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Blackie

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In Weybridge, einem der kleinen, typisch englischen Orte in der Grafschaft Surrey westlich von London, gibt es außer dem, was in jedem englischen Städtchen zu finden ist – einer alten Kirche, einer Hauptstraße, an der die meisten Geschäfte liegen, einem Village Green für die Cricketspieler und den Häusern im Grünen –, einen besonderen Friedhof für Hunde. Jedermann weiß, dass die Engländer Tierliebhaber sind. Hunde stehen ihnen, wie man durchaus den Eindruck gewinnt, wenn man England näher kennenlernt, emotional von allen Tieren am nächsten. Sie gehören zur Familie, werden oft wie Familienmitglieder behandelt und deswegen auch häufig begraben, wenn sie sterben, und nicht nur beseitigt, wie das sonst meistens der Fall ist.

Dieser Friedhof ist alt, etwas abgelegen zur Themse hin und nicht besonders gepflegt. Es gibt dort keine rechte Aufsicht, wie auf den Friedhöfen für Menschen, wo dafür gesorgt wird, dass die Würde der Toten durch Ordnung und Pflege der Grabstätten gewahrt wird. Aber es gibt auch in den Reihen der Grabstätten für die Hunde von Weybridge etliche, die durch ihre Pflege – manchmal Blumen, Grabsteine oder sogar ein dem Gedenken eines treuen Wegbegleiters gewidmetes Denkmal – auffallen. Die Aufschriften auf den Steinen und Gedenkplatten geben oft beredten Eindruck von Trauer und treuem Gedenken, wenn man sie denn noch lesen kann, so altersverwittert sind manche von ihnen.

Eines der Gräber, die einem auffallen, wenn man durch die Reihen geht, liegt vor einer hohen Hornbeam-Hecke ziemlich am Ende des Platzes. Auf einem mit Efeu begrünten, kleinen, von Steinen eingefassten Platz steht ein weißer Stein, auf dessen polierten Seite die Silhouette eines liegenden Hundes mit erhobenem schlankem Kopf, langem Fang, aufstehenden, spitzen Lauschern und langer, buschiger Rute eingemeißelt und schwarz ausgemalt ist. Das Bild erinnert den, der sich etwas in ägyptischer Mythologie auskennt, an die Abbildungen von ›Anubis‹, der Vorstellung der frühen Ägypter von einem Gott ihres Totenreiches, der nach ihrem Glauben die Toten auf ihrem Weg in das Leben nach dem Tode betreute, für ihre Einbalsamierung und die sonstigen Riten verantwortlich war und ihre Gräber bewachte. Darunter steht in großen Buchstaben ›Blackie‹ und weiter in kleinerer Schrift: ›Warum hast du mich verlassen? Du wirst mir immer fehlen. Amy.‹ Und dann ein fünfzehn Jahre zurückliegendes Datum. Im Grün vor dem Stein steht eine schlanke dunkle Vase mit einer künstlichen Lotosblüte. Der Platz sieht aus, als werde er ständig gepflegt.

* * *

Wie merkwürdig, dachte ich, als ich an einem Frühsommertag bei einem Spaziergang durch Weybridge zufällig auf diesen den Hunden gewidmeten Begräbnisplatz gestoßen war und plötzlich vor dem Gedenkstein für ›Blackie‹ stand. Merkwürdig, weil mir bei der Besichtigung von St. James, der alten Ortskirche und ihres Friedhofs eine Stunde zuvor ein ähnliches Grab mit einem weißen Stein, gleicher Bepflanzung und gleicher Lotosblüte wegen seiner Eigenart und besonderen Pflege aufgefallen war. Da mein Weg zurück wieder an St. James vorbeiführte, suchte ich aus Neugier noch einmal das dortige Grab auf und sah meine Vermutung bestätigt, dass hier die Herrin von Blackie ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Auf dem Stein war ihr voller Name verewigt: Amy Burgess. Nach ihren Lebensdaten war sie vor zwei Jahren im Alter von nur 46 Jahren verstorben, offenbar unter unglücklichen Umständen, denn Amy Burgess‘ Lebensdaten folgte die Aufschrift: ›Mit Blackie an ihrer Seite hätte sie ihr Leben nicht so früh vollendet‹. Das bestätigte den Zusammenhang der beiden Gräber.

Während ich über diese Merkwürdigkeit nachdachte, sprach mich jemand von hinten mit einer leisen, etwas brüchigen Stimme an. »Mein Herr, sind Sie vielleicht ein Verwandter oder alter Freund von Amy Burgess?«

Ich war überrascht und sagte im Umdrehen: »Nein, nein, mir sind nur die Ähnlichkeiten zwischen diesem und einem anderen Grab aufgefallen ...«

»Sie meinen das für Blackie auf dem Hundefriedhof, nicht wahr? Das ist kein richtiges Grab, nur ein Gedenkstein.«

Vor mir stand eine ältere Frau mit einem fein geschnittenen Gesicht unter den streng gescheitelten grauen Haaren, die über ihrem dunklen, langen Kleid ein graues Tuch um die Schultern trug und mich aus hellblauen Augen aufmerksam ansah.

»Sie sind ein Fremder?«, stellte sie halb fragend fest, und als ich bestätigend nickte, fuhr sie fort: »Manche, die an diesem Grab stehen bleiben, weil sie sich für Grabinschriften interessieren, rätseln über den Zusatz, der sich auf Blackie bezieht. Die nehmen in der Regel an, dass es sich bei Blackie um einen Mann gehandelt haben muss, der diesen Beinamen wegen einer Besonderheit seines Haupthaares oder Bartes oder sogar wegen eines dunklen Aussehens trug. Und dabei war Blackie nur ein Hund, wenn auch ein ganz besonderer. Bisher bin ich noch niemandem begegnet, dem die Ähnlichkeit der beiden Plätze aufgefallen ist und der darüber nachgedacht hat. Denn wer von den Fremden, die unseren Ort besuchen, findet schon den Weg auf den Hundefriedhof, der sogar den meisten Einheimischen suspekt ist.«

Nach kurzem Nachdenken ergänzte sie: »Das ist ja eigentlich kein Wunder, weil die Beziehung zwischen einem Menschen und einem Hund so höchstpersönlich ist, dass sich weder aufseiten des Menschen und natürlich nicht auf der des Tieres jemand in die Beziehung eingebunden fühlt und an einem Hundebegräbnis Interesse nimmt.«

Halb neugierig geworden fragte ich: »Haben Sie zufällig Amy Burgess und möglicherweise diesen merkwürdigen Hund Blackie gekannt? Gibt es da eine besondere Geschichte, wie es die Inschriften auf den beiden Steinen vermuten lassen?«

»Doch, ja, ich kannte beide recht gut. Ich war die Nachbarin von Amy Burgess, hier in Weybridge. Ich habe damals dafür gesorgt, dass das Grab für Amy nach ihren Wünschen so gestaltet wurde, wie der Platz, den sie mit großem Kummer ihrem Hund Blackie widmete. Sie hat Wochen darüber gegrübelt. Ich habe ihr bei der Anlegung geholfen. Ich kümmere mich seitdem ein bisschen um den alten Hundefriedhof. Der alte Jesse, der das früher tat, lebt seit Langem nicht mehr.«

»Können Sie mir nicht ein bisschen mehr erzählen? Dies klingt nach einer Geschichte abseits des Üblichen.«

Die alte Frau bedachte sich eine Weile. Schließlich willigte sie ein. »Ich habe nie darüber geredet. Wer sollte sich schon dafür interessieren? Sie sind der Erste. Sie müssen aber etwas Geduld mit mir haben, sie braucht ihre Zeit. Ich heiße übrigens Jennifer Conston und bin die Gemeindehelferin von St. James und war, wie bereits erwähnt, für Jahre Nachbarin der Burgess’ hier in Weybridge in der Oak Lane.« Sie wies auf eine Bank zwischen zwei alten Eiben. »Wollen wir uns nicht setzen? Ich kann leider nicht mehr lange stehen.«

Und sie begann mit ihrer ruhigen, etwas brüchig wirkenden Stimme die wundersame Geschichte von einer Frau, deren Leben sich änderte, als sie in einem ›Kennel‹, einem Hundezwinger, in Weybridge einen verlassenen Hund sah und kaufte. Frau Conston unterbrach sich nur einmal für ein paar Minuten, um aus der kleinen Küche in einem Anbau der Kirche zwei Becher mit Tee und ein Schüsselchen mit Shortbread zu holen.

»Zu Hause bei mir hätten wir es bei diesem schönen Wetter eigentlich nicht viel gemütlicher haben können«, sagte sie. Sie redete fast zwei Stunden und war dann immer noch nicht am Ende. Die Zeit wurde mir nicht lang.

* * *

Amy Burgess war die einzige Tochter von Jonathan Burgess, dem pensionierten Oberst eines renommierten Infanterieregiments und seiner Frau Mary, einer geborenen Redcliffe, einer alten adeligen Offiziersfamilie. Amy wurde 1930 in Kairo geboren, als ihr Vater und sein Regiment Dienst in Ägypten taten. Nach dem Ausscheiden des Vaters aus der Armee 1937 kauften die Eltern das Haus in der Oak Lane in Weybridge und wurden unsere Nachbarn. Das arme Mädchen war durch eine frühe Erkrankung an Kinderlähmung stark behindert. Als ich sie kennenlernte, war sie gerade so weit, dass sie mit zwei Krücken wieder laufen gelernt hatte. Das Mädchen tat mir von Herzen leid. Ich war damals Ende zwanzig. Wie oft bin ich mit ihr durch den Garten oder auf dem Village Green spazieren gegangen. Dabei habe ich sie besser kennengelernt und bewundert, mit welcher Energie sie sich bemühte, die Folgen der Krankheit zu überwinden und ihr Handicap zu meistern. Das hat sie ja auch geschafft, jedenfalls so weit, dass sie nach einer gewissen Zeit nur noch einen Handstock brauchte und sich damit mühelos bewegen konnte, wenn sie nicht gerade in schwierige Situationen kam. Davon wird später die Rede sein.

Amy wurde zunächst zu Hause unterrichtet, kam, als sie einigermaßen laufen konnte, auf ein ausgezeichnetes Internat im Westen Surreys, nicht weit von Weybridge, wo man auf ihre Behinderung Rücksicht nahm. Sie entwickelte sich geistig hervorragend bis zur Collegereife. Die Weiterbildung auf einem College oder an einer Universität glaubten die Eltern ihrer Tochter jedoch nicht zumuten zu können. Da sie – besonders vonseiten der Mutter – recht vermögend waren, kam es nicht so darauf an, dass sie später ihr Brot als Lehrerin oder in einem anderen Beruf verdiente, der eine Collegeausbildung voraussetzte. Im Übrigen ging es Mrs Burgess zu der Zeit gesundheitlich nicht mehr so gut. Sie wollte ihre Tochter deswegen gern in ihrer Nähe haben. Da die aber selbst darauf bestand, etwas außerhalb des eigenen Haushalts zu tun, schon allein, um sich nicht ganz der Welt zu entfremden, schlug ihr Vater ihr nach einem langen Gespräch mit Geoffrey Merskin, dem Seniorpartner der Anwaltsfirma Merskin & Threadwell in Weybridge, die auch das Familienvermögen verwaltete, vor, sich zur Anwaltsgehilfin ausbilden zu lassen. Mit einer solchen Tätigkeit blieb sie in Weybridge und hatte die Aussicht, eine gewisse Selbstständigkeit zu erreichen. Ein Vorteil, dachten die Eltern, war zudem, dass sie bei einer solchen Ausbildung darüber hinaus die Dinge lernen werde, die ihr als zukünftiger Erbin des Vermögens ihrer Eltern nützlich sein würden. Sie hatten ebenfalls bedacht, dass man in einem so eng befreundeten Unternehmen auf ihre Behinderung Rücksicht nehmen würde. Das alles überzeugte Amy, und sie widmete sich der Ausbildung mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit und Energie. Nach zwei Jahren machte sie die vorgeschriebenen Prüfungen mit bestem Erfolg und wurde von Mr Merskin als Anwaltsgehilfin eingestellt und mit zunehmend vertrauensvollen Aufgaben beschäftigt.

Nicht viel später starb ihre Mutter, die lange leidend gewesen war, und der alte Oberst blieb mit seiner Tochter und einer ältlichen Haushälterin allein. Als diese aus Altersgründen das Haus verließ, übernahm Amy nach besten Kräften die Versorgung des Haushalts, unterstützt von einer Zugehfrau.

* * *

Ich bin mir bewusst, mein Herr, dass das, was ich Ihnen bisher erzählt habe, bei einem Fremden nicht mehr als ein höfliches Interesse erwecken kann. Aber man muss doch die allgemeinen Umstände und wichtigsten Personen kennen, wenn die Geschichte verständlich sein soll, so wie es kein Bild ohne einen guten Rahmen, keine wohlschmeckende Frucht ohne Schale gibt. Ich komme schon gleich zu den Dingen, die Ihr Interesse geweckt haben.

* * *

Der tägliche Weg zur Arbeit ins Büro der Rechtsanwaltsfirma Merskin & Threadwell an der Church Street in Weybridge führte Amy Burgess durch die Baker Street an der Tierhandlung des alten Wesley McBridle vorbei, in dessen Schaufenster es immer ein paar Vogelkäfige mit den schönsten Vögeln und auch ein paar Aquarien mit tropischen Fischen zu sehen gab. Und da das Futter für die beiden Beos, die Amy zu Hause in einer großen Voliere im Wintergarten hielt, wieder einmal zur Neige ging, betrat Amy auf ihrem Heimweg den Laden an einem späten Nachmittag. Wie üblich bei solcher Gelegenheit kam sie mit dem alten McBridle ins Gespräch, fragte ihn nach neuen Vögeln und ihrer Herkunft und danach, was es in seiner Tierwelt sonst Neues gebe.

»Ach wissen Sie, Amy«, meinte Wesley McBridle, »das Geschäft geht zurzeit recht schleppend. Kein Mensch interessiert sich mehr für exotische Vögel. Nicht mal einen Kanarienvogel habe ich in den letzten vier Monaten verkaufen können. Was mein Geschäft am Laufen hält, ist der ›Kennel‹ hinter dem Haus. Ich habe augenblicklich acht Gäste von Leuten aus dem Ort, die in den Ferien sind. Hören Sie sich nur den Krach an!« Er öffnete die rückwärtige Tür zum Hof. »Ist ja kein Wunder. Die fühlen sich verraten und verkauft. Ich habe schließlich keine Zeit mit den zum Teil doch sehr verwöhnten Tieren zu spielen. Übrigens habe ich auch ein paar Hunde zum Verkauf, die glücklicherweise nicht so einen Krach machen. Ein paar Border-Collie-Welpen und einen jungen Hund, einen Rüden, von einer Rasse, die nicht einmal ich kenne. Ein ganz sonderbares Tier, wie es mir eigentlich noch nie begegnet ist. Er ist sehr ruhig, immer höflich, meldet sich nie, frisst, was er bekommt und sieht einen mit seinen grünen Augen nur an, als sei man Luft. Ich sage Ihnen, ein ganz sonderbares Tier.«

Amy, die für alles, was zum Tierreich gehört, Interesse hatte, wenn man einmal von Spinnen und Kriechtieren absah, trat neugierig durch die Tür. Im ersten Zwinger in der langen Reihe des Kennels lag auf dem sauberen, mit Sägespänen bestreuten Boden ihr zugewandt ein großer, schlanker Hund mit glänzend schwarzem Fell und buschiger Rute. Der Kopf mit einem ziemlich langen Fang und großen, aufgestellten spitzen Ohren, lag auf den Vorderläufen. Die weiten grünen Augen sahen ruhig in die Welt. Man hatte den Eindruck, als wenn sie nicht wahrnahmen, dass gerade zwei Menschen vor dem Zwinger aufgetaucht waren. Die Rute blieb ruhig und auch die Ohren spielten nicht.

»Was für ein schönes Tier«, dachte Amy und hockte sich vor den Zwinger, um den Hund besser betrachten zu können. Zunächst änderte sich nichts, er sah durch sie hindurch in eine andere Welt. Amy machte ein paar begütigende Geräusche und sagte dann ruhig: »Es ist schade, dass du nicht mit mir reden kannst und offenbar auch nicht willst. Du bist ein schönes Tier und ich bewundere dich.«

Es war, als wenn der Hund sie verstanden habe. Obwohl er sich nicht regte, hatte Amy das deutliche Gefühl, dass sich der Fokus seiner Augen änderte, er sich auf sie einstellte und sie zur Kenntnis nahm. Die Augen schienen sogar größer zu werden und sich den Weg in ihre Augen zu suchen, ehe er sie schloss.

