlaf und wickelte sich in die Decke ein. Kopfschüttelnd betrachtete er sie noch einmal, als er wieder losfuhr.
Sie schlief wie ein Engel. Und sie war ebenso hübsch. Obwohl sie keine blonden Haare hatte, sondern braune. Und auch keine Locken, sondern glatte Haare, die jetzt wie ein Vorhang ihr Gesicht bedeckten. Noch einmal überlegte er, wie alt sie wohl sein mochte. Auf jeden Fall noch sehr jung, dreizehn, vierzehn vielleicht. Obwohl, das niedliche Stubsnäschen ließ sie jünger aussehen als sie möglicherweise war. Sie gefiel ihm, das mußte er zugeben.
Trotzdem fragte er sich, was ihn geritten hatte, sie mitzunehmen. Wo er doch sonst nie jemanden mitnahm. Anhalter schon gar nicht. Selbst wenn sie darum baten, so wie dieses junge Pärchen, das ihn auf einer Raststätte im Sauerland angesprochen hatte, als er nach den Osterferien nach Klagenfurt zurückfuhr. Freundlich aber bestimmt hatte er den Beiden zu verstehen gegeben, daß er lieber alleine bleiben wollte. Sie hatten es ohne weiteres akzeptiert. Und jetzt lag auf einmal dieses Mädchen neben ihm. Noch schlief sie ja, so daß es kaum einen Unterschied machte, aber ewig würde dieser Zustand kaum anhalten. Dann würde sie wach sein und vermutlich ungeheuer präsent. Bei dem Gedanken daran blies er die Backen auf und ließ die Luft zischend entweichen.
Tatsächlich schlief sie bis hinter Salzburg, nachdem sie die Grenze nach Deutschland passiert hatten, und Martin auf dem leeren Parkplatz hinter der Loithal-Brücke anhielt. Der einzige Lastwagen, der dort gestanden hatte, fuhr gerade weg, als Martin das Auto ausrollen ließ. Sobald er den Motor abgestellt hatte, wachte sie auf.
Er lächelte sie an. „Na, gut geschlafen? Wie wär’s denn mit Frühstück?“
Ächzend kam sie aus ihrem Sitz hoch. Sie brauchte eine Weile, um sich zu orientieren, doch dann lächelte sie zurück und sah sich um. „Wo sind wir denn?“ Sie schälte sich aus ihrer Decke heraus.
„Auf der A8, Richtung München. Kurz hinter der Grenze“, antwortete Martin.
„Was, so weit schon? Da hab ich aber lange geschlafen.“
„Hast Du. Ganz lieb und ganz friedlich.“
Noch einmal sah sie sich um. „Gibt’s hier ‘n Klo? Ich muß mal.“
Martin zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, hab nicht drauf geachtet.“
Sie stiegen aus. Martin streckte sich und machte ein paar Lockerungsübungen. Das Mädchen hüpfte unruhig von einem Bein aufs andere und suchte die Umgebung des Parkplatzes ab. Auch Martin sah sich jetzt um.
Er schüttelte den Kopf. „Sieht nicht so aus, als ob’s hier’n Klo gibt. Du mußt Dich wohl in die Büsche schlagen.“ Er öffnete den Kofferraum und nahm eine Packung Papiertaschentücher heraus. „Hier, vielleicht geht’s ja damit.“
Sie nahm ihm die Taschentücher ab und lief die Böschung hinunter ins Gebüsch. Martin zog sich derweil um. Die Temperaturen waren jetzt bereits so, daß es das Sweatshirt und die warme Jeans nicht mehr brauchte. Also tauschte er sie gegen Shorts und T-Shirt. Dann kümmerte er sich ums Frühstück.
Auf dem schmalen Streifen Wiese zwischen der asphaltierten Fläche und der Böschung waren einige Tische und Bänke aufgestellt. Martin hatte vor einem davon angehalten und machte sich nun daran, den Tisch zu decken. Er war am gestrigen Nachmittag noch im Supermarkt gewesen und hatte eingekauft, Brot, Butter, Wurst, Käse, Obst und etwas zum Trinken. Dazu Pappteller, Plastikbesteck, Papierservietten und Becher. Sogar einen Spirituskocher hatte er dabei und eine große Kanne mit klarem Wasser.
„Willst Du Kaffee oder Tee?“ fragte er seine Begleiterin, als sie zwischen den Büschen wieder zum Vorschein kam. Er gab ihr ein Erfrischungstuch. „Hier, damit kannst Du Dir die Hände saubermachen.“
Sie schüttelte staunend den Kopf. „Ist ja irre, was Du alles dabei hast.“
Er zuckte die Achseln. „Raststätte ist mir zu teuer. Da muß ich eben selber für meinen Kram sorgen.“ Er deutete auf den gedeckten Tisch. „Setz Dich. Also was jetzt, Tee oder Kaffee?“
„Tee bitte“, sagte sie und setzte sich. „Kaffee ist nicht so mein Ding.“
„Meins schon. Auch wenn’s nur Pulverkaffee ist.“
„Sowas hab ich noch nie gemacht“, sagte sie, als sie sich am Tisch gegenübersaßen und frühstückten. „Frühstück auf’m Rastplatz an der Autobahn. Ist aber gemütlich.“
Martin lachte. „So mach ich das immer. Wenn schönes Wetter ist. Ich find’s urig. Vielleicht nicht besonders bequem, aber dafür preiswert.“
Sie hielt ihren Becher mit beiden Händen fest. Martin sah es, sprang auf, holte die Decke aus dem Auto und legte sie ihr um die Schultern. „Du frierst ja noch immer“, meinte er.
Sie lächelte ihn an. „Danke, das ist lieb von Dir.“
„Sag mal, wie heißt Du eigentlich? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wen ich da durch die Gegend kutschiere.“
„Franziska von Weerendonk“, stellte sie sich vor, mit einer leichten Verbeugung des Kopfes. „Ich bin die Tochter.“
„Die Tochter?“ Martin verstand nicht recht.
„Ja, die Tochter. Meine Mutter ist Angelika von Weerendonk.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Es dauerte eine Weile, dann fiel der Groschen. „Angelika von Weerendonk? Du meinst, die Schauspielerin? Du bist ihre Tochter?“
Franziska nickte. „Bin ich. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die es gar nicht gerne hat, mit einer vierzehnjährigen Tochter in Verbindung gebracht zu werden. Sowas schadet dem jugendlichen Image. Deshalb hat sie mich auch auf dieses bescheuerte Internat abgeschoben. So störe ich ihre Kreise nicht.“ Es klang ziemlich bitter.
„Aber wenn man so eine hübsche Tochter hat, dann muß man die doch nicht verstecken.“ Martin war ziemlich erstaunt. Erstens über das, was er da zu hören bekam und zweitens, wie leicht ihm Komplimente von den Lippen zu gehen schienen.
„Gerade dann muß man das. Konkurrenz, verstehst Du?“
„Blödsinn! Eine Vierzehnjährige macht doch einer erwachsenen Frau keine Konkurrenz. Selbst wenn sie so hübsch ist wie Du.“
„Vielen Dank für die Blumen, aber Du irrst Dich. Meine Mutter betrachtet jedes weibliche Wesen, das jünger ist als sie selber, als Konkurrenz. Selbst unsere Katze.“
Martin lachte. „Jetzt übertreibst Du aber. Deine Mutter ist doch eine wunderschöne Frau. Ich hab sie neulich im Fernsehen gesehen, und da dachte ich noch, wow, sieht die gut aus.“
„Denkst Du. Sie hat da andere Ansichten. Mittlerweile ist sie über dreißig, da schleicht sich schonmal das eine oder andere Fältchen ins Gesicht. Besonders morgens, wenn’s nachts zuvor wieder mal besonders hoch hergegangen ist, auf irgendeiner Yacht in Saint Tropez oder Monte. Was das angeht, da bin ich ihr noch um einiges voraus.“
Martin lachte sie an. „Naja. Fältchen hast Du keine. Aber dafür winzige Grübchen in den Wangen, wenn Du lachst.“
„Du willst mich veräppeln.“
„Nein, will ich nicht. Warum sollte ich? Das ist mir schon aufgefallen, noch bevor ich wußte, daß Du die Tochter der schönen Angelika von Weerendonk bist. Mir gefällt das nämlich.“
„Was? Daß ich ihre Tochter bin?“
„Quatsch, das doch nicht. Nein, Deine Grübchen. Die lassen Dich so lieb aussehen.“
„Ich bin aber nicht lieb. Ich bin eine Kratzbürste und außerdem verwöhnt, eingebildet und zickig.“
„So? Das hast Du bis jetzt aber ganz gut versteckt.“
„Bis jetzt wollte ich ja auch was von Dir. Und außerdem hab ich die ganze Zeit gepennt. Da war ja gar keine Zeit um kratzbürstig oder eingebildet zu sein.“
„Na, dann kann ich ja nur hoffen, daß Du gleich weiterschläfst.“ Martin hob die Kanne mit dem Wasser an. „Möchtest Du noch Tee?“
Sie nickte und hielt ihm den Becher hin. „Gerne.“
Er schüttelte den Kopf und nahm ihr den Becher ab. „Nee, so wird das nix. Du verbrennst Dir ja die Finger.“ Er stellte den Becher auf den Tisch, gab einen frischen Teebeutel hinein und goß das heiße Wasser darüber. „Schön vorsichtig sein“, mahnte er.
