Читать книгу NICO - Dhana Winter - Страница 4
V wie Vogel
ОглавлениеEntschlossen ging Nico in Richtung Tür und über den Flur ins Wohnzimmer. Dabei hielt sie den Arm, auf dem der Hamster saß, abgewinkelt, als hätte sie einen Gips, und so ruhig wie möglich, damit Admiral von Schneider nicht das Gleichgewicht verlor. Als sie gemeinsam den Nebenraum betraten, sah sich Nico um. Niemand war da. Sie schloss die Tür hinter sich und steuerte das Fenster an, vor dem ein Käfig mit einem Kanarienvogel stand.
»Ein Käfigtriller«, sagte der Admiral in ihrem Ärmel. »Wie süß«, fügte er verächtlich hinzu.
»Ich hab keine Ahnung, was das sein soll«, erwiderte Nico, »aber das ist Mirabelle, der Kanarienvogel, den meine Mutter und Gregor vor ein paar Wochen draußen gefunden haben.«
Mit jedem Wort wurde ihre Stimme leiser und leiser. Denn sie hatten das Fenster erreicht und blieben vor dem kleinen, rundlichen, gelben Vogel stehen, der in seinem Käfig auf einer Stange saß und den Blick nach draußen gerichtet hatte. Er bewegte den Kopf, als würde er einer Melodie lauschen und diese stumm mitsingen. Selbst seine Füße wippten in einem unhörbaren Takt. Nico kannte das von ihm. Seit ihre Mutter und Gregor das Tier bei einem Spaziergang zufällig entdeckt und bei sich aufgenommen hatten, war es ihr sonderbar vorgekommen. Doch sie konnte nicht genau sagen, wieso.
Gregor war der Freund ihrer Mutter, und sie wohnten zusammen. Nicos Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie drei Jahre alt gewesen war. Ihr Vater wohnte in Hamburg und war oft auf Geschäftsreise, aber sie telefonierten regelmäßig über das Internet miteinander, wenn ihr Vater in Dubai, Los Angeles oder Tokio war. Er brachte ihr die besten Geschenke von überall auf der Welt mit, und sie gaben sich bei jedem Gespräch gegenseitig Rätsel auf, die sie bis zum nächsten Mal lösen mussten. Das machte großen Spaß. Aber manchmal wünschte sich Nico, ihr Vater wäre öfter da und sie könnte ihn nicht nur über Skype sehen.
Nicos Mutter arbeitete in einer Bank und kam erst abends aus dem Büro. Gregor dagegen war Grundschullehrer und jeden Nachmittag zu Hause, wenn Nico aus der Schule kam. Das war toll, denn Nico mochte Gregor. Außerdem konnte er gut kochen, und Nico aß gerne. Das passte perfekt. Seit einigen Monaten ging Gregor nicht mehr zur Arbeit, sondern blieb den Tag zu Hause und passte auf Nicos kleinen Bruder Matteo auf. Der war im Herbst zur Welt gekommen, und Nico gefiel es, dass sie nicht länger das einzige Kind war. Im Großen und Ganzen verstand sie sich mit ihrer Mutter und Gregor gut, aber sie waren trotz allem Erwachsene, und Nico war überzeugt, dass es nicht schlecht war, wenn zwischen Eltern und Kindern ein Gleichgewicht herrschte. Im Moment war Matteo zu klein, aber Nico rechnete fest damit, dass sie eines Tages treue Verbündete sein würden.
»Entschuldigung«, sagte Nico leise. »Wir möchten bestimmt nicht stören, aber wir wollten fragen …« Der Vogel reagierte nicht. »Ich glaube, sie versteht mich nicht«, flüsterte Nico dem Hamster zu.
»Sie ist nur taub. Sprich lauter.«
»Entschuldigung, Mirabelle, wir wollten fragen …«, wiederholte sie.
