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Einsamkeit in der Kunst
ОглавлениеWir sehen: Einsamkeit hat viele Gesichter, kennt unendlich viele Facetten. Und wie oft wurde sie nicht schon zum Thema? Wie oft nicht schon besungen, romantisiert und melodramatisch beklagt, mit Vorliebe von den schönen Künsten? Marlene Dietrich sang über das Leben in einer großen Stadt, wahrscheinlich dachte sie an Berlin oder Paris, als ihre unvergessliche Stimme bekannte: »Man lebt in einer großen Stadt und ist doch so allein.« Es geht in dem Song mehr um die Liebe, um den wohl fulminantesten Gegenpol zur Einsamkeit, doch am Ende bröckelt, was in der Kunst bröckeln muss, und die Dietrich endet mit den Zeilen:
Und man schweigt und fühlt, genau jetzt ist es Schluss
Und es lohnt nicht einmal mehr ein Wort zu sagen. Jetzt ist alles aus, eine Welt stürzt ein, man ist wieder einmal so allein.
Viel drücken die Worte aus, ein Schweigen legt sich über die Seele, und doch bleibt die Einsamkeit nur einmal mehr die ungreifbare Wolke, die sie ist. Wohl auch darum haben besonders Kunst und Literatur sie immer wieder zum Thema gemacht: Um uns eine Vorstellung davon zu geben, was Einsamkeit alles bedeuten kann.
Caspar David Friedrich malte den Wanderer über dem Nebelmeer. Zu sehen ist ein monolithisch in der Natur stehender Herr mit Wanderstock, der, dem Betrachter den Rücken zukehrend, allein von einem Gipfel auf die Nebelschwaden über den Bergen schaut.
Johann Heinrich Füssli malte Die Einsamkeit bei Tagesanbruch, Edvard Munch schuf 1899 das expressionistische Werk Zwei Menschen. Die Einsamen. Eine Frau und ein Mann stehen an einem Strand, verbunden höchstens durch ihr jeweiliges Verlassensein, gezeichnet von der Leere und der Weite des Meeres. Berühmt ist Munchs Der Schrei, in dem die Angst als Grundgefühl der Moderne zum Ausdruck gebracht wird, dargestellt von einem Zurückgelassenen, dessen Mund wie ein Loch klafft, dessen Augen keine Pupillen besitzen und dessen Hände den Kopf umgreifen wie eine Zange. Es ist eine prototypische Figur der vereinzelten Seele, gefangen in ihrer Furcht vor dem Leben.
Früher schon, in der kolonialen Literatur Nordamerikas, wurde die Natur zum einsamen und erbarmungslosen Ort der »Howling Wilderness«, in der die Siedler auf sich gestellt waren und in ihrer Welt nicht den Garten Eden, sondern die Ödnis der biblischen Wüste erkannten. Es folgten die Transzendentalisten, die Romantiker. H. D. Thoreau, der sich allein in den Wald zurückzog. Herman Melville, der hoch oben im Masttopp mutterseelenallein über den Pazifik glitt und seinen Helden Ismael in Moby Dick den entrückten Satz sagen lässt: »True places have no name.« Wahre Orte haben keinen Namen.