Sie lächelte. „Du bist ganz anders als die Leute, die ich kenne. So ruhig und so besonnen. Überhaupt nicht hektisch oder laut. Ich find das gut.“
„Warum soll ich hektisch sein? Ich habe keine Eile, es sind Ferien, und es ist so ein traumhaft schöner Morgen. Der verträgt es auch nicht, daß man laut ist.“ Er sah sich um. „Eben, da hast Du noch geschlafen, da sind wir direkt in den Sonnenaufgang hineingefahren. Das war so toll, schade, daß Du das nicht gesehen hast. Ich wollte Dich erst wecken, aber das hab ich mich dann doch nicht getraut. Ich bin extra so früh losgefahren, weil ich das sehen wollte. Das hab ich schon öfter gemacht. Normalerweise hör ich Musik dazu. Beethoven oder Händel oder Vivaldi. Aber das ging ja heute nicht.“
Franziska sah ihn mit großen Augen an. „Du bist ja richtig romantisch.“
Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Weiß ich nicht. Mir gefallen eben solche Sachen. Deshalb bin ich auch ganz gern allein. Da sieht man sowas eher.“
„Warum hast Du mich denn dann mitgenommen?“
„Warum denn nicht? Du hast mich doch drum gefragt.“
„Aber Du hättest doch auch Nein sagen können.“
„Warum hätte ich das tun sollen? Du hast ordentlich und nett gefragt, Du wolltest in meine Richtung, warum hätte ich da Nein sagen sollen?“
„Wenn Du doch lieber allein bist.“
„Ja, schon, gelegentlich. Aber doch nicht immer. Den Gefallen mochte ich Dir jedenfalls nicht abschlagen. Abgesehen davon…“, er kicherte leise, „ich war in dem Moment so verdattert, daß ich gar nicht anders konnte als Ja sagen. Ich meine, wie kommt ein so hübsches Mädchen wie Du auf die Idee, ausgerechnet jemand wie mich mit meiner Uraltchaise zu fragen, ob ich es mitnehmen kann? Da gibt’s doch bestimmt ‘ne ganze Menge Leute, die Dich liebend gern mit ihrem schicken Sportwagen bis zum Ende der Welt chauffieren würden.“
Franziska zuckte die Achseln. „Vielleicht. Aber ich wollte nunmal mit Dir fahren. Ich wußte, Du fährst in meine Richtung, und außerdem kamst Du mir weniger überdreht vor als die anderen Typen, die einen immer gleich anbaggern wollen.“
„Und woher weißt Du, daß ich Dich nicht anbaggern will?“
„Du machtest nicht den Eindruck. Du hast gleich Ja gesagt, keine großen Fragen gestellt, und ich hatte auch nicht so den Eindruck, daß Du Dich sonderlich gefreut hast oder sonstwie aufgeregt warst. Du hast eben einfach Ja gesagt und daß wir um vier Uhr losfahren, und das war’s dann.“
„Kein Wunder“, lachte er, „ich war ja auch völlig platt.“
„Und, bist Du immer noch platt?“
„Nee, jetzt nicht mehr. Obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet hatte, daß Du tatsächlich auftauchen würdest. Ich hab gedacht, Du willst mich verladen.“
„Und wenn?“
„Ich hätte Dir ‘ne Viertelstunde gegeben. Dann wär ich gefahren.“
„Aber ich war da.“
„Allerdings, das warst Du. Und sogar früher als ausgemacht.“
„Und jetzt?“
„Jetzt freu ich mich. Es kann auch schön sein, Gesellschaft zu haben. Allerdings, wenn Du den Rest der Fahrt auch noch verpennst, dann hab ich natürlich wenig davon.“
Franziska lachte. „Keine Angst. Ich glaub, jetzt bin ich langsam ausgeschlafen. Außerdem hab ich gut gefrühstückt.“
Martin machte sich daran, die übriggebliebenen Lebensmittel einzupacken. Franziska sah ihm dabei zu. Seine ruhigen, besonnenen Bewegungen faszinierten sie. Jemand, der mit sich und seiner Umgebung völlig im Reinen war. Keinerlei Hektik, nichts Eiliges, so als sei das Abräumen des Frühstückstisches jetzt das Wichtigste auf der Welt. Als er fertig war, sah er sie lächelnd an.
„So, sollen wir wieder?“
Sie nickte.
Behutsam nahm er die Wolldecke von ihren Schultern. „Ich glaube, die brauchst Du jetzt nicht mehr.“
Seine kurze Berührung ihrer Schultern jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
„Oder ist Dir etwa immer noch kalt?“ fragte er erstaunt.
„Nein, nein“, wehrte sie ab. „Ist alles okay.“
***
„Bis wohin willst Du denn mitfahren?“ fragte er sie, als sie wieder über die Autobahn fuhren.
„Fahr mal ruhig, ich sag’s Dir dann schon“, lautete die vage Antwort. Sie sah ihn an. „Warum fragst Du? Willst Du mich loswerden?“
„Überhaupt nicht. Ich frage nur, damit ich weiß, wo ich herfahren muß.“
„Wo fährst Du denn normalerweise her?“
„München, dann nach Norden, Richtung Würzburg, von da über Hannover und Hamburg, an Lübeck vorbei bis nach Neustadt.“
„Dann kommst Du also gar nicht über Münster?“
„Nee, das wäre ein Umweg. Wieso, mußt Du da hin?“
Franziska nickte. „In der Nähe von Münster, da bin ich zu Hause.“ Sie lachte bitter. „Ha, wie sich das anhört, zu Hause. Als ob das mein zu Hause wär.“
„Wieso nicht, wenn Du doch da wohnst?“
„Tu ich ja gar nicht. Die meiste Zeit des Jahres bin ich im Internat. Zu Hause geb ich eigentlich nur Gastspiele. Wenn denn überhaupt jemand da ist. Meistens sind meine Eltern ja unterwegs, meine Mutter wegen ihrer Filmrollen und Papa, na, der ist geschäftlich auf Tour. Entweder in Asien oder in Amerika. So genau weiß man das nie. Tja, und dann bin ich allein in dem riesigen Haus mit der Haushälterin, der Putzfrau und dem Gärtner. Tolles Familienleben, was?“
„Aber jetzt sind Deine Eltern doch wohl da?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nee, Du, ganz bestimmt nicht. Ich weiß zwar nicht genau, wo sie sind, aber zu Hause sind sie mit Sicherheit nicht.“
„Und was machst Du dann da?“
„Gute Frage. Keine Ahnung. Aber es wird mir schon was einfallen. Faulenzen vielleicht. Lange im Bett bleiben, schwimmen, in der Sonne liegen. Irgend sowas halt. Und Du, was machst Du?“
„Ich hab mir ein Boot ausgeliehen. Von meinem Onkel. Der hat eine schöne Segelyacht, die kann ich in diesem Sommer haben, weil er selber mit meiner Tante in die Berge fahren wollte. Sie segelt nicht gerne, weil sie immer seekrank wird. Also fährt er meistens allein mit dem Boot raus, oder er nimmt mich mit, wenn ich zu Hause bin. In diesem Jahr hat’s nicht geklappt, darum hat er mir das Boot allein gegeben.“
„Und wohin willst Du?“
Martin zuckte die Achseln. „Weiß noch nicht. Vielleicht nach Dänemark rauf oder nach Polen. Auf jeden Fall auf die Ostsee. Zwei Wochen lang. Das wird toll. Hoffentlich hält sich das Wetter. Sturm ist nicht so prickelnd, wenn man alleine ist.“
„Kannst Du das denn alleine?“
„Na klar. Ich hab doch ‘n Segelschein. Und ich segle ja auch schon etliche Jahre mit meinem Onkel. Der hat’s mir beigebracht. Wenn ich’s nicht könnte, würde er mir das Boot ja auch gar nicht geben. Schließlich hat er dafür ein Vermögen bezahlt.“
