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Statt eines Vorworts

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Am 09.01.2016 18:29 schrieb "Henrik Kristiansson" <h.kristiansson@women-at-work.org>:

Lieber D.,

vielen Dank für die Zusendung des fast fertigen Manuskripts. Seit Bozen ist viel Zeit vergangen und ich denke immer wieder gern an die Lesung mit dem Rumänendeutschen zurück, dessen Namen ich mir wohl nie merken werde... Hast du »Der blinde Masseur« inzwischen gelesen? Wahrscheinlich nicht, denn du hast mit den Nacharbeiten zur »Pyramide« genug zu tun. Du bittest um ein kritisches Urteil und meine Antwort kommt spät, hoffentlich nicht zu spät. Aber auch ich versinke in Arbeit. Bitte sieh mir die Verspätung nach. Nun, mein Deutsch ist nicht gut genug, um stilistische Feinheiten beurteilen zu können; andererseits wurden ja auch Stiegs Bücher nicht in erster Linie wegen ihrer kunstvollen Sprache von so vielen Lesern weltweit verschlungen. Mir ist allerdings aufgefallen, dass du in einigen Abschnitten sehr lange Sätze hast. Anders als deine Lektorin stören mich die leicht ins Philosophische abdriftenden Passagen nicht. Ich glaube, Stieg hätte das geliebt. Ein Autor muss sich seinem Lektor (pardon, seiner Lektorin) gegenüber auch mal durchsetzen, sonst wird ein Roman schnell zu einem austauschbaren Produkt!

Stieg war selbst ein sehr nachdenklicher Mensch, und wenn Tim Rasmussen kein gutes Haar an der Natur des Menschen lässt, hätte das, glaube ich, Stiegs Beifall gefunden, auch wenn er selbst sich nicht so stark wie du auf religiös-existenzielle Fragestellungen eingelassen hat (jedenfalls nicht in seinen Romanen). Was du aus dem Plot gemacht hast, den Stieg mir ja damals in Stockholm nur ganz grob umrissen hat und den ich dir in Bozen wiederum nur in einer stark skelettierten Form weitersagen konnte, finde ich beachtlich. Respekt dafür! Es ist ja so ein bisschen wie mit diesem Kinderspiel, wo man seinem Nachbarn etwas ins Ohr flüstert, der das Gehörte dem Nächsten weitersagen muss und am Ende viel Gelächter entsteht, wenn der Letzte in der Reihe dann vor allen preisgeben muss, was er gehört hat. Gibt es das bei euch auch? Wir haben das als Kinder oft gespielt. Nun, ich finde, dass du kein Gelächter riskierst. Der Kern, dieses in den Abgründen der menschlichen Seele geborene grausame Verbrechen, ohne das Stieg vielleicht ein ganz anderer Mensch geworden wäre, ist in deinem Manuskript immer noch das Kraftzentrum der Handlung und hat auch nichts von seiner Kraft eingebüßt. Es trägt den ganzen Roman, auch die komplexe Handlung, die du um dieses Zentrum herum erdichtet hast. Und du hast recht: Im Grunde wäre »Stieg Larssons Geheimnis« auch ein passender Titel für das Buch, denn so paradox es klingen mag: Dieser Albtraum, den man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht, ist letztlich der Schlüssel zu seinem Werk und das Geheimnis seines Erfolges. Den Originaltitel kann man nicht mehr verwenden, weil er in »Luftslottet som sprängdes« aufgegangen ist. Außerdem haben die deutschen Übersetzungen sowieso immer ganz andere Titel gehabt als im Schwedischen. »Entfremdung« finde ich daher auch gut. Mit beiden Lösungen kann ich gut leben. Und wenn es eine größere Sache wird, entscheiden am Ende sowieso die Marketingstrategen eines Verlags und du hast eine Sorge weniger! Was den Handlungsort angeht, muss ich dir gestehen, dass ich trotz deiner vielen einleuchtenden Argumente immer noch ein bisschen Bauchschmerzen damit habe! Andererseits hast du recht: Die Winter sind wohl auch in Schleswig-Holstein trübe, nass und dunkel, und es spielt wirklich nur eine geringe Rolle, ob man im Spätherbst drei oder sechs Stunden Tageslicht hat. Vielleicht sollte ich selbstkritischer sein. Vielleicht ist das nur blöder Lokalpatriotismus und der Stolz darauf, dass gerade mein Land so berühmte Kriminalschriftsteller hervorgebracht hat, dass ich mich jetzt mit der Verlagerung der Geschichte nach Norddeutschland so schwertue? Ich denke, ich muss meine Eitelkeit da ein bisschen bezähmen, und ich denke, dass Stieg, der über seine Romane immer so nüchtern sprach und urteilte, sich darum auch nicht großartig scheren würde. Aber es fühlt sich auch jetzt immer noch sonderbar an für mich: ein Stieg-Larsson-Roman ohne Schweden? Was ist das denn? Ich bin gespannt, wie die Leser darüber urteilen werden. Sollen sie also ihr Urteil fällen und ich schweige jetzt zu dem Thema. Denn eigentlich bin ich sehr froh, dass ich auf dich gestoßen bin, damals bei der Lesung in Bozen, und die Chemie zwischen uns beiden Literaturfreunden so gut war, dass ich am Ende dir und niemand anders den »Pyramiden«-Plot anvertraut habe. Ob es dein Buch (soll ich sagen: unser?) eines Tages auch auf Schwedisch geben wird? Das ist eine heikle Frage, denn es ist klar, dass sie unmittelbar dein Talent als Autor berührt. Denn es reicht sicher nicht aus, einen Plot von Stieg Larsson aufzