Читать книгу Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 2) - Detlev Sakautzky - Страница 5

NACHKRIEGSZEIT

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Am spätem Abend, es war sehr dunkel, hielt ein LKW mit Flüchtlingen und Vertriebenen auf dem Dorfplatz des kleinen Ortes mit dem Namen Gutshof. Es regnete. Das Verdeck wurde durch den Fahrer geöffnet, im Schein von Taschenlampen kamen Frauen und Kinder zum Vorschein. Sie waren lange unterwegs gewesen und kamen aus einem zentralen Aufnahmelager für Flüchtlinge. Es waren Familien aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland. Einige der Dorfbewohner hatten sich um den LKW versammelt, unter ihnen der Bürgermeister, Herr Müller, ein älterer hagerer Bauer. Er hatte Einweisungszettel in der Hand, auf denen die Namen der Flüchtlinge und die Aufnahmequartiere geschrieben standen. Der Bürgermeister war durch die Militärverwaltung angewiesen worden, die ankommenden Flüchtlinge und Vertriebenen im Dorf aufzunehmen. Die Verteilung der Flüchtlinge erfolgte unter Berücksichtigung der Größe der Flüchtlingsfamilie und den Unterbringungsmöglichkeiten der ansässigen Bauern. Die Frauen und Kinder kletterten langsam und vorsichtig von der Ladefläche des LKWs. Der Fahrer reichte das Gepäck, die Kisten, Koffer, Taschen und Säcke herunter, das die Flüchtlinge persönlich in Empfang nahmen und ablegten. Die Bauern machten sich bekannt mit den Flüchtlingen, die der Bürgermeister ihnen zugewiesen hatte, und brachten sie in die vorgesehene und vorbereitete Unterkunft.

*

Frau Solltau und ihre beiden Kinder, Hans fünf Jahre und Robert zwei Jahre alt, wurden Herrn Pfeifer, einem Großbauern, zugewiesen. Sein Knecht hatte eine große Schubkarre mitgebracht. Er war groß und kräftig. Schnell hatte er die Gepäckstücke auf die Karre gelegt. Zwei große Pappkoffer, einen Sack mit Bettwäsche, eine verpackte Nähmaschine von der Firma Singer, drei mit Kleidung gefüllte Pappkartons und ein Rucksack waren die ganze Habe, die sie aus Ostpreußen mitbrachten. Der Knecht brachte die kleine Familie zum Wohnhaus des Bauern, das sich in einem umschlossenen Hof in der Nähe des Dorfplatzes befand. Auf der einen Seite des Hofes sahen die Ankömmlinge Stallungen und einen großen Misthaufen, auf der anderen Seite Feldeggen, Pflüge, einen Kultivator und einen Leiterwagen. Der Hof war durch eine Mauer und durch ein großes Tor gesichert. Der Zugang zum Wohnhaus erfolgte über eine Steintreppe, auf der die Bäuerin, eine sehr dicke, unfreundlich blickende Frau, mit ihrer Tochter auf die kleine Familie wartete. Die Bäuerin führte sie in ein kleines Zimmer unter dem Dachboden, das auf Jahre ihre Heimstatt werden sollte. Zwei Holzbetten, mit gefüllten Strohsäcken, ein kleiner Kleiderschrank, ein kleiner Tisch, zwei Stühle, ein kleiner, runder Eisenofen mit einer Kochfläche und eine Holzkiste für die Lagerung von Brennmaterial waren das bescheidene Mobiliar, das der Bauer zur Verfügung stellte. Eine Glühlampe erleuchtete den kleinen bescheidenen Raum. In der Nähe der Zimmertür standen auf einem Gestell eine mit Wasser gefüllte Waschschüssel und ein Blecheimer für die Notdurft. Der Knecht brachte das Gepäck ins Zimmer.

„Darf ich Ihnen noch behilflich sein?“, fragte der Knecht fürsorglich.

Frau Solltau verneinte und bedankte sich für seine angebotene Hilfe. Bevor er ging, schenkte er Hans und Robert zwei große rotbäckige Äpfel. Hans bedankte sich artig. Frau Solltau begann ihre Habseligkeiten auszupacken und in den kleinen Schrank einzuräumen. Dann richtete sie die Betten her. Die mitgebrachten weißen Laken wurden über die Strohsäcke gelegt, die Kopfkissen und Zudecken mit karierten Bezügen versehen, die sie aus Ostpreußen mitgebracht hatte.

Etwas später brachte die Bäuerin eine dünne Kartoffelsuppe und eine Blechkanne mit schwarzem, ungesüßtem Malzkaffee.

„Danke für die Fürsorge“, sagte Frau Solltau freundlich.

„Morgen müssen sie selber kochen. Vor der Tür stehen ein halber Sack mit Kartoffeln und ein halber Laib Brot“, sagte die Bäuerin herrisch. Eine menschliche Anteilnahme war der Frau nicht anzusehen.

Hans und Robert waren hungrig. Auf der Fahrt hatten sie kein Essen bekommen. Sie saßen auf den beiden Holzstühlen am kleinen Tisch und warteten, bis die Mutter die tiefen Teller halb vollfüllte. Die Suppe war so dünn, dass ein Löffel für die Einnahme der Suppe sich erübrigte. Hans trank sie mehr, als er löffelte. Robert wurde durch die Mutter beim Löffeln unterstützt. Für Frau Soltau blieb ein kärglicher Rest. Die kleine Familie war von den Anstrengungen des Tages und der langen Fahrt erschöpft. Hans und Robert schliefen sofort ein, nachdem die Mutter beide in ihr gemeinsames Bett gelegt hatte. Nachts wurde Frau Solltau durch fremde, laute Geräusche geweckt. Vor dem Hoftor standen russische Soldaten, die nach Wurst und Speck riefen. Sie rissen am verschlossenen großen Eisengittertor und drohten mit ihren Gewehren. Der Bauer lief zum Hoftor und brachte Würste. Für die Russen waren es zu wenige, die der Bauer ihnen brachte. Nach wiederholten Drohungen lief der Bauer zurück ins Haus und holte noch weitere Würste.

„Der Geizkragen, uns hat er nur eine Wassersuppe gegeben“, sagte Frau Solltau leise zu den Kindern, die vom Lärm am Hoftor wach geworden waren und vor Angst nicht mehr einschlafen konnten.

*

Am folgenden Tag meldete sich Frau Solltau mit den Kindern beim Bürgermeister. Andere Flüchtlinge waren schon hier gewesen. Sie erhielt für ihre kleine Familie Lebensmittelkarten, Milchkarten, Brotkarten, Bezugsscheine und Kohlenkarten. Die ausgewiesenen Waren konnte sie in einem Dorfladen des Nachbardorfes gegen Bezahlung erwerben, sobald das Geschäft beliefert worden war. Die festgelegten bescheidenen Rationen reichten nicht aus zum Überleben, das wusste Frau Solltau. Die Kinder kannten den Hunger. In den Flüchtlingslagern wurde gehungert. Ältere Menschen und Kinder starben in großer Anzahl geschwächt durch Hunger und Typhus. Hans und Robert waren abgemagert, die Wangen in den Gesichtern waren eingefallen, die Körper waren mager, die Beine dünn, sie wirkten äußerlich kraftlos. Frau Solltau ging von Hof zu Hof und bot den Bauern ihre Arbeitskraft für Nahrungsmittel an. Sie arbeitete, sobald sie gebraucht wurde. Die beiden Kinder waren häufig sich selbst überlassen.

„Hans, du musst auf Robert aufpassen. Er ist noch klein und braucht deine Hilfe. Du bist groß genug. Ich gehe arbeiten, damit wir etwas zu essen haben“, sagte Frau Solltau und drückte ihren „Großen“ fest an ihren ausgemergelten Körper. Hans versprach auf Robert aufzupassen. Frau Solltau streckte bei der täglichen Zubereitung der Mahlzeiten die vorhandenen Nahrungsmittel. Die Kartoffelschalen des Großbauern und buschige Brennnesseln, die an den Straßengräben wuchsen, ergänzten die bescheidenen Mahlzeiten.

Nach der Getreide-, Kartoffel- und Zuckerrübenernte wurden die Felder durch die Bauern zum Stoppeln freigegeben. Es wurden Ähren aufgesammelt, die auf den Feldern liegen geblieben waren.

Die Körner wurden mit den Händen aus den Ähren herausgedrückt, mit einer Kaffeemühle grob gemahlen und weich gekocht. Aus gestoppelten Zuckerrüben wurde Sirup gekocht. Die gestoppelten Kartoffeln, häufig sehr klein, wurden mit den Schalen gegessen. Das Fallobst der Straßenbäume wurde gesammelt, gewaschen und in Scheiben geschnitten. Diese wurden auf Fäden gezogen und getrocknet. Die Blüten der Lindenbäume wurden gepflückt, getrocknet und auf dem Kleiderschrank ausgebreitet und gelagert. Frau Solltau und die Kinder hungerten, aber verhungerten nicht. Den anderen Familien ging es ähnlich. Hunde und Katzen wurden durch die Bauern weggesperrt. Es kam vor, dass die Flüchtlinge die Katzen der Bauern fingen, schlachteten und danach verzehrten.