Amy stand auf und wandte sich Wesley McBridle zu.

»Ein recht außergewöhnlicher Hund. Sie wissen nicht von welcher Rasse? Wo haben Sie ihn eigentlich her?«

»Keine Ahnung, welche Rasse; ich habe in meinen Hundebüchern nachgesehen und nichts gefunden; jedenfalls keine Züchtung aus unserem europäischen Bereich, andererseits kann es keine Zufallskreuzung sein, was wir ›Promenadenmischung‹ nennen. Dafür ist er – wie soll ich es nennen? – zu edel. Das sieht man doch gleich. Ein junger Mann hat ihn mir vor ein paar Wochen gebracht und fast geschenkt. Er hatte den Hund aus Ägypten mitgebracht, wo er als Soldat stationiert war. Er konnte ihn nicht mehr halten, weil er einen Job in Übersee angenommen hatte und ihn nicht mitnehmen wollte. Im Übrigen sagte er mir, dass er mit dem Hund nicht richtig fertig geworden sei. Er habe nie eine Beziehung zu ihm aufbauen können.«

Inzwischen standen die beiden wieder im Laden und Amy bezahlte das Vogelfutter.

»Wären Sie vielleicht an dem Hund interessiert, Amy?«, wollte Wesley McBridle wissen, und man merkte, dass ihn die Frage einige Überwindung gekostet hatte.

»Ich? Oje, was soll ich mit so einem Riesen, Mr McBridle? So schön und irgendwie merkwürdig das Tier ist, ich habe genug mit meinen Beos zu tun. Wo soll der Hund denn bei uns bleiben? Glauben Sie nicht, dass mein Vater sich bedanken würde, wenn ich ihm so einen Koloss ins Haus holen und seiner Aufsicht überantworten würde, wenn ich nicht da bin? Und ich habe den Verdacht, dass unsere Hilfe sofort kündigen wird, wenn ich mit ihm ankomme. Nein, nein. Kein Gedanke. Wer soll denn für ihn sorgen?« Und damit verabschiedete sie sich.

Abends beim Abendessen mit ihrem Vater beschrieb sie ihm das Erlebnis. Der alte Herr schmunzelte zunächst, besann sich dann und fragte seine Tochter: »Hm, Wesley hat keine Ahnung, welcher Rasse der Hund angehört? Und er kommt aus Ägypten? Beschreibe mir den Vierbeiner einmal genauer.«

Als Amy das getan hatte, wiegte der alte Offizier nachdenklich seinen Kopf hin und her. »Ich habe Köter, die etwa so aussahen, wie von dir beschrieben, gelegentlich in Ägypten gesehen. In einigen Gegenden des Landes, besonders am oberen Nil, wurden sie sogar verehrt. Man sah in ihnen das Abbild eines ihrer früheren Götter. Die Fellachen wurden richtig aufsässig, wenn man einen dieser Hunde schlecht behandelte. Es ist ja komisch, dass du mich mit dieser Geschichte an lange vergangene Dinge erinnerst. Wir hatten einen Leutnant im Regiment, der sich eines Tages einen solchen Hund anschaffte und später erklärte, dass der Hund wie ein Mensch gewesen sei und ihn verlassen habe, weil er, der Leutnant, ihn nicht verstanden habe. Was für ein Nonsens! Ich habe den Leutnant ermahnt.«

Am nächsten Nachmittag hielt Amy abermals vor Wesley McBridles Tierhandlung, zögerte einen Moment und ging dann entschlossen in das Geschäft. Der Ladeninhaber zog die Augenbrauen hoch.

»Sie brauchen bestimmt kein Futter mehr für die Beos?«

»Nein, ich möchte noch einmal den Hund nebenan sehen.«

Sie stand erneut vor dem Zwinger, in dem der schwarze Hund in gleicher Ruhestellung lag. Als sich Amy vor den Zwinger hockte und ihm in die grünen Augen sah, merkte sie den Unterschied. Der Hund erkannte sie. Es kam wieder zu einer Art Verbindung ohne Worte über den Blick. Diesmal schloss er seine Augen nicht. Es gab auch eine andere Veränderung: Seine Rute klopfte wedelnd zweimal auf den Boden, für jeden, der Hunde kennt, ein Zeichen, der Begrüßung.

Amy war gerührt. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, als wolle er ihr etwas mitteilen, wie etwa, dass er Vertrauen zu ihr habe, und schalt sich gleichzeitig für ihre Gefühlsduselei.

»Haben Sie eine Ahnung, wie alt das Tier ist, Mr McBridle?«

»Nicht genau, Miss Amy. Der junge Mann erzählte mir, er habe ihn als Welpen gekauft, und da er nur zwei Jahre in Ägypten war und den Hund nicht gleich gekauft haben wird, dürfte er nicht viel älter als zwei, vielleicht drei Jahre sein. Übrigens: Gesund ist er jedenfalls. Ich habe ihn, bevor ich ihn übernahm, vom Veterinär untersuchen lassen.«

»Und hat er einen Namen?«

»Der junge Mann rief ihn ›Black‹, also Schwarz, und erklärte, er habe ihn wegen seiner Fellfarbe so genannt. Ein bisschen einfallslos, wie ich finde. Ich kann nicht sagen, ob der Hund selbst den Namen akzeptiert hat. Bei mir hat er nie darauf reagiert. Aber er hat sowieso auf keine Ansprache reagiert, sondern immer nur sein Futter genommen, sich ein bisschen Bewegung verschafft und sonst so dagelegen wie jetzt.«

Als Amy mit ihrem Vater beim Abendbrot saß, kam sie erneut auf den Hund zu sprechen.

»Wenn dir danach ist, Amy, kauf dir den Hund. Ich habe nichts dagegen. Ich mag Tiere. Sprich nur alles mit unserer Hilfe ab, damit er gut versorgt ist, und sage mir, wo du seinen Schlafplatz einrichtest, damit ich nicht über ihn stolpern muss.«

Er lächelte gutmütig.

Als Amy am dritten Tag erneut bei Wesley McBrides Kennel vorsprach, wusste der, dass er gewonnen hatte. Er begleitete sie zum Zwinger. Und als Amy sich vor dem Zwinger hinhockte und dem Hund in seine grünen Augen sah, da geschah das Unerwartete: Der Hund stand auf, ging auf Amy zu und bellte einmal kurz mit einem tiefen, klaren Laut, als wenn er sagen wollte: »Ich habe schon auf dich gewartet.«

So kam das jedenfalls bei Amy an. Sie bezahlte Wesley drei Pfund und erstand zusätzlich eine Hundeliege, ein Halsband mit Leine und ließ sich Instruktionen für die Fütterung geben. Als Wesley den Zwinger öffnete, kam der Hund von sich aus heraus und sah zu Amy auf, als wollte er sie auffordern, mit ihm zu gehen.

Er ließ sich geduldig das Halsband anlegen und folgte ihr bei Fuß nach Hause. Verschiedene Menschen drehten sich nach ihr und dem neuen Gefährten um. Ein merkwürdiges Paar, dachten sie.

»Ich habe den Hund gekauft, Papa!«, rief sie ihrem Vater zu, als sie nach Hause kam. Der Hund sah mit höflichem Respekt zu dem alten Herrn auf.

»Ich habe mir das schon gedacht, mein Kind. Ein wirklich schönes Tier, ein bisschen groß für meinen Geschmack, aber offenbar ruhig und gut abgerichtet. Wenn ich ihn so sehe, dann kann ich nur bestätigen, dass er den Hunden gleicht, die ich damals am oberen Nil gelegentlich gesehen habe. Vielleicht ist es ja ganz gut, dass wir einen Wächter im Haus haben. Die Einbrecher werden frecher und frecher. Und dieses Tier scheint geeignet zu sein, sie abzuschrecken. Wir werden ja sehen.«

Amy kniete sich vor ihren neuen Mitbewohner, der sie aufmerksam ansah und murmelte: »Nun gehörst du hierher. Dein ehemaliges Herrchen hat dir den Namen Black gegeben hat. Heißt du Black?«

Der Hund legte seinen Kopf etwas schief, sah sie unverwandt an, bellte wie zur Bestätigung kurz auf und wedelte freundlich mit seiner Rute.

»Auf den Namen scheint er zu reagieren«, dachte Amy und streichelte seinen Hals.

»Ich möchte dich lieber ›Blackie‹ nennen. Das klingt zwar etwas wie ein Kosename, den ein so würdevoller Hund wie du vielleicht nicht verdient, aber er geht mir leichter von der Zunge.«

Der Hund quittierte diese Ansprache mit einem weiteren leisen Laut.

»Und nun zeige ich dir, wie wir wohnen.«

Sie ging mit ihm durch das Haus, ohne das Esszimmer und die Schlafzimmer zu betreten. Er folgte ihr in den Garten, wo er einen Moment im Rhododendrongebüsch verschwand, um sein Geschäft zu erledigen. Sie zeigte ihm seinen Liegeplatz im Haus vor der Gartentür und gab ihm sein Futter. Später ging sie etwas bänglich nach oben in ihr Schlafzimmer und hoffte nur, dass mit dem Hund alles gut gehen würde.

Als sie am nächsten Morgen die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, lag Blackie vor der Schwelle und sah zu ihr auf. Er folgte ihr wie ein Schatten nach unten und legte sich auf sein Bett vor der rückwärtigen Tür, während sie das Frühstück vorbereitete, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Mr Merskin hatte zunächst die Stirn etwas kraus gezogen, als Amy die Bitte vortrug, ihren neuen Hund mit in die Kanzlei bringen zu dürfen. Da sich Amy für dessen Ruhe und Gehorsam verbürgte, überhaupt selten mit einem Anliegen kam, sah er ein, dass ein Hund für die behinderte Amy eine Hilfe sein würde. So gab er seine Zustimmung, zumal Amy in einem gesonderten Raum ohne Publikumsverkehr arbeitete. Trotzdem hätte er wahrscheinlich sofort Nein gesagt, wenn er vorher gewusst hätte, wie groß Blackie war.

Als Amy zum ersten Mal mit Blackie in die Kanzlei kam, gab es fast einen Aufstand. Selbst Mr Merskin bekam einen Schrecken, mochte dann seine Zusage aber nicht mehr zurücknehmen. Drei Tage später hatten sich alle an Amys Begleiter gewöhnt und fingen an, das schöne Tier, das so ruhig und wie selbstverständlich mit Amy erschien, ihr nicht von der Seite wich und tagsüber kaum wahrnehmbar auf einer Decke in ihrem Büro lag, nicht nur zu akzeptieren, sondern zu mögen und mit Respekt zu behandeln. Obwohl mancher der Mitarbeiter der Kanzlei wohl gern einmal den Hund gestreichelt hätte, weil Engländer Tierliebhaber sind, ließen sie das doch lieber sein. Der Hund hatte so eine Art, einen dermaßen abweisend anzusehen, dass man sich nicht traute, ihn anzufassen. Dabei hörte man von ihm kein Knurren oder gar Bellen, andererseits konnte man ebenso wenig ein freundliches Wedeln mit der langen Rute erwarten. Nur wenn Amy in ihr Zimmer zurückkam, hob Blackie sein Haupt von den Vorderläufen hoch und klopfte wie zur Begrüßung zweimal mit der Rute. Wie anders dann seine grünen Augen blickten.

Amy und ihr Vater merkten bald, was für ein außergewöhnliches Tier zu ihnen ins Haus gekommen war. Es war nicht nur mit den Sinnen eines Hundes, bei dem bekanntlich vor allem der Geruchssinn viel tausendmal besser ist als der der Menschen, und mit einem Gehör und einem Sehen im Dunkeln ausgestattet, das die Fähigkeiten eines Menschen unglaublich übersteigt, er hatte auch die Kraft eines Löwen, und wie es den Burgess’ schien, den Verstand eines intelligenten Menschen. Es gab eine Besonderheit an ihm. Amy hatte schon, als sie ihn kaufte, gemerkt, dass Blackie kaum spielerische Neigungen hatte, sondern trotz seiner Jugend sehr erwachsen wirkte. Es kam nie vor, dass er ausgelassen auf dem Rasen herumtollte, kläffte, und man ihm die Freude am Leben und Spielen anmerkte. Er war stets ruhig und ausgeglichen, fast würdevoll in seiner Haltung und höflich, wie Amy fand.

Immer wieder setzte Blackie sie und ihren Vater mit seinen Fähigkeiten in Erstaunen. Am Klang ihrer Worte und bestimmten Gesten schien Blackie ihre Wünsche aufzunehmen. Nach nur wenigen Tagen war ihm klar, dass die Schlafräume und das Esszimmer ›off limits‹ für ihn waren. Er überschritt nie die Schwellen, sondern lag allenfalls auf der Schwelle, sein Haupt auf den Vorderläufen, wenn er Amy zusah, was sie machte. In allem, was er tat, wie er sich benahm, war klar, dass ihr seine Loyalität gehörte. Er war ihr bald eine Art Paladin, eine Mischung von Beschützer, Begleiter und Freund, ohne in dieser Rolle das Geringste seiner eigenen eindrucksvollen Persönlichkeit einzubüßen.

Amy musste den Hund nach kurzer Zeit auf der Straße nicht mehr anleinen. Er gehorchte ihr aufs Wort, ging ohne weitere Kommandos bei Fuß, kreuzte mit ihr die Straßen, wobei er die Gefahren, die von Fahrzeugen ausgingen, offenbar bald einzuschätzen wusste. Er machte Amy, die gelegentlich in Gedanken war, sogar mehr als einmal durch kurzes Bellen auf ein näher kommendes Auto aufmerksam. Er schien instinktiv zu wissen, wann eine Gefahr für Amy drohte, ob im Straßenverkehr oder beim Zusammentreffen mit anderen Menschen oder Tieren. In den Fällen wurde der sonst so gutmütige Hund ein anderer. Seine schönen, ziemlich langen Stichelhaare stellten sich am Nacken und Rücken auf, sodass er größer zu werden schien, seine Lefzen hoben sich an, und man hörte ihn zunächst nur leicht knurren. Schien sich die Gefahr zu vergrößern, wurde das Knurren laut und scharf. Und meist genügte das und ein Blick aus seinen, wenn möglich noch größeren grünen Augen, den Eindringling zu vertreiben. Aber es bedurfte nur eines leisen Wortes von Amy, ihn zu beruhigen. Ein- oder zweimal erlebte sie, dass aus ihrem sonst so ruhigen Blackie ein rasender Teufel wurde, einmal als zwei betrunkene Jugendliche abends auf Amys Heimweg handgreiflich werden wollten und ein anderes Mal, als ein streunender Schäferhund Amy anzubellen wagte.

Ein paar Ereignisse, die sich kurz hintereinander ereigneten, überzeugten auch den alten Obristen Burgess von den außergewöhnlichen Qualitäten des Hundes. Das erste war, dass Blackie eines Nachts Vater und Tochter mit kurzem Bellen aus dem Schlaf holte und sie zur Tür zum Garten führte, von wo aus sie sehen konnten, dass im Anbau eines der benachbarten Häuser Feuer ausgebrochen war, das bisher offenbar von niemandem sonst entdeckt worden war. Die Nachbarn waren bald geweckt, die Feuerwehr schnell zur Stelle.

Eines Tages hatte der Oberst seine Brille verlegt und tappte einen halben Tag halb blind herum, bis Amy auf den Gedanken kam, mit Blackie auf die Suche zu gehen. Es schien fast unmöglich, dem Hund den Suchauftrag zu vermitteln. Amy zeigte ihm eine Brille, ließ ihn am Brillenfutteral Witterung aufnehmen und schickte ihn dann durch Haus und Garten. Zur Überraschung und Freude des Hausherrn kam er nach nur einen halben Stunde und führte Amy und ihren Vater in das Gewächshaus im Garten. Die Brille war zwischen zwei Blumentöpfe gefallen, als der Oberst sie am Morgen eilig abgelegt hatte, um zum Frühstück ins Haus zu gehen.

Und ein drittes Ereignis festigte bei Oberst Burgess die Überzeugung, dass dieses unglaubliche Wesen, wie er Blackie nun respektvoll nannte, die beste Ergänzung des Haushalts gewesen sei, die er sich vorstellen könne.

Zwei, wie sich herausstellte, lang gesuchte Kriminelle verschafften sich eines Nachts über einen Anbau, in dem Waschküche und Vorratsräume untergebracht worden waren, Zugang zum Haus. Als sie die Tür vom Anbau in das Haus öffneten, wurden sie, wie sie später aussagten, von einer riesigen Bestie mit gesträubtem Haar und gefletschtem Gebiss angefallen, zu Boden gerissen und dort festgehalten. Der Krach hatte außer Amy natürlich auch Oberst Burgess auf den Plan gebracht, der die Einbrecher mit einer alten Armeepistole in Schach hielt, bis die Polizei kam.