Erschrocken schrie der Vogel auf. »Grundgütiger!« Mirabelle sauste herum. Die Augen weit aufgerissen. Starrte Nico an. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Hast du mich erschreckt. Oh nein! Oh nein! Mir ist fast das Herz stehen geblieben«, sagte sie, japste nach Luft. Wieder und wieder. »Ich bin vor Angst beinahe von der Stange gefallen. Ich hätte tot sein können. Ich glaube, ich … ich … Ich dachte wirklich, jetzt ist es aus mit mir. Jetzt ist es aus!«
»Was ist das denn für eine?«, fragte Admiral von Schneider aus Nicos Ärmel heraus.
»Das tut mir leid, Mirabelle. Wir wollten dich nicht erschrecken«, sagte Nico.
»Ich habe mein Leben in Bildern an mir vorbeiziehen sehen.«
»Das können ja keine hammer Aufnahmen gewesen sein«, knurrte der Hamster.
»Das tut mir sehr sehr leid«, wiederholte Nico. »Das haben wir nicht mit Absicht gemacht.«
»Aber lustig wär’s.« Der Admiral lachte spöttisch.
»Puh!«, machte Mirabelle, dann noch einmal: »Puh! So langsam … Ja …« Sie atmete aus. »So langsam geht’s wieder. Aber gerade … hui! Da war ich mir sicher, das Ende wäre gekommen.«
»Leider nicht«, brummte der Hamster.
»Wie gesagt, das wollten wir nicht. Wir wollten nur fragen, ob du uns hören kannst. Ist es in Ordnung, wenn ich dich duze?«
»Natürlich. Ich bin schließlich nicht die Queen.« Mirabelle lachte hell.
»Das sehen wir«, murmelte der Admiral.
»Das ist übrigens Admiral von Schneider«, stellte Nico den Hamster vor und wartete, dass der aus ihrem Ärmel kletterte, was er nur langsam und widerwillig tat.
»Guten Tag, Herr von Schneider«, begrüßte der Kanarienvogel den Admiral freundlich.
»Admiral von Schneider«, verbesserte der Hamster durch zusammengebissene Schneidezähne hindurch.
»Oh, Entschuldigung.« Mirabelle schlug mit den Flügeln. »Obwohl Sie natürlich kein richtiger Admiral sind, oder?« Sie kicherte.
»Natürlich bin ich ein richtiger Admiral. Mit allerhöchsten Auszeichnungen«, erneut reckte der Hamster die Pfote in die Luft, »und erprobt in den gefährlichsten Abenteuern auf allen sieben …«
»Ach nein. Ach, nein, nein, nein.«
»Nein?«
»Das glauben Sie nicht wirklich, oder, Herr von Schneider?«
»Was?« Admiral von Schneider verengte den Blick.
»Mir hat man den Namen Mirabelle gegeben«, sagte der Kanarienvogel und legte sich einen der Flügel auf die Brust. »Aber deshalb bin nicht gelb und rund wie die Frucht am Baum.«
»Ach nein?«
»Herr von Schneider«, sagte Mirabelle amüsiert. »Sie sind mir einer. Und so, wie ich nicht wirklich eine Mirabelle und nicht gelb und rund bin, sind Sie nicht wirklich ein Admiral. Sie wurden nur so genannt. Das ist alles.«
»So ein Gurkenkäse!«, ereiferte sich der Hamster böse. »So ein beknatterter Gurkenkäse!«
»Wie bitte? Was soll das heißen?« Sie wandte sich von ihm ab und Nico zu, die nur die Schultern heben und ein ratloses Gesicht machen konnte.
Nico hatte längst aufgegeben, alle Worte des Hamsters zu verstehen. Aber dass sie jetzt auch den Kanarienvogel hören konnte … War das gut? War das schlecht? Was hatte das zu bedeuten?
»Admiral von Schneider ist nicht nur ein Name. Admiral von Schneider ist … Admiral von Schneider …« Vor Empörung begann der Hamster, zu stottern, und rang um seine Fassung. »Admiral von Schneider, das bin ich«, sagte er schließlich. »Ein konkret krasser Admiral mit allerhöchsten Auszeichnungen und erprobt in den gefährlichsten Abenteuern auf allen sieben Weltmeeren. Jawohl!«
»Aber Sie wurden nach der Figur aus einem Sketch benannt. Dinner for One. Mit Miss Sophie. Kennen Sie das nicht? Das kommt immer an Silvester. Zufällig weiß ich das sehr genau. Dies ist nämlich nicht das erste Wohnzimmer, in dem ich stehe.«
»Erzählen Sie doch keinen Schwätzdreck. So was Albernes hab ich noch nie gehört. Das ist wirklich enthausenhaft. Einfach nur enthausenhaft.«
»Also, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie reden, Herr von Schneider.« Verständnislos schüttelte Mirabelle den Kopf und machte ein mitleidiges Gesicht. Sie achtete nicht darauf, dass der Hamster ein ärgerliches Schnauben von sich gab, sondern drehte sich Nico zu. »Ich habe doch recht, oder nicht, Nico?«
Nico konnte es nicht fassen. War sie tatsächlich in einen Streit zwischen einem Kanarienvogel und einem Hamster verwickelt? Noch vor, sie blickte auf die Uhr neben dem Fernseher, ja, noch vor einer Stunde hatte sie weder gewusst, dass sich Kanarienvögel und Hamster streiten konnten, noch damit gerechnet, zwischen ihnen die Schiedsrichterin spielen zu müssen.
Als Nico kleiner gewesen war, hatte sie sich gewünscht, sich mit dem alten Hund der Nachbarin, Frau Biermann, unterhalten zu können. Der hatte so ein wissendes Gesicht gemacht, dass sie ihn gerne gefragt hätte, was er wusste. Im Zoo hatte sie früher mit den Giraffen und Schimpansen sprechen wollen, weil die besonders klug und besonders witzig wirkten. Es interessierte sie, was Tiere dachten, wenn sie die Stirn runzelten, abwesend aus dem Fenster schauten, lustige Geräusche machten, die wie ein Lachen klangen, oder beim Schlafen die Füße bewegten, als würden sie rennen.
Aber Nico war älter geworden und hatte eingesehen, dass das unmöglich war. Sie war Forscherin. Sie glaubte nur, was sie beweisen konnte. Und hätte sie sich vor einer Stunde erzählt, dass sie in einem Streit zwischen einem Vogel und einem Nagetier schlichten müsste, hätte sie sich garantiert für verrückt gehalten. Doch jetzt? Jetzt musste sich Nico ein amüsiertes Grinsen verkneifen.
»Ich kann tatsächlich nicht nur Sie hören, Admiral von Schneider«, sagte sie und sah den Hamster an.
»Besser wär’s gewesen«, gab der zurück.
»Was soll denn heißen, du kannst tatsächlich nicht nur ihn hören?«, fragte Mirabelle.
»Na ja …«, Nico zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie das erklären sollte. Noch immer kam ihr die Geschichte so vollkommen unwahrscheinlich und albern vor. Selbst dann, wenn sie diese einem Kanarienvogel erzählen wollte. »Also … Ich weiß auch nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber … irgendwie …«
»Kann sie Tiere hören«, beendete Admiral von Schneider ihren Satz.
»Genau.« Nico warf dem Hamster einen dankbaren Blick zu.
»Und um herauszufinden, ob sie nur Hamster und damit die weltbesten aller Tiere hören kann oder auch irgendwelche x-beliebigen, sind wir zu Ihnen gekommen«, fügte er hinzu.
»Und?«
»Was und?«, fragte der Admiral zurück.
»Hat sie es herausfinden können?«
Irritiert sah Nico den Kanarienvogel an, und auch der Hamster warf Mirabelle einen musternden Blick zu. Noch ehe Nico dem Vogel antworten konnte, kam ihr Admiral von Schneider zuvor.
»Nein«, sagte er mit ausdrucksloser Miene, und seine Stimme war ernst.
»Das ist aber schade«, erwiderte Mirabelle bedauernd.
»Ja, sehr schade.«
»Und was wolltet ihr mich fragen? Ihr habt gesagt, dass ihr gekommen seid, um mich etwas zu fragen.«
»Das … ähm … Ich denke, das hat sich erledigt«, sagte Nico.
»Sicher?«, fragte Mirabelle.
»Ganz sicher.«
»Na gut.« Der Kanarienvogel hob die Flügel, als würde er seine Schultern zucken. »Du kannst also Hamster hören? Das ist ziemlich cool. Kennst du einen?«
Wieder sah Nico Mirabelle prüfend an. Meinte der Vogel das ernst oder erlaubte er sich einen Spaß mit ihr? »Ja«, erwiderte sie langsam.
»Wen?«
»Mich«, antwortete Admiral von Schneider an ihrer Stelle.
»Sie sind ein Hamster?«
»Natürlich bin ich ein Hamster. Was bitte sollte ich sonst sein?«
»Ich weiß nicht. Eine dicke Maus?!«
»Eine dicke Maus? Ich glaub, ich höre …«, wollte er sich ereifern, als Nicos Handy ein Piepsen von sich gab.
»Was war das?« Erschrocken fuhr Mirabelle herum. Sah nach links. Nach rechts. Nach unten. Machte aufgeregte Hüpfer auf ihrer Stange. Schlug mit den Flügeln. »Waaaas war das?«
»Das war nur mein Handy«, sagte Nico beruhigend und zog ihr Telefon aus der Hosentasche, zeigte es ihr.
»Ich … ich …« Der Kanarienvogel japste. »Ach du je. Mein Herz. Mein armes Herz. Ich habe mich so erschrocken. Fast wäre ich von der Stange gefallen. Tot. Mausetot. Ach du jemine.«
»Schön wär’s«, knurrte Admiral von Schneider.
Mirabelle beachtete seinen Einwurf nicht, sondern fächerte sich stattdessen mit den Flügeln Luft zu. »Ach du … ach du … jemine.«
»Tut mir leid, Mirabelle. Das wollte ich nicht. Kann ich irgendetwas für dich tun? Kann ich dir helfen?«, fragte Nico.
»Nein, ich … Nein, es … es geht schon. Ich habe mich nur erschreckt, aber … gleich geht es wieder. Gleich … Puh!«
»Gibt’s irgendwas, vor dem Sie nicht Angst haben?«
Mirabelle antwortete dem Hamster nicht. Sie setzte sich wieder auf ihrer Stange zurecht und fragte: »Was … was wollte denn dein Handy?«
»Ach so …« Nico warf einen Blick auf das Telefon in ihren Händen. »Meine Freundin Suni hat mir geschrieben, weil ich«, sie überflog die Nachricht, die sie bekommen hatte, »zu spät zum Training komme. Oh nein! Das habe ich total vergessen.«
»Was für ein Training?«, wollte der Kanarienvogel wissen.
»Roller Derby.«
Im vorletzten Sommer waren ihre Freundin Suana und sie durch einen Aushang an der Schule auf das Team der Rheinberg Rebel Roller Girls aufmerksam geworden und hatten sich gleich zu einem Schnupperkurs angemeldet. Von der rasanten, wilden Sportart, bei der zwei Teams mit vollem Köpereinsatz versuchen, sich gegenseitig auf einer ovalen Rollschuhbahn zu überrunden, war Nico von Anfang an begeistert gewesen. Seitdem gehörten sie zum Team aus 13 Mädchen, die gemeinsam zweimal die Woche in der ehemaligen Eishalle der Stadt trainierten und am Wochenende zu Wettkämpfen fuhren. Nico mochte es, dass man beim Roller Derby auf seinen Rollschuhen schnell und wendig sein musste. Sie war nicht groß, aber kräftig für ihr Alter und hatte selbst vor schweren Stürzen keine Angst. Sie sauste gerne Runde um Runde über die Bahn und kämpfte sich zwischen den anderen Mädchen durch. Überhaupt liebte sie die Geschwindigkeit bei allem, was sie tat. Für Nico gab es nichts Schlimmeres als Langsamkeit und Langeweile.
»Roller Derby? Was ist das?«, fragte Mirabelle.
»Das ist«, wollte Nico antworten, doch Admiral von Schneider kam ihr zuvor.
»Roller Derby ist eine derb-krasse Vollkontaktsportart«, erklärte er, »die ursprünglich aus den USA stammt. Dabei treten zwei Teams gegeneinander an und versuchen, durch Überrunden der gegnerischen Spielerinnen Punkte zu erzielen. Die wollen das natürlich verhindern und blocken und schubsen und stoßen und ziehen. Voller Körpereinsatz. Es ist echt fähig.«
»Es ist was?«, fragte der Kanarienvogel, aber der Admiral sprach weiter.
»Die Spielerinnen haben ultra-geniale Namen wie Baby Ruthless, Hell Yeah oder Raven Rebelle. Nico heißt zum Beispiel Jolly Slaughterhouse aka The Knee Basher.«
»Das wissen Sie?«, sagte Nico überrascht.
Das Aussuchen eines möglichst originellen und kämpferischen Namens gehörte beim Roller Derby dazu und hatte Nico besonders Spaß gemacht. Suana und sie hatten ein ganzes Wochenende damit verbracht, die Listen von amerikanischen Spielerinnen zu durchforsten, um einen passenden für sich zu finden. Und ihr eigener kam Nico sehr gelungen vor.
»Natürlich. Und deine beste Freundin Suni heißt Pinkie Scourge aka The Helmet Thrower. Roller Girls sind wirklich lässig. Sie tragen Rollschuhe und sind superschnell und überhip, und es geht krass konkret zur Sache.«
»Beim Rollschuhlaufen?« Ungläubig schaute Mirabelle den Hamster an.
»Das ist kein Rollschuhlaufen!«, erwiderte Admiral von Schneider empört.
»Und warum wissen Sie so viel davon? Sie sind doch bestimmt noch nie selbst Rollschuh gelaufen, oder? Ich stelle mir das gerade vor. Eine dicke Maus auf Rollschuhen.« Mirabelle lachte über ihren eigenen Witz.
»Nein«, sagte der Hamster, sprach langsam und ließ den Vogel nicht aus den Augen. »Nein, bin ich nicht. Aber Nico sieht sich oft Videos auf Youtube an. Die gucke ich natürlich mit und hab schon einiges aufgeschnappt, okay?«
»Haben Sie?«, fragte Nico.
»Natürlich. Manche von diesen Matches sind brontal. Absolut de luxe.«
»Ja, oder? Erinnern Sie sich an das Finale zwischen den Texas Rollergirls und …
»Wo?«, wurden sie in diesem Moment von Mirabelle unterbrochen.
»Was wo? «
»Wo habt ihr das gesehen?«
»Leben Sie hinterm Mond?«, fragte der Hamster zurück.
»Nein«, antwortete Mirabelle ernsthaft, »im Wohnzimmer.«
»Bei Youtube. Das ist ein Videoportal«, erklärte Nico.
»Aha. Und du spielst das auch? Dieses Roller Derby?«
»Ja.«
»Aber es klingt ganz … na ja …« Mirabelle legte den Kopf schräg. »Es klingt irgendwie …«
»Krass aufregend? Ultra spannend? Übelst atemberaubend?«, schlug der Hamster vor.
»Furchtbar!«, sagte sie. »Es klingt ganz ganz furchtbar!«
»Ist es aber nicht. Es ist toll! Wirklich«, fügte Nico hinzu. »Klar, es ist schon ziemlich anspruchsvoll und manchmal hart. Ich kann meine blauen Flecken gar nicht zählen. Und einmal habe ich mir ein Stück meines Zahns ausgeschlagen.« Nico deutete auf ihren Eckzahn. »Aber es macht extrem viel Spaß.«
»Es klingt nicht nach Spaß.«
»Nicht für einen Vogel, der schon beim leisesten Pieps vor Schreck von der Stange fällt«, murmelte der Hamster.
»Kommt doch mit«, sagte Nico und sah von Mirabelle zu Admiral von Schneider und zurück.
»Auf sure.«
»Heißt das Ja?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Das lass ich mir nicht entgehen.«
»Und was ist mir dir, Mirabelle?«, wandte sich Nico an den Kanarienvogel.
»Ich würde, wenn ich könnte, aber … ich möchte lieber nicht.«
»Wieso nicht? Du musst nicht selbst Rollschuh laufen. Du kannst einfach zusehen. Das ist ganz ungefährlich.«
»Nichts ist ungefährlich«, widersprach Mirabelle. »Die Welt da draußen«, sie wies mit dem Flügel zum Fenster hinaus, »ist eine Bedrohung für Leib und Leben. Überall lauern Gefahren. Allein bei dem Gedanken … puh«, machte sie. »Puh!« Sie presste die Flügel an die Brust. »Nein. Nein, nein, nein. Da bleibe ich lieber auf meiner Stange. Hier kann mir wenigstens nichts passieren. Hier bin ich in Sicherheit.«
»OMG, Sie haben wirklich vor allem Backenwedeln«, stöhnte Admiral von Schneider. »Gibt es irgendwas, vor dem Sie nicht Muffensausen bekommen?«
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Mirabelle ernst. »Aber ich kenne ja auch nicht alles. Und von mir aus kann das sehr gerne so bleiben.«
»Sie wissen schon, dass Sie ein Vogel sind, oder? Sie können einfach den Abflug machen. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Ich verstehe nicht.«
»Na, weil Sie Flügel haben. Sie sind ein Vogel. Sie können einfach wegfliegen, wenn Ihnen jemand blöd kommt.«
»Ja, das stimmt. Aber nein«, sagte Mirabelle.
»Nein?«, fragte nun auch Nico.
»Ja. Nein.«
»Haben Sie etwa keine Flügel, oder was?«
»Doch, sicher.« Zum Beweis hob der Vogel seine Flügel. »Hier. Sehen Sie. Und es sind sogar«, Mirabelle betrachtete ihre Federn, »sehr hübsche Flügel, wie ich finde. So schön gelb. Aber«, sie ließ sie wieder sinken, »Fliegen, das mache ich nicht.«
»Sie machen das nicht?«, lachte der Admiral.
»Was soll das heißen? Du fliegst nicht?«, fragte Nico. »Gar nicht?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Und zum Glück geht das mittlerweile ganz gut.«
Nico fiel ein, dass Mirabelle nie ihren Käfig verließ. Ihre Mutter hatte sich schon oft bemüht, den Vogel herauszulocken, damit er im Wohnzimmer herumfliegen konnte. Doch Mirabelle war nie weiter als bis zum Türchen des Käfigs gekommen und hatte nicht einmal den Kopf nach draußen gestreckt, egal, was Nicos Mutter versucht und welche Leckereien sie ihr angeboten hatte.
»Aber wieso?«
»Nur, weil man Flügel hat, bedeutet das nicht, dass man unbedingt fliegen sollte.«
»Doch«, mischte sich Admiral von Schneider wieder ein. »Genau das bedeutet es.«
»Fliegen ist gar nicht so toll, wie alle denken. Es ist sehr hoch«, sie deutete erneut aus dem Fenster, »und viel zu schnell und so wackelig. Ganz schrecklich wackelig sogar. Und da ist der Wind. Der pustet einem ständig ins Gesicht und besonders in die Augen. Ich habe sehr empfindliche Augen. Außerdem sind da andere Vögel. Gemeine Vögel. Man muss ständig irgendwem ausweichen und die Vorfahrt beachten und … und wenn man zu tief fliegt, bekommt man eklige kleine Tierchen in den Schnabel. Es ist furchtbar! Einfach nur furchtbar! Und als wäre das alles nicht schlimm genug, muss man immer Angst haben, sich zu verfliegen. Denn die Welt da draußen ist entsetzlich unübersichtlich, und wenn man sich einmal verfliegt, findet man nicht mehr zurück. Nie wieder.«
Mirabelle sah plötzlich traurig aus, und Nico musste an den Tag denken, an dem ihre Mutter und Gregor den Kanarienvogel bei einem Spaziergang mit Nicos kleinem Bruder Matteo vor einer Hecke sitzend entdeckt hatten. Nass und zerzaust und abgemagert war er gewesen. Er hatte aufgeregt mit den Flügeln geschlagen. Aber als sie ihn hatten einfangen wollen, war er bereitwillig zu ihnen gekommen und hatte fast erleichtert gewirkt, als sie ihn mit nach Hause genommen und einen Käfig für ihn besorgt hatten. Mehrere Wochen lang hatten Nico, ihre Mutter und Gregor versucht, herauszufinden, woher der Vogel gekommen war und wem er gehörte. Sie hatten in den Tierheimen und bei Tierärzten nachgefragt und Flugblätter aufgehängt. Nico hatte sogar eine E-Mail-Lawine gestartet, aber niemand hatte sich gemeldet. Seitdem war Mirabelle bei ihnen.