Ohne Einsamkeit kamen Kunst und Literatur fast nie aus, oftmals auch nicht die Künstler und Literaten, die sie erschufen. Die Einsamkeit ist offenbar also auch das: Ein Grundmotiv der menschlichen Existenz, zu finden in einem ihrer dunkelsten Auswüchse schon in der Bibel. Das Evangelium nach Johannes, 5–18: In den fünf Hallen am Teich Betesda liegen Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es ist aber dort ein Mensch, der liegt seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn sieht, fragt er ihn, ob er gesund werden will. Der Kranke antwortet ihm: »Herr, ich habe keinen Menschen.«
Keine Symbolik liegt in diesem Satz, kein allegorisches Versteckspiel. In diesem Satz steckt die blanke und fürchterliche Einsamkeit, um die auch Mutter Teresa nicht herumredete, als sie sagte: »Einsamkeit und das Gefühl, unerwünscht zu sein, ist die schlimmste Armut.«
Deutlich abstrakter geht es mit dem Thema der Einsamkeit später in Kunst und Literatur weiter. In der Aufklärung gerät die Einsamkeit zum positiv besetzten Rückzug aus dem Grind des Alltags, im Fokus stehen geistige Besinnung, selbstauferlegte Katharsis. Gedankenschwer zogen Dichter und Denker durch die Weltgeschichte, in ihren Werken, oft genug in Person. Es galt nun vielmehr, in sich selbst hineinzuhorchen, den eigenen Geist und auch die eigene Gefühlslage auszuloten. In der damaligen Zeit ein unerhörter Luxus. Und die aufkeimende Lust zur Selbstreflexion benötigte im Gegenzug zum bürgerlichen Treiben einen neuen Ort der Einkehr: die eigene Innerlichkeit, das autonome Ich. Auch dies eine Einsamkeit, die aus freien Stücken gewählt ist. Und bisweilen in tragischen Szenen endete.
So in Goethes Die Leiden des jungen Werthers, wo sich der junge Werther in seiner Liebe zu der bereits an einen Adligen vergebenen Lotte verliert und schließlich in sich selbst. Seine hoffnungslose Leidenschaft lässt Werther von bürgerlichen und moralischen Normen immer weiter abrücken, bis er sich schließlich nur noch mit den Kindern identifizieren kann. Und bis er sich am Ende, restlos desillusioniert, eine Kugel in den Kopf jagt. Der gute Werther strandet gleich in doppelter Einsamkeit: Weder in Lottes höfischem Leben noch im Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft hat er einen Platz.
Eine alte Form der Vereinsamung lässt Goethe hier nicht nur anklingen, er thematisiert sie erstmals offen, und zwar hoch dramatisch: Die soziale Diskriminierung, die gesellschaftliche Abgrenzung. Vom Adel und auch von Lotte bekommt es Werther am Ende deutlich zu spüren: Du nicht. Du gehörst nicht dazu. Troll dich, Plebejer – scher dich zum Teufel! Der Roman wurde zum ersten deutschen Bestseller, später zum Welterfolg. Und er ist bis heute aktuell. Goethe spricht das erste Mal ungeniert jene Grenzen an, die die Gesellschaft in Klassen spalten. In Oben und Unten. In Mächtige und Marionetten. In Schöne und Schufter. Eine uralte Schere, existent spätestens seit dem alten Rom. Routiniert zerschneidet sie seither das Menschengebinde, mal sanfter, mal schärfer.
Auch die Literatur des 20. Jahrhunderts hat das Thema Einsamkeit zum Gegenstand. Wolfgang Borchert kehrt aus dem Zweiten Weltkrieg heim und tut sich schwer mit der Unmöglichkeit, als Veteran wieder in ein normales Leben zu finden. In seinem berühmtesten Drama Draußen vor der Tür schafft er mit Beckmann einen Helden, der nach den erlebten Gräueln zum Verstoßenen in den eigenen Reihen wird. Eine weitere, paradoxe Abart der Einsamkeit: Die auf brutalen Erfahrungen fußende Unvereinbarkeit mit den Unversehrten. Und wo sollte sie besser zum Ausdruck kommen als in Werken wie Draußen vor der Tür oder in jener Erzählung Borcherts, in der ein Gefangener seinen letzten Freund in einer Hundeblume findet? In einem Stück Unkraut, das auf dem Knasthof verschmäht vor sich hinvegetiert.
Thomas Mann befasst sich mit einer weiteren Ausgeburt der Einsamkeit. In seinem wie Borcherts Drama ebenfalls 1947 erschienenen Roman Doktor Faustus ist der Tonsetzer Adrian Leverkühn so besessen von seiner Passion, dass er sich immer weiter von seinen Mitmenschen abwendet, für seine kompositorischen Höhenflüge sogar einen Pakt mit dem Teufel eingeht und schließlich den Verstand verliert. Viele erkennen in dem Werk den Verweis auf den Nationalsozialismus, in dessen Sog gleich ein ganzes Volk mit dem Bösen paktiert und gesammelt allen guten Geistern abschwört. Die Einsamkeit äußerst sich in Form maximaler Abschweifung: In der kollektiven Abkehr vom rechten Weg. In einem solchen Strudel enden die Abtrünnigen zwangsläufig als das, was sie in teuflischen Fahrwassern schon immer waren: Verlorene Seelen.