„Ist Dir das denn nicht zu langweilig so ganz allein?“
Martin schüttelte den Kopf. „Nö. Wenn man allein segelt, hat man fast immer was zu tun. Außerdem kann man auf dem Boot auch gut rumfaulenzen. Man liegt an Deck, hört Musik, blinzelt in die Sonne und läßt sich von den Wellen rumschaukeln. Ich find das ganz gut.“
„Freunde hast Du wohl gar keine?“
„Hatte ich mal. Früher, als ich noch zu Hause gewohnt hab. Aber seit ich im Internat bin… Weißt Du, das verläuft sich dann. Man sieht sich ja kaum noch. Und dann hat man auch nichts mehr gemeinsam. Naja, und die Leute im Internat, die passen nicht so richtig zu mir. Ich hab ein Stipendium gekriegt, deshalb bin ich auf dieser Schule. Meine Eltern könnten sich das sonst gar nicht leisten. Und all diese reichen Schnösel, die mit Papas Kohle mächtig auf die Pauke hauen, da kann ich nicht mithalten. Außerdem sind die mir zu oberflächlich.“
„Und ‘ne Freundin hast Du wohl auch nicht?“
Martin sah sie lachend an. „So fragt man Leute aus, wie?“
„Nee, sag doch mal. Ich hab Dich jedenfalls noch nie mit einer gesehen.“
„Aha. Beobachtest Du mich etwa?“
„Quatsch! Aber sowas würde doch auffallen.“
„Du bist gut. Bei den vielen Leuten in der Schule, da fällt Dir ausgerechnet bei mir auf, daß ich keine Freundin habe?“
„Ja, weil Du die meiste Zeit allein bist. In den Pausen stehst Du auf dem Schulhof rum, nachmittags sitzt Du meistens alleine in der Bibliothek, und wenn Du mal weggehst, geht nie einer mit. Das fällt schon auf.“
„Na, dann weißt Du ja, daß ich keine Freundin hab. Wieso fragst Du dann?“
„Ich hab gesehen, daß Du im Internat keine hast. Zu Hause weiß ich ja nicht.“
„Wie soll das wohl gehen? Das wär ‘ne schöne Freundschaft, wenn man sich nur in den Ferien mal sieht. Aber was ist denn mit Dir?“
Franziska machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach Gott, wenn ich wollte, hätt ich Dutzende. Was glaubst Du, wie die alle um mich rumschleimen. Franziska, die Tochter von der großen Angelika von Weerendonk und mit einem Vater, der selber nicht mal weiß, wieviel Kohle er hat. So eine hat man doch gerne zur Freundin. Zum Angeben auf alle Fälle. Zum Reden weniger. Von irgendwelchen Problemen, die man vielleicht gelegentlich hätte, will keiner was wissen. Franzi hat zu funktionieren. Franzi muß lachen, immer gut gelaunt sein. Franzi ist eben Franzi. Franzi, Franzi, Franzi, Franzi. Wenn ich das schon höre. Nee, Du, da kann ich wirklich drauf verzichten.“
Die letzten Worte hatte sie ganz leise gesprochen. Martin sah sie wieder an. Sie blickte starr geradeaus. In ihren Augen lag ein feuchter Schimmer. Er hätte gerne ihre Hand genommen, aber das traute er sich nicht. Stattdessen sagte er: „Na, jetzt fährst Du ja mit mir zusammen, und wir reden. Und gut gelaunt sein mußt Du auch nicht unbedingt, wenn Du nicht magst. Ich kann Dich sicher auch schlecht gelaunt ertragen. Oder traurig, falls Du traurig bist.“
Sie gab ihm keine Antwort. Sie sah nur zu ihm hinüber und lächelte ein wenig. Schweigend fuhren sie weiter. Jeder hing seinen Gedanken nach. Martin sinnierte über das arme, reiche Mädchen neben sich, und Franziska dachte voller Groll an die langweiligen Ferien, die ihr bevorstanden und beneidete Martin, der sich auf seine Segeltour freute. Der Gedanke daran, wie selbstverständlich freundlich er sie umsorgte, ließ sie schließlich ihren Groll vergessen. Dafür regte sich ihr schlechtes Gewissen, daß er für sie jetzt einen Umweg fahren sollte.
„Du kannst mich ja in Hannover absetzen“, sagte sie nach einer Weile. „Ich fahr dann mit dem Zug weiter.“
Martin sah sie an und verzog das Gesicht. „Mit Deinem Riesen-Koffer, ich glaub’s Dir wohl. Kommt doch gar nicht in die Tüte.“
„Aber dann mußt Du doch einen Umweg machen.“
„Macht doch nix. Ich hab doch Zeit. Nee, nee, ich fahr Dich schon bis nach Hause. Jetzt hab ich einmal gesagt, daß ich Dich mitnehme, jetzt zieh’n wir das auch durch. Wir fahren Richtung Münster, und dann sagst Du mir, wo ich herfahren muß, okay?“
„Warum machst Du das?“
Martin zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht weil ich Dich mag.“
„Weil ich die Tochter von Angelika von Weerendonk bin?“
„Sei nicht albern, Franziska“, entgegnete Martin schroff.
„Naja, kann doch sein, daß Du über die Tochter an die berühmte Mutter rankommst.“
„Und was hätte ich davon? Außerdem, als Du mich gefragt hast, ob ich Dich mitnehme, hab ich ja nicht mal gewußt, wer Du bist. Da stand einfach nur ‘n Mädchen, das nach ‘ner Mitfahrgelegenheit gefragt hat. Und was hab ich auch mit deiner Mutter zu tun?“
Franziska winkte ab. „Du hast ja keine Ahnung, was bei uns manchmal für Leute vor der Tür stehen. Einige kommen sogar bis aufs Grundstück. Wir haben schon die Polizei rufen müssen, um die wieder loszuwerden.“
„Mag ja sein, aber ich bin keiner von denen. Deine Mutter ist eine prima Schauspielerin, und ich guck sie mir auch gern im Fernsehen an, aber sonst ist sie mir herzlich egal. Ich habe nicht das Verlangen, sie kennenzulernen, ich will nicht mal ‘n Autogramm von ihr. Weil ich sowas albern finde. Und ob Du jetzt die Tochter von Angelika von Weerendonk oder die Tochter von Lieschen Müller bist, ist mir ebenso egal. Also vergiß das mal ganz schnell. Ich werde Dich nach Hause bringen, weil ich’s nicht besonders galant finde, Dich schmächtiges Persönchen mit einem Ungetüm an Koffer an irgendeiner Bahnstation zurückzulassen.“
„Bist Du jetzt sauer?“
„Quatsch. Ich bin nicht sauer, ich will nur nicht, daß Du Dir so’nen Blödsinn zusammenphantasierst.“
Sie senkte den Kopf. „Entschuldige.“
„Entschuldige was?“
„Na, das eben.“
Er blickte sie wieder an. Einen Moment sah es so aus, als wolle er seine Hand auf ihren Oberschenkel legen, aber dann zog er sie doch wieder zurück. „Es gibt keinen Grund für eine Entschuldigung“, sagte er leise. „Wir haben was geklärt, das war alles. Vielleicht reden wir jetzt wieder von was anderem.“
Sie lächelte ihn an. Er zwinkerte ihr zu. Sie legte ihre Hand auf seine. „Danke“, sagte sie und nahm die Hand wieder weg.
***
Je näher sie München kamen, um so voller wurde die Straße. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt. Martin mußte sich auf den Verkehr konzentrieren. Die Leute hatten es eilig, es wurde gerast, gedrängelt, geschnitten. Er klemmte sich zwischen zwei LKW auf der rechten Spur. Dadurch kamen sie zwar nur sehr langsam voran, aber es war ein deutlich entspannteres Fahren als zwischen den vielen eiligen PKW.
„Warst Du schonmal in München?“ fragte Franziska, nachdem sie den Münchener Autobahnring verlassen hatten und weiter auf der A9 Richtung Nürnberg fuhren.
„Nur auf dem Hauptbahnhof.“ Er grinste. „Als ich noch nicht über dieses schicke Gefährt verfügte, mußte ich immer in München umsteigen. Mehr als die Bahnhofshalle kenne ich von München also nicht. Und Du?“
Sie nickte. „Ich war schon ziemlich oft hier. Meine Mutter hat mich immer mitgeschleppt zu irgendwelchen Galas oder sowas. Da konnte sie mit mir noch Punkte holen, da war ich ja noch niedlich.“
„Ich finde, Du bist jetzt auch noch niedlich“, sagte er beiläufig.
„Du spinnst. Wo bin ich denn niedlich?“
„Na, überall eben. Obwohl, es stimmt schon, was Du sagst. Ziemlich kratzbürstig kannst Du sein. Vor allem, wenn Du über Deine Eltern redest.“
„Wie sind Deine eigentlich?“
„Meine Eltern? Och, die sind ganz okay. Vaddern war früher Fischer. Aber das lohnte sich dann nicht mehr. Jetzt arbeitet er auf der Werft in Kiel. Meine Mutter ist Krankenschwester. Geschwister hab ich keine. Leider.“
„Wieso leider? Ich bin ganz froh, daß ich keine hab. Noch mehr Familie, das wär ja nicht auszuhalten.“
„Hm, nö, also, kann ich nicht sagen. Ich hätt gern noch ‘n jüngeren Bruder, oder ‘ne Schwester. So eine wie Dich. Die könnt ich dann betüddeln. Das wär schon ganz schön.“
Franziska lachte. „Vorausgesetzt, die würde sich auch betüddeln lassen. Also, ich würd das nicht wollen. Obwohl, Du hast ja sogar schon damit angefangen. Hast mich in die Wolldecke eingepackt, mir Tee gekocht, mir was zu essen gemacht. War eigentlich gar nicht schlecht."
„Na, siehst Du. Auch solche wie Du mögen das.“
„Wie, solche wie ich?“
„Na, solche Kratzbürsten.“
Sie drehte sich zu ihm hin und hob drohend die Hand. „Ooch, Du!“ sagte sie aufgebracht.
„Hast Du selber gesagt, daß Du eine bist.“
„Das ist ja auch was anderes. Ich darf das von mir sagen. Du noch lange nicht.“
„Aha. Und was darf ich von Dir sagen?“ Martin amüsierte sich.
„Gar nichts. Ich bin wie ich bin und das läßt sich von anderen nicht beschreiben.“
„Soso. Dann denk ich mir eben meinen Teil. Das kannst Du mir ja nicht verbieten.“
„Und was denkst Du Dir?“
„Sag ich nicht. Soll ich ja nicht. Also tu ich’s auch nicht.“
„Du bist gemein. Du willst mich nur verscheißern.“
„Gar nicht. Du hast doch verlangt, daß ich nichts über Dich sage. Jetzt tu ich’s auch nicht, und jetzt zickst Du rum. Wie alt bist Du eigentlich?“
„Vierzehn. Und Du?“
„Ich werd im September neunzehn. Also hab ich doch richtig geraten.“
„Was hast Du richtig geraten?“
„Na, wie alt Du bist. Als Du mich gestern gefragt hast, ob Du mitkommen kannst, hab ich geschätzt, Du wärst dreizehn oder vierzehn.“
„Dreizehn, Du spinnst wohl. Ich wird bald fünfzehn.“
„So, wann denn?“
„Im März.“
Martin prustete los. „Im März. Na Du bist vielleicht gut, das sind ja noch neun Monate bis hin.“
„Na und? Ich fühl mich aber jetzt schon so.“
„Ach was, streiten wir uns nicht“, wiegelte Martin ab. „Du bist eben so alt wie Du Dich fühlst.“
„Siehst Du, nicht mal richtig streiten kann man sich mit Dir. Du bügelst gleich alles glatt.“
„Warum sollten wir uns auch streiten? Doch nicht wegen sowas. Außerdem streite ich mich überhaupt nicht gerne.“
„Ich eigentlich auch nicht“, sagte sie versöhnlich. „Nur, manchmal kommt das eben so. Und die meisten anderen zanken dann auch zurück.“
„Ich nicht. Mir ist das zu blöd. Unnütze Energieverschwendung. Bringt nix und macht nur böse Leute. Ich finde nett sein viel schöner.“
„Friedensengel.“
Martin zuckte mit den Schultern. „Damit kann ich leben.“
Franziska lachte.
„Siehst Du, so siehst Du richtig lieb aus. Viel besser, als wenn Du so ’n grimmiges Gesicht ziehst. Meinetwegen könntest Du ruhig öfter lachen.“
Sie sagte nichts mehr, sondern warf sich zurück in die Sitzpolster und schaute nach draußen. Nachdem sie eine Weile still dagesessen hatte, beugte sie sich vor und drückte auf den Einschaltknopf des Autoradios. Es schaltete sich jedoch nicht das Radio ein sondern der CD-Spieler.
„Was ist das denn?“ rief sie angewidert.
„Beethovens sechste Symphonie“, antwortete Martin. „Die wollte ich eigentlich heute früh hören, als die Sonne aufging.“
„Und warum hast Du nicht?“
„Weil Du so schön friedlich neben mir geschlafen hast. Ich mochte Dich nicht wecken.“
„Müssen wir das jetzt hören?“
„Nein, natürlich nicht. Schalt’s einfach wieder aus, wenn’s Dir nicht gefällt.“
„Aber Dir gefällt’s?“
„Klar, sonst würd ich’s mir ja nicht anhören.“
„Dann laß ich’s.“
„Aber warum denn? Wenn Du’s doch nicht magst.“
„Vielleicht mag ich’s ja doch. Keine Ahnung. Ich hab sowas noch nie gehört. Außerdem kann ich ja auch mal was tun, was Du möchtest. Bisher hast Du immer nur getan, was ich wollte.“
Martin lachte. „Wie komm ich denn dazu?“
„Weil ich das so will. Weil ich das tun will, was Du möchtest.“
Er amüsierte sich über ihre sonderbare Logik, sagte aber nichts dazu.
Dann lauschten sie schweigend der Musik und betrachteten die sommerlich heiße Landschaft, die neben ihnen vorbeizog. Der Verkehr war schwach und lief ruhig und gleichmäßig. Martin war kein besonders sportlicher Fahrer. Mit mäßiger Geschwindigkeit glitt das alte Auto dahin. Zum Schnellfahren wäre es auch gar nicht geeignet gewesen. Von Zeit zu Zeit warf Martin einen Blick auf seine Beifahrerin, die völlig entspannt neben ihm saß. Einmal fing sie seinen Blick auf und lächelte ihn an.