Und auch um die altehrwürdige Firma Merskin & Threadwell machte sich Blackie eines Tages in einer Weise so verdient, dass ihm der alte Joshua Donahue, der in der Firma die Akten verwaltete, später überirdische Kräfte nachsagte. Soweit wollten Mr Merskin und seine Partner zwar nicht gehen, doch selbst sie waren tiefer beeindruckt, als man es diesen beruflich an ungewöhnliche Begebenheiten gewöhnten, nüchternen Männern zugetraut hätte.

Die Geschichte trug sich wie folgt zu: Zu den Rechtsangelegenheiten, die Merskin & Threadwell seit ihrer Gründung für eine vornehme Familie, die Viscount Haswells von Colridge Manor bei Guildford, zu erledigen hatten, gehörte die Betreuung von Nachlassangelegenheiten. Eines Tages rief Julia Haswell, die Tochter von Viscount Alexander und Viscountess Virginia Haswell an und hinterließ für Mr Merskin die Nachricht, dass sie ihn am nächsten Tag besuchen möchte. Sie wolle einen versiegelten Umschlag abholen, dessen Inhalt ihr von ihrer vor siebzehn Jahren verstorbenen Großmutter vermacht und von der Firma als Testamentsvollstrecker verwahrt worden war und der ihr an oder nach ihrem 21. Geburtstag als Erbin zustehe. In dem Umschlag war eine Kassette mit einem Collier, das seinen bedeutenden Wert vor allem einem besonders großen Sternsaphir und wertvollen Brillanten verdankte. Das Collier war bei Lloyds mit 210.000 Pfund Sterling versichert. Das Schmuckstück stammte aus Indien. Angeblich war es ursprünglich das Geschenk eines indischen Maharadschas für die Frau eines Haswell-Vorfahren, der als Brigadegeneral in Indien Dienst tat. Julia Haswell hatte erklärt, sie werde am darauffolgenden Wochenende 21 Jahre alt und wolle das Schmuckstück gerne bei einem Fest anlegen, welches ihr Vater aus diesem Anlass für sie veranstalte. Ihre Mutter war drei Jahre zuvor verstorben.

Die Ankündigung dieses Besuchs machte Mr Merskin zu schaffen. Einerseits durfte der Umschlag nach den Bedingungen des Legats erst am oder nach ihrem 21. Geburtstag an Julia Haswell herausgegeben werden, andererseits hatte sie ja gerade am Tage des Festes Anspruch auf die Juwelen, und es war durchaus verständlich, dass sie sich dann damit schmücken wollte. Irgendwie musste ein Weg gefunden werden, die rechtlichen Bedingungen einzuhalten und der jungen Frau trotzdem die Juwelen für ihren Geburtstag zukommen zu lassen. Jedenfalls veranlasste Mr Merskin, dass der Umschlag aus dem Tresor der Midland Bank in Guildford abgeholt wurde, wo derartige Verwahrstücke für Klienten normalerweise aufbewahrt wurden, und in den firmeneigenen Tresor verbracht wurde.

Wie angekündigt, erschien Julia Haswell am nächsten Morgen gegen 10 Uhr in der Kanzlei. Mr Merskin hatte auf sie, eine hübsche und natürliche junge Frau, schon gewartet und geleitete sie persönlich in sein Büro, wo bereits Amy und Mr Goodwin, ein Juniorpartner der Kanzlei, mit dem Umschlag warteten. Der alte Merskin machte zunächst ein bisschen Umstände und nötigte seinen Besuch zu einer Tasse Tee. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als Julia Haswell zu erklären, dass er ihr aus rechtlichen Gründen den Inhalt des Umschlags heute leider nicht aushändigen dürfe. Die Enttäuschung der jungen Frau war riesengroß.

»Bis dahin sind es doch nur noch drei Tage, Mr Merskin. Mein Vater ist ebenfalls der Ansicht, dass das wohl nach allen Standards nach so vielen Jahren keinen Unterschied mehr machen könne. Es ist im Übrigen für mich ein so großer Tag.«

Sie fing sogar an zu weinen, was Mr Merskin nur nervöser machte.

»Ich verstehe Ihre Situation ja völlig, liebes gnädiges Fräulein. Wer könnte nicht! Aber die juristischen Regeln sind nun einmal wie eiserne Klammern. Ich kann sie nicht ändern. Und ich möchte nicht wissen, was die Versicherung sagen würde, wenn wir uns an die genauen Regeln für die Aushändigung nicht halten würden.«

Er schnäuzte sich, weil die Aufregung etwas viel für ihn wurde.

»Nun beruhigen Sie sich bitte, mein Fräulein. Wir haben uns ja schon einen Weg ausgedacht, wie dem Recht einerseits und Ihrem Anspruch, das Juwel am Tag Ihrer Volljährigkeit tragen zu können, Genüge getan werden würde. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder wird es Ihnen hier am Sonntag, Ihrem Geburtstag, zur Verfügung stehen. Wir werden also hier sein, wenn Sie es abholen lassen. Oder aber, wir bringen es Ihnen an Ihrem Geburtstag nach Hause. Amy Burgess, meine Assistentin, hat sich bereit erklärt, den Umschlag mit angemessenem Schutz zu Ihnen nach Colridge Manor zu bringen, sodass es Ihnen dort spätestens zur Mittagsstunde zur Verfügung steht.«

Die Aussicht darauf, dass sie ihren Schmuck rechtzeitig erhalten würde, beruhigte die junge Frau. Sie wandte sich an Amy. »Würden Sie das wirklich für mich tun? Ich wäre Ihnen ja so unendlich dankbar. Ich selbst kann an dem Tag nicht kommen. Mein Vater, der gesundheitlich nicht besonders gut dran ist, könnte ebenso wenig kommen und der ganze Haushalt steht sowieso kopf wegen des Festes am Abend. Ich würde Sie auch gern einladen, daran teilzunehmen, wenn Sie mir den Gefallen erweisen. Ich schicke Ihnen unseren Wagen mit John, unserem Chauffeur, der Sie sicher nach Guildford bringen wird und zurück.«

»Ich tue das gern, Miss Haswell, und komme lieber mit meinem eigenen Wagen. Ich fühle mich sicher, zumal ich besonderen Schutz habe.«

Diese Bedingung, dass Blackie sie auf der Fahrt begleiten dürfe, hatte sie Mr Merskin abgetrotzt.

»Dann ist ja alles wunderbar geregelt.« Julia Haswell war erleichtert. »Ich bin allerdings überrascht, wie formal die Juristen sind und wundere mich natürlich ein bisschen darüber. Das müssen Sie, Mr Merskin, einer jungen Frau ohne Erfahrung nachsehen. Aber Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich dieses Erbstück, dieses Juwel, das als wichtigste Preziose der Familie gilt und das nur meine Mutter ein paar Mal getragen hat, nachdem Großmutter gestorben war, gern einmal wiedersehen und in der Hand halten möchte, wenn Sie es mir denn schon nicht heute überlassen wollen.«

Mr Merskin überlegte nur kurz. »Dagegen kann wohl keiner etwas haben, gnädiges Fräulein. Amy, geben Sie mir bitte mal den Umschlag.«

Er nahm den Umschlag, zeigte das unversehrte Siegel, brach es und entnahm ihm eine blaue Kassette, die er auf den Tisch legte. Mr Merskin wandte sich fast väterlich an Julia Haswell. »Öffnen Sie nur die Schatulle. Es ist ja bald die Ihre.«

Julia Haswell drückte auf den goldenen Knopf an der einen Längsseite, der Deckel sprang auf.

Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erstaunen und gleichzeitig Erschrecken ab. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, als wenn sie einen Schrei unterdrücken wolle. Alle anderen sahen es im gleichen Moment: Die Kassette war leer. Einen Augenblick stand entsetztes Schweigen im Raum. Selbst der sonst so beherrschte Mr Merskin war wie gelähmt. Dann sprachen mehrere Stimmen gleichzeitig durcheinander. Mr Merskin wollte schon nach der Kassette greifen, um sie näher zu untersuchen, als Amy ihn zurückhielt und ihm halblaut riet, sie nicht zu berühren, um mögliche Spuren nicht zu verwischen. Der alte Herr gewann sofort wieder seine besonnene Ruhe und Autorität.

»Bitte, niemand darf etwas anrühren. Hier ist etwas völlig Unglaubliches passiert. Ich fürchte, wir müssen die Polizei einschalten.«

Mr Merskin unternahm es selbst, das zu tun, bat Mr Goodwin, alle Unterlagen bezüglich des Verwahrstücks für eine Untersuchung vorzubereiten, und Amy, sich der immer noch fassungslosen Julia Haswell anzunehmen. Das Zimmer mit dem Umschlag und der Kassette auf dem Tisch wurde verschlossen.

Es gelang Amy, Julia Haswell einigermaßen zu beruhigen. Sie stellte ihr Blackie vor und war froh, in ihr eine tierliebende Seele zu entdecken, die darüber fast ihren Kummer vergaß. Blackie schien zu fühlen, dass Amy seine Hilfe brauchte und gab sich einigermaßen zutraulich, sodass Julia schließlich von Rasse und Würde des großen Hundes ganz fasziniert war und anfing, mit Amy über die Möglichkeit zu reden, mit ihm eine Zucht anzufangen. Dieser Vorschlag kam ihr ganz natürlich, weil ihr Vater, wenn man ihr glauben konnte, durchaus mit ihrer Hilfe eine eigene Spanielzucht aufgebaut hatte. Sie redete über das Thema mit großem Engagement und offenbar umfangreicher Sachkenntnis, was Amy, der solche Überlegungen völlig fernlagen, einigermaßen verlegen machte. Jedenfalls überbrückte das großartig die Zeit, bis Mr Merskin die beiden jungen Frauen in das Besuchszimmer bat, in dem inzwischen zwei Detektive der Polizei des County Surrey warteten. Leutnant Morsley begann mit seiner Vernehmung und ließ sich Hintergrund und Umstände dieses merkwürdigen Verlustes erklären. Es wurde festgestellt, dass der Umschlag mit unbeschädigtem Siegel von der Bank in die Kanzlei gebracht und erst dort in Gegenwart von allen Beteiligten geöffnet worden sei. Es wurde weiter festgestellt, dass der Umschlag mit der Kassette in den vergangenen Jahren ab und zu aus der Verwahrung geholt worden war, weil Julia Haswells Mutter bis zu deren 21. Geburtstag ein Verfügungsrecht über den Schmuck hatte und ihn wiederholt benutzte. Der Schmuck wurde anschließend zurück in die Verwahrung durch die Firma Merskin & Threadwell verbracht.

Hier hakten die erfahrenen Detektive ein. Wie oft war der Umschlag in den Jahren abgeholt worden? Wann zum letzten Mal? War er versiegelt zurückgebracht worden oder waren Kassette und Inhalt überprüft und der Umschlag in der Kanzlei versiegelt worden?

Es brachte Mr Merskin und die zuständigen Mitarbeiter in der Kanzlei etwas ins Schwitzen, glaubwürdig zu erklären, dass der Umschlag mit der Kassette vor vier Jahren zum letzten Mal abgeholt und mit dem Siegel der Haswells verschlossen, zurückgebracht und in Verwahrung genommen worden sei.

Das machte eine Untersuchung erforderlich, wie mit dem Schmuck umgegangen wurde, wenn er von der letzten Viscountess Haswell benutzt wurde. Mr Merskin hatte den Viscount bereits telefonisch von dem Verlust des Schmucks unterrichtet und verabredete in einem weiteren Gespräch, dass Detektive mit den sonstigen Beteiligten von Merskin & Threadwell am folgenden Tag nach Colridge Manor kommen würden, um die Untersuchung fortzusetzen. Viscount Haswell bat darum, die ganze Angelegenheit vertraulich zu behandeln, was Mr Merskin ihm auch zusicherte.

Am Kopf des Eichentisches in der großen Halle von Colridge Manor saß der alte Viscount Haswell, rechts neben ihm Mr Merskin, links von ihm seine Tochter Julia. Sonst um den Tisch verteilt saßen die beiden Detektive, Mr Goodwin von der Kanzlei und ganz am Ende Amy. Wie üblich lag Blackie hinter ihrem Stuhl. Vor dem Tisch hatten sich einige der Angestellten des Hauses aufgestellt, an ihrer Spitze der Butler, der weißhaarige George Boswell, dann der Sekretär des Viscount, Alfred Erwin, und ihm folgend noch die ehemalige Zofe der Viscountess und der Fahrer John. Auf die Anwesenheit weiterer Angestellter hatten die Detektive verzichtet. Das Corpus Delicti, der Umschlag mit der leeren Kassette, lag auf einem kleinen Tisch etwas an der Seite.

Detektiv-Leutnant Morsley gab dem Viscount und den sonstigen Beteiligten einen kurzen Bericht über den Sachstand der Untersuchung. Er endete damit, es gebe gewisse Verdachtsmomente, dass das bedeutende Familienschmuckstück beim letzten Gebrauch hier in Colridge Manor abhandengekommen sei. Um diese zu erhärten oder auszuschließen sei vorgesehen, alle Mitglieder, die mit dem Schmuckstück zu tun gehabt hätten, zu befragen. Darüber hinaus wolle man auf Wunsch der Familie die Hilfe von Hunden einsetzen, die mit ihrem Geruchssinn vielleicht schneller, als es Menschen vermögen, Spuren finden könnten. Dahinter steckte ein von Amy mit Julia Haswell ausgedachter Einsatz von Blackie, dem nach einigem Zögern auch der Viscount zugestimmt hatte, nachdem er Blackie kurz kennengelernt und mit den Augen eines erfahrenen Hundezüchters seine Klasse und Integrität festgestellt hatte, obwohl er die Rasse selbst nicht kannte.

Amy stand auf. Blackie folgte ihr bei Fuß. Sie führte den Hund zu dem Tisch mit den Asservaten und ließ ihn kurz Witterung an der Kassette aufnehmen. Der Hund verstand offensichtlich, was man von ihm wollte. Er hob seine Nase in die Luft, drehte seinen Kopf hin und her. Und dann geschah das Unerhörte. Er nahm mit seinem Fang die Kassette auf, bevor ihn irgendeiner daran hindern konnte, drehte sich um und steuerte ohne Umschweife auf die Reihe der Angestellten zu und legte die Kassette vor die Füße von Alfred Erwin, dem Sekretär, setzte sich auf seine Keulen, sah den Mann aus seinen grünen Augen an und bellte einmal mit seiner tiefen Stimme.

Der Mann war bleich geworden. Er fing an zu zittern und schrie plötzlich: »Nehmt den Hund weg! Nehmt den Hund weg! Der Hund macht mich verrückt!«

Unvermittelt drehte er sich um und stürzte aus der Halle, ohne dass ihn jemand aufhalten konnte, weil alles so plötzlich geschah.

Nachdem sich die allgemeine Aufregung etwas gelegt hatte, standen Detektiv-Leutnant Morsley und Mr Merskin bei Viscount Haswell und unterhielten sich, was weiter zu tun sei.

»Mein Mitarbeiter kümmert sich schon um Mr Erwin. Der Mann scheint nicht bei sich zu sein. Er jammert nur und redet wirres Zeug, als sei er behext. Wir werden ihn wohl mitnehmen müssen, Viscount Haswell.«

»Nur zu. Ich hätte nicht gedacht, dass Alfred zu einer solchen Tat fähig wäre. Immerhin war er dreizehn Jahre in meinen Diensten. Bisher ist ja nichts bewiesen. Wir haben vor allem das Schmuckstück noch nicht gefunden, den Beweis seiner Schuld.«

Da mischte sich seine Tochter Julia ein, die hinter ihm stand.