In der Malerei des 20. Jahrhunderts beherrschte es vor allem einer, der Einsamkeit eine ganz andere, bereits sehr moderne Note zu verleihen. Bei ihm wird das Individuum zur vereinzelten Kreatur in einer hohlen Welt. Die Rede ist von Edward Hopper: überall Bedrückte, Erschöpfte, Müde und Zerpflückte. Sie scheinen auf seinen Bildern mehr zu existieren als zu leben. Fristen ihr Dasein in der amerikanischen Nacht, in der sengenden Glut, sie sitzen leblos in der Bar, im Zug, im beengten Apartment, in der Hotellobby, gehen über die Straßenkreuzung, stehen herum im Neonlicht einer Tankstelle. Homo sapiens in seinen selbst erschaffenen Räumen, verschollen in einer abgrundtiefen Abwesenheit. Hoppers Bilder beklemmen, wenn man sie zu lange anschaut. Der moderne Mensch selbst wird darauf zum Synonym der Einsamkeit. Zur trostlosen Gestalt. Im Hopper’schen Universum ist er das, was nur ein englisches Wort zum Ausdruck bringen kann.
Lost.
Am Ende zeigt uns die Exkursion in die Kunst vor allem eines: Das Thema Einsamkeit ist groß. Es zieht sich von der Bibel bis in die aktuellen Charts und Bestsellerlisten. Die Solitude, so scheint es, wird uns wohl nie verschonen, als sei sie ein Wesenszug der Existenz selbst. So kommen auch die heutigen Kunstschaffenden gar nicht drum herum, die Einsamkeit auf die eine oder andere Weise immer wieder zu thematisieren; ob sie wollen oder nicht. Das Echo überfällt uns zuverlässig und überall: Variationen von Verlorenheit und Sehnsucht finden wir an jeder Ecke, vernehmen die Kadenzen von Leere und Suche, sobald wir die Ohren spitzen. Man könnte fast sagen: Das unzertrennliche Gegensatzpaar von Einsamkeit und Nähe beherrscht mit Allmacht unser Leben – und spricht uns violent aus der Seele.
Da sind, um nur einen kleinen Rundblick in die modernen Zeiten zu werfen, etwa die Meeresgemälde eines Gerhard Richter. Weite, Leere, Einsamkeit ozeanischen Ausmaßes. Und, natürlich, da war und ist bis heute der Blues. Seine melancholischen Blue Notes zwischen großer und kleiner Terz sind musikalischer Ausdruck von Einsamkeit, seine Zeilen allzuoft ein einziges Wehklagen in Moll. Sogar die Country-Ikone Hank Williams sang es sich bereits von der Seele: I’m so lonely I could cry.
Nirvana schließlich jammerte am lautesten vor lauter Unverstandenheit und Weltschmerz, die Schlager beherrschen das Einklagen von Liebe routiniert wie eh und je, und wer heute seine Sinnesantennen in die Grundstimmung des jungen Rap steckt, fühlt sich angesichts der Unmittelbarkeit des Widerstands gegen Ablehnung und Erniedrigung gleich mitgenommen und eingenommen. So tollkühn, sehnend und sich selbst schützend wummern die Songs nach Gehör, dass man am liebsten die gesamte Generation in den Arm nehmen will, um all die Teens und Twens trostvoll zu wärmen: Alles wird gut. Die Welt ist am Ende gar nicht so kalt, wie ihr denkt.
Vielleicht aber ist sie das doch. Und war es schon immer. Ein Planet der Einsamkeit, ein runder Krümel im kosmischen Vakuum. Lauschen wir den Artikulationen der Kunst, könnten wir genau diesen Eindruck gewinnen.