„Es ist schön“, sagte sie leise. „Man wird ganz ruhig, wenn man zuhört und total entspannt. Manchmal hab ich das Gefühl, der Mann, der das geschrieben hat, will eine Geschichte erzählen.“
„Ludwig van Beethoven?“ Martin nickte. „Das will er auch. Das Stück hat einen Namen. Pastorale heißt es, es ist eine Symphonie, und es erzählt vom Leben auf dem Land. Vier Sätze hat diese Symphonie. Der erste Satz heißt: Heitere Gedanken bei der Ankunft auf dem Land. Die nächsten drei Sätze handeln von der Zeit vor, während und nach einem Gewittersturm. Man hört es auch ganz deutlich. Zuerst ist wirklich alles heiter, dann zieht das Gewitter auf und es wird immer bedrohlicher. Dann bricht der Sturm los und alles versinkt im Chaos. Danach ist wieder alles in Ordnung, und es wird wieder ganz ruhig und friedlich.“
Franziska nickte. „Ja, das konnte man deutlich merken. Es hört sich toll an. Hätt ich nicht gedacht. Ich dachte immer, solche Musik ist nur was für alte Leute.“
„Nein, ist sie nicht. Wenn man weiß, was der Komponist einem sagen will und dann genau zuhört, dann kann man auch rauskriegen, wie er einem die Geschichte erzählt.“
„Du nimmst alles ziemlich ernst, oder?“
„Och, ernstnehmen will ich nicht sagen. Ich weiß eben gerne, auf was ich mich einlasse. Obwohl, als ich gestern Ja gesagt habe, daß Du mit mir mitfahren kannst, da hab ich’s nicht gewußt. Jetzt ist es mir ein bißchen klarer.“
„Und, tut’s Dir leid?“
„Gar nicht. Im Gegenteil, ich bin froh, daß ich Ja gesagt hab. Bis jetzt gefällt’s mir ganz gut.“
„Aber so ganz überzeugt bist Du nicht?“
„Naja, so genau kenn ich Dich ja nun auch wieder nicht.“
„Was gefällt Dir denn nicht?“
„Daß Du ziemlich verbittert zu sein scheinst. Und so wenig fröhlich. Das finde ich schade.“
„Wozu soll ich fröhlich sein? Da hab ich doch nun wirklich keinen Grund zu.“
„Warum denn nicht? Es ist doch so ein wunderbarer Tag. Findest Du nicht?“
„Nee. Für Dich vielleicht. Du fährst nach Hause, zu Deinen Leuten. Da kann man sich schonmal freuen. Und auf was freue ich mich? Ich fahre in dieses riesige, protzige, leere Schloß. Na toll.“ Sie rutschte auf ihrem Sitz herum. „Kannst Du nochmal anhalten? Ich muß schon wieder.“
„In ein paar Kilometern kommt ‘ne Raststätte. Hältst Du’s solange noch aus? Da kannst Du dann ordentlich aufs Klo gehen.“
„Siehst Du, das meine ich. Du kümmerst Dich. Sogar wenn ich aufs Klo muß. Du denkst immer an andere. Sowas kenn ich gar nicht.“
„Aber, Franziska, das liegt doch auf der Hand. Du bist ein Mädchen, und für ein Mädchen ist das doch viel besser so.“
„Da, schon wieder. Du sagst Franziska zu mir, wahrscheinlich weil Du mitgekriegt hast, daß ich das ewig blöde Franzi nicht ausstehen kann.“
Martin nahm kurz beide Hände vom Lenkrad und hielt sie hoch. „Naja“, sagte er nur.
„Hast Du noch so ‘ne Geschichte, Martin?“ fragte Franziska, als sie wieder auf der Autobahn fuhren.
„Was denn für ‘ne Geschichte?“
„Na, so eine aus Musik, wie die vorhin.“
Martin lächelte sie an. „Möchtest Du das wirklich hören?“
„Klar, sonst würd ich Dich nicht fragen.“
„Jetzt hast Du heute zum ersten Mal meinen Namen gesagt. Hast Dir also gemerkt, wie ich heiße“, sagte er und schob eine CD in den Schacht.
„So einen wie Dich vergißt man nicht so leicht“, antwortete sie leise.
Martin räusperte sich vernehmlich. Ihre Bemerkung hatte ihn ein wenig verlegen gemacht. „Also, in dem Stück hier werden die vier Jahreszeiten beschrieben. Ein Italiener hat das geschrieben. Antonio Vivaldi hieß der. Hör mal zu. Vielleicht erkennst Du die Jahreszeiten ja.“
Während die Musik lief, sagte sie kein Wort. Martin hatte das Gefühl, als hörte sie tatsächlich zu. Also schwieg er ebenfalls.
„Schön war das“, sagte sie, als die Musik verklungen war. „Ich glaube, ich habe die Jahreszeiten erkannt. Losgegangen ist es mit dem Frühling. Man hörte richtig, wie alles blühte und grünte. Dann kam der Sommer, und die Hitze lag über dem Land. Alles ging so träge dahin. Im Herbst wurde es dann wieder lustig. Die Leute waren bei der Ernte, und die war wohl ziemlich gut ausgefallen. Der Winter zum Schluß war dann eiskalt. Man konnte den Frost klirren hören. Stimmt’s?“
Martin nickte. „Ja, es stimmt. Genauso hab ich’s auch gehört. Freut mich, daß es Dir gefallen hat. Aber Du merkst, man muß schon ziemlich genau hinhören. Disco ist das jedenfalls nicht.“
Franziska lachte. „Nee, ganz bestimmt nicht.“ Sie sah ihn an. „Du magst keine Disco?“
„Nicht wirklich. Mir ist das zu laut und zu hektisch. Ich hab’s lieber ruhig.“
„So wie auf dem Meer, wenn Du segelst?“
„So wie auf dem Meer. Obwohl, ruhig ist es da auch nicht immer. Wenn Du in einen Sturm gerätst, das kann dann schon ziemlich laut sein.“ Er lachte. „Und naß vor allen Dingen.“
„Und was machst Du dann?“
„Na, naß werden, was sonst? Aber irgendwann hört der Sturm ja auch wieder auf. Dann kannst Du Dich wieder trocknen lassen.“
„Und einen Schnupfen kriegen.“
„Dagegen gibt’s heißen Tee. Den machst Du Dir dann, wenn Du Dich wieder in die Kajüte wagen kannst. Dann ziehst Du die nassen Klamotten aus, läßt Dich vom Wind trockenpusten und trinkst Deinen Tee dabei.“
„Wie, Du ziehst die Klamotten aus?“
„Naja, wenn Du die nassen Plünnen anbehältst, holst Du Dir garantiert was weg. Also runter mit dem klammen Zeug. Es sieht Dich ja keiner.“
Franziska lachte laut auf. „Das stell ich mir lustig vor, wenn Du splitterfasernackt auf dem Boot rumturnst und dabei heißen Tee trinkst.“
„Also, lustig ist das nicht gerade. Aber was willst Du machen? Deine Sachen sind ja alle feucht. Lustiger ist es da schon, wenn die Sonne vom Himmel knallt. Dann kannst Du Dich an Deck ausstrecken und Dich von allen Seiten schön braun anbraten lassen. Und statt heißem Tee gibt’s dann eben kalten. Literweise.“
„Und dann läufst Du die ganze Zeit nackt da rum?“
„Naja, oft eben. Wie gesagt, es sieht Dich ja keiner. Du bist ja ganz allein auf See. Wozu sollst Du Dir dann also was anziehen, wenn’s warm genug ist?“
Franziska dachte einen Moment lang nach. „Stimmt. Da hast Du eigentlich recht. Warum sollte man. Jedenfalls kriegt man so keine weißen Streifen.“ Sie setzte sich wieder in ihrem Sitz zurecht. „Ich durfte das nie. Schon als kleines Kind mußte ich immer so ‘nen doofen Bikini anziehen. Oh Gott, man durfte doch nicht nackt rumlaufen.“
„Zu Hause mach ich das ja auch nicht. Nur auf dem Boot eben, wenn ich alleine bin. Und weiße Streifen stören mich nicht besonders. Die sieht ja sowieso keiner.“
„Auch wieder wahr. Obwohl, bei Mädchen sieht man sie schon. Die vom Oberteil jedenfalls. Je nachdem was man für ‘n Shirt anhat.“
Martin betrachtete sie eingehend. „Jetzt sieht man aber keine.“
Sie lachte. „Kein Wunder. Bis jetzt hab ich ja auch noch nicht in der Sonne gelegen. Wie denn, und wo denn auch?“
„Naja, in Euerm Garten hast Du sicher Gelegenheit dazu. Und wenn wir uns dann nach den Ferien wiedertreffen, bist Du garantiert so braun wie ein Neger.“ Er lachte. „Von bestimmten Stellen mal abgesehen.“
„Die ich Dir aber nicht zeigen werde“, meinte sie verschmitzt.