»Wenn du erlaubst, Vater, könnten wir mit dem Hund danach suchen. Ich habe da alles Zutrauen.«

Der alte Herr dachte kurz nach. »In mir sträubt sich etwas dagegen. Man muss jedem Menschen, so verdächtig er sich auch gemacht hat, doch seinen Freiraum geben. Andererseits bin ich hier Herr im Haus. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen.«

Eine halbe Stunde später waren Detektiv-Leutnant Morsley mit Julia Haswell und Amy wieder in der Halle. Sie hatten in Begleitung des Butlers mit dem Hund das kleine Apartment des Sekretärs inspiziert. Blackie hatte sie ohne zu zögern zu einer Kommode geführt, bei deren näherer Untersuchung sich ein Päckchen fand, das mit Klebestreifen unter dem Boden der Kommode befestigt war, darin lag das Collier. Es war fast unbeschädigt. Es fehlte nur einer der Brillanten. In einer Schatulle im Nachttisch fanden sich 3.610 Pfund Sterling mit der Abrechnung eines Londoner Juweliers über den Ankauf eines Brillanten für 4.000 Pfund. Das, die Fingerabdrücke des Sekretärs und schließlich sein Geständnis lösten den Fall. Er hatte vor vier Jahren den Auftrag der Viscountess Haswell, das Collier, das sie für eine Wohltätigkeitsveranstaltung unter ihrer Schirmherrschaft benutzt hatte, der Kanzlei Merskin & Threadwell zurückzugeben, auf seine Weise gelöst. Er hatte den Halsschmuck für sich behalten und die leere Kassette im versiegelten Umschlag zurückgesandt. Er hatte geplant zu kündigen und sich mit seinem Raub abzusetzen, dann aber den Absprung verpasst.

Alle freuten sich über die Aufklärung der Geschichte und beglückwünschten Amy zu ihrem erstaunlichen Hund und seinen fast übernatürlichen Kräften.

Detektiv-Leutnant Morsley lächelte ein bisschen und wandte sich zu Oberst Burgess. »So übernatürlich muss das nicht gewesen sein. Wenn das Kästchen noch die Witterung des Burschen nach dem letzten Einpacken trug, dann hat Ihr Blackie sie vielleicht nur zu dem getragen, dessen Witterung er aufgenommen hatte. Es ist erstaunlich, was solche Vierbeiner können. Immerhin war es vier Jahre her, dass Alfred die Kassette in Händen gehabt hatte. Verwunderlich ist allerdings, dass der Hund in Alfreds Zimmer sofort auf das Päckchen unter der Kommode zusteuerte. Alle anderen Objekte in dem Zimmer trugen die gleiche Witterung von Alfred. Tja, bemerkenswert ist das schon.«

Julia trug das Collier am Sonntag zum großen Fest, das ihr Vater ihr aus Anlass ihres 21. Geburtstags gab. Sie trug es ohne den fehlenden Brillanten und hatte geschworen, dass der zur Erinnerung an diese Geschichte nie ersetzt werden solle. Zu den Gästen des Festes gehörten auch Amy Burgess und Blackie. Der lag während des glanzvollen Empfangs allerdings nur auf der Schwelle der großen Tür zur Halle und beobachtete, was seine Herrin machte. Alle, die vorbeigingen, machten einen respektvollen Bogen um ihn. Er beachtete niemanden.

* * *

Eine richtige Kriminalgeschichte, nicht wahr, mein Herr? Ich habe das alles von Amy Burgess selbst, die sich noch Wochen danach nicht über die Aufregungen, die es besonders in der Kanzlei gab, beruhigen konnte. Den Haswells und vor allem den Burgess‘ war es eigentlich gar nicht lieb, dass sie und der Hund durch die Geschichte so bekannt wurden. Es gab sogar ein paar Zeitungsreporter, die darüber schrieben. Aber das war über die Jahre eigentlich nicht einmal die wichtigste der Geschichten, die sich um diesen außergewöhnlichen Hund rankten.

* * *

Im Laufe der Zeit gewann Amy den Eindruck, dass Blackie ein besonderes Benehmen an den Tag legte, wenn sie an Friedhöfen vorbeigingen. Er hob dann seinen Kopf höher, stellte seine großen Lauscher noch mehr als sonst auf und schien mit seiner auffälligen Haltung anzeigen zu wollen, dass er die Besonderheit des Ortes erkenne und würdige. Er benahm sich, wie Amy fand, ›feierlich‹, wie man es bei Menschen nennen würde. Darüber hinaus schien er sie durch Zeichen auf den Genius Loci hinweisen zu wollen, ging dicht bei Fuß oder sogar etwas vor ihr, stieß sie manchmal mit seiner Schnauze leicht an oder blickte zu ihr hoch. Wenn sie, wie es selten vorkam, über den Friedhof gingen, blieb er, wenn Amy an einem Grab stehen blieb, auf seinen Keulen sitzen und bellte mit einem Laut kurz auf, der sich wie ein Klageruf anhörte.

Amy stellte diese Eigenart fest, wenn sie, wie es fast täglich geschah, am Friedhof von St. James vorbeigingen oder ihn betraten. Selbst auf dem Hundefriedhof benahm sich Blackie sonderbar. Sie machte sich darüber Gedanken und kam zu dem Schluss, dass Blackie offenbar ähnliche Gefühle wie Menschen entwickelte, die an solchen Orten ihr Verhalten dämpften, um den Frieden und die Würde des Ortes der Toten nicht zu stören. Nur das merkwürdige gelegentliche Bellen konnte sie sich nicht erklären.

Im Laufe der Zeit bestätigte sich dieses eigenartige Verhalten des Hundes auf oder in der Nähe verschiedener anderer Friedhöfe und sonstiger Begräbnisstätten, aber auch bei der Begegnung mit Beerdigungsprozessionen. Amy fiel auf, dass sich umgekehrt aus seinem Verhalten Rückschlüsse darauf ziehen ließen, dass man sich in der Nähe eines Begräbnisplatzes befand, den man selbst als solchen eigentlich nicht erkannt und gewürdigt hatte.

Blackie wusste anscheinend genau, dass sie sich an einem Platz befanden, auf dem viele Menschen zu Tode gekommen und begraben worden waren, als er mit Amy den alten Oberst Burgess beim Besuch verschiedener historischer Schlachtfelder begleitete und zeigte das dann durch sein verändertes Verhalten. Das war so nicht nur bei einem Besuch der Normandie, wo sie zunächst die Landungsstellen der alliierten Truppen am D-Day 1944 besuchten, sondern auch später, als sie über das Schlachtfeld von Azincourt bei Calais gingen, wo die Engländer unter König Henry V. während des Hundertjährigen Kriegs im Jahre 1415 die Franzosen vernichtend geschlagen hatten, als Charles VI. König von Frankreich war.

Genauso war es, ein paar Jahre später, als sie bei anderer Gelegenheit das Schlachtfeld von Hastings in Battle in East Sussex besuchten, auf dem 1066 Herzog William aus der Normandie den letzten angelsächsischen König Harold II. und seine Truppen besiegte und König von England wurde, oder auf dem Stück Erde bei Leicester, auf dem im Jahr 1485 König Richard III. sein Leben verlor und der Sieger, Henry Tudor, Earl of Richmond, König von England wurde, der Erste der Tudors.

Aber es waren nicht nur Stätten aus historischen Zeiten, denen die Besuche der Burgess’ galten und die dann die besondere Aufmerksamkeit des merkwürdigen Hundes erregten. Er gab gleiche Zeichen seiner würdevollen Anteilnahme, als sie bei anderen Reisen auf prähistorische Grabstätten des Neolithikums und der Bronzezeit stießen und sogenannte Burial Mounds, Barrows, oder Hügelgräber, lateinisch Tumuli, besichtigten, wie sie nicht nur in England, sondern in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern für Edelleute ihrer Zeit errichtet wurden.

Wohlgemerkt, Blackie reagierte in der ihm eigenen Weise nicht nur bei größeren Begräbnisplätzen wie Friedhöfen oder Massengräbern, sondern auch bei einzelnen Grabstätten, Mausoleen und half sogar dabei, einige unbekannte Begräbnisstätten zu finden.

So entdeckte er bei einem Besuch auf der Farm eines alten Freundes von Oberst Burgess, einem pensionierten Obersten der Coldstream Guards, in der Nähe von Colchester in Essex, das bis dahin unbekannte Grab von römischen Soldaten. Als man bei einem Rundgang einem Weg an einer alten Steinmauer folgte, blieb Blackie an ein paar Steintrümmern mit allen inzwischen bekannten Anzeichen, dass er etwas ihn Interessierendes entdeckt habe, stehen und gab schließlich Laut. Es entspann sich ein längeres Gespräch, in dem Oberst Burgess seinem Freund auseinandersetzte, dass dieses Verhalten des Hundes auf eine Grabstätte hinweise, was der Freund zunächst belächelte, dann aber doch aufnahm. Er veranlasste jedenfalls an einem der Folgetage, dass Leute die Trümmer untersuchten und tatsächlich in ihnen Reste eines Denkmals fanden, das über einem Grab stand, in dem nach den Funden sechsundzwanzig römische Legionäre einschließlich eines höheren Offiziers begraben waren. Sorgfältige Analysen ergaben, dass es sich um Legionäre der IX. Legion handelte, die damals, im Jahr 60 A. D., gegen den Aufstand von Boadicea, der Führerin der Inceni und Trinovantes gegen die Römer, gekämpft hatten und hier offenbar einem Überfall durch die Inceni erlegen waren. Rang und Namen des Offiziers konnten nicht ermittelt werden.

* * *

Wird Ihnen die Aufzählung dieser verschiedenen Ereignisse mit ihren historischen Bezügen, die sich über die Jahre ereigneten, nicht langsam langweilig, mein Herr? Nein? Ich könnte noch ziemlich lange damit fortfahren. Insbesondere gibt es zwei Geschichten, in denen sich Blackie bei der Auffindung von Leichen und der Aufklärung von Verbrechen bewährte. Außerdem mehr als eine, in denen er sich als Beschützer von Amy und ihrem Vater verdient machte. Alle Leute bestätigten, dass sich der sonst so ruhige und zurückhaltende Hund in ein Untier verwandeln konnte, wenn irgendjemand Amy zu nahe trat. Er hat allerdings niemals einen Menschen verletzt oder gar getötet. Er machte sie mit seiner Wut und seiner Kraft nur bewegungsunfähig und, vor allem, wie soll ich sagen, schreckensstarr.

Aber, ich sehe ein, das würde alles nur zu weit führen, und die Zeit ist fortgeschritten. Und manches wiederholte sich ja auch bei diesen Geschichten im Allgemeinen, obgleich die Details sehr unterschiedlich sein konnten. Wenn Sie mir ein bisschen mehr Zeit gönnen, dann will ich noch zu zwei weiteren Begebenheiten kommen, die mir jedenfalls immer besonders bemerkenswert erschienen. Also zur ersten:

* * *

Als Oberst Burgess und seine Tochter in einem Sommer eine kurze Ferienreise an die Ostküste von Kent machten, um einen anderen alten Freund des Obersten, Mr Thornton White, einen Verleger und Zeitungsbesitzer, zu besuchen, kamen sie in die Gegend von Ramsgate. Der Freund zeigte ihnen die Umgebung und führte sie unter anderem zu den Ruinen eines Klosters, das seine Ursprünge auf den heiligen Augustin zurückführte, der hier schon in frühchristlichen Zeiten missioniert hatte. Das Kloster sei, wie er sagte, sehr reich gewesen, später von den Wikingern mehrmals überfallen und ausgeraubt, zunächst aufgebaut worden, bis beim dritten Mal die Mönche alle umgekommen seien und sich für lange Jahrhunderte niemand mehr um die Reste der Priorei gekümmert habe. Die sei verfallen und erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und zu einem historischen Denkmal erklärt worden. In Begleitung des Aufsehers über das historische Denkmal, eines Kurator Blanes, gingen die Besucher erst durch ein kleines Museum und besichtigten dann die Ruinen der einstmals riesigen Anlage. Sie hatten sich in dem, was von der ehemaligen Klosterkirche übrig war, umgesehen und einige der Grabplatten mit den kaum noch lesbaren Inschriften besichtigt und gingen danach durch das Gemäuer der alten Abtei, als Blackie, der bis dahin Amy ruhig gefolgt war, einmal mit seiner tiefen Stimme bellte. Amy blieb stehen und beobachtete den Hund, der in einer Weise, die sie von anderen Fällen kannte, anzeigte, dass er etwas Wichtiges gefunden habe. Er stand über einer großen Steinplatte, die in der Ecke eines nur noch von Grundmauern gekennzeichneten Raumes eingelassen war, den man ›The Abbots Room‹ markiert hatte, also eines Raumes, der das Zentrum der ursprünglichen Priorei war.

Auf Amys Zuruf blieben die drei Herren stehen und sahen dem Hund zu, der aufgeregt mit den Pfoten auf die Steinplatte tappte. Amy erklärte, dass ihr Hund diese Zeichen nur gebe, wenn er an einem Ort etwas Wichtiges gefunden habe. Der Kurator schien diesen Hinweis zunächst nicht ernst zu nehmen. Auf die Bemerkung von Oberst Burgess, dass er gelernt habe, dem Hund außergewöhnliche Fähigkeiten im Auffinden von Begräbnisstätten, vergessenen oder verlorenen Dingen und sogar Altertümern zuzutrauen, wurde er jedoch aufmerksam.

»Merkwürdig, dass Sie das so betonen, Mr Burgess. Mir kommt dadurch eine alte Mär in Erinnerung, die wissen will, dass die Mönche der Abtei verstanden hätten, einiges von ihrem Reichtum vor den marodierenden Wikingern in Sicherheit zu bringen. Aber sie starben beim letzten Überfall ja alle und konnten nicht mehr reden. Eine Menge Leute sollen in den vielen Hundert Jahren nach einem solchen Schatz, von dem die Mär wissen wollte, gesucht haben. Nie wurde bekannt, dass tatsächlich etwas gefunden wurde.« Er schmunzelte. »Wenn es Sie tröstet: Ich werde morgen einmal mit Professor Elgan von Cambridge reden, der uns in wissenschaftlichen Fragen, die diese historische Stätte betreffen, berät. Vielleicht sieht der einen Sinn darin, der Aufforderung Ihres Wunderhundes zu folgen. Wir können heute, wie Sie wohl einsehen werden, kaum etwas unternehmen.«

Nun musste auch Oberst Burgess lachen. Und die Gesellschaft wanderte weiter. Amy rief Blackie, der auf der Steinplatte sitzen geblieben war, ab, und der Hund folgte ihr, allerdings, wie es ihr schien, mit einigem Zögern.

Drei Wochen waren vergangen, als sich Kurator Blanes telefonisch bei Oberst Burgess meldete und mitteilte, dass man die von seinem Hund gewiesene Spur auf Wunsch des wissenschaftlichen Beirats verfolgt habe und völlig unerwartet und in überreichem Maß fündig geworden sei. Unter der Grabplatte der angelsächsischen Adelsfamilie habe man Geröll gefunden, aber darunter den Zugang zu einer unterirdischen Krypta. Und in der habe man nicht nur Gräber früherer Äbte gefunden, die aus den Annalen des Klosters bekannt seien, sondern auch die sterblichen Überreste einer Reihe von Mönchen, die sich hier offenbar vor den marodierenden Wikingern versteckt hatten. Dazu habe unter anderem der letzte Abt Gero gehört, dessen Überreste man an seinen Insignien identifiziert habe. Im Übrigen sei dort unten der Schatz gefunden worden, von dem die Mär wusste und über den er bei dem Besuch der Burgess’ berichtet habe. Es handele sich dabei um silbernes kirchliches Gerät, einige beeindruckende Reliquien einschließlich eines kleinen Knochens von der linken Hand des heiligen Augustinus, der der ursprüngliche Stifter des Klosters war. Den Reliquiaren komme große Bedeutung zu. Ihr Wert sei schon wegen der Goldschmiedearbeit und der Juwelen unschätzbar. Darüber hinaus sei eine kleine Kiste mit goldenen und silbernen Münzen gefunden worden. Tatsächlich ein Schatz. Es sei eine Sensation. Ob der Oberst mit seiner Tochter und natürlich mit ihrem eindrucksvollen Hund Blackie nicht in vier Wochen zu einer Veranstaltung kommen wolle, in der diese neuen Funde der Öffentlichkeit vorgestellt werden würden. Selbstredend würde die Rolle, die ihr kürzlicher Besuch bei diesem großartigen Fund gespielt habe, nicht unerwähnt bleiben. Amy und ihr Vater entschlossen sich nach längerer Beratung, der Einladung nicht zu folgen. Aber sie nahmen mit großem Interesse zur Kenntnis, was in den nächsten Wochen über diese sensationelle Entdeckung in der Presse zu lesen war, und über die Rolle, die ihr außergewöhnlicher Hund beim Auffinden des Schatzes von St. Augustin bei Ramsgate gespielt habe.

* * *

»Eine ganz abenteuerliche Geschichte, liebe Frau Conston«, sagte ich, »und so großartig von Ihnen erzählt. Aber Sie müssen inzwischen ja heiser und Ihr Mund ausgetrocknet sein. Ich habe Ihre Großzügigkeit gegenüber meiner Neugier wirklich missbraucht. Es wird inzwischen dunkel und wir sollten hier nicht mehr viel länger sitzen bleiben. Erlauben Sie mir bitte, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ich würde zu gerne Weiteres hören, denn man ahnt ja geradezu, dass mit dem letzten von Ihnen erzählten Ereignis die Geschichte um Amy und Blackie nicht zu Ende ist, dass noch irgendetwas Spektakuläres kommen mag. Und das möchte ich nur zu gerne hören. Kann ich Sie nicht überreden, mit mir im ›The Lions Heart‹, wo ich logiere, das Abendessen einzunehmen? Man bekommt da einfache und gute englische Küche.«

»Ich weiß, mein Herr. Ihre Einladung ist sehr freundlich ...«, sie zögerte, »... und etwas ungewöhnlich. Ich bin dort tatsächlich noch nie mit einem Gentleman zu einem Dinner gewesen. Andererseits: Es besteht ja wohl kein Verdacht, der meiner Reputation schaden könnte. Gut, erwarten Sie mich gegen halb acht. Nein, Ihre Hilfe brauche ich nicht. Die Entfernung kann man durchaus zu Fuß bewältigen.«

Kurz nach der vereinbarten Zeit saß ich mit Jennifer Conston an einem kleinen Tisch im Lokal und bestellte das beste Gericht des Hauses, ›Veal Kidney Pot Pie‹, für 3.00 Pfund pro Person, das uns ausgezeichnet schmeckte. Sie trank dazu sogar wie ich einen leichten Bordeaux und nahm auf meine Anregung hinterher noch einen Nachtisch: einen dieser etwas übersüßen Trifles. Und Kaffee. Gesättigt lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelte mich an. »Und nun muss ich liefern, nicht wahr?«

Sie zögerte nicht und begann: »Die wichtigste und letzte Geschichte um Amy und ihren Hund Blackie war, wie soll ich sagen, ziemlich rätselhaft und unerklärlich. Es ging damit los, dass der alte Oberst Burgess, angeregt durch Erzählungen von Offizierskameraden aus früheren Zeiten, eines Tages seiner Tochter offenbarte, er möchte gerne gemeinsam mit ihr Ägypten besuchen, wo er für fünf Jahre seiner Dienstzeit stationiert gewesen und sie selbst ja auf die Welt gekommen sei.«

* * *

»Glaubst du denn wirklich, Papa, dass du die Reise schaffst? Immerhin bist du mit deinen 78 Jahren nicht mehr der Jüngste. Und hast du mir nicht oft genug erzählt, wie anstrengend die Zeit in Ägypten mit der Hitze und bei den sanitären Bedingungen oft war? Auch Mama hat sich oft genug beklagt und ablehnend reagiert, dass niemand sie je wieder in das Land der Fellachen, wie sie es nannte, zurückbringen könne.«

Der alte Herr schmunzelte und nahm einen kleinen Schluck von seinem abendlichen Whiskey Soda. Vater und Tochter saßen vor dem Dinner regelmäßig für eine Stunde vor dem großen Kamin beieinander und redeten über die Angelegenheiten des Tages.

»Danke für deine Besorgnis, mein Kind. Du redest wie deine Mutter. Du solltest mich nicht so negativ an mein Alter erinnern, sondern mich lieber loben, wie erstaunlich rüstig ich für mein Alter bin, fast wie ein Mittsechziger, oder wenn du willst, wie Blackie, der zwischenzeitlich ebenfalls in die Jahre gekommen ist. Nach der üblichen Rechnung, die das Lebensjahr eines Menschen mit sieben des Lebens eines Hundes vergleicht, ist er rechnerisch somit über neunzig. Und er ist bis heute kregel und wohlauf. Im Übrigen: Wir haben so viele Reisen gemeinsam gemacht, und alle sind mir gut bekommen.«

»Und was hast du im Einzelnen vor?«

»Ich möchte gerne nach Kairo, wo wir eine ganze Zeit lebten und wo es viel zu sehen gibt, vor allem für dich, dann mit einem der besseren Hotelschiffe auf dem Nil, zunächst nach Luxor in Oberägypten, wo das Regiment für zwei Jahre stationiert war und nach Assuan, wo sie inzwischen den großen Staudamm gebaut haben. Dort, am Oberlauf, haben wir einmal bei Einfällen aus dem Sudan schlichten müssen. Eigentlich würde ich genauso gerne Khartum im Sudan wiedersehen wollen, wo das Regiment länger stationiert war. Aber ich muss zugeben, dass ich den Wunsch wegen der Unruhe, die da zurzeit herrscht, begraben habe.«

»Na, da bin ich jedenfalls beruhigt. Wie sollen wir eine solche Reise denn organisieren, Papa? Soll ich das vorbereiten?«

»Natürlich nicht, mein Kind. Dafür ist ein alter Offizier, der lange genug Dienst als ›Intelligence Officer‹ getan hat, noch durchaus in der Lage. Im Übrigen braucht man ja schon seit geraumer Zeit nicht mehr selbst viel dafür zu tun. Es gibt schließlich Leute, die das alles für einen erledigen, wenn man nur weiß, wohin man will und man das Geld dafür hat. Thomas Cook wird das alles für uns richten.«

»Und Blackie?«

»Ich denke, den gibst du in einen Zwinger, zu McBridle zum Beispiel, den kennt er ja.«

»Papa, du weißt, dass ich mich von dem Hund nicht trennen mag – abgesehen davon, dass er meines Erachtens leiden und einen Zwinger kaum mehr ertragen würde. Können wir nicht einen Weg finden, den Hund mitzunehmen?«

Oberst Burgess fühlte sich unbehaglich. Eine Reise per Luft und Schiff mit einem so großen Hund würde alles sehr komplizieren, und er versuchte deshalb, die Bitte abzuwehren.

»Nein, Papa, der Hund benimmt sich ausgezeichnet und kann sich jeder Situation anpassen. Schließlich hat sein Vorbesitzer ihn auch von Ägypten hierher gebracht. Und ...«, und damit spielte sie ihren letzten Trumpf aus, »... hast du mir nicht selber gesagt, dass diese Rasse bei den Ägyptern eine Art Scheu oder Vorsicht auszulösen scheint? Er würde somit unserer Sicherheit dienen und uns in einem doch nicht so ganz einfachen Land durchaus eine Hilfe sein, oder?«

Ihr Vater grummelte zwar ein wenig, andererseits mochte er seiner Tochter nicht gern eine Bitte abschlagen und gab schließlich nach: »Ich will sehen, was möglich ist. Ob wir tatsächlich den Hund mit ins Flugzeug kriegen und was mit den Hotels ist. Ich kann mir kaum vorstellen, dass man Hunde auf diesen Hotelschiffen akzeptiert. Aber ich werde zumindest nachfragen.«

»Ich war heute Morgen übrigens bei der Thomas-Cook-Agentur am Strand in London ...«, berichtete Oberst Burgess seiner Tochter, als sie zwei Tage später wieder vor dem Kamin zusammensaßen, »... und habe dort meine Wünsche vorgetragen. Eine erstaunliche Organisation. Sie kannten sich mit Reisen nach Ägypten gut aus. Der Mann war sogar selbst mehrmals dort gewesen und empfahl als Reisezeit vor allem die Monate März und November. Als wenn ich nicht am eigenen Leibe erfahren hätte, wann man es dort am besten aushalten kann. Also, ich möchte für zwei bis drei Wochen im März nächstes Jahr planen. Man wird mir einen nach meinen Wünschen gestalteten, detaillierten Reiseplan mit Alternativen in zwei oder drei Tagen zuschicken, zu dem wir uns dann äußern müssen. Im Übrigen hat er mir dieses Informationsmaterial hier zusammengestellt, mit dem auch du dich befassen musst, Amy. Du solltest bei meinem nächsten Besuch bei Thomas Cook eigentlich dabei sein, damit deine Wünsche ebenfalls angemessen berücksichtigt werden.«

»Ja und was ist mit Blackie? Hast du dich, wie versprochen, erkundigt, ob es Schwierigkeiten gibt, ihn mitzunehmen?«

Oberst Burgess grinste. »Beinahe hätte ich vergessen, es zu erwähnen. Aber Spaß beiseite, Amy. Ich war verblüfft, wie einfach, fast selbstverständlich das ist. Offenbar haben nicht nur wir die Absicht, mit einem Hund zu reisen, sondern andere Leute auch, jedenfalls die, die nicht nur eine der Pauschalreisen buchen, sondern individuelle Pläne haben. Man ist also ganz darauf vorbereitet. British Air stellt spezielle Transportbehälter zur Verfügung. Die Hunde werden an Bord beaufsichtigt. Wenn man 1. Klasse fliegt, hat man sogar die Möglichkeit, nach den Hunden zu sehen. In den Hotels in Kairo und Luxor gibt es genügend Erste-Klasse-Häuser, die Hunde selbst in den Gasträumen akzeptieren und Hunde ausführen; auf Hotelschiffen der gehobenen Klasse gilt das Gleiche. Es ist doch gut, dass Ägypten ein Land ist, das sich mit den Vorlieben der Briten auskennt.« In Gedanken fügte er hinzu: »Lange genug haben sie sich ja an uns gewöhnen können!«

»Nun, was sagst du dazu?«

Amy war aufgestanden, hatte sich über ihren Vater gebeugt und ihm einen Kuss gegeben.

»Du bist der Beste, Papa. Ich freue mich jetzt doppelt und verspreche, mich wirklich gut auf die Reise vorzubereiten und dir eine dankbare und gehorsame Begleiterin zu sein.«

Die Vorbereitungen nahmen ihre Zeit in Anspruch. Da man auf der Tour durch Ägypten mehrere Klimazonen passiert, waren Sommer- und Herbstkleidung ein Muss. Auch was sonst alles eingepackt werden musste, vom Fernglas für den Herrn Oberst bis zum Tagebuch für Amy, verlangte Überlegungen und Planung.

Schließlich waren sie auf dem Weg nach Heathrow und gingen durch die Flughafenroutinen. British Airways machte es seinen Passagieren einigermaßen leicht, und insbesondere das Einchecken für Blackie war einfacher bewerkstelligt als befürchtet. Der Hund benahm sich mustergültig. Er schien zu wissen, was zu tun war und machte überhaupt keine Schwierigkeiten, als er in den Transportbehälter einsteigen musste. Er sah nur Amy an und tat, worum sie ihn bat. Das Personal schüttelte erstaunt den Kopf. Der Oberst schnaufte zufrieden.

Während des Direktfluges mit der Boing 737 von London nach Kairo sah Amy dreimal nach ihrem Hund, der ruhig in seinem Käfig lag und zu schlafen schien, aber sofort die Augen öffnete und sie ansah, als sie sich näherte und sich zu ihm hinunterbeugte. »Es ist zu ertragen«, schien er sagen zu wollen und wedelte zweimal mit seiner Rute.

Ohne Probleme kamen sie vom Flughafen zum Hilton Hotel am Nil, wo man, von Thomas Cook vorbereitet, ein Doppelapartment mit Blick über den Nil, zwei Schlafzimmern und einem Hundeliegeplatz bereithielt.

»Geld macht vieles möglich«, räumte der Oberst ein, weil seine Tochter sich verwunderte und über die Vorbereitungen glücklich war.

Erst in den folgenden Tagen, als sie sich in Kairo umsahen und nacheinander das Besuchsprogramm der sogenannten ›Must-be’s‹ in dieser unglaublich unübersichtlichen Stadt absolvierten, kam es zu ein paar Ereignissen, die Amy auffielen. Alle hatten mit Blackie zu tun. Der Hund erhielt sein Futter regelmäßig von einem einfachen Angestellten Abud, einem kleinen dürren Mann, der alle Haustiere im Hotel zu versorgen schien. Als der sich morgens zum ersten Mal im Apartment meldete, um das Futter zu bringen, und den tierischen Gast sah, machte er eine Verbeugung, fast einen Kniefall und legte dem Hund sein Futter mit allen Zeichen der Verehrung vor. So blieb es auch in den Folgetagen.

Wenn Amy mit Blackie in den Gärten um das Hotel spazieren ging, gingen ihnen einige Arbeiter aus dem Weg. Als Abud zum ersten Mal kam, um Blackie mit den Hunden anderer Gäste auszuführen, weigerte er sich mitzugehen und war nicht von der Stelle zu bringen. Als Amy selbst ihn ausführte, war er wie ein Lamm.

Bei der Besichtigung des Ägyptischen Museums, Ziel jedes Kairobesuchers, der sich für das Land interessiert, war Blackie nicht dabei. Oberst Burgess und seine Tochter erhielten eine exklusive Führung durch einen der Kuratoren, einen Mr Al-Budai, an der außer ihnen nur zwei ältere Ehepaare teilnahmen. Sie hatten gerade die Säle mit den großen Sarkophagen durchschritten und die zum Teil wundervoll innen und außen bemalten und anderweitig verzierten Särge bewundert und kamen in den nächsten Saal, der dem Brauch der Einbalsamierung der Toten und der Ausstellung von Mumien gewidmet war. Amy wollte sich schon von der Beschreibung der Einzelheiten einer Einbalsamierung mit entsprechenden Darstellungen erschrocken abwenden, als ihr Blick auf das übergroße Bildnis, offenbar eines ägyptischen Gottes fiel, der nur mit einem weißen Schurz über seinem braunen Körper bekleidet eine etwas hervortretende Wand schmückte und den Saal beherrschte. Sie blieb erschrocken stehen und rief unwillkürlich: »Papa, das ist doch Blackie, jedenfalls sein Kopf!!« Die vorangehenden Herren drehten sich um und folgten ihrer ausgestreckten Hand.

Auch Oberst Burgess schien erstaunt zu sein. Aus den Schultern des braunen Gotteskörpers wuchs das Haupt eines großen schwarzen Hundes mit langem Fang, hoch aufgestellten Ohren und grünen Augen. In der rechten Hand hielt er einen unten gegabelten langen Stab mit merkwürdiger Krücke, in der anderen ein Gerät, das wie ein Kreuz aussah, dessen einer Längsbalken wie ein Ring geformt ist.

Der Kurator trat zu Amy, um zu erfahren, was sie in solches Erstaunen versetzt habe. Sie zeigte auf das Porträt.

Mr Al-Budai erklärte ihr: »Das ist ein Bildnis des Gottes Anubis, eines der ältesten Götter des alten Ägyptens. Er ist hier in diesem Saal besonders dargestellt, weil er die Menschen in ihr Leben nach dem Tode begleitete und eine wichtige Rolle bei allen Riten für die Verstorbenen spielte. In der rechten Hand hält er das ›Was-Zepter‹, das Machtsymbol eines Gottes, in der linken den ›Anch‹, den wir auch Henkelkreuz oder ägyptisches Kreuz nennen, das Zeichen für das Weiterleben nach dem Tode. Wenn es Sie interessiert, werde ich Ihnen gern anschließend weitere Einzelheiten zu seiner Rolle im ägyptischen Pantheon erzählen, die sich über die Jahrtausende allerdings etwas verändert hat. Aber warum waren Sie eben so erstaunt und fast erschrocken?«

»Ich habe einen Hund, der hier aus Ägypten stammt, und dessen Kopf genauso aussieht wie der dieses Gottes Anubis.«

»Es gibt diese Rasse seit uralten Zeiten. Sie ist allerdings sehr selten und kommt allenfalls noch in einigen Orten am oberen Nil vor, besonders in der Nähe des ehemaligen Hauptheiligtums von Anubis auf einer Insel im Nil bei einem kleinen Ort El Kays, der früher von den Griechen bezeichnenderweise ›Cynopolis‹ genannt wurde – Stadt der Hunde. Die Hunde galten als Inkarnation des Gottes und wurden, wie alle Dinge, die mit dem Totenreich zu tun haben, von den Menschen mit großer Scheu und Vorsicht behandelt. Bei manchen Menschen in unserem Lande hält sich ein solcher Aberglaube bis heute.«

Amy dachte an das Verhalten von Abud und einiger Arbeiter im Hotel.

»Aber warum trägt dieser Gott denn diesen Hundekopf?«

»Die alten Ägypter sahen einen engeren Zusammenhang zwischen Tieren, Menschen und Göttern als wir heute. Sie wussten, dass die Götter und die Tiere, die sie in Ägypten umgaben, viel älter waren als sie, die Menschen, und deswegen einander auch näher. In den Tieren lebten die Götter und umgekehrt. Deshalb war es nur natürlich, den Gott in Tiergestalt oder in der Gestalt eines Menschen mit dem Antlitz eines Tieres oder umgekehrt darzustellen. Die Sphinx trägt ein menschliches Antlitz auf einem Löwenkörper. Die Götter Ra und später Horus tragen einen Falkenkopf. Andere einen Widderkopf. Apis, der Gott der Fruchtbarkeit, wird als Stier dargestellt, ein anderer, Sofar, in der Gestalt oder mit dem Kopf eines Krokodils, eines Affen, eines Geiers oder einer Schlange. Am merkwürdigsten kam mir immer die Gestaltung der Göttin Ammit vor, deren Kopf der eines Krokodils mit Löwenmähne war, darunter mit einem Menschenkörper und dem Hinterleib eines Nilpferds. Sie war die Göttin, die die Toten verschlang, wenn sie bei der Gewichtung des Herzens, das übrigens Anubis überwachte, zu leicht für ein Leben nach dem Tode befunden wurden.

In allen Grabstätten gab es einen Anlass, den Gott Anubis darzustellen, so wie hier, halb Mensch, halb Hund oder in der Gestalt eines großen schwarzen Hundes, wie er in der Totenkammer für Tutanchamun im Tal der Könige gefunden wurde. Der Hund soll eine Glorifizierung des grauen Wüstenwolfs sein. Früher meinte man allerdings, dass das Vorbild ein Schakal gewesen sei, weil die Kopfform mehr der eines Schakals ähnelt. Aber wer kann das wissen? Die Zeit, in der sich diese Dinge entwickelten, liegt mittlerweile um die sechs- bis siebentausend Jahre zurück. Schwarz ist er jedenfalls, weil Schwarz die Farbe des Nilschlamms ist, die wichtigste Identifikationsfarbe dieses Landes. Wir haben sie schließlich sogar in unserer Fahne.«

Das, was sie da eben gehört hatte, machte Amy zu schaffen. Sie dachte an Blackies Verhalten an Friedhöfen und Grabstätten und sah sich plötzlich tausend Fragen gegenüber. Sie bedankte sich bei dem Kurator für seine Erklärungen und bat darum, ihn am Ende noch etwas weiter befragen zu dürfen.

Der Kurator lud sie später zu einem frugalen Lunch im Museumscafé ein, wo Amy ihm über Blackie und seine Eigenheiten und Taten berichtete. Das wiederum fand bei Mr Al-Budai, dem Kurator, einem Professor für Geschichte und Mythologie der Universität von Kairo, uneingeschränktes Interesse. Amy zeigte ihm zwei Fotos, auf denen der Gelehrte unschwer die Anubis geweihte Hunderasse erkannte, die, wie er erklärte, von den Ägyptern auch ›Anubis-Hunde‹ genannt würden.

Als er erfuhr, dass die Burgess’ noch den Besuch von Luxor und danach Assuan planten, gab er ihnen seine Karte und schrieb ein paar arabische Wörter auf die Rückseite und den Namen Ernest Graham.

»Er ist Kurator im ›Tal der Könige‹ bei Luxor, das Sie sicher besuchen werden. Er ist ein Freund und wird sich gut um Sie kümmern. Ich werde Sie ihm avisieren. Außerdem empfehle ich Ihnen auf der Weiterfahrt nach Assuan einen kurzen Aufenthalt im Ort El Kays zu machen und die Reste des alten Tempels des Anubis auf der Nilinsel zu besuchen, was vielleicht nicht ganz einfach zu arrangieren ist, weil es nicht in den normalen Fahrplänen der Kreuzfahrtschiffe vorgesehen ist. Der Tempel ist uralt und zeigt natürlich nicht so viel her wie das, was Sie in Luxor sehen und sonst auf der Route. Aber bei Ihrem Interesse an dem, was Ihr Hund möglicherweise verkörpert, könnte ich mir vorstellen, dass sich der Aufenthalt lohnt.«

Nachts träumte Amy zum ersten Mal von Blackie. Zunächst erschien er ihr, wie sie ihn kannte, als der Hund, der ihr Gefährte war. Dann verwischte sich das Bild mit dem des Gottes Anubis aus dem Museum, der sich riesengroß über sie beugte. Der Gott sprach auch mit ihr. Aber, als sie morgens aufwachte, konnte sie sich nicht erinnern, was er ihr gesagt hatte.

Am Ausflug zu den Pyramiden bei Giseh nahm Blackie teil. Er wartete geduldig, während Oberst Burgess und nach einigem Zögern auch Amy sich einem der Führer für einen Kamelritt um die Pyramiden vorbei an der großen Sphinx mit anschließendem Besuch einer der Grabkammern in der Cheopspyramide anvertraut hatten. Auf diesem Wege benahm der Hund sich mehrfach sehr merkwürdig. Er blieb immer wieder stehen, an den Pyramiden selbst und an den Mastabas, auf dem westlichen und im östlichen Friedhof, legte seinen Kopf zurück und ließ einen tiefen Laut hören, kein Bellen, sondern eher ein Heulen, wie eine Wehklage. Es war nur kurz und keiner konnte Anstoß daran nehmen. Nur ein paar Kameltreiber sahen erschrocken zu dem Hund hin und machten Bewegungen, als wollten sie niederknien. Amy bekam fast ein bisschen Angst vor ihrem Hund. Ihr gegenüber ließ er überhaupt keine Änderung seines bisherigen, anhänglichen Benehmens erkennen.

Die sechs Tage in Kairo gingen nach einem Tagesausflug zum alten Memphis und zur Stufenpyramide von Sakkara und einem Ausflug per Schiff in das Nildelta bis zum Tempel von Dendera schnell vorüber und verliefen darum zur besonderen Zufriedenheit von Oberst Burgess, weil er den Besuch eines höheren Offiziers der ägyptischen Armee erhielt, der ihn als ehemaligen Offizier einer befreundeten Nation würdigte und zu einem Besuch seines Offizierskasinos einlud.

Die Fortsetzung des Urlaubs fand auf dem etwas älteren, aber besonders luxuriösen Nilkreuzfahrtschiff ›Alexandria‹ statt, das sich bei aller Modernisierung seiner technischen Einrichtungen die Atmosphäre eines guten englischen Klubs bewahrt hatte. Das Doppelapartment im oberen der beiden Hotel-Stockwerke war bequem und sah einen Platz für Blackie vor, der von dem Personal mit zwei anderen Hunden, die auch mit an Bord gekommen waren, aufmerksam und, wie es Amy erneut schien, fast ehrfürchtig behandelt wurde. Seinen Auslauf fand der Hund meistens abends, wenn das Boot an einem der Nilorte anlegte.

Meistens hielten sich Vater und Tochter Burgess im Verlauf des Tages auf der Aussichtsplattform auf dem Oberdeck auf, wo man unter Sonnensegeln einen Blick über den Fluss und die Uferregion hatte und den leichten Wind genießen konnte, der ständig über dem Nil hinzog. Während Amy las, in ihrem Tagebuch schrieb oder ihren Hund beobachtete und nur gelegentlich einen Blick über das Wasser und auf die Uferregion warf, hatte Oberst Burgess oft das Fernglas am Auge und wunderte sich vor allem über das Nebeneinander von Baumaßnahmen und technischen Einrichtungen eines sich modernisierenden Staates und von Dingen, die es gegeben haben mochte, solange es den Nil und eine Zivilisation im Niltal gab. Da waren auf dem Wasser die alten Nilbarken, sogenannte Feluken mit ihren Trapezsegeln, auf denen Personen- und Frachtverkehr des Landes seit Jahrtausenden stattgefunden hatte oder die Wasserschöpfräder am Uferrand, die den Wassersegen den Feldern im engen Niltal zuführen. Die Eindrücke eines uralten Landes überwogen immer mehr, je weiter sie nach Süden kamen.

Blackie lag auf dem Sonnendeck meistens im Schatten neben Amys Liegestuhl. Nur manchmal stand er auf und ging an die Reling und schaute, wie es schien, in angespannter Haltung zu einem Punkt am Ufer, dessen Bedeutung für Amy und ihren Vater meistens nicht zu erkennen war und ließ gelegentlich einen kurzen, leisen Klageton hören. Nur am Anfang, als sie Kairo gerade verlassen hatten und Oberst Burgess mit dem Glas die Spitzen der Pyramiden auszumachen versuchte, stand der Hund neben ihm und heulte ein wenig lauter auf.

Für die etwa 700 Kilometer lange Strecke flussaufwärts nach Luxor brauchte die Alexandria zweieinhalb Tage, die Vater und Tochter Amy nicht lang wurden. Sie legten einmal abends in el-Balyana an, gingen mit Blackie von Bord und beobachteten das Leben und Treiben in der uralten Stadt, die über einer der Metropolen des alten Ägyptens, dem alten Abydos, entstanden war, das schon in vordynastischer Zeit von Bedeutung war.

Am nächsten Morgen besichtigten sie freigelegte Reste der Tempel für Sethos I., die Reste eines Osiris-Tempels und alte Grabfelder aus vordynastischer Zeit, auf denen Blackie wiederum mehrmals kurz seine Klagelaute hören ließ. Sie sahen an verschiedenen Tempelwänden auch Reliefs des Anubis.

Auf dem Rückweg zum Schiff liefen sie über den lokalen Markt, ohne von den in Ägypten nur allzu oft aufdringlichen Verkäufern lokaler Früchte, von Schmuck und Kleidung belästigt zu werden, was sie wohl zu Recht der Begleitung durch Blackie zuschreiben konnten, der allen Leuten Respekt und vielleicht sogar Ehrfurcht oder gar Angst einzuflößen schien.

In Luxor war ein Aufenthalt der Alexandria von drei Tagen vorgesehen. Das Schiff hatte einen für die Reisenden recht bequemen Liegeplatz, bequem, weil man direkt vor dem alten Luxushotel ›Old Winter Palace‹ lag, in dem man Tagesbequemlichkeit und jede Möglichkeit der Kommunikation und drei gute Restaurants fand. Als Erstes stellte Oberst Burgess Verbindung zu dem ihnen vom Kurator des Ägyptischen Museums empfohlenen Kurator des Tals der Könige, Ernest Graham, her, der von seinem Kollegen schon informiert war und ihnen anbot, sie am nächsten Tag persönlich nach Theben-West, der Gräberstadt auf der Westseite des Nils, zum Tempel der Hatschepsut und schließlich ins Tal der Könige zu begleiten. Zum Kennenlernen verabredeten sie sich für den Abend zum Dinner im Old Winter Palace.

Ernest Graham, Mitte sechzig, war, wie sich herausstellte, ein in Habitus und Persönlichkeit typisch englischer Professor – easy to talk to – sehr gelehrt, ohne Aufdringlichkeit oder Weltfremdheit. Er kam mit seiner Frau Lucy, die von der Art war, dass man sie nach kurzem Kennenlernen am liebsten als Familientante adoptiert hätte. Es dauerte also nicht lange, bis man sich nach Austausch von ein paar einführenden Fragen und Antworten fast wie eine Familie benahm.

»Sie sind aus Weybridge? Wie interessant. Wir kommen aus Esher. Wir sind somit eigentlich Nachbarn!«

»Sie waren Chef der 22. Fuseliers? Wir sind befreundet mit John und Edith Granworth, Ihrem Nachfolger bei den Fuseliers. Vielleicht wissen Sie, dass er auch aus Esher stammt.«

Das britische Netzwerk arbeitete.

»Esfra, ich meine meinen Kollegen und Freund im Ägyptischen Museum, Mr Al-Budai, den ich sehr schätze, hat Sie bei mir schon angekündigt und mir empfohlen, mich um Sie zu kümmern, was ich umso lieber tue, nachdem ich Sie kennengelernt habe.«

Es entspann sich eine rege Unterhaltung, die natürlich, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, zunächst auf die Ermittlung beiderseitiger Bekanntschaften, Erlebnisse und Interessen einging, um später zur Diskussion der bisherigen Reiseeindrücke und Erfahrungen überzugehen. Und in dem Zusammenhang kam Ernest Graham darauf zu sprechen, was ihm sein Kollege Al-Budai über Blackie berichtet hatte.

»Wo ist denn Ihr Hund zurzeit?«

»Er liegt vor der Tür. Er würde uns nie beim Dinner stören, wie wir ihm nicht zusehen, wenn er seine Mahlzeit bekommt.«

»Esfra machte ein paar Andeutungen, dass Sie ihm ein paar Wunderdinge über den Hund erzählt haben. Ich kenne diese Rasse, die man Anubis-Hunde nennt, und die in Ägypten, vor allem hier im oberen Ägypten, Verehrung genießt, ganz gut und weiß von der Intelligenz der Tiere.«

Das war Wasser auf die Mühlen von Amy. Während Oberst Burgess meistens schmunzelte und nur manchmal ein paar Worte zur Bestätigung dessen, was Amy erzählte, einwarf, berichtete die von ein paar der wichtigsten Großtaten von Blackie.

»Wirklich erstaunlich«, meinten Ernest und Lucy Graham übereinstimmend.

»Na, wir werden Ihren Blackie ja wohl noch kennenlernen. Hoffentlich bringen Sie ihn mit zu unseren Besichtigungen in den nächsten Tagen. Wenn ich dabei bin, gibt es damit kein Problem, insbesondere da Ihr Hund, wie Sie sagen, sehr diszipliniert ist.«

Und damit war Professor Graham bei seinen Vorschlägen für die Gestaltung des Besichtigungsprogramms für die nächsten beiden Tage. Am kommenden Tag wolle er ihnen Karnak, den Tempelbezirk im Norden von Luxor, zeigen, und nachmittags die Gräberstadt auf der anderen Seite des Nils, mit einem anschließenden Besuch des Tempels der Hatschepsut. Abends würden er und seine Frau die Burgess’ gern bei sich zu Hause sehen. Am zweiten Tag möchte er mit ihnen das Tal der Könige besuchen, die berühmte Nekropole für Pharaonen und ihre Familien und Begleiter vornehmlich aus den Dynastien des frühen Neuen Reichs, also aus dem Mittelalter der ägyptischen Geschichte, der Zeit um 1500 vor unserer Zeitrechnung. Alle Welt kapriziere sich übrigens darauf, das Grab des Tutanchamun zu besichtigen, das bekanntlich erst 1922 völlig unbeschädigt gefunden und erforscht worden sei und heute tatsächlich die am besten erhaltene Grabstätte im ganzen Tal sei. Da dort der Andrang üblicherweise besonders groß werde, schlage er vor, dass man es vor der normalen Öffnung des Tals für andere Besucher besichtige. Das mache notwendig, dass er die Burgess‘ schon gegen 7 Uhr 30 morgens abhole.

»Wäre Ihnen das möglich und akzeptabel?«

»Das ist eine für uns normale Zeit. Meistens sind wir sogar früher auf.«

»So haben wir das Tal noch länger für uns, wenn ich bereits um 7 Uhr komme! Und auch mit dem Hund gibt es dann keine Probleme.«

Genau wie besprochen lief das Programm ab. Als Graham die Burgess‘ morgens mit seinen Landrover abholte, bewunderte er zunächst Blackie.

»Ohne Zweifel ein reinrassiger Anubis-Hund. Sie werden sein Konterfei oft auf unseren Rundgängen als Hieroglyphe, Relief oder als Abbild in den Grabkammern wiedersehen.«

Die Tempelanlage von Karnak für den Gott Amun und die Pharaonen Ramesses III. und Thutmosis III. mit ihren riesigen Säulen, dem großen Gräberfeld, dem Heiligen See begeisterte Vater und Tochter Burgess, wie alle Besucher, die in der Neuzeit vor ihnen dieses Weltwunder zu sehen bekommen hatten. Nur die vom späteren Vormittag an zunehmende Hitze machte den Rundgang ein bisschen beschwerlich.

Blackie benahm sich mustergültig. Als sie durch den Wald der großen Säulen gingen, zeigte er in seiner Haltung, dass er wusste, wo er war; aber er gab keinen Laut von sich. Erst in den Gräberfeldern setzte er sich ein paarmal hin und stimmte eine seiner kurzen Klagen an. Was ihn jeweils dazu bewegte, blieb wie zuvor rätselhaft. Gleiches geschah, als sie auf der Westseite des Nils die Tempel und Gräberfelder in Theben-West und insbesondere die große Tempelanlage der Hatschepsut besuchten. Er gab nur an den eigentlichen Gräberfeldern und an einigen der Mastabas seinen Klagelaut von sich.

»Wie üblich sind es offenbar nicht die Tempel, sondern die belegten Gräber, die ihn zu seiner Trauer anregen«, sagte Amy zu Professor Graham, was diesen erneut verwunderte. Und nicht nur den Burgess’, sondern in erster Linie ihrem Führer fiel auf, dass der Hund vor allem bei den Arbeitern und sonstigen Helfern mit Scheu beobachtet wurde, und das besonders, wenn er einen seiner kurzen Klagegesänge anstimmte.