Das zugeteilte Brennmaterial war knapp. Frau Solltau sammelte mit Hans vertrocknete Äste im Wald, zerhackte diese an der Fundstelle zu Stücken und trug diese im Sack auf dem Rücken nach Hause. Hans sammelte Bucheckern und Haselnüsse, die er unter den Buchen und Haselnusssträuchern fand. Die öligen Kerne schmeckten und stillten für eine kurze Zeit den Hunger. Gut schmeckten auch die Walderdbeeren und Blaubeeren, die an Sträuchern am Waldrand wuchsen. Oft aß Hans unreifes Obst, das er von den herunterhängenden Ästen der Bäume am Straßengraben abgepflückt hatte. Bauchschmerzen und Durchfall machten ihm dann zu schaffen.

Die Kleidung der Dörfler war abgenutzt, hatte Löcher und Risse. Kleidung gab es im Dorfladen nicht zu kaufen. Diese wurde in geringen Mengen auf Bezugsscheinen zugeteilt. Die Bauern tauschten sich Kleidung für Lebensmittel, die sie immer hatten, ein. Frau Solltau ging zu den Bauern im Dorf und bot ihnen das Ausbessern ihrer Kleidung an. Sie hatte Näherin gelernt und nähte bis zur Flucht aus Ostpreußen Uniformen für die Wehrmacht. Die Singernähmaschine machte es möglich. Die Bauern und Landarbeiter des Dorfes nahmen das Angebot an und bezahlten ihre Dienstleistung mit Lebensmitteln. Hans brachte die ausgebesserte Kleidung zu den Bauern zurück und erhielt die von der Mutter geforderten Lebensmittel. Die Bauern bezahlten mit Milch, Eiern, Speck und Kartoffeln in kleinen Mengen. So nähte sie Flicken auf die zerschlissene und zerrissene Kleidung, kürzte und verlängerte die Ärmel der Jacken, Hosen und Hemden, besserte die Hemden aus, nähte Knöpfe an, stopfte Strümpfe und Handschuhe. Die Uniformteile der heimkehrenden Soldaten schneiderte sie zur Arbeitskleidung um. Das erforderliche Nähgarn und die Flicken erhielt sie von den Bauern. Die zusätzlichen Nahrungsmittel ermöglichten der Familie, in diesen für alle schwierigen Zeiten, zu überleben. Auf Bezugsscheinen erhielt Frau Solltau für die Kinder Holzschuhe. Die Sohlen der Schuhe waren aus Holz, der obere Teil aus Stoff gefertigt. Später gab es auf Bezugsschein Schuhe und Stiefel aus Schweinsleder und Igelit in einer zugeteilten Menge.

*

Anfang September wurde Hans eingeschult. Er erhielt von den einzuschulenden Kindern die größte Zuckertüte. Die Spitze der Tüte hatte Frau Solltau mit Packpapier gefüllt. Falläpfel, eine Umhängetasche mit einer Papptafel, Schieferstifte und einen von der Mutter gefertigten Wischlappen mit gehäkeltem Befestigungsband fand Hans in der Tüte. Sein Gesicht strahlte. Hans freute sich auf den täglichen Schulbesuch. Er wollte lesen und schreiben lernen. Die Schule war im Nachbarort. Die Kinder der ersten bis vierten Klasse wurden in einem Raum unterrichtet. Der Lehrer war ein älterer, freundlicher Mann. Die Schüler saßen auf Bänken. Jede Bankreihe hatte vier Plätze. Davor war eine Tischplatte mit leicht schräger Tischfläche und Öffnungen zum Einsetzen von Tintenfässern. Unter der Tischfläche war Platz für die Schulutensilien der Schüler.

Hier lernte Hans den ersten Buchstaben, das große A schreiben und lesen. Jeden Tag aß Hans in der großen Pause eine Scheibe trockenes Brot und einen halben Apfel. Beides hatte die Mutter in eine Wehrmachtsdose gelegt. Die Kinder der Bauern aßen dick mit Wurst belegte Frühstücksbrote. Die Spucke lief Hans im Mund zusammen.

„Lässt du mich einmal abbeißen?“, fragte Hans den „Wurstesser“, der Mops genannt wurde und neben ihm auf der Bank saß. Er verneinte schadenfroh. Hans hatte nur einen verächtlichen Blick für den Mops und drohte ihm mit der Hölle. In den Pausen standen die Flüchtlingskinder abseits von den Einheimischen und tauschten persönliche Sachen gegen ein Stück Brot. Hans hatte keine Mittel zum Tauschen. Er ging gerne in die Schule, trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, die es während des Schulalltages gab. Nachdem er das ABC beherrschte, las er alles, was irgendwie lesbar war. Indianerbücher und Soldatenhefte wurden gerne gelesen und untereinander getauscht. Die Mutter kontrollierte jeden Tag seine mündlichen und schriftlichen Hausaufgaben. Die schon gebrauchte Fibel hatte er mehrmals gelesen. Hans hatte das Lesen schnell gelernt, seine gute Aussprache und Betonung wurde durch den Lehrer wiederholt gelobt. Seine Mitschüler sahen das anders.

„Hans, du buckelst bei Herrn Hedwig“, sagte Franz, sein Banknachbar, neidisch und wütend. Er trat Hans mit der Schuhsohle ins Knie. Hans wehrte sich und schlug zurück. Der Lehrer für die Pausenaufsicht trennte beide. Er erzählte abends der Mutter den Vorfall.

„Die vorgegebenen Aufgaben zu erfüllen, hat nichts mit Buckeln zu tun“, sagte die Mutter und unterstützte sein Verhalten.

„Du kannst ihm ja helfen, bis er gut lesen kann“, sagte die Mutter. „Vielleicht erhält er keine Hilfe durch seine Eltern“, vermutete sie und bereitete das bescheidene Abendessen, Kartoffeln in „Malzkaffee“ gebraten, vor.

*

Frau Solltau hatte wiederholt Suchanfragen aufgegeben. Die Eltern waren mit zwei Pferden und einem mit Haushaltssachen bepackten Leiterwagen aus Ostpreußen, in Richtung Westen, geflüchtet.


Auf der Flucht

Vor der Flucht aus Ostpreußen vereinbarte Frau Solltau mit den Eltern eine Kontaktadresse. Von Tante Paula, die in Berlin wohnte, die Kontakte vermitteln sollte, hatte sie bis jetzt noch keine Nachricht erhalten. Heute jedoch war ein Brief von Tante Emma angekommen. Sie teilte mit, dass die Eltern in einem kleinen Dorf in der Nähe von Grevesmühlen in Mecklenburg wohnten.

Hans freute sich. Sein Opa lebte. Jeden Tag war er in Neukirch, einem kleinen Ort in der Elchniederung, mit ihm zusammen gewesen. Im Stall oder auf dem Feld, er war immer dabei. Ohne Opa ging nichts, mit Opa ging alles. Sofort schrieb Hans den Großeltern einen Brief. Opa wird sich sehr freuen, dachte Hans, und legte einen kleinen Zettel in den Briefumschlag der Mutter.

„Lass uns zu Opa fahren“, bettelte Hans und schüttelte die Hände der Mutter.

„Der Winter steht vor der Tür. Wir besuchen Opa und Oma nächstes Jahr in den Sommerferien“, versprach die Mutter leise und streichelte Hans über den Kopf.

*

Die zugeteilte Kohle hatte Hans mit der Mutter in einem vom Bauern geliehenen Sack in die Wohnung geschleppt und in die Holzkiste geschüttet. Das Brennmaterial reichte nur für eine kurze Zeit. Frau Solltau ging immer wieder in den Wald und sammelte mit anderen Flüchtlingen abgebrochene Äste und sonstiges herumliegendes trockenes Holz. Dieses zerhackte sie mit einem kleinen Beil, das ihr die Bäuerin geliehen hatte. Die Holzstücken steckte sie in einen Sack und trug diesen auf dem Rücken nach Hause. Die Bauern mussten eine vorgegebene Anzahl von Bäumen schlagen und abliefern. Die Stämme wurden mit Pferden aus dem Wald gezogen. Die abgeschlagenen Äste blieben am Platz liegen und wurden von den Flüchtlingen klein gehackt.

Hans beaufsichtige während der Abwesenheit der Mutter seinen kleinen Bruder und spielte mit ihm. Die Mutter war stolz auf ihn. Die übertragenen Aufgaben erfüllte er, ohne zu murren. Im Unterricht strengte er sich an, meldete sich auf Fragen des Lehrers und wurde wiederholt von diesem gelobt. Seinen kleinen Bruder hütete er wie seinen Augapfel. Sonntags ging die kleine Familie gemeinsam zur Kirche. Hans saß mit Robert und der Mutter immer in der ersten Reihe rechts unter der Kanzel. Der Pastor und der Kantor kamen aus dem Nachbarort. Jeden zweiten Sonntag, um vierzehn Uhr, läutete Herr Rode die Glocke zum Gottesdienst. Es kamen nur wenige Leute. Überwiegend waren es Flüchtlinge und Vertriebene, die Beistand und Hilfe suchten. Am letzten Sonntag bat der Pastor Frau Solltau und Hans bestimmte Aufgaben für die Kirche zu übernehmen.

„Der Innenraum der Kirche ist vor dem Gottesdienst zu reinigen, die bescheidene Kollekte ist einzusammeln, die Schilder für die Liedernummern sind zu stecken. Durch Hans ist der Blasebalg für die Orgel zu treten. Der Stab mit dem Jesuskreuz ist bei jeder Beerdigung zu tragen. Zu jedem Kirchgang und täglichen Feierabend ist die Glocke zu läuten“, sagte der Pastor im Beisein des Kantors. „Natürlich gegen ein Entgelt. Herr Rode, der diese Aufgaben bis jetzt erfüllte, zieht zu seiner Tochter nach Magdeburg. Ich möchte ihnen gerne diese Aufgaben übertragen“, schloss der Pastor seine Ausführungen.

Nach dem Abendessen sprach Frau Solltau mit Hans über das Angebot des Pastors. Hans war bereit, der Mutter zu helfen. Da die Kirche sich auf dem Friedhof befand, gruselte es ihn. Er hatte Angst vor den Toten in den Gräbern und den Geistern. Die Kirche hatte keine elektrische Innen- und Außenbeleuchtung. Die Treppe zum Glockenturm war sehr steil. Frau Solltau hatte vom Pastor eine Stalllaterne erhalten, deren Kerze Hans vor dem Betreten des Friedhofs, besonders im Winter, anzündete. Oben, unter dem Dach, befand sich der schwenkbare Glockenstuhl, an dem die Glocke und ein dickes Seil angebracht waren.

Hans zog das Seil nach unten, der Glockenstuhl bewegte sich. Das Geläut begann. Fünf Minuten musste geläutet werden. Gemessen wurde die Zeit mit einer Sanduhr. Nach dem Läuten verließ Hans, sich ständig umsehend und laut singend, eilig den Innenraum der Kirche. Er verschloss mit einem großen Schlüssel die Kirchentür und eilte nach Hause.

Hier wartete die Mutter.

„Das hast du gut gemacht“, lobte ihn die Mutter und streichelte Hans über seine lockigen dunklen Haare.

Von seiner Angst erzählte Hans nichts. Das Entgelt, das der Pastor der Mutter vor Weihnachten einmal jährlich auszuzahlen beabsichtigte, brauchte die kleine Familie.

*

Nach der Kartoffelernte folgte die Zuckerrübenernte. Die von den Blättern getrennten Rüben wurden aufgesammelt und auf mehrere Haufen geworfen, später eingemietet oder abgeliefert. Die Sammler erhielten Geld oder Zuckerrüben für den Eigenbedarf. Frau Solltau nahm die angebotenen Zuckerrüben und kochte schmackhaften Sirup für den Brotaufstrich. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Brennstoffen, Kleidung und sonstigen Utensilien bestimmte weiter das tägliche Tun und die Fantasien der kleinen Familie.

*

In der Nähe des Weges zur Schule lag ein abgestürztes Jagdflugzeug. Es war für viele Kinder ein interessantes „Spielzeug“. Hans kletterte in das Flugzeug und drehte an allen noch beweglichen Teilen. In seiner Fantasie war er ein tapferer Flieger, der am Himmel den Feind besiegte.

Nach dem Unterricht durchstöberte Hans oft den Schrottplatz, der sich auch in der Nähe des Dorfes befand. Er suchte nach brauchbaren Gegenständen. Manchmal fand er nützliche Sachen für den Haushalt, die er der Mutter mitbrachte.

*

Der Winter kam dieses Jahr früher als sonst. Schneefall und Frost machten das tägliche Leben von Tag zu Tag schwieriger. Der kleine Eisenofen brachte nicht die gewünschte Wärme, der Verbrauch an Holz und Kohle war hoch. Frau Solltau heizte den Ofen nur, wenn die Mahlzeiten vorbereitet wurden. Sie froren, deshalb wurden auch in der Wohnung die Mäntel getragen. Nachts gingen Hans und Robert mit der Tageskleidung ins Bett. An Schnee- und Frosttagen fror Hans besonders an seine Füße in den Holzschuhen. Die Mutter hatte Fußlappen um seine Füße gewickelt und das Innere der Schuhe mit etwas Stroh ausgelegt. Trotzdem bildeten sich an den großen Zehen Frostbeulen. Der Schnee klebte unter den Holzsohlen und erschwerte das Gehen. Die Kinder, auch Hans, kamen nicht selten zu spät zum Unterricht. Mit ihren Schuhen trugen sie den Schnee auch in die Klassenräume, die wenig beheizt waren. Dieser taute auf und bildete unter den Schulbänken Pfützen.

Einmal wöchentlich kaufte Hans nach dem Unterricht im Auftrag der Mutter in dem einzigen Mischwarengeschäft im Dorf ein. Die Mutter hatte ihm in einer Umhängetasche eine kleine Milchkanne und eine Anzahl von selbst genähten Beuteln für die Aufnahme von Lebensmitteln und Lebensmittelkartenabschnitten sowie Geld mitgegeben. Er musste lange warten, bis er bedient wurde. Hans kaufte geringe Mengen Brot, Margarine, Zucker, vier Bonbons, Salz, ein Stück Seife, einen halben Liter Milch, zwei Kerzen und zwei Rollen Nähgarn. Die Mutter hatte die einzukaufenden Waren auf einen Zettel geschrieben, den er bei der Verkäuferin abgab. Auf dem Heimweg begegnete er oft einheimischen Kindern, denen es Spaß machte, die Kinder von Flüchtlingen zu schlagen. Nicht selten wurde Hans die Mütze vom Kopf gerissen, die Schulsachen weggenommen und diese danach ins Feld geworfen. Er wurde auf die Nase geschlagen, bis diese blutete. Der Mutter erzählte er davon nichts.

Auf dem Schrottplatz hatte er ein kleines stehendes Messer gefunden, das er in einen Lappen einwickelte und in seiner Umhängetasche versteckte. Die Kinder stellten sich wieder aggressiv vor ihm hin und rissen ihm die Mütze vom Kopf. Jetzt zückte Hans sein Messer und richtete es kreisend auf Siegfried, den Anführer der Gruppe. Die Angreifer waren überrascht und ließen ihn gehen. Hans setzte seinen Weg, die Mütze in der linken Hand, das Messer fest in seiner rechten Hand haltend, ohne weitere Händeleien fort. Zu Hause angekommen, wartete ein weiterer Auftrag auf Hans.

„Trage bitte die ausgebesserte Kleidung zu Frau Tielemann. Für die Arbeit möchte ich ein Stück Speck“, sagte Frau Solltau.

„Was bekomme ich für meine Arbeit“, fragte Hans.

„Heute Abend bekommst du Bratkartoffeln mit Speck“, war die kurze strenge Antwort der Mutter. Ohne Murren trug Hans die ausgebesserte Kleidung zu Frau Tielemann.

„Hans, was bekommt die Mutter für ihre Arbeit?“, fragte die Bäuerin.

„Ein kleines Stück Speck und drei Eier“, sagte Hans. Die Bäuerin brachte Hans die gewünschten Lebensmittel.

„Für deine Arbeit bekommst du von mir zwei Äpfel“, sagte die Bäuerin wohlwollend. „Und nimm bitte die Jacke meines Mannes mit, sie ist an den Seitentaschen ausgerissen und muss ausgebessert werden“, fügte sie an und steckte ihm noch ein Stück Brot zu.

„Danke Frau Tielemann“, sagte Hans strahlend und eilte mit dem neuen Arbeitsauftrag für die Mutter und der Vielzahl der Lebensmittel nach Hause.

Die Mutter war sehr zufrieden.

Franz Fest, sein Banknachbar, hatte die Hausaufgaben im Fach Rechnen nicht lösen können. Der Lehrer beabsichtigte, die auf einem gesonderten Blatt gelösten Aufgaben einzusammeln und zu bewerten.

„Hans, darf ich die Hausaufgaben in der Pause abschreiben?“, fragte Franz.

„Was bekomme ich von dir dafür?“, fragte Hans.

„Die Hälfte meines Frühstücksbrotes“, antwortete Franz.

„Brot mit Leberwurst?“, fragte Hans.

„Einverstanden“, sagte Franz.

Hans gab ihm das Lösungsblatt. Ab jetzt machte Hans weitere „Geschäfte“, auch mit anderen Kindern aus der Klasse. Er aß nur das halbe Frühstücksbrot, die andere Hälfte packte er für seinen Bruder ein. Über sein Verhalten hatte sich die Mutter sehr gefreut und streichelte Hans über das Gesicht.

Am Sonntagvormittag spielte Hans mit Hildegard im großen Wohnzimmer des Bauern. Sie besaß ein Reiterspiel. Es wurde gewürfelt. Die Anzahl der gewürfelten Augen erlaubten dem Spieler sein Pferd entsprechende Schritte vorzusetzen. Der Spieler hatte gewonnen, dessen Pferd als Erstes das Ziel erreichte. Die Bäuerin rief Hildegard zur Mittagsmahlzeit. Hildegard packte das Spiel zusammen und legte es weg. Hans nutzte die Gelegenheit und stahl ein Pferd aus dem Spielkasten, das er in seiner Hosentasche versteckte. Frau Solltau sah das Pferd beim Aufräumen der Spielkiste.