„Das hab ich ja auch gar nicht verlangt. Ich kann’s mir nur vorstellen.“
„Soso, Du stellst Dir also die weißen Stellen an den Körpern der Mädchen vor. Ziemlich abgefahren sowas, findest Du nicht?“
„Quatsch! Was interessieren mich denn die Bikinistreifen bei den Mädchen?“
„Hast Du doch gerade gesagt, Du stellst es Dir vor.“
„Bei Dir, jetzt. Weil wir drüber geredet haben. Aber doch nicht bei allen.“
„Also bei mir interessieren Dich die weißen Stellen?“
„Aber nein. Du verstehst mich völlig falsch. Ich hab doch nur gesagt…“
„Ich weiß schon was Du gesagt hast“, lachte sie. „Und ich weiß auch, wie man Dich ganz schön in Verlegenheit bringen kann.“
„Boh, Du, Du hast mich auf die Rolle genommen. Das war jetzt aber ziemlich fies.“
„Fand ich gar nicht. Auf jeden Fall läßt Du Dich mit sowas noch auf die Rolle nehmen und bist wenigstens nicht so abgebrüht wie die anderen alle.“
„Wie wär’s denn mal langsam mit Mittagessen?“ wechselte er das Thema. „Hast Du gar keinen Hunger?“
„Ein bißchen schon. Aber es ist nicht so schlimm. Ich kann auch ohne. Ich bin ja nicht meine Mutter, die schier hysterisch wird, wenn sie nicht pünktlich ihr Mittagessen kriegt.“
Da war er wieder, der bittere Zug um ihren Mund. Schnell sagte Martin daher: „Ich hab aber was dabei. Wenn Du Lust hast, halten wir irgendwo an und machen Picknick.“
Der bittere Zug verschwand. „Ehrlich? Au ja, das fänd ich super. Picknick am Waldrand. Wir müßten uns nur eine schöne Stelle aussuchen.“
„Hast Du denn überhaupt Zeit für sowas?“
„Sicher hab ich Zeit. Ist doch egal wann ich ankomme. Auf mich wartet doch keiner. Und solange ich mit Dir zusammen bin, hab ich wenigstens jemand zum Quatschen.“
Martin verließ die Autobahn an der nächsten Ausfahrt. Ein paar Kilometer weiter fuhren sie durch ein kleines Dorf. Die Hauptstraße lag wie ausgestorben in der gleißenden Mittagssonne. An einer Tankstelle am Ortsausgang hielt er an.
„Was willst Du denn trinken?“
„Am liebsten nur Sprudelwasser. Alles andere macht nur noch mehr durstig.“
Martin nickte und stieg aus. Während er tankte, nahm er sein Portemonnaie aus dem Handschuhfach. Er sah sie dabei lächelnd an und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte zurück.
Er zahlte und kam mit zwei großen Flaschen Mineralwasser und einer Tüte Brötchen zurück. Er gab sie ihr, als er einstieg. Sie drückte beide Flaschen gegen ihre Wangen.
„Aaah, schön kalt“, sagte sie.
Martin lachte.
Sie fuhren weiter. Die Landstraße verlief inmitten von Weinfeldern. An einem Feldweg bog er ab und fuhr einen kleinen Berg hinauf, bis die Felder zu Ende waren und der Wald begann. Dort hielt er an und schaltete den Motor aus.
„Gefällt Dir der Platz?“
Franziska stieg aus und sah sich um. In der Ferne war das Dorf zu sehen, ansonsten nur Weinfelder. Kein Mensch weit und breit. Die Luft flimmerte in der Mittagshitze. Martin breitete die Wolldecke unter einem Baum im Schatten aus. Dann nahm er einige Plastikdosen aus dem Kofferraum. Darin befanden sich Würstchen, Käse, kleine Tomaten und Obststücke.
Sie setzten sich auf die Decke. Er deutete auf die Plastikdosen. „Hier, greif zu. Nicht besonders raffiniert, aber ich hoffe, es schmeckt Dir trotzdem.“
„Woher wußtest Du, daß wir so mittagessen würden?“
„Ich mach das immer so. Restaurant ist mir zu teuer. Und weil Du mitfahren wolltest, hab ich eben einfach ein bißchen mehr mitgenommen. Wenn Du nicht hättest mittagessen wollen, wären wir einfach weitergefahren. Aber ich dachte, vielleicht magst Du sowas ja auch.“
„Keine Ahnung. Ich hab sowas noch nie gemacht. Aber bis jetzt gefällt’s mir ganz gut.“
„Na, dann bedien Dich.“ Er reichte ihr eine der beiden Mineralwasserflaschen. „Hier, trink. Möchtest Du ‘n Becher?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nee laß mal. Das geht schon so. Am besten teilen wir uns die Flasche. Dann kann die andere noch zu bleiben und wird nicht schal. Sie trank einen Schluck und gab ihm die Flasche zurück.
„Meinetwegen, wenn Dir das nichts ausmacht“, sagte er.
„Warum sollte es? Oder hast Du die Maul- und Klauenseuche?“
Martin lachte. „Nee, hab ich nicht.“
Er nahm ihr die Flasche ab und trank. Fasziniert sah Franziska zu, wie er das Mineralwasser aus der Flasche in den Mund laufen ließ und schluckte, ohne die Flasche abzusetzen.
„Wie geht das denn?“
„Du darfst den Flaschenhals nicht ganz in den Mund nehmen, sondern mußt ihn auf die Unterlippe legen und so an die Oberlippe drücken, daß oben noch ein bißchen Luft in die Flasche kann. Dann nuckelst Du Dich nicht daran fest.“ Er gab ihr die Flasche zurück. „Hier, versuch’s mal.“
Sie versuchte es, und es klappte.
„Siehst Du, so geht’s. Jetzt kannst Du aus der Flasche trinken wie die Maurer auf dem Bau.“
Franziska kicherte. „Von Dir kann man richtig noch was lernen.“
„Ja, wie man aus der Flasche trinkt. Na toll.“
„Und wie man Geschichten aus der Musik heraushört. Und wie man Picknick macht und auf dem Autobahnrastplatz frühstückt. All sowas wußte ich vorher gar nicht. Ich bin froh, daß Du mich mitgenommen hast.“
„Du scheinst das ja wirklich ehrlich zu meinen?“
„Na sicher. Denkst Du, ich will Dich verscheißern? Wozu sollte ich?“
„Keine Ahnung. Ich dachte, Mädchen wie Du sind manchmal so.“
„Manche vielleicht. Ich nicht. Ich sage immer, was ich meine. Hat mir schon ‘ne Menge Ärger eingebracht. Besonders mit meiner lieben Mutter.“ Ihre Stimme bekam wieder diesen bitteren Unterton. „Die kann das nämlich prima, Leuten Honig um’s Maul schmieren und Dinge sagen, die sie gar nicht so meint. Hauptsache, es bringt ihr Vorteile.“
„Warum redest Du immer so negativ von Deiner Mutter?“
„Weil’s nicht viel Positives zu sagen gibt.“
„Immerhin hat sie Dich geboren und aufgezogen und sorgt dafür, daß Du eine gute Ausbildung kriegst. Manche beneiden Dich bestimmt."
„Ja, sie hat mich auf dieses Scheiß-Internat abgeschoben, damit ich ihr nicht im Weg bin.“ Ihre Stimme klang jetzt richtig böse. „Weißt Du, wann sie mich das letzte Mal mit in die Ferien genommen hat? Da war ich acht oder neun. Und sowas hier“, sie zeigte auf die offenen Dosen auf der Decke und schwenkte dann den ausgestreckten Arm herum, „Picknick am Waldrand mit Würstchen, Brot und Sprudelwasser, undenkbar. Du liebe Zeit, sie würde doch ihren wertvollen Schauspielerinnenhintern nicht auf den Boden setzen. Es sei denn, es würde im Film verlangt. Aber dann müßte vorher jemand die Stelle desinfiziert haben.“
Martin sah, daß ihre Augen feucht wurden. Er legte ihr die Hand auf den Arm. Es war das erste Mal, daß er das tat. Und es fühlte sich gut an.
„Jetzt komm, sei nicht so böse. Denk lieber dran, daß jetzt Ferien sind, es ist Sommer, die Sonne scheint, und wir sitzen hier schön im Schatten und essen. Was vermißt Du denn?“
Franziska sah ihn an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Du versuchst wohl immer, aus allem das Beste rauszuholen, was?“
„Na klar. Warum soll ich schlecht drauf sein, wenn’s mir doch gut geht?“
„Ja, warum eigentlich?“ sagte sie leise und biß in ihre Wurst.
„Du siehst viel schöner aus, wenn Du lachst“, stellte er fest. „Dieser grimmige Gesichtsausdruck steht Dir gar nicht. Du solltest öfter lachen und nicht immer so böse sein.“
„Ich bin nicht böse, nur ein bißchen traurig. Warum kann ich nicht so sein wie Du?“
„Weil Du nicht Ich bist. Du bist Du. Du mußt Dich nur leiden können.“
„Kannst Du mich leiden?“
Martin lachte. „Klar. Sonst würd ich nicht mit Dir hier sitzen.“
Sie nickte und widmete sich wieder ihrem Essen. Als Martin danach die Reste zusammenpackte und wieder im Auto verstaute, fragte sie:“ Du, Martin, können wir nicht noch ein bißchen hierbleiben? Es ist so schön hier. So friedlich und so still?“
„Natürlich können wir, wenn Du möchtest. Ich hab keine Eile. Ich hab Ferien.“
Franziska streckte sich auf der Decke aus. „Warten deine Leute nicht auf Dich?“
„Schon. Aber ich hab nicht gesagt, wann ich genau komme. Irgendwann heut Abend oder in der Nacht, hab ich gesagt. Je nachdem, wie ich durchkomme. Die machen sich keine Sorgen.“
Er setzte sich neben sie auf die Decke und betrachtete sie. Sie gefiel ihm, wie sie so da lag, mit geschlossenen Augen, in ihren lustigen, bunten Shorts und dem knappen Spaghettiträgerhemdchen, das ein Stück ihres Bauches freiließ. Schade, daß sie so verbittert war. Er war versucht, ihre Hand zu nehmen, ließ es dann aber doch.
Am frühen Nachmittag fuhren sie weiter. Gegen Abend kamen sie bei Franziska zu Hause an. Sie wohnt wirklich in einem Schloß, dachte er, als er durch das hohe, schmiedeeiserne Tor und die lange Auffahrt hinauffuhr.
„Willst Du nicht noch ein bißchen bleiben?“ fragte sie, während er ihren Koffer vom Rücksitz wuchtete.
Er schüttelte den Kopf. „Nee, Du, ich muß weiter. Schließlich hab ich noch dreihundert Kilometer vor mir. Irgendwann will ich dann schon mal ankommen.“
„Schade“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. „Es war so ein schöner Tag. Schade, daß er jetzt zu Ende geht.“
Martin nahm ihre Hand und hielt sie fest. „Ich hab mich jedenfalls gefreut, daß Du mitgekommen bist. Es war schön mit Dir. Aber jetzt muß ich los.“
Sie gab seine Hand nicht frei. „Du Martin“, sagte sie und sah ihm dabei fest in die Augen. „Danke, daß Du mich mitgenommen hast. Und dafür sogar einen Umweg gemacht hast.“
Er drückte ihre Hand. „Ich hab’s gern gemacht, Franziska. Du warst ein toller Kumpel.“
Verlegen sah sie zu Boden. „Ich würd Dir gern ein Küßchen geben.“
Er lachte. „Niemand hindert Dich.“
Ganz vorsichtig hauchte sie ihm einen kleinen Kuß auf die Wange. Er strich ihr liebevoll über den Kopf. Sie lächelte ihn an. „Wann fängt denn Deine Segeltour an?“
„Samstag Nachmittag will ich los. Ein paar Tage noch zu Hause, das Boot fertigmachen, Vorräte einkaufen und dann ab. Ich freu mich schon drauf.“
„Na, dann wünsch ich Dir ‘ne schöne Tour. Wie sagt man? Mast und Schotbruch, und immer ‘ne Handvoll Wasser unter’m Kiel.“
„Danke schön, lieb von Dir.“ Martin freute sich wirklich. „Mach’s gut, Franziska. Schöne Ferien, und wir sehen uns im neuen Schuljahr wieder.“
Er stieg in sein Auto und fuhr davon. Franziska winkte ihm nach, bis er um die Kurve verschwunden war. Dann fing sie an zu weinen.
***
Niemand sah sie. Das Haus war verlassen, Gärtner, Putzfrau und Haushälterin hatten ihre Arbeit längst beendet. Sie schleppte den schweren Koffer in die große Eingangshalle. Auf dem Tisch in der Küche lag ein Zettel: Liebe Franzi, Du wirst sicher Hunger haben, wenn Du nach Hause kommst. Im Kühlschrank steht eine Kleinigkeit zu essen für Dich.
Also hatte doch jemand an sie gedacht. Sie öffnete den Kühlschrank und fand eine Platte mit belegten Broten. Sie mußte lächeln. Fast wie bei Martin, heute Mittag, dachte sie. Nur eben nicht aus Plastikdosen auf Papptellern sondern fein angerichtet auf edlem Porzellan. Sie nahm die Platte und trug sie hinaus auf die Terrasse. Es war noch immer sehr warm. Ihr Blick fiel auf den Swimmingpool, in dem sich das Sonnenlicht spiegelte. Plötzlich hatte sie Lust, schwimmen zu gehen. Sie brachte die Platte mit den Broten wieder in die Küche. Als sie zurück in den Garten kam, dachte sie an Martin. Was hatte er gesagt? „Es sieht Dich ja keiner. Du bist ja ganz allein auf See. Wozu sollst Du Dir also was anziehen, wenn’s warm genug ist?“
„Eben“, murmelte sie. „Mich sieht hier auch keiner.“ Sie zog sich aus und ließ ihre Sachen achtlos neben dem Pool liegen. Dann sprang sie ins Wasser. Es war wunderbar kühl und erfrischend. Sie hatte noch nie nackt im Pool gebadet und war ganz überrascht, wie angenehm es war. Überhaupt beschloß sie, an diesem Abend die Kleider wegzulassen. Martin hatte recht, wozu sollte sie sich etwas anziehen, wo es so schön warm war. Also holte sie ihr Abendessen wieder aus der Küche und setzte sich auf die Terrasse. Zu den Broten trank sie kalte Milch. Danach blieb sie einfach sitzen, sah in die untergehende Sonne und dachte über den vergangenen Tag nach.
Was sie eigentlich dazu bewogen hatte, Martin zu bitten, sie mitzunehmen, konnte sie gar nicht mal mehr sagen. Es war einer ihrer spontanen Einfälle gewesen, die sie manchmal hatte. Aus heiterem Himmel kam sie dann auf die verrücktesten Sachen, nicht immer zur Freude ihrer Mitmenschen und manchmal nicht einmal zu ihrer eigenen Freude. Aber diesmal hatte sie richtig gelegen. Die Fahrt mit Martin war eine gute Idee gewesen. Er war nett, man konnte sich gut mit ihm unterhalten und vor allem, er hatte keine Sekunde lang versucht, sie anzubaggern. Im Gegenteil, er hatte ihr das Gefühl gegeben, sie zu mögen, aber auf eine kameradschaftliche Art. Ihretwegen hätte die Fahrt noch ewig weitergehen können.
Aber jetzt war er weg, und sie war wieder allein. Erst wenn die Ferien zu Ende waren, würde sie ihn wiedersehen. Gerne hätte sie sich mit ihm für die Rückfahrt verabredet, aber sie hatte ja nicht mal seine Telephonnummer. Wie elektrisiert sprang sie auf. Fünf Minuten später hatte sie die Nummer. Es war ganz einfach gewesen. Sie wußte seinen Namen und wo er wohnte. Allzu viele Schöllers würde es in Neustadt nicht geben, dachte sie. Tatsächlich gab es nur zwei. Der eine hatte einen Fischgroßhandel, der konnte es nicht sein. Martin hatte erzählt, daß sein Vater auf einer Weft in Kiel arbeitete. Also war es die andere Nummer.
Sie war schon dabei, die Nummer zu wählen, doch dann legte sie das Telephon wieder zurück. Was würde das nützen? Martin war doch noch unterwegs. So schnell konnte er gar nicht zu Hause sein. Aber immerhin wußte sie jetzt seine Telephonnummer und seine Adresse. Sie schrieb beides auf einen Zettel, den sie auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer deponierte. Vielleicht würde sie ihn morgen anrufen.
Irgendwann später wachte sie auf, weil sie entsetzlich fror. Um sie herum war alles dunkel. Dann stellte sie fest, daß sie in einem Liegestuhl auf der Terrasse lag. Noch immer völlig nackt. Langsam erinnerte sie sich. Sie hatte sich dorthin gesetzt, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Wo sie doch schon den Sonnenaufgang nicht hatte sehen können, von dem Martin behauptete, er sei so schön, weil sie geschlafen hatte. Nun hatte sie den Sonnenuntergang ebenfalls verschlafen. Leise kichernd ging sie in ihr Zimmer und legte sich ins Bett. Eine Minute später schlief sie bereits wieder.
Der nächste Morgen brachte ihr eine Menge Vorwürfe von der Haushälterin ein. Die Türen hatten über Nacht offengestanden, ihre Kleider lagen am Swimmingpool, ihr Koffer stand noch in der Halle, auf der Terrasse gammelten die Essensreste vor sich hin, und die junge Lady lag im Bett und schlief.