»Fraglos, ein ganz ungewöhnliches Verhalten. Ich habe das bisher von keinem anderen der Anubis-Hunde gehört.«

Beim Dinner, abends bei den Grahams, wurde über die Erlebnisse des Tages gesprochen. Ernest Graham erzählte den Burgess unter anderem etwas über die große Pharaonin Hatschepsut, die ›Mutter Ägyptens‹, die für über zwanzig Jahre für ihren Mann und Bruder Thutmosis II. und nach dessen Tod für seinen Nachfolger Thutmosis III. das enorme Reich regierte, wie wohl keine andere Frau der Alten Welt. Er redete sich richtig in Begeisterung über diese außergewöhnliche Sonderstellung in der patriarchalischen Welt und meinte schließlich schmunzelnd, dass nicht einmal Margaret Thatcher dieser Frau hinsichtlich politischer Klugheit, Energie und Durchsetzungsfähigkeit das Wasser hätte reichen können. Anschließend gab er den Burgess eine Vorschau auf den bevorstehenden Besuch des Tals der Könige und anhand einer Skizze eine Übersicht über die wichtigsten Gräber. Am Ende seines kurzen Exkurses beantwortete er Amys Frage, ob man eigentlich im Tal der Könige oder dem der Königinnen alle Grabstellen gefunden habe mit: »Ich weiß es nicht« und zuckte die Achseln.

»Manchmal denke ich, dass es hier wie dort keinen Winkel gibt, in dem nicht gesucht wurde. Nicht nur von uns, den Erforschern der ägyptischen Vergangenheit, sondern vor allem auch von denen, die sich seit der Antike illegal an den verborgenen Schätzen bereichern wollten. Andererseits fehlen uns doch noch die Grabstellen für etliche Pharaonen und der ihnen nahestehenden Personen aus dieser Epoche der ägyptischen Geschichte, der der 17. bis 20. Dynastie. Irgendwo begraben müssen sie sein. Mich sollte es nicht wundern, wenn irgendwann einmal wieder ein aufsehenerregender Fund gemacht wird.«

Blackie lag derweil vor der Schwelle des Esszimmers und schien dem Gespräch zuzuhören. Er gab keinen Laut von sich.

Am nächsten Morgen stand Graham mit seinem Landrover pünktlich am Liegeplatz der Alexandria und nahm die beiden Burgess und den Hund auf, die Sonne stand bereits am Himmel, es war frisch.

»Die beste Zeit für diese Besichtigung. Ich mache meine Besuche drüben meistens um diese Zeit.«

Die Fahrt ging flott über die große Luxor-Brücke hinüber auf die Westseite und dann nach Norden. Geredet wurde nicht viel. Zwanzig Minuten später waren sie vor dem Eingang zum Tal der Könige. Die Wärter schlossen das Tor auf und Graham stellte seinen Wagen vor dem Verwaltungsgebäude ab. Der Fußmarsch begann über die sauber geharkten, von aus Beton gegossenen Begrenzungssteinen eingefassten Wege. Nur wenige Menschen – Wach- und Reinigungspersonal – waren zu sehen.

Vor ihnen lag der Eingang zum Tal, das an beiden Seiten durch verkarstete Berge begrenzt wurde, deren oben glatten Hügel in der Morgensonne fast hellrot glänzten, mit braunen bis lila Schatten in den Schründen an einigen Bergflanken und an den der Sonne abgewandten Stellen. Während manche der Hügel fast wie riesige Dünen wirkten, war doch sichtbar, dass es sich um ein uraltes Gebirge handelte. Überall gab es stark verwitterte steile Abstürze und Eingänge zu Seitentälern, als wenn es sich um ein vor Tausenden von Jahren ausgetrocknetes Flussbett mit Seitenarmen handele. Kein Busch oder Baum war zu sehen. Die morgendliche Stille wurde nur durch das entfernte Pochen eines Dieselmotors unterbrochen.

»Eigentlich sieht es hier aus, wie ich mir eine Mondlandschaft vorstelle, Papa«, meinte Amy.

»So ganz unrecht hast du da wohl nicht, Amy. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass man sich in einer ganz besonderen Umgebung befindet. Besonders, wenn man sich die Leichenbegängnisse vorstellt, die diesen Weg entlanggezogen sind!«

Sie kamen an den ersten Abzweigungen von ihrem eingefassten Fußweg vorbei. Diese Abzweigungen führten auf längeren oder kürzeren Wegen zu den einzelnen Grabstätten, in den Berg links oder rechts getriebenen Stollen mit einfachen oder mit einem besonderen steinernen Rahmen eingefassten Zugängen.

Professor Graham begann mit seinen Erläuterungen. Er redete ein bisschen über die Geschichte der Entdeckung dieser Nekropole, sagte, dass alle Gräber in einem KV-Verzeichnis nummeriert seien, wobei die Abkürzung KV für ›Kings’ Valley‹ – Tal der Könige – stehe. Diese Öffnung an der linken Seite zum Beispiel sei die Grabstätte KV5, das ehemalige Grab von Söhnen des Pharao Ramesses II. aus der 20. Dynastie, mit um die 120 Kammern eine der größten Grabanlagen des Tals überhaupt. Etwas weiter, KV6 sei das Grab Ramesses II., oder Ramses II, wie er früher genannt wurde, einer der größten Pharaonen, selbst. Wie die meisten der Gräber seien sie bei ihrer Entdeckung bereits von Grabräubern geplündert gewesen und das meistens nicht neuerdings, sondern bereits zu Zeiten des alten Ägyptens, wie man aus Papyri wisse. Man habe aus den verbliebenen Inschriften jedoch die Namen der Begrabenen identifizieren können.

Sie kamen in einen Abschnitt, wo sich das Tal weitete.

»Hier und in unmittelbarer Nähe sind besonders viele Gräber, unter anderem das von Tutanchamun, das den Grabräubern entging und, wie schon gesagt, erst 1922 von Carter entdeckt wurde. Es erhielt die trockene Bezeichnung KV62 und war eine Sensation. Die Schätze, die in dem Grab gefunden wurden, einer Anlage, die über eine steile Treppe in eine verwinkelte Anlage mehrerer Kammern führte, waren spektakulär. Es dauerte Jahre, sie zu bergen und zu katalogisieren. Sie kennen sicher Bilder, zum Beispiel von der goldenen Totenmaske, dem berühmten Alabastergefäß, dem Totemwagen und andere. Zu ihnen gehörte übrigens auch eine große Statue des Anubis in der Gestalt eines Hundes. Sie werden sehen. Allerdings sind die originalen Fundstücke in keinem der Gräber mehr verblieben. Nur noch einige Nachbildungen.«

Sie waren inzwischen vor dem Eingang zur Grabkammer KV62 angekommen. Der Mitarbeiter, der sie begleitete, schloss die Außentür auf, schaltete die Beleuchtung ein und sie begannen ihren Abstieg. Blackie war ohne Aufforderung vor dem Eingang liegen geblieben.

»Wir können sicher sein, dass uns niemand, jedenfalls kein hiesiger Ägypter, stören wird, solange der Hund in der Pose vor dem Eingang liegt«, hatte Ernest Graham gemeint.

Nachdem sie die erste Türöffnung hinter sich gelassen hatten, ging es einen Gang schräg abwärts zur nächsten Türöffnung, zur sogenannten Vorkammer, in der es bei der Öffnung des Grabes angeblich ein Durcheinander von Dingen gab, die bei den Grablegungen gebraucht worden waren.

Die Räume der Grabanlage waren gut ausgeleuchtet. Es herrschte die sprichwörtliche Grabesstille, sodass jeder seinen eigenen Atem, das Herzklopfen, die Schritte und das Rascheln der Kleidung zu hören meinte. Im Vorraum begann Graham wieder mit seinen Erläuterungen. Unwillkürlich dämpfte er seine Stimme und auch die Burgess wagten kein lautes Wort, wenn sie Fragen hatten. Die Wände waren mit Ausnahme einiger Schriftzeichen undekoriert, nur ein paar Kultgefäße standen davor. Durch eine weitere Türöffnung, die, wie Graham betonte, ursprünglich geschlossen und vom Entdecker Carter trotz der berühmten Verfluchung aller Eindringlinge gewaltsam geöffnet worden war, kam man dann in die eigentliche Grabkammer, in der ursprünglich die Mumie des Pharaos bestattet gewesen war.

»Hier stand sozusagen sein Totenhaus. Sie kennen ja die prominente goldene, zum Teil blau emaillierte Totenmaske des Tutanchamun, die den Kopf der Mumie bedeckte. Die Mumie war eingeschlossen von mehreren bemalten Särgen, die ihrerseits in den granitenen Sarkophag eingeschlossen waren. Und der wiederum war seinerseits von vier immer größeren hölzernen und bemalten Truhen umschlossen. Der ganze Raum war damit ausgefüllt. Erst jetzt, da sich dies alles, einschließlich der Mumie selbst, im Ägyptischen Museum in Kairo befindet, kann man die Ausmalung der Grabkammer richtig erkennen und würdigen.«

Die Farben leuchteten im Licht der gut platzierten Lampen. Besonders eindrucksvoll war die Gruppe an der Nordwand, die darstellt, wie der Pharao, gefolgt von seinem Ka, dem ihm identischen Abbild seiner Seele, vom Gott der Unterwelt Osiris empfangen wird.

»Warum ist Osiris denn ganz in Weiß mit grüner Gesichtsfarbe dargestellt?«, wollte Amy wissen.

»Weiß war für die alten Ägypter die Farbe der Unterwelt und die grüne Gesichtsfarbe deutete an, dass Osiris nach ihrer Vorstellung immer wiedergeboren wurde.«

Graham las ihnen einige Grabinschriften vor und übersetzte sie, dann wies er auf die Südwand, wo die Bemalung Reste weiterer Götter darstellten, die Tutanchamun begleiteten, unter anderem auch der Gott Anubis, von dem allerdings nur noch Teile zu sehen waren.

Er zeigte ihnen einen kleinen Annexraum, in dem ursprünglich Grabbeigaben aller Art gestapelt waren und schließlich den sogenannten ungeschmückten Tresorraum, der durch eine Wandöffnung betreten werden konnte. In ihm stand eine Abbildung des Anubis als liegender Hund, eine Nachbildung des Originals im Ägyptischen Museum.

»Hier ist Ihr Blackie, Miss Burgess. Vielleicht etwas schlanker dargestellt, als Ihr Hund es ist. Aber er ist es, typisch. Im Übrigen enthielt dieser Raum bei seiner Öffnung durch Carter Hunderte von Objekten aller Art, einige von unschätzbarem Wert, andere typische Gerätschaften, die der junge König geliebt hatte, mehrere Wagen zum Beispiel, mit denen er zur Jagd fuhr.«

Sie verbrachten fast eine ganze Stunde in dem berühmtesten aller Pharaonengräber. Dann stiegen sie wieder an die Oberwelt, wanderten ihren Weg hinauf ins Tal und besichtigten eine weitere ausgedehnte Grabstelle, KV11, das Grab vom Pharao Ramesses III., mit wunderschönen Ausmalungen. Danach kamen sie an das Ende eines der Seitentäler des weitverzweigten Tals der Könige. Die letzte, etwas abgelegene Grabstelle KV15 dort, die des Pharao Sethos II. aus der 19. Dynastie, brachte, wie es bei längeren Museumsbesuchen zumeist vorkommt, nichts aufregend Neues. Die ersten Zeichen der Ermüdung machten sich bemerkbar, insbesondere bei Amy, die mit ihrem Handstock bisher brav mitgehalten hatte.

»Ich glaube, wir sollten uns auf den Rückweg machen, Mr Graham. Sie haben uns einen außerordentlichen Morgen beschert, der uns sicherlich lange beschäftigen wird«, sagte der Oberst.

»Es war mir ein besonderes Vergnügen. Vielleicht können wir heute Nachmittag einen kurzen Abstecher ins Tal der Königinnen machen, wo ich Ihnen ein paar interessante Einzelheiten zeigen kann.«

Amy hatte sich nach Blackie umgedreht, der ihr plötzlich nicht mehr bei Fuß folgte.

Blackie war vom Wege ab etwa dreißig Meter weit bergan gestiegen und stand wie erstarrt zwischen zwei Felsblöcken, die offenbar von den dahinter aufsteigenden Klippen heruntergestürzt waren. Er scharrte erst mit der rechten Pfote im Geröll, hob seinen Fang, als wenn er den Wind in verschiedenen Richtungen prüfen wolle und setzte sich dann auf seine Keulen und ließ zweimal kurz nacheinander seinen Klagegesang hören. Dann sah er zu Amy hin. Auf ihre Aufforderung, zu kommen, reagierte er nicht, sondern heulte noch einmal kurz auf.

Nun waren auch die Männer aufmerksam geworden.

»Ich kann mir nicht helfen, Mr Graham. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Blackie meint, genau an der Stelle eine Grabstelle mit Toten gefunden zu haben«, erklärte Amy.

Graham sah sie überrascht und ratlos an.

»Also, liebe Miss Burgess, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir die ganze Gegend hier nach weiteren Grabstellen fast umgepflügt haben. Und wir haben inzwischen ziemlich neuartiges Gerät für diese Untersuchungen.«

Graham sah mit einem Ausdruck des Zweifels zu Blackie hin, der keine Anstalten machte, seinen Platz zwischen den Steinblöcken aufzugeben.

»Ich gebe ja zu, dass wir auch in den letzten Jahren laufend etwas Neues gefunden haben. Denken Sie nur an KV5 und dass wir immer noch nicht wissen, wo die Gräber verschiedener Pharaonen oder ihrer Konsorten aus der fraglichen Periode der ägyptischen Geschichte sind, nach denen wir ja bereits gesucht haben. Aber hier? Vielleicht doch eher in einem der weniger untersuchten Nebentälern.«

»Wir können Ihnen da nicht raten, Mr Graham. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sich der Hund zum Beispiel damals in den Resten des Augustinerklosters bei Ramsgate genau so verhalten hat. Und die Untersuchung hat ihm recht gegeben. Natürlich können Sie hier und jetzt nichts unternehmen. Bewahren Sie es eventuell als eine Anregung für Ihre Untersuchungen auf.«

Amy verließ den Weg, stieg mit ihrem Stock etwas mühsam die Steigung hinauf und nahm den Hund am Halsband. Er folgte ihr willig.

Als die Grahams und Burgess’ abends im Winter Palace Hotel beim Dinner saßen, galt das Gespräch den Erlebnissen des Tages und kam bald auf Blackies Verhalten in der Nähe der Grabstätte KV15.

»Ich habe mir die Sache überlegt«, begann Ernest Graham etwas unschlüssig. »Obwohl ich mir nicht denken kann, dass trotz der von Ihnen betonten Indizien große Aussichten bestehen, an dieser Stelle etwas zu finden, werde ich eine Untersuchung einleiten. Ich will Ihnen gerne erläutern, was mich zögern lässt. Es gibt aus der ganzen Grabungsgeschichte im Tal der Könige keinen Hinweis auf weitere Gräber am Ende dieses Seitentals, auch keine Hinweise aus Papyri oder antiken Inschriften. Wir haben gerade in der Gegend zuletzt vor vier Jahren eine ziemlich eingehende Untersuchung erfolglos abgeschlossen. Und jetzt kommen Sie und Ihr Hund Blackie und halten es für möglich, dass Ihr Hund uns trotz unserer modernen Suchgeräte eines Besseren belehrt!«

Er machte eine Geste etwas komischer Verzweiflung.

»Andererseits sind wir ja schon häufiger eines Besseren belehrt worden. Und in unserer Wissenschaft gibt es zugegebenerweise viele Unsicherheiten. Und die bisherigen Erfahrungen mit Ihrem Hund machen einen neugierig. Sie müssen mir nachsehen, dass ich Ihre Berichte von Blackies Entdeckungen in England habe nachprüfen lassen, besonders den über seinen Fund im St. Augustin Kloster in Ramsgate. Ob ich meine Absicht, dort zu graben, verwirklichen kann, ist jedoch noch ungewiss. Sie müssen verstehen, dass ich eine neue teure Recherche nicht allein entscheide. Was glauben Sie wohl, was meine Peers im Genehmigungsausschuss sagen, wenn ich die Untersuchung mit der einfachen Begründung beantrage, dass sich der Hund von Freunden aus England an einer bestimmten Stelle in der Nähe von KV15 auffällig benahm. Sie würden mich auslachen, und ausgelacht werden hat nicht nur die Ablehnung eines solchen Antrags zur Folge, sondern ist gelegentlich sogar der Tod für einen Wissenschaftler.«

Nun musste er selbst lachen.