„Hans, woher hast du das Pferdchen“, fragte Frau Soltau neugierig.

„Das Pferdchen habe ich mir bei Hildegard genommen. Sie hat so viele davon“, antwortete Hans.

„Hat Hildegard dir das Pferdchen geschenkt?“, fragte Frau Solltau misstrauisch.

„Nein“, antwortete Hans leise.

„Du gehst jetzt zu Hildegard und bringst das Pferdchen zurück“, sagte Frau Solltau mit Bestimmtheit.

Hans drehte sich wie ein Wurm.

„Merke dir eins, wir sind keine Diebe!“, sagte die Mutter laut und konsequent.

Hans ging nach unten und klopfte an die Küchentür des Bauern. Hildegard öffnete die Tür.

„Hildegard, entschuldige bitte, ich habe das Pferdchen mitgenommen und bringe es zurück“, sagte Hans ganz leise.

Hildegard nahm das Pferdchen und schlug die Küchentür zu. Hans ging zurück zur Mutter.

Frau Solltau hatte das Sonntagsessen aufgedeckt, Kartoffelsuppe mit Speckwürfeln. Es schmeckte allen. Bis zum Gottesdienst war noch etwas Zeit. Hans las Robert Märchen aus dem Buch vor, dass ihm Frau Seits geschenkt hatte. Robert war ein aufmerksamer Zuhörer.

*

Frau Solltau hatte den Boden der Kirche gefegt und auf den Bänken Staub gewischt. Der Pastor und der Kantor waren gekommen. Der Pastor zog seinen Talar an, der Kantor prüfte die Orgel. Hans läutete die Glocke. Sieben Besucher saßen auf den Kirchenbänken, alle waren Flüchtlinge aus Pommern. Heute sprach der Pastor über die Zehn Gebote. „Du sollst nicht stehlen“, sagte der Pastor, dabei schaute er zufällig zu Hans.

„Woher weiß der Pastor, dass ich das Pferdchen gestohlen habe“, sagte er leise. Dann schaute der Pastor zu Frau Leitner.

„Du sollst nicht Ehe brechen“, predigte der Pastor weiter.

Das ist unmöglich, dachte Hans. Die Frau war für diese Sünde schon zu alt. Da irrt sich der Pastor, dachte Hans. Nach der Predigt gab der Kantor Hans ein Zeichen mit der Hand. Hans begann den Blasebalg, zu treten. Die kleine Gemeinde sang das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“. Der Gottesdienst war danach zu Ende. Hans läutete die Glocke, Frau Solltau sammelte die kleine Kollekte ein und trug den Betrag in ein kleines Buch. Sie übergab den Geldbetrag dem Pastor. Die drei verabschiedeten sich. Hans schloss die Kirche ab und ging mit der Mutter und Robert zufriedenen nach Hause.

*

In der letzten Zeit war abends Stromsperre. Heute auch. Frau Solltau zündete die Kerze an und stellte sie auf einen großen Teller. Durch tropfendes Kerzenwachs wurde die Kerze auf dem Teller befestigt. Danach sangen sie gemeinsam Weihnachtslieder. Die Mutter sang vor, Hans und Robert summten mit. Beiden gefiel das gemeinsame Singen und Summen. Frau Solltau gab den Kindern Bonbons und las danach weitere Märchen vor.

„Eure Haare sind zu lang, ihr seht aus wie die Räuber im Wald. Hans setze dich bitte auf den Stuhl und lege dir ein Handtuch um den Hals. Ich schneide dir zuerst die Haare“, sagte die Mutter und holte den Kamm und die Schere aus einer kleinen Schublade.

„Nicht so kurz, wie das letzte Mal“, bettelte Hans.

Die Mutter erfüllte den Wunsch und kürzte die Haare zur Zufriedenheit ihrer Kinder.

Die Kinder der Bauern gingen zum Friseur im Nachbarort oder warteten bis dieser die Bauern der Reihe nach zu Hause aufsuchte. Häufig erhielten die Kinder einen militärischen Haarschnitt. Vorn, an den Seiten und hinten kurz. Aber so rutschten die Mützen von den Köpfen, weil der Stoff keinen Halt mehr auf der glatten Oberfläche fand.

Frau Solltau bereitete nach dem Haare schneiden das Abendessen. Es gab zwei Scheiben Roggenbrot in Tee getränkt, leicht mit Zucker bestreut und warme Milch.

*

In den folgenden Wochen ging die Mutter zusammen mit Robert und Frau Fettig, die aus Litauen vertrieben worden war, schon vormittags in den Wald, um Holz zu sammeln. Die Brennstoffe auf den Bezugskarten reichten alleine nicht aus. Frau Fettig hatte einen kleinen Handwagen, auf dem das zerhackte Holz in Säcken transportiert wurde.

Zwei Tage vor Weihnachten fanden die Frauen unter einer Eiche einen toten Hasen in einer ausgelegten Schlinge. Dabei war das Auslegen von Schlingen treng verboten und wurde bestraft. Frau Solltau nahm den Hasen aus der Schlinge und öffnete mit einem kleinen Messer den Balg. Sie zog ihm das Fell über die Ohren und teilte den Körper in zwei Teile. Die Fleischteile wurden in Lappen verpackt und in den Holzsäcken versteckt. Sie teilte sich das Hasenfleisch mit Frau Fettig und dachte dabei an ihre Kinder. Diese hatten schon eine lange Zeit kein Fleisch mehr gegessen. Das Fell des Hasen wurde von den beiden Frauen vergraben und die Fundstelle unkenntlich gemacht.

*

Endlich war Heiligabend, die Kinder freuten sich schon lange auf die kommenden Stunden und hofften auf ein Geschenk von der Mutter. Frau Solltau hatte von Frau Seits die Spielsachen ihres Sohnes, der in Frankreich gefallen war, geschenkt bekommen. Bauklötze, Kinderbücher, ein Holzpferdchen, einen Bauernhof, aus Stoff vier Schäfchen und eine Kuh. Die Augen der Kinder strahlten, als die Mutter die Spielsachen verteilte. Hans freute sich besonders über das Holzpferdchen und die Kinderbücher. Das Hungergefühl war bei den Kindern weg. Spielen mit richtigen Spielsachen war ein lang ersehnter Wunsch von Hans. Am Heiligabend ging dieser in Erfüllung.

Zum Abendessen kochte Frau Soltau eine süße Milchsuppe mit Mehlklunkern, es gab dazu eine dünn mit Margarine bestrichene Scheibe Brot. Die Mutter zündete eine Kerze am selbst gefertigten Weihnachtsbaum an. Der Fuß des Baumes steckte in einer runden beschädigten Topfkuchenform, die Hans auf dem Schrottplatz gefunden hatte. Die Form hatte die Mutter mit Kohlenstücken beschwert. Der kleine Baum stand fest und fiel nicht um. Gemeinsam sangen sie das Lied „Ihr Kinderlein kommet“. Die Augen von Hans und Robert leuchteten.

Sie spielten mit den Geschenken bis in den späten Abend hinein. Am Morgen des ersten Weihnachtstages kam Hildegard und schenkte Hans und Robert zwei schöne rotbäckige Äpfel und eine kleine runde geräucherte Blutwurst. Hans bedankte sich bei Hildegard, wünschte ihr und den Eltern ein schönes Weihnachtsfest und schenkte ihr einen besonders großen Tannenzapfen, den er im Wald gefunden hatte.

„Was gibt es heute Mittag zu essen? Es riecht so gut und einmalig“, fragte Hans neugierig die Mutter.

„Heute gibt es ‚Falschen Hasen‘, gebraten und gekocht, Pellkartoffeln und Soße“, antwortete die Mutter.

„Was ist der Unterschied zwischen einem ‚falschen‘ und einem ‚richtigen‘ Hasen“, fragte Hans interessiert die Mutter.

„Falsche Hasen leben im Wald und richtige Hasen im Stall“, sagte die Mutter ganz leise. Hans fragte nicht weiter. Wichtig ist, dass er uns alle satt macht und gut schmeckt, dachte Hans.

Der falsche Hase hatte allen geschmeckt. Hauptsache Hase, ob falsch oder richtig, dachte die Mutter und füllte den Teller zum zweiten Mal bis zum ersten Rand.

Nachmittags war Gottesdienst. Es waren viele Leute gekommen. Die Kirchenbänke waren alle besetzt. Die Gesangbücher reichten nicht für alle und so teilten sich immer zwei Besucher ein Buch. Es wurden Weihnachtslieder gesungen. Hans musste fortlaufend den Blasebalg treten. Ein Flüchtling aus Danzig spielte auf seiner Geige das Lied „Stille Nacht“. Es erwärmte die Herzen der Anwesenden. Alle sangen laut mit und hatten glänzende Augen. Die Älteren unter ihnen weinten. Viele dachten an die an der Front gefallenen Söhne, an die Heimatdörfer, aus denen sie geflüchtet oder vertrieben worden waren. Am Ende des Gottesdienstes verabschiedete sich der Pastor bei allen Gekommenen. Hans läutete die Glocke, bis der letzte Besucher die Kirche verlassen hatte und übergab dann die Kollekte dem Pastor.

„Frohe Weihnachten, Frau Solltau! Im neuen Jahr erhalten sie den Lohn für die geleisteten Dienste“, sagte der Pastor und verabschiedete sich.

*

Bis zum Beginn des neuen Jahres hatte Hans Ferien. Es hatte geschneit. Hans und Robert bauten auf dem Bauernhof einen Schneemann. Ein kaputter Stahlhelm, ein kleiner Ast, eine zerfrorene Mohrrübe und schwarze Kohlenstücke schmückten diesen. Frau Pfeiffer hatte Plätzchen geschenkt, die Hans und Robert mit der Mutter nachmittags zum heißen Lindenblütentee gemeinsam aßen.

Die folgenden Wochen und Monate verliefen annähernd so wie die vergangenen Wochen. Am Fastnachtstag ging Hans von Bauernhof zu Bauernhof und sang das Lied vom „Kleinen König“. Die Mutter hatte für ihn eine Larve aus Papier gefertigt und bemalt, die Hans sich vor das Gesicht band. In der Hand hielt er einen Stoffbeutel, in welchen er die geschenkten Sachen hineinlegte. Es waren Kuchen, Bonbons, Äpfel und getrocknete Pflaumen, die er von den Bauern erhalten hatte und zu Hause mit Robert teilte.

Frau Solltau sammelte mit Frau Fettig in den folgenden Tagen wieder trockenes Holz im Wald. Die kalten Temperaturen machten das Leben unerträglich. Einmal gab es durch die Gemeindeverwaltung Braunkohlengruß für Familien mit Kindern. Auch Frau Solltau erhielt eine begrenzte Menge. Hans holte den Braunkohlengruß im Eimer von der Ausgabestelle der Gemeinde und schüttete diesen in den Kohlenkasten, in der Nähe des Ofens. Die Mutter half Hans beim Ausschütten. Er lief mehrmals zur Abgabestelle. Sein Gesicht war mit Schweiß- und Kohlenstaub bedeckt. Im Auftrag der Mutter brachte er einen vollen Eimer mit Kohlengruß zu Frau Fettig. Sie hatte keine Kinder und war gehbehindert.

„Für dich habe ich einige Kekse, die ich selbst gebacken habe. Hoffentlich schmeckten sie dir?“, sagte Frau Fettig und streichelte Hans über die dünnen Wangen.

„Danke! Frau Fettig, ich werde sie mit Mutti und Robert teilen“, sagte Hans und beabsichtigte noch einen Eimer mit Gruß zu holen. An der Ausgabestelle hatte der Angestellte festgestellt, dass Hans schon mehrmals Kohlen geholt hatte.

„Du bekommst nichts mehr, geh nach Hause, du Kohlenklau“, sagte er erbost und drohte mit der Kohlenschaufel.

Hans ging nach Hause, gab die Kekse der Mutter und wusch sich das verschmutzte Gesicht und die Hände. Danach setzte er sich auf den mit einem Deckel verschlossenen Kohlenkasten und las eine spannende Geschichte aus einem Buch, das Frau Seitz ihm geschenkt hatte.

Abends gingen Hans und Robert in den Pferdestall. Der Knecht fütterte die Pferde des Bauern. Er machte die Tröge sauber, mistete aus, schüttete Hafer in die Tröge und gab den Pferden Wasser zum Saufen.

Danach striegelte er die Pferde. Hans durfte helfen. Robert schaute zu. In Ostpreußen hatte der Opa auch Pferde gezüchtet. Hans erinnerte sich gern an die Zeit zurück.

Die Tage vergingen schnell. Die Mutter arbeitete bei den Bauern, sobald sie gebraucht wurde. Im Winter half sie beim Dreschen des im Herbst eingefahrenen Getreides, im Frühjahr bei der Bodenbearbeitung. Sie besserte die Kleidung der Bauern aus und sammelte Holz. Hans ging täglich und gerne zur Schule.

Im Frühjahr wurde es wärmer. Jetzt ging er barfuß. Seine Füße waren immer schwarz vom Öl des Holzfußbodens im Schulraum. Abends schruppte Hans die Füße mit einer harten Bürste sauber. Die Mutter half ihm dabei. Barfuß gehen war für Hans ein schönes Gefühl. Gern ging er im Matsch und in den Wasserrinnen, ungern auf Stoppelfeldern. Die Stoppeln zerspickten und zerkratzten die Knöchel, die dann beim Waschen besonders wehtaten.

*

Frau Solltau bereitete die Reise zu Opa und Oma vor. Bettwäsche und persönliche Kleidung wurden in die Koffer gepackt. Opa erhielt Schnupftabak, den Frau Solltau für ein Paar Ohrringe eingetauscht hatte. Die Mutter sollte Kernseife bekommen. Anfang Juli wurde die Reise angetreten. Nach zwei Stunden Fußmarsch erreichte die kleine Familie den Bahnhof. Die Zugfahrt dauerte zwölf Stunden. Die Reisewagen waren überfüllt. Freie Sitzplätze gab es nicht mehr und so saßen die Kinder auf den Gepäckstücken. Sie mussten mehrmals umsteigen, bis der Zug mit vier Stunden Verspätung den Zielbahnhof erreichte. Opa und Oma warteten mit den Pferden und einem kleinen Kastenwagen vor einem kleinen alten Bahnhof. Oma, Opa und die Mutter weinten und schluchzten. Drei lange Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Inzwischen war viel passiert. Der Sohn und Bruder war zum Kriegsende in Albanien gefallen. Andere Verwandte waren auf der Flucht gestorben. Tante Anna, die Schwester der Mutter, war als Rotkreuzschwester bei den Engländern in der Kriegsgefangenschaft.

Die Großeltern waren über den Landweg von Ostpreußen mit einem Gespann in Richtung Westen geflüchtet und über schlechte Straßen bis nach Westmecklenburg gefahren. Hier erhielten sie in einem kleinen Ort, bei einem armen Bauern, einen Schlafraum. Dort durften sie auch ihre Pferde und den Wagen unterstellen und bleiben. Der Bauer gab ihnen Essen zu den Mahlzeiten. Am Tage arbeiteten die Großeltern im Stall, in der Scheune und auf dem Feld. Der Bauer selbst hatte keine Kinder, die Hausarbeit machte eine Wirtschafterin. Er lebte mit seinen Eltern in einem mit Reet gedeckten Haus. Wohnanlage, Stallungen und Tenne waren unter einem Dach.

Auf den Besuch der Tochter und Enkelkinder haben sich die Großeltern sehr gefreut. Der Opa nahm Hans in seine starken Arme.

„Mein Söhnchen, bist du groß geworden“, sagte er zu Hans.

„Opa, ich freue mich hier bei dir zu sein. Das sind ja unsere Pferde aus Ostpreußen. Darf ich reiten?“, fragte Hans.

„Du darfst kutschieren“, sagte der Opa und meinte es ernst.

Bei der Ernte brauchte der Bauer jede Hand. Nach einer halbstündigen Kutschfahrt waren sie im Dorf angekommen. Sie brachten das Gepäck in den Wohn- und Schlafraum der Großeltern. Dann wurde die kleine Familie dem Bauern vorgestellt und jeder erhielt eine warme Mahlzeit.

Es war ein schöner Sommertag. Frau Solltau ging mit den Kindern nachmittags mit aufs Feld. Opa und der Bauer mähten das Getreide mit einer Sense. Frau Solltau band die gemähten Getreidehalme zu Garben und stellte diese zu Hocken auf. Hans half beim Aufstellen. Gegen Abend holte Opa den Leiterwagen und die schweren Garben wurden aufgeladen. Der hoch beladene Wagen wurde auf die Tenne des Hauses gefahren. Die Garben wurden unter das Dach des Hauses gestakt und sollten im Spätherbst und Winter gedroschen werden.

Hans durfte, wie Opa es versprochen hatte, kutschieren. Das seitliche Gehen neben dem Fuhrwerk und die Handhabung der Zügel bereiteten ihm Schwierigkeiten, was der Opa erkannte. Auf der Fahrt zurück zum Feld durfte Hans reiten und vom Pferd aus kutschieren. Der Wallach war ein großes ruhiges Pferd und ließ sich mit den Zügeln und durch Zurufen leicht lenken. Die daneben laufende Liese richtete sich nach dem Wallach. Das klappte ganz gut und machte Hans Spaß. Er wurde schnell sicher beim Führen der Pferde. Der Opa begleitete den Wagen bei mehreren Fahrten. Schnell kletterte Hans über die Deichsel auf den Pferderücken des Wallachs, griff nach den Zügeln, rief „hüh, hüh“ und los ging die Fahrt mit dem voll mit Getreidegarben beladenen Wagen. Auf dem Rücken des Pferdes lenkte Hans den Wagen auf der Straße bis zum Feld, auf dem Feld und zurück. Der Opa erklärte Hans das Anhalten des Gespanns. „Halt, Rudi“, rief der Opa. Rudi blieb stehen und mit ihm die Liese.