Sie hörte sich das alles an und lächelte dazu. Was war das alles gegen den schönen Tag, den sie gehabt hatte? Sie ließ sich das Frühstück servieren. Anschließend schwamm sie ein paar Runden im Pool, diesmal allerdings sittsam mit einem Bikini bekleidet. Martin würde das nicht nötig haben auf seinem Boot. Sie dachte unablässig an ihn. Wenn sie doch nur mitfahren könnte. Immer wieder nahm sie das Telephon, um ihn anzurufen und legte es doch immer wieder weg.
Nein, anrufen war keine gute Idee. Immerhin konnte es ja sein, daß er nein sagen würde. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren. Lieber wollte sie einfach zu ihm fahren. Wenn sie dann vor ihm stand, würde er sie schon mitnehmen. So wie in Klagenfurt auch. Einmal hatte sie ihn ja schon überrumpelt. Warum sollte das nicht ein zweites Mal klappen?
Nur, diesmal würde er wissen, auf was er sich einließ. Obwohl, eigentlich hatte es doch gestern ganz gut geklappt. Sie mochte ihn jedenfalls. Und er sie wohl auch. Jedenfalls hatte sie das Gefühl gehabt. Immerhin hatte er es sich gefallen lassen, daß sie ihm ein Küßchen gab.
Den ganzen Tag hindurch überlegte sie hin und her. Dann stand ihr Entschluß fest. Abends sprach sie mit dem Gärtner.
„Aber Kind, Du kannst doch nicht mutterseelenallein mit einem wildfremden jungen Mann über die Ostsee segeln.“ Der Gärtner war alles andere als begeistert von Franziskas Plan. „Wie stellst Du Dir das denn vor? Du fährst nach Neustadt, stellst Dich im Hafen vor sein Boot, und wenn er kommt, sagst Du einfach, so hier bin ich, ich will mitfahren.“
„So ungefähr“, antwortete Franziska.
„Und wenn er Nein sagt?“
„Tut er nicht. Er hat mich ja auch mit hier her genommen.“
„Das war diese eine Fahrt an einem einzigen Tag. Aber jetzt soll er Dich gleich für zwei Wochen mitnehmen. Das ist doch ganz was anderes. Außerdem verstehst Du gar nichts vom Segeln.“
„Na und? Das kann man ja lernen. Ich will einfach mit jemandem zusammen sein in den Ferien. Können Sie das nicht verstehen, Herr Mäurer?“
„Doch, natürlich versteh ich das, Kind. Trotzdem kannst Du nicht so einfach abhauen, ohne daß Deine Eltern was davon wissen.“
„Ach, denen ist das doch sowieso egal. Die kümmern sich ja sonst auch nicht um mich. Oder wo sind die, wenn ich aus der Schule komme? Hier sind sie jedenfalls nicht. Also wird es sie auch nicht interessieren, ob ich nun hier bin oder mit Martin auf dem Boot.“
„Oh doch. Es wird sie bestimmt interessieren, mit wem und wo ihre Tochter ihre Ferien verbringt. Sie kennen diesen jungen Mann ja nicht mal. Da kann ich mir nicht vorstellen, daß sie damit einverstanden sind, daß Du mit ihm herumziehst.“
„Wir ziehen nicht herum. Er will über die Ostsee segeln. Von Neustadt nach Rügen und dann weiter nach Bornholm, hat er gesagt. Und da will ich eben mit. Am Samstag fahr ich nach Neustadt. Auf jeden Fall. Mit dem Zug. Ich hab schon nachgesehen. Es gibt Züge, die fahren von hier aus direkt da hin. Sie bräuchten mich bloß nach Münster zum Bahnhof zu bringen. Machen Sie das?“ Sie verlegte sich aufs Betteln. „Bitte, bitte, Herr Mäurer.“
Der Gärtner sah sie an. Er seufzte. „Also gut, Du Quälgeist. Ich werde Dich zum Bahnhof fahren. Aber Deinen Eltern sagst Du Bescheid. Ich will nicht, daß es hinterher Ärger gibt.“
Franziska fiel dem älteren Mann um den Hals und gab ihm einen Kuß auf die Wange. „Sie sind der Größte, Herr Mäurer“, rief sie und lief davon.
***
Am darauffolgenden Samstag fuhr der Gärtner Mäurer mit Franziska zum Bahnhof. Sie hatte sich einen Zug herausgesucht, der morgens gegen zehn Uhr abfuhr und nachmittags vor drei in Sierksdorf ankam, dem nächsten IC-Halt vor Neustadt. Für den Rest des Weges würde sie sich ein Taxi nehmen. Martin hatte davon gesprochen, am Nachmittag lossegeln zu wollen. Sie hoffte also, rechtzeitig anzukommen, bevor er weg war.
Der Zug war brechend voll, kein Wunder, an einem Samstag Morgen zu Beginn der Sommerferien. Sie war froh, daß sie einen Platz reserviert hatte. Natürlich hatte ihn jemand besetzt. Mit Hilfe des Schaffners gelang es ihr schließlich, ihren Anspruch darauf geltend zu machen. Zum Glück hatte sie nicht viel Gepäck dabei. In der Hoffnung auf schönes Wetter hatte sie nur einige Sommersachen in einen Rucksack gepackt, den sie mit einiger Mühe neben den Koffern ihrer Mitreisenden in der Ablage über dem Sitz unterbringen konnte.
Wenigstens brauchte sie nicht umzusteigen. Sie machte es sich bequem und sah aus dem Fenster. An etwas zum Lesen oder an Verpflegung hatte sie nicht gedacht. Ein wenig neidisch sah sie daher zu, wie sich die Leute um die Mittagszeit ihre mitgebrachten Butterbrote und Getränke schmecken ließen. Gut, es gab einen Speisewagen, in dem sie sich etwas zu essen hätte kaufen können. Aber sie traute sich nicht, ihren Sitz zu verlassen. Die Gänge in den Wagen waren voll mit Leuten, die keinen Sitzplatz mehr bekommen hatten. Sie fürchtete daher, daß der ihre blitzschnell wieder von jemandem besetzt worden wäre. Abgesehen davon war auf den Gängen ohnedies kein Durchkommen, und bis zum Speisewagen hätte sie sich durch mindestens drei Waggons durchkämpfen müssen. Also verdrängte sie den Gedanken an Essen und Trinken. Statt dessen malte sie sich aus, wie es mit Martin auf dem Segelboot werden würde.
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Der Zug war pünktlich abgefahren und kam ebenso pünktlich an ihrem Zielbahnhof an. Geraume Zeit vorher schon hatte sie sich bis in die Nähe der Tür durchgedrängelt, um sicher zu gehen, auch rechtzeitig aussteigen zu können. Eine unnötige Sorge, wie sich herausstellte, denn diese Absicht hatten auch eine ganze Reihe anderer Fahrgäste. Dieses Sierksdorf war anscheinend ein gesuchter Badeort an der Ostsee. Sie mußte ein Stück laufen, bis sie ein Taxi fand. Einmal mehr war sie froh, kein schweres Gepäck dabei zu haben.
Am Hafenrestaurant im Ancora Yachthafen ließ sie sich absetzen. Der Taxifahrer meinte, sie würde dort am ehesten etwas über Martins Boot und seinen Liegeplatz herausfinden können. Sie fand einen freien Tisch auf der Terrasse vor dem Restaurant, von der aus man den Yachthafen überblicken konnte. Die Bedienung schüttelte den Kopf, als Franziska sie nach Martin Schöller fragte.
„Aber ich frag mal den Chef. Der kennt ihn sicher.“
„Den Martin, joh, den kenn ick“, sagte der, nachdem er an Franziskas Tisch gekommen war. „Wenn, dann fährt der mit der ‘Blue Star‘ raus, dat is dat Schipp van sin Onkel. Liecht da drüben an den rechten Landesteg. Ein‘ von die hinteren Plätze, soweit ick dat witt.“
Franziska bedankte sich und machte sich auf den Weg. Aber so einfach war das Segelboot nicht zu finden unter den vielen Yachten, die an den Landestegen festgemacht waren. Sollte er etwa doch schon weg sein? Ein leichtes Panikgefühl überkam sie. Aber dann sah sie es. ‘Blue Star II‘, wie der Mann im Restaurant gesagt hatte. Es lag nicht am rechten, sondern am linken Landesteg. Zu erreichen allerdings über den rechten Zubringer. Kompliziert, die ganze Sache, denn der Yachthafen Neustadts war nicht gerade klein. Erleichtert setzte sich Franziska auf einen der Poller und wartete.