»Ich muss diesen nächsten Schritt also wirklich sehr gut vorbereiten. Ich gebe Ihnen allerdings gern zu, dass ich selbst inzwischen gespannt bin. Man bekommt nicht oft in seinem Leben eine so merkwürdige Chance, auch wenn ich einen Erfolg, wenn Sie mich heute auf Ehre und Gewissen fragen, nicht einmal auf eins zu hundert einschätzen würde. Zu oft waren unsere Bemühungen erfolglos.«

Er hob sein Weinglas und prostete der Runde zu.

»Ich habe mich jedenfalls entschieden. Wenn etwas daraus werden sollte, werden Sie das während Ihres Besuchs hier nicht mehr mitbekommen. Sie sind dann längst wieder in England. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen zu gegebener Zeit Nachricht geben werde.«

Am nächsten Morgen in der Frühe machte sich die Alexandria auf zur Weiterfahrt nach Assuan. Vater und Tochter Burgess saßen mit ihrem morgendlichen Tee auf der Aussichtsterrasse und beobachteten das Ablegen und danach das Leben und Treiben an den beiden Nilufern.

Die Alexandria machte ihren ersten Stopp beim Ort Esna, wo sie den Tempel des Gottes Chnum und seiner Konsortin Neith und ihres Sohnes besichtigten.

Der zweite, viel interessantere Aufenthalt war etliche Meilen weiter südlich am Ort Idfu, der früher Edfu hieß, in dem eines der Wunderwerke des ägyptischen Tempelbaus zu besichtigen war: der mit Recht als einer der schönsten und am besten erhaltenen Tempel des ganzen Landes gepriesene Tempel des Horus, des Gottes der Sonne und des Lichtes. Die Reliefs in den hohen rötlichen Sandsteinmauern waren mit das Schönste und die Säulenreihen im Innenhof nach Karnak das Eindrucksvollste, was die Burgess auf ihrer Reise zu sehen bekamen. Lange bewunderten sie das große steinerne Standbild des Falken, des Sinnbildes des Gottes, neben dem Tor im Innenhof.

Die nächste Station dieser Reise, der Doppeltempel des Krokodilgottes Sobek mit dem des Osiris am Ufer des Nils, ganz in der Nähe des Ortes Kom Ombo, war ebenfalls den Aufenthalt wert.

Ganz besonders gespannt aber waren die Burgess’ auf den letzten Zwischenstopp vor ihrer Ankunft in Assuan im Örtchen El Kays. Unterstützt von Ernest Graham hatten sie Kapitän Achmed Nasseri in Luxor ihren Wunsch vorgetragen und hatten bei ihm sofort Gehör gefunden.

»Sie meinen wegen des Tempels des Anubis, nicht wahr? Ich habe mir das fast denken können, als ich Sie mit Ihrem Hund an Bord kommen sah. Was für ein Prachtexemplar. Das reine Ebenbild von Anubis in der Hundegestalt! Wir gehen auf solche Sonderwünsche gern ein, wenn die Landebedingungen nicht zu schwierig sind. Die Alexandria bedient eben nicht den Massentourismus, sondern mehr die Reisenden mit eigenen Reisevorstellungen, wie Sie es bei der Planung ja sicher gemerkt haben – auch im Preis natürlich!«

Er lachte und fuhr fort: »El Kays liegt auf beiden Seiten des Nils mit der Insel im Strom dazwischen. Ich weiß nicht, wie sie im alten Ägypten hieß. Ich erinnere mich an den Namen, den die Griechen ihr gaben: Cynopolis, die Hundestadt. Ah, das wissen Sie? Ich habe dort schon früher angelegt und kenne den Landeplatz an der Insel, auf dem sich der Tempel und der Hundefriedhof befinden. Ich habe mich da einmal umgesehen, muss aber gestehen, dass diese Tempelanlage nicht mehr viel hermacht. Sie ist einfach zu alt. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch Leute gibt, die sich um einen Anubiskult bemühen. Dass dieser Gott der Unterwelt aus den Vorstellungen des Volkes besonders hier im oberen Ägypten bislang nicht verschwunden ist, obwohl sich die meisten inzwischen zum Islam und viele auch zum koptischen Christentum bekennen, kann ich aus vielen Beobachtungen bezeugen. Also, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Wir werden dort voraussichtlich gegen Mittag ankommen und knapp zwei Stunden bleiben können. Ich hoffe, das reicht für Ihre Wünsche.«

Gegen elf Uhr des folgenden Tages kam Kapitän Nasseri persönlich auf das Sonnendeck, um die Burgess‘ daran zu erinnern, dass die Alexandria in etwa einer Stunde im ehemaligen Cynopolis, an der Insel im Nil, anlegen werde.

Vater und Tochter zogen sich um und warteten kurz vor der Landung mit Blackie und ein paar anderen Passagieren am Landungssteg, der nach ein paar Manövern von ein paar kräftigen Matrosen auf den Pier geschoben wurde und die Besucher auf die Insel entließ. Es war außerordentlich heiß. Aber da der Weg zum Tempel, der nicht mehr als 80 Schritte entfernt zwischen ein paar Palmen vor ihnen aufragte, nicht weit war, gab es kein Problem. Oberst und Amy Burgess steuerten direkt auf den Tempel zu, während sich die anderen Leute etwas verliefen. Blackie folgte ihnen in einer, wie Amy fand, ungewöhnlichen Haltung. Er trug seinen Kopf hoch, seinen buschigen Schwanz waagerecht und schien auf den Tempel fixiert zu sein. Der Tempel aus stark verwitterten rötlichen Sandsteinquadern gebaut, zeigte auf seinen Außenflächen einige Reliefs mit Bildnissen vor allem von Anubis und Ra und viele ziemlich verwitterte Inschriften. Leider war niemand da, der ihnen diese Inschriften entziffern konnte.

Sie traten durch ein hohes, von zwei dicken Säulen flankiertes Tor in das Halbdunkel der von kleineren Säulen umstandenen Tempelhalle und sahen sich unvermutet, noch bevor sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, einer riesigen steinernen Statue des Anubis gegenüber. Der alte Gott trug, wie sie es von anderen Bildern kannten, den Hundekopf über einem Menschenleib, in der rechten Hand den gegabelten Stab, das ›Was-Zepter‹ und in der linken den ›Anch‹, das Zeichen für das Weiterleben nach dem Tod.

Unter diesem besonderen Eindruck hatten die beiden Besucher nicht auf ihren Hund geachtet. Als Amy sich nach ihm umdrehte, sah sie, wie er sich in einer völlig ungewohnten Weise, fast kriechend, dem Standbild des Anubis näherte, dann niederlegte, seinen Kopf hob und einen lang gezogenen Ton, halb Gebell, halb Jaulen, so ganz anders als seine früheren Klagelieder, von sich gab. Als er schließlich verstummt war, legte er seinen Kopf auf die Pfoten und schloss seine grünen Augen. Nach einer Weile streckte sich sein Körper und seine aufgerichteten Lauscher sanken in sich zusammen.

Amy rief erschrocken: »Blackie!« und wollte zu ihm hinstürzen, als eine Stimme hinter ihr auf Englisch leise sagte: »Bitte nicht, Madame. Ihr Hund hat sich mit dem Gott, den er repräsentierte, vereinigt. Sie können ihn nicht mehr erreichen. Er ist am Ende seines weltlichen Lebens.«

Als sich Amy umdrehte, stand ein alter, grauhaariger Ägypter mit großen dunklen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, vor ihr. Er trug ein langes graues Gewand und alte Sandalen.

»Dieses Heiligtum, Madame, hat immer noch seine Wächter, die Getreuen des Anubis. Und wenn eine seiner Inkarnationen, wie Ihr Hund, zum Gott zurückkehrt, dann sorgen wir für ihn, wie wir, ich und die Wächter vor mir, es stets getan haben. Wir beerdigen den, der Anubis in der Welt vertrat, auf unserem Friedhof. Seien Sie nicht beunruhigt oder traurig. Anubis selbst wird seinem Ka den Weg in die ewige Welt zeigen. Auch wenn Sie es nicht glauben mögen: Das war das Ziel, das Ihr Hund erreichen wollte. Er hat es gefunden.«

Auf ein Zeichen von ihm kamen zwei junge Männer in kurzen, weißen Wickelröcken mit einer Bahre, hoben den Hund auf die Bahre, legten ein weißes Tuch über ihn und trugen ihn davon. Der alte Ägypter verneigte sich und folgte ihnen.

Amy Burgess weinte und machte Anstalten, ihnen nachzugehen, aber ihr Vater legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie aus dem Tempel. Er setzte sich dort mit ihr auf eine alte Steinbank und bemühte sich, sie zu beruhigen und zu trösten.

»Siehst du denn nicht, dass Blackies Zeit gekommen war, Amy? Der Hund war, wenn ich das richtig behalten habe, zwölf Jahre bei uns und war zwei oder drei Jahre alt, als du ihn ins Haus brachtest. Wir haben darüber schon früher geredet. Nach allem, was die, die es wissen müssen, sagen, entspricht ein Hundelebensjahr physisch dem von sieben Lebensjahren eines Menschen. Er hat also so viel wie um die hundert Menschenjahre gelebt und ein Alter erreicht, das man ihm wirklich nicht ansah.«

Er streichelte ihre Schulter.

»Wahrscheinlich haben wir ihm sein Altern gar nicht so angemerkt, weil er sich von jeher so würdevoll benahm und keine grauen Haare und Falten bekam wie ich.«

In Gedanken verloren blieb er eine Weile neben ihr sitzen. Er versuchte sie zu trösten: »Wenn ich an die Worte der Schöpfungsgeschichte denke, dass wir Menschen das Abbild unseres Gottes sind, dann kann ich nur sagen, dass dieser Blackie, ein Abbild seines Gottes, uns vorgemacht hat, wie man leben und sterben sollte: immer im Einverständnis mit seinem Gott und mit dem Wunsch, zu ihm zurückzukehren. Wenn nicht der Gott selbst in ihm wirkte. Komm, lass uns zum Schiff zurückgehen. Dies ist ein trauriger Ort. Hier ist nichts mehr für uns zu sehen und zu erleben.«

Er stand auf, reichte seiner Tochter die Hand und sie gingen durch das Gräberfeld für Anubis-Hunde zurück zur Alexandria.

* * *

»Und damit endet eigentlich Blackies Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen versprach. Nun ja, ein paar Einzelheiten, für die Sie sich interessieren mögen, sind noch nachzutragen.

Über den Rest der Ägyptenreise von Oberst Burgess und seiner Tochter Amy ist nicht viel zu berichten. Amy war zu traurig, um sich ohne ihren Begleiter Blackie auf etwas freuen zu können. Sie mochte allerdings ihrem Vater nicht den Urlaub verderben und machte das, was an Exkursionen in Assuan anstand mit, also die Besichtigung der Staudammanlagen, den Besuch des Isis-Tempels auf der Insel Philae im Stausee und die Fahrt über den See zu den geretteten Riesentempeln für Ramses II. und seine Frau in Abu Simbel am Ende des Stausees. Aber sie war, wie sie mir später sagte, glücklich, als sie endlich im Flugzeug saß, das sie von Assuan zurück nach England brachte.

Nachdem sie sich in Weybridge wieder eingelebt hatte, begann sie mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit, die Gedenkstätte für Blackie auf dem Hundefriedhof zu planen. Ihre Trauer um ihren Gefährten dauerte für viele Monate an. Ich weiß das, weil sie mich in ihre Pläne einbezog. Sie nahm mir sogar damals schon das Versprechen ab, für die Gedenkstelle zu sorgen, falls sie versterben sollte und ihr eigenes Grab so zu gestalten, wie sie es für ihren Blackie entwickelt hatte. Und das habe ich nach zehn Jahren getan. Sie lebte zu der Zeit allein in dem großen Haus in der Oak Lane. Ihr Vater war drei oder vier Jahre zuvor gestorben. Einen neuen Hund hat sie sich übrigens nie mehr angeschafft. Sie war weiterhin bei Merskin & Threadwell, der Anwaltskanzlei, beschäftigt, inzwischen als Büroleiterin, und war, wenn Sie mich fragen, die wichtigste Person in der renommierten Kanzlei. Und dann passierte es eines Tages, dass sie auf dem abendlichen Heimweg beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und lebensgefährlich verletzt wurde. Sie sah das Auto in der letzten Sekunde kommen, erschrak und verhaspelte sich mit ihrem Stock, als sie eilig die andere Straßenseite erreichen wollte. Der Fahrer war betrunken. Sie starb zwei Tage später.«

Nach kurzem Nachdenken ergänzte sie: »Das wäre ihr mit ihrem Blackie nie passiert. Der hätte sie gewarnt, und deshalb habe ich diesen Hinweis auf ihren Grabstein setzen lassen.«

Wir schwiegen uns einen Moment an und tranken den letzten Schluck aus unseren Gläsern.

»Vielen Dank, verehrte Frau Conston, für diese anrührende Geschichte. Wahrscheinlich werde ich einige Zeit brauchen, sie innerlich zu verarbeiten. Vielleicht noch eine Frage: Wissen Sie, ob irgendetwas aus der von Professor Graham geplanten Grabung geworden ist, ich meine die, die er nach Blackies Demonstration am Ende des Tals der Könige bei Grabstelle KV15 unternehmen wollte?«

»Ach ja. Dass ich das vergessen habe! Drei Monate nach ihrer Rückkehr nach Weybridge erhielten die Burgess’ einen Brief von Professor Graham, in dem er ihnen mitteilte, dass die mit modernen Sonden durchgeführte Untersuchung direkt unter den Felstrümmern, zwischen denen Blackie seinen Klagegesang abgegeben habe, den Zugang zu einer bisher unbekannten Grabkammer gefunden habe. Bei früheren Untersuchungen habe man diese Kammer wohl nicht finden können, weil sie direkt unter den Felstrümmern liegt, die offensichtlich erst in späteren Zeiten, nach der Anlegung des Grabes, herabgestürzt sind. Es gebe alle Anzeichen, dass es sich um ein bisher nicht gestörtes Grab handele. Man gehe mit der gebotenen Sorgfalt vor und habe bisher alle Meldungen an die Öffentlichkeit vermieden. Aber was auch immer bei der Grabung herauskommen werde, dem Hund Blackie gebühre der Ruhm für die Entdeckung. Er werde weiter berichten. Außerdem möchten er und seine Frau ihr großes Bedauern zum Ausdruck bringen, dass Blackie, wie sie von Captain Nasseri gehört hätten, in El Kays plötzlich verstorben sei. Einen solchen Hund habe er, Graham, tatsächlich noch nie erlebt. Er wünsche, dass er ihm länger für die weitere Erforschung des Tals der Könige zur Verfügung gestanden hätte. Nun seien sie wieder nur auf ihre armselige Technik und nicht auf die natürlichen Instinkte eines Anubis-Hundes angewiesen.

Drei Monate später erhielten die Burgess‘ einen weiteren dicken Brief von Professor Graham mit der Nachricht, dass die Grabkammer KV66 inzwischen geöffnet worden und tatsächlich unbeschädigt gewesen sei. Es handele sich, wie erste Untersuchungen ergeben hätten, wahrscheinlich um das Grab eines Sohnes von Pharao Thutmosis III., der bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen sei. Die Ausgestaltung der Grabkammern sei zwar ziemlich einfach, die verschiedenen Sarkophage, von denen allerdings erst zwei der äußeren geöffnet worden seien, und die Grabbeigaben seien jedoch sensationell, wenn auch nicht ganz mit denen des Tutanchamun-Grabes zu vergleichen. Einige Einzelheiten seien auf den beigefügten Fotos zu sehen. Im Übrigen werde in Kürze die Öffentlichkeit über diese neue Entdeckung informiert werden. Und das passierte bald danach in der üblichen großartigen Aufmachung mit Bildern, die um die ganze Welt gingen. Professor Graham wurde durch diese Grabung weltbekannt. In keinem der Interviews, die er gab, vergaß er Blackie zu erwähnen, den Anubis-Hund, der der Wissenschaft den Weg zu diesem Grabe gewiesen habe.«

Jennifer Conston schwieg einen Moment.

»Aber das ist nun wirklich alles. Es ist spät geworden. Ich muss mich langsam nach Hause begeben.«

»Nochmals herzlichen Dank, Frau Conston. Ich werde eben die Rechnung begleichen und Sie dann nach Hause begleiten.«

»Machen Sie sich keine Mühe. Der Weg ist nur kurz und gut beleuchtet. Schlafen Sie wohl.«

Die alte Dame erhob sich. Ich begleitete sie zur Tür, kehrte zum Tisch zurück und bestellte mir noch ein Glas Rotwein, um für eine Weile über diese Geschichte nachzusinnen, bevor ich mein Bett aufsuchte.

Wundersame Geschichten II

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