In den folgenden Wochen wurde das gereifte Getreide – Weizen, Gerste und Hafer – gemäht und in Garben gebunden. Diese wurden in Hocken aufgestellt. Nachmittags wurden die Garben auf den Leiterwagen geladen und auf die Tenne gefahren.

Hans spannte die Pferde aus und an einen abgeladenen Wagen an. Er brachte das Gespann zurück aufs Feld, wo der Bauer, Opa und die Mutter schon warteten. Robert blieb in dieser Zeit bei der Oma.

Nachmittags erhielt Hans von der Wirtschafterin einen Korb voll mit beschmierten Brotscheiben und zwei Kannen Malzkaffee. Im Schatten einer Hocke aßen Hans, Opa und die Mutter das mitgebrachte Brot. Hans war glücklich. Die Sonne schien den ganzen Tag. Abends ging er mit Robert in einem kleinen Bach, der sich in der Nähe des Hauses hinschlängelte, baden. Die Ferien vergingen für Hans und Robert wie im Fluge.

„Warum bleiben wir nicht beim Opa und der Oma? Hier ist es so schön. Die Schule ist in der Nähe, keiner hungert, der Bauer ist freundlich“, fragte Hans die Mutter.

„Wir müssen in dem zugewiesenen Ort bleiben. Dort erhalten wir unsere Lebensmittelkarten. Du möchtest doch nicht immer mit Opa in einem Bett schlafen?“, fragte die Mutter Hans nachdenklich.

Hans verließ die Mutter und ging zu Liese und Rudi in den Stall. Dort fütterte er die Pferde mit Haferähren aus der Hand, striegelte und putzte sie, bis die Hände wehtaten. Es war ein Abschied auf lange Zeit. Am frühen Morgen brachte Opa die kleine Familie zum Bahnhof. Am späten Abend war sie nach einer langen Bahnfahrt und einem zweistündigen Fußmarsch wieder im zugewiesenen Zuhause, in Gutshof. Die Großeltern hatten sie ausreichend mit Lebensmitteln versorgt. Wurst, Schmalz, selbst gemachte Butter, Äpfel und zwei Weizenbrote hatte Hans in seinem Rucksack.

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In der Zeit der Schulferien gab es keinen Gottesdienst. Es wurden auch nicht die Glocken geläutet. Heute begann Hans wieder mit dem täglichen Läuten der Glocken. Hans packte die Schultasche ein und spitzte die Bleistifte an.

„Morgen gibt es vielleicht neue Bücher“, sagte Frau Solltau zu ihrem großen Sohn.

„Am letzen Tag habe ich Rudi Haare aus der Mähne geschnitten, die ich in die Federtasche legen möchte“, sagte Hans.

„Hoffentlich denkst du während des Unterrichts nicht immer an die Pferde“, warnte die Mutter besorgt und legte einen neuen Radiergummi in die Federtasche.

Am ersten Schultag musste Hans dem Lehrer das von der Mutter unterschriebene Zeugnis vorlegen. Es war ein gutes Zeugnis. Die Mutter hatte es mit einem gewissen Stolz unterschrieben. Für Fleiß und Betragen hatte Hans eine „Eins“ erhalten. Sie war zuversichtlich, dass er auch weiterhin gern die Schule besuchte.

Frau Solltau arbeitete täglich für den Lebensunterhalt der kleinen Familie. Feldarbeit bei den Bauern, Ausbessern der Kleidung für die Bauern und Landarbeiter, Reinigung der Kirche, Vorbereitung der bescheidenen Mahlzeiten für die Kinder, das Waschen der persönlichen Kleidung und sammeln von Holz bestimmten den Tagesablauf. Die Lebensbedingungen hatten sich nicht wesentlich verbessert. Kriminalität, insbesondere Diebstähle, nahmen zu. Die Bauern lieferten häufig nicht, wie gefordert, die Feldfrüchte an die zentral eingerichteten Stellen ab. Kartoffeln, Getreide wurden versteckt, sogar eingegraben. Tiere wurden „schwarz“ geschlachtet. Nachts kamen „Banden“ in das Dorf, die Tiere aus den Ställen stahlen. Tagsüber kamen Männer und Frauen, aber auch Kinder, die Sachen wie Uhren, Schmuck und Porzellan gegen Lebensmittel tauschten. Gestohlen wurde alles, was leicht zu haben war. Gewaschene Wäsche wurde nur noch in den Innenräumen getrocknet. Eine Familie hatte ein Pflegekind aufgenommen, um zusätzliche Lebensmittelmarken zu erhalten. Das Kind war aufgrund von Unterernährung verstorben, weil die Pflegeeltern die Lebensmittel für sich selbst verbrauchten. Infektionskrankheiten nahmen zu. Einige Kinder starben an Typhus, Tuberkolose und Scharlach. Hans trug wiederholt bei den Beerdigungen das Kreuz, einen Stab mit Jesus Christus, zum aufgeschaufelten Grab des jeweilig Verstorbenen. Der kalte Winter war für alle eine schwere Bürde, besonders für die Flüchtlinge, sie hatten keine Lebensmittelreserven und lebten von der Hand in den Mund.

Einige Bauern durften amtlich genehmigt ein Schwein schlachten. Dieser Tag war ein besonderer Tag für diese Familie, aber auch für die Kinder der Flüchtlinge. Das Schwein wurde auf dem Hof des Bauern geschlachtet. Es wurde an den Ohren und am Schwanz aus dem Stall gezerrt und spürte das kommende Ende. Es schrie und sperrte sich nach allen Richtungen. Der Schlachter schlug dem Schwein mit der Axt auf die Stirn. Es war sofort tot. Danach stach er mit einem schlanken und scharfen Messer in den Hals und ließ es ausbluten. Das Brühen des Schweines und die Entfernung der Borsten erfolgten in einem großen Bottich. Auf einer Leiter hängend wurde es ausgeschlachtet und zu Schinken, Kochfleisch und Wurst verarbeitet. Das Fleisch und die Wurst wurden in großen Töpfen auf einem großen Herd gekocht.

Die Fleisch-Wurstbrühe, auch Wurstsuppe genannt, holten die Kinder im Essgeschirr, das die Soldaten im Krieg verwendet hatten, vom Bauern. Auch Hans holte sich die unentgeltliche Kost nach Hause.

Da die Mutter oft die Kleidung für die Bauern ausbesserte, legten einige zusätzlich ein Stück Wellfleisch oder eine kleine Leberwurst in das Behältnis.

Zu Hause war die Freude groß. Für die kleine Familie war diese Zugabe ein Geschenk des Himmels.

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Kurz vor Ostern erfuhr Frau Solltau von ihrem Vater, dass die Oma an einer Lungenentzündung verstorben war. Sofort fuhr sie zu ihm, um ihm beizustehen. Die Kinder nahm sie aufgrund der zu erwartenden Strapazen nicht mit. Frau Fettig passte auf Robert auf. Bei ihr erhielt er seine Mahlzeiten und wohnte bis zur Rückkehr der Mutter in ihrer kleinen Wohnung. Hans blieb allein, erhielt aber vom Bauern das vereinbarte Essen zu den Mahlzeiten.

„Mutti! Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte Hans beim Abschied zur Mutter.

Die Mutter wusste, dass auf ihn Verlass war.

„Warum ist die Oma gestorben?“, fragte Hans traurig.

„Durch die Strapazen auf der Flucht war sie körperlich geschwächt und hatte keine Abwehrstoffe mehr. Eine Erkältung führte zur Lungenentzündung. Sie sagte mir, als wir abfuhren, dass sie nicht mehr leben will“, antwortete weinend die Mutter.

„Opa ist jetzt ganz allein. Vielleicht könnten wir bei ihm wohnen?“, fragte Hans hoffnungsvoll.

„Leider geht es nicht“, antwortete die Mutter und verabschiedete sich weinend von Hans.

„In acht Tagen bin ich wieder zurück“, waren die letzten Worte der Mutter.

Nach einer Woche war Frau Solltau wieder zurück. Sie hatte dem Vater in den schweren Stunden beigestanden. Die Oma wurde in einem schlichten Sarg auf dem Kirchfriedhof begraben. Keine weiteren Verwandten waren anwesend. Ihr Sohn war in Griechenland gefallen und Anna war noch in der Kriegsgefangenschaft. Zu weiteren Verwandten gab es keine Kontakte. Alle Anfragen bei den Suchdiensten waren bisher ohne Erfolg geblieben.

„In den Sommerferien werden wir dich wieder besuchen“, tröstete Frau Solltau ihren Vater beim Abschied.

„Sag den Kindern, dass ich zu Pfingsten zu Besuch komme“, versprach der Opa und verabschiedete sich bei seiner Tochter.

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Hans und Robert waren froh, als die Mutter wieder zurück war. Das tägliche Leben verlief jetzt wieder in den gewohnten Bahnen. Frau Solltau arbeitete auf den Feldern der Bauern. Mist streuen, Kartoffeln legen, Futter-, Steck- und Zuckerrüben verhacken und verziehen waren bei allen Bauern angesagt. Auch die Hände der Kinder waren gefragt. Hans verzog nach dem Unterricht auf abgesteckten Teilen der Felder die Rübenpflanzen für ein kleines Entgelt. Der Abstand der verzogenen Pflanzen wurde durch den Bauern ständig überprüft. Robert war noch zu klein für diese Tätigkeit.

Zu Pfingsten kam der Opa, wie er es versprochen hatte, zu Besuch. Die Freude war groß. Hans zeigte ihm das Dorf. Gemeinsam gingen sie durch die Dorfstraßen und schauten sich die Häuser an. Opa war ein stattlicher Mann, breitschultrig, sehr groß und stark wie ein Baum.

Er trug die Uniform des Postbeamten. Die Kinder im Dorf staunten. Hans hielt stolz die Hand seines Opas fest.

„Wann fahren wir nach Ostpreußen? Ich möchte wieder in unser Dorf zurück. Hier gefällt es mir nicht“, sagte Hans traurig und fordernd.

„Wir müssen hier bleiben. Die Russen wohnen jetzt in unserem Haus. Uns gehört nichts mehr“, sagte der Opa bedrückt. „Viele Menschen haben die Heimat verloren. Alle müssen neu beginnen. Vielleicht kannst du unser Haus noch einmal sehen, wenn du groß bist“, tröstete der Opa sein Söhnchen.

Nach den Pfingstfeiertagen fuhr er wieder zurück nach Mecklenburg. Frau Solltau und Hans brachten ihn zum Bahnhof.

„Bleib gesund, bald sehen wir uns wieder“, sagte Hans zu seinem Opa und drückte seine große Hand.

Der Personenzug fuhr pünktlich ab, Hans wartete und winkte auf dem Bahnsteig, bis der Zug nicht mehr zu sehen war. Er freute sich schon jetzt auf die Sommerferien. Rudi und Liese reiten, Getreide auf dem Leiterwagen in die Tenne fahren, im Bach baden, davon träumte er.

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In den Wochen bis zu den Sommerferien arbeitete Frau Solltau auf den Feldern der Bauern. Sie besserte weiter zerschlissene Kleidung aus. Wiederholt brachte man ihr auch Kinderkleidung von Flüchtlingen und Vertriebenen. Die Kleidung der Älteren trugen, soweit es möglich war, die Jüngeren. Was nicht passte, wurde häufig durch Frau Solltau passend gemacht.

Es waren inzwischen weitere Kinder in seine Klasse gekommen. Einige davon waren zugezogene Flüchtlingskinder. In einem Schulraum wurden jetzt zwei Klassen unterrichtet. Für die Schüler und Lehrer trat eine Verbesserung der Unterrichtsbedingungen ein. Hans brauchte eine neue Tafel. Die Linien auf der Papptafel waren zerkratzt und so waren die geschriebenen Buchstaben nicht mehr zu lesen. Frau Solltau tauschte eine richtige Schiefertafel bei einer Bäuerin gegen Haarwickler ein, darüber freute Hans sich sehr. Jeden Tag wurden die geschriebenen Zahlen und Buchstaben mit einem nassen Lappen abgewischt. Das Geschriebene sah immer sauber aus. Es wurde aber nicht mehr nur auf der Schiefertafel geschrieben. Hans schrieb in der dritten Klasse schon in Heften mit Linien und Kästchen. Er benutze einen Bleistift, den die Mutter immer abends mit einem scharfen Messer anspitzte. Falsch geschriebene Wörter und Zahlen wurden ausradiert.

Eine Woche vor den Sommerferien erhielten Frau Solltau und Hans vom Pastor den Lohn für die geleisteten Dienste des vergangenen Jahres. Das Geld reichte aus, um die Fahrkarten für die Hin- und Rückfahrt nach Mecklenburg zu bezahlen.

Am Tag vor den Ferien verteilte der Lehrer die Zeugnisse. In den Kopfnoten hatte Hans eine Eins, im Lesen und Schreiben und Rechnen auch eine Eins. Hans und die Mutter waren sehr zufrieden. Für das sehr gute Zeugnis schenkte Frau Solltau ihrem Sohn eine neue selbst geschneiderte kurze Hose und einen Bleistiftanspitzer, den sie für ein Ei eingetauscht hatte. Am darauffolgenden Tag fuhr die kleine Familie wieder nach Mecklenburg.

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Spät abends holte sie der Opa mit dem Pferdewagen ab. Rudi wieherte, als er die kleine Familie wiedersah. Alle freuten sich auf das ersehnte Wiedersehen. Die Wirtschafterin hatte den Ankömmlingen ein warmes Essen, Kartoffelsuppe mit Speck, zubereitet. Opa spannte die Pferde aus und brachte sie in den Stall. Hans war mit dabei. Er schaute Rudi in die großen Augen und streichelte ihm die Mähne.

„Morgen sind wir wieder zusammen“, sagte er leise zu dem Pferd.

Nach dem Essen gingen alle müde zu Bett. Frau Solltau schlief mit Robert, Hans und Opa im selben Bett. Der Raum war sehr klein. Ein weiteres Bett ließ sich nicht aufstellen.

Am folgenden Morgen stand Hans früh auf und lief eilig in den Stall zu Rudi und Liese. Opa hatte beide schon gefüttert. Er streichelte beide Tiere und half Opa beim Ausmisten. Nach dem Frühstück fuhr die kleine Familie aufs Feld. Der Opa und der Bauer mähten mit der Sense den Winterweizen wie im letzten Jahr. Die Mutter band aus dem gemähten Getreide die Garben und stellte diese zur Hocke auf. Hans spielte mit Robert im Schatten einer solchen. Er öffnete mit einer kleinen Hacke die Mäusegänge zwischen den Stoppeln. In diesem Jahr gab es viele Mäuse, die schon auf dem Felde einen großen Schaden anrichteten. Ab und zu gelang es Hans eine Maus zu fangen und zu töten. Dabei hatte eine Maus Hans in ihrem Überlebenskampf in die Hand gebissen. Opa hatte ihm Jod, das er ständig bei sich trug, auf die Wunde gegossen. Bald waren die Schmerzen vorbei und die Mäusejagd begann von neuem.

Die Ernte war im vollen Gange. Die Bauern im Dorf ernteten vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf den Feldern. Unterstützt wurden sie durch Vertriebene und Flüchtlinge des Dorfes. Hans brachte, wie im vergangenen Jahr, die vollen Getreidewagen zum Abstaken in die Scheune. Zu den Mahlzeiten bekam er deshalb kräftige mecklenburgische Kost. Mittags gab es Kartoffeln, frisches Gemüse und immer etwas Fleisch. Zum Frühstück selbst gebackenes Weißbrot und Butter, zum Abendbrot Suppe und Bratkartoffeln mit Speck. Er war sehr, sehr zufrieden.

Langeweile gab es nicht. Frische warme Sommerluft, das Reiten der Pferde, schmackhafte und nahrhafte Speisen, mehr wünschte er sich nicht. Sein Körper war von der Sonne gebräunt. Unbekümmert verbrachte er seine Ferien. Der Bauer war freundlich und mit seiner Arbeit sehr zufrieden. Sein Opa war stolz, ein „Söhnchen“, wie er es war, zu haben.

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So verging Woche für Woche der schönen Sommerferien, bis sich etwas Unvorstellbares ereignete. Der Opa bekam hohes Fieber. Der herangeholte Arzt stellte Typhus fest. Opa wurde in das Krankenhaus nach Grevesmühlen gebracht. Dort verstarb er. Der Tod von Opa machte Hans kopflos. Alle seine Träume waren nicht mehr erfüllbar. Den Weg nach Ostpreußen gab es nicht mehr. Er blieb immer in der Nähe der Mutter und half dort, wo er gebraucht wurde. Er war in dieser schweren Zeit eine Stütze für sie. Zusammen mit dem Pastor bereitete sie die Trauerfeierlichkeiten vor. Der Opa wurde in einem schlichten Sarg auf dem Kirchfriedhof beerdigt.

In der folgenden Woche erledigte Frau Solltau die Haushaltsauflösung. Der Bauer fuhr mit dem kleinen Pferdewagen die Haushaltsgegenstände der Großeltern zum Bahnhof. Dort vereinbarte die Mutter den Weitertransport nach Gutshof. Die Pferde und den Leiterwagen verkaufte sie an einen Neubauern im Ort. Er brachte die drei später zum Bahnhof.

Am Tag der Abreise verabschiedete sich die kleine Familie ein letztes Mal von Opa und Oma auf dem Kirchfriedhof. Der Personenzug fuhr pünktlich ab. Nach einer langen Bahnfahrt, mehrmaligem Umsteigen und zweistündigem Fußmarsch kamen sie wieder völlig erschöpft in Gutshof an.

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Die Lebensbedingungen der kleinen Familie verbesserten sich in der Folgezeit nicht wesentlich. Frau Solltau arbeitete Tag aus, Tag ein bei den Bauern, wie sie gebraucht wurde. Hans besuchte weiter mit Erfolg die Grundschule und Robert wurde eingeschult. Kein Weg führte mehr nach Ostpreußen zurück.

Die Grundschulzeit ging für Hans zu Ende. Er wollte einen Beruf erlernen.

Bernd, der Sohn des Melkers, erlernte den Beruf des Hochseefischers in einer Reederei in Rostock. Die Geschwister seines Opas hatten am Frischen Haff einen Familienbetrieb. Der gefangene Fisch wurde selbst bearbeitet und in Königsberg auf dem Wochenmarkt verkauft. Fische fangen, dass interessierte Hans auch.

„Hier im Dorf und in der Gegend möchte ich nicht bleiben“, sagte Hans zu Bernd.

„Du musst dich rechtzeitig bewerben. Du bist nicht der Einzige“, sagte Bernd und schrieb Hans die Anschrift der Reederei mit einem Bleistiftstummel auf einen kleinen Zettel.

*

„Ich möchte Fischer werden, wie Bernd, der Sohn vom Melker. Er fährt auf einem Logger“, sagte Hans nach dem Kirchgang zu seiner Mutter.

Die Mutter war sprachlos. Über die Berufswahl hatte sie mit ihm noch nicht gesprochen.

„Deine Berufswahl gefällt mir nicht. Dann bin ich mit Robert alleine. Seeleute sind monatelang weg. Unser Pastor möchte, dass du weiter zur Schule gehst und auch Pastor wirst“, bekam Hans zur Antwort.

„Kinder taufen, Verstorbene beerdigen, Mann und Frau vermählen, Krankenbesuche durchführen, Kinder auf die Konfirmation vorbereiten, Jugendliche konfirmieren und sonntags predigen, dafür interessiere ich mich nicht“, antwortete Hans wütend.

„Landwirt ist auch ein schöner Beruf. Pflügen, eggen, sähen und Tiere füttern. Keiner der Bauern hat bis jetzt gehungert“, meinte die Mutter.

„Die Bauern haben nicht gehungert, aber die Knechte. Ein Landwirt braucht eigenes Land. Unser Land ist in Ostpreußen“, antwortete Hans. „Oder möchtest du, dass ich als Knecht bei unserem Bauern arbeite?“

„Lothar, der Sohn von der Frau Meißner lernt Maurer“, war ein weiterer Vorschlag der Mutter. „Die Maurer haben Beschäftigung. Die Städte sind zerstört und müssen aufgebaut werden. Später kannst du dir selbst ein Haus bauen“, argumentierte die Mutter.

„In Gutshof gefällt es mir nicht. Ich habe mit Bernd gesprochen. Er ist sehr zufrieden mit seinem Beruf. Viele Fischer vom Frischen Haff fahren auf Kuttern, Loggern und Trawlern in Saßnitz, Rostock, Kiel, Hamburg, Cuxhaven, Bremerhaven und Emden in die Ost- und Nordsee. In der Hochseefischerei verdienen die Leute sehr viel Geld. Keiner hungert“, versicherte Hans seiner Mutter.

„Junge! Du bist vierzehn Jahre alt. Dort musst du schwer arbeiten. Hochseefischer ist kein Beruf fürs Leben. Die Fischer im Frischen Haff waren Familienunternehmen, die früh mit den Kuttern auf See rausfuhren und abends wiederkamen“, bekam Hans zur Antwort.

„Ich werde mich bewerben. Bernd hilft mir beim Aufsetzen des Bewerbungsschreibens“, sagte Hans zur Mutter. Abends setzte er sich an den kleinen Tisch. Er formulierte die Bewerbung, wie sie Bernd vorgeschlagen hatte, und legte das Schreiben in einen Briefumschlag mit der Anschrift der Reederei. Am anderen Tag klebte er eine Briefmarke auf den Umschlag und brachte den Brief mit der Zustimmung der Mutter zur Post. Nach geraumer Zeit kam die Antwort. Abends sagte die Mutter zu Hans: „Heute ist die Antwort von der Reederei gekommen. Man hat dich abgelehnt, weil du zu klein bist.“

„Zeige mir bitte den Brief“, erwiderte Hans wütend.

„Ohne meine Zustimmung darfst du den Beruf nicht erlernen“, antwortete die Mutter schroff.

Hans verstand seine Mutter nicht mehr. Er sprach kein Wort mehr mit ihr, nahm das Lehrbuch für Erdkunde aus der Schultasche und begann leise zu lesen. Auf die Fragen der Mutter antwortete er nicht mehr. Später ging er still zu Bett.

Am anderen Tag zeigte die Mutter Hans das Antwortschreiben der Reederei. Sie waren grundsätzlich bereit, Hans als Auszubildenden einzustellen. Nachreichen musste er das Zeugnis des letzten Jahres und die amtlich bestätigte Seetauglichkeit. Hierfür hatte die Reederei einen Vordruck mitgeschickt. Des Weiteren einen Lebenslauf und die Einverständniserklärung der Mutter. Sie hatte sich ihre Entscheidung noch einmal überlegt und war mit Hans’ Bewerbung einverstanden. Die noch fehlendenden Einstellungspapiere der Reederei übersandte er fast zeitgleich. Das amtliche Gesundheitszeugnis bestätigte seine Seetauglichkeit, die Abschrift des Jahreszeugnisses wurde durch den Direktor der Schule bestätigt. Den Lebenslauf hatte Hans kurzgefasst und sein Interesse an einen seemännischen Beruf besonders betont. Die Mutter hatte in einem kleinen Schreiben ihr Einverständnis für die Berufswahl bestätigt.

Nach einigen Wochen kamen zwei Exemplare des Ausbildungsvertrages per Post. Hans und die Mutter unterschrieben den Vertrag und ein Exemplar wurde an die Reederei zurückgesandt. Hans war sehr zufrieden. Er selbst konnte erstmalig über seinen weiteren Lebensabschnitt entscheiden.

Anfang September begann Hans mit der Ausbildung in der Reederei. Er war nicht der Einzige, über dreißig männliche Jugendliche hatte die Reederei eingestellt. Viele der Eingestellten waren älter. Wöchentlich wechselte die theoretische Ausbildung in der Berufsschule mit der berufspraktischen Ausbildung auf dem Lehrnetzboden, einer Werkstatt für die Herstellung von Fangnetzen. Die Werkstatt befand sich über den Fischhallen im Fischereihafen. Hier lernte Hans die Fertigung von Knoten, das Stricken von Netzteilen, die Reparatur von Netzen und das Spleißen von Tauwerk. Ein älterer Kapitän, der noch auf Segelschiffen gefahren war, vermittelte die seemännischen Handarbeiten. Ein Ausbilder aus Cuxhaven zeigte Hans das Stricken von Netzmaschen, die Herstellung und die Reparatur von Netzen. Unter der Anleitung erfahrener Praktiker lernten die Auszubildenden rudern und segeln. Im ersten Ausbildungsjahr wohnten die Auszubildenden im Internat. Hier nahmen sie die Mahlzeiten ein und wurden durch Erzieher betreut.

Vor seiner ersten Fahrt erhielt Hans den Jahresurlaub. Er besuchte seine Mutter. Sie hatte einen Mann ihres Alters kennengelernt, geheiratet und plante einen Arbeits- und Wohnungswechsel nach Westdeutschland.

„Dann bist du wieder Flüchtling“, sagte Hans zu seiner Mutter.

„Wir versprechen uns in Westdeutschland ein besseres Leben. Auch für dich wird sich etwas finden“, meinte die Mutter zuversichtlich.

„Ich bleibe hier. In Rostock habe ich eine neue Heimat gefunden. Die Bedingungen dort und mein zukünftiger Beruf entsprechen meinen persönlichen Vorstellungen“, erklärte Hans beharrlich.

Hans sprach mehrere Stunden mit der Mutter über ihr Vorhaben.

„Für mich ist die Flucht, die in Ostpreußen begann, zu Ende. Ich möchte hier bleiben. Das ist meine Entscheidung. Vielleicht geht es dir in Westdeutschland besser …“, sagte Hans etwas ungläubig.

„Wir sind zuversichtlich. Solltest du deine Meinung ändern, erwarten wir dich in Hessen“, sagte die Mutter hoffnungsvoll.

Nach seinem Urlaub musterte Hans auf einem Trawler als Auszubildender an. Hans freute sich auf seine erste Reise. Das Schiff fuhr in die Nordsee zum Heringsfang. Jetzt begann der zweite Teil seiner Ausbildungszeit. Hans bewohnte mit einem anderen Auszubildenden die erste Backbordkammer im Vorschiff. Die Kammer hatte eine Doppelstockkoje, eine kleine fest eingebaute lederbezogene Sitzbank, einen kleinen Tisch und zwei eingebaute Kleiderspinte. Unter der Doppelstockkoje befanden sich zwei integrierte Backskisten.

Am Abend lief das Schiff aus. Er war für den Decksdienst vorgesehen. Hans war froh und glücklich. Nichts konnte ihn mehr aufhalten.

Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 2)

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