In der ganzen Zeit hatte sich Nico jedoch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, was der Kanarienvogel erlebt und welche Ängste er ausgestanden hatte. Ihr war nie die Idee gekommen, dass seine Furcht vor der Welt außerhalb des Käfigs gute Gründe haben könnte. Jetzt verstand sie Mirabelle besser. Und das war ein tolles Gefühl.
Nico mochte noch nicht herausgefunden haben, warum sie plötzlich Tiere hören konnte, aber sie hatte in der letzten Stunde schon mehr über Admiral von Schneider und Mirabelle erfahren, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Bisher hatte Nico versucht, die Sprache und das Verhalten von Tieren zu erforschen, indem sie genau beobachtete und alles sorgfältig notierte. Doch zum ersten Mal hatte nun sie die Chance, sie wirklich kennenzulernen. Und das war nicht nur spannend und aufregend, sondern vor allem sehr schön.
Sie wollte gerade etwas sagen, als Admiral von Schneider ihr zuvorkam.
»Das ist doch Pillepup!«, sagte er entschieden. »Absoluter Schnullerbuller, den Sie da erzählen. Sie sind ein Kanarienvogel. Wahrscheinlich kommen Sie aus einem Tiergeschäft wie ich. Da haben Sie in einem Käfig gewohnt, bis jemand Sie gekauft hat und Sie in eine kleine dunkle Schachtel gesteckt wurden. Und als Sie wieder rauskamen, waren Sie wieder in einem Käfig. Sie sind in Ihrem ganzen Leben nicht einmal wirklich draußen gewesen. Vom Herumfliegen ganz zu Schweigen.«
»Admiral von Schneider …«, versuchte Nico, den Hamster zu stoppen, doch der war in Fahrt.
»Sie wissen gar nicht, wie es da ist.« Mit der Pfote deutete er aus dem Fenster. »Sie haben keine Ahnung. Nicht den leisesten Schimmer. Sie sind eine totale Gurkengräberin. Für den Unsinn, den Sie da verzapfen, könnte man Sie für den Rad-ab-Orden vorschlagen.«
»Den was?«
»Das sagt man so. Also manche«, verbesserte Nico, »sagen das so.«
»Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich einen Orden verdient habe«, erwiderte Mirabelle. »Ich würde mich natürlich über Auszeichnungen jeglicher Art freuen. Aber ich habe sicherlich keinen Unsinn erzählt, mein lieber Herr von Schneider. Und auch keinen … Schnullerbuller«, widerholte sie sein Wort. »Sie glauben es mir vielleicht nicht, aber als junger Vogel war ich durchaus etwas abenteuerlustiger als heute. Ja, in der Tat komme ich aus einem Tiergeschäft«, erzählte sie, »wo mich eine ganz wunderbare ältere Dame käuflich erworben hat. Bei ihr habe ich lange Zeit gewohnt. Ich hatte einen sehr schönen großen Käfig und Spielzeug und ein eigenes kleines Wasserbad, in dem ich jeden Dienstag und Donnerstag und Samstag schwimmen durfte. Außerdem ließ mich meine alte Dame jeden Tag nach dem Mittagsessen einen kleinen Ausflug machen, wie sie das nannte. Dann öffnete sie die Käfigtür, und ich durfte hinaus und meine Runden durch das Zimmer drehen. Das hat mir gut gefallen. Ich habe mir alles angesehen, war neugierig und habe mich oft auf ihre Kissen oder den Rand ihrer Stickbilder gesetzt, um ein paar Fäden herauszuziehen. Das war ein Spaß.« Mirabelle lachte.
»Das durfte ich natürlich nicht«, fuhr sie fort, »und wenn meine alte Dame es bemerkt hat, hat sie mich ausgeschimpft und fortgescheucht, aber na ja. Wie gesagt, ich war jung und abenteuerlustig. Und sie war auch nie wirklich böse mit mir. Sie war eine herzensgute Frau.«
»Was ist passiert?«, fragte Nico.
Der Vogel antwortete nicht sofort, sondern sah einige Momente schweigend aus dem Fenster. »Meine alte Dame«, begann Mirabelle, »war sehr gewissenhaft. Sie hat immer alle Fenster geschlossen, bevor sie mich aus dem Käfig gelassen hat. Aber einmal … einmal hat sie es vergessen. Ich habe gar nicht lange drüber nachgedacht. Einfach schwups.« Sie machte eine Bewegung mit den Flügeln. »Und schon war ich draußen. Sie hat mich gerufen, aber ich bin weitergeflogen. Und geflogen. Und geflogen. Und geflogen. Ich war so aufgeregt. Alles war neu und groß, und überall gab es etwas zu sehen. Aber als ich dann …« Mirabelles Stimme wurde leiser. »Als ich dann zurück nach Hause fliegen wollte, hatte ich keine Ahnung mehr, wo ich war. Ich hatte mich hoffnungslos verirrt und habe nie wieder zurückgefunden. Und meine liebe alte Dame habe ich nicht wiedergesehen.« Traurig senkte sie den Kopf.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Nico und sah den Kanarienvogel mitfühlend an.
Als sie bei Tierheimen und Tierärzten nachgefragt und die vielen Flugblätter aufgehängt hatten, hatte Nico nur daran gedacht, dass irgendwo jemand seinen Vogel vermisste. Sie hatte nie überlegt, ob es Mirabelle vielleicht genauso ging.
»Ja«, murmelte Admiral von Schneider und räusperte sich. »Mir auch.«
»Weinen Sie etwa?«
»Was? Nein. Esel nicht rum. Ich hab nur was im Auge.« Er wischte sich mit der Pfote über das Gesicht.
»Und da draußen … Das war kein Spaß. Nein, nein, nein. Das war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Noch mal würde ich das nicht durchstehen. Solche … Erfahrungen«, sie machte eine kurze Pause, »wünsche ich niemandem. Und wenn ich nicht unbedingt muss, möchte ich nie wieder einen anderen Vogel sehen und werde diesen Käfig und diese Stange niemals verlassen. Daher recht vielen Dank für deine freundliche Einladung«, nun wandte sie sich Nico zu, »aber ich möchte sie lieber nicht annehmen. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel. Euch wünsche ich natürlich viel Spaß beim … Roller Derby. Richtig?«, fügte sie hinzu.
»Bist du dir sicher?«
»Absolut. Ja, ja, ja.«
»Na gut … Wir müssten jetzt auch los. Kommen Sie denn noch mit, Admiral von Schneider?«
»Natürlich. Auf jeden!«, antwortete der Hamster.
»Also gut. Dann würde ich sagen, dass wir uns besser auf den Weg machen. Und wir sehen und«, Nico grinste, » sprechen uns später?«
»Ich werde schon nicht wegfliegen. Bis später, Herr von Schneider«, sagte Mirabelle. »Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich hatte ja keine Ahnung, wer noch alles in dieser Wohnung wohnt. Aber ich denke, wir sehen uns jetzt öfter, oder nicht?«
»Ganz bestimmt«, antwortete Nico.
»Elefantistisch«, brummte Admiral von Schneider.
»Bis später.« Nico wartete, bis der Hamster zurück in den Ärmel geklettert war, und hob die Hand.
»Ja, bis später.« Mirabelle hielt zum Abschied einen Flügel in die Höhe.
Das alles war verrückt. Vollkommen verrückt! Und gleichzeitig war es das Tollste, was Nico jemals erlebt hatte.
Sie hatte gerade die Wohnzimmertür erreicht, als die Stimme des Vogels sie zurückhielt.
»Was ich noch sagen wollte«, rief Mirabelle.
»Ja?«
»Ich finde es toll, dass du nicht nur Hamster hören kannst, sondern auch uns x-beliebige Tiere.«
»Ja«, sagte Nico lachend, »das finde ich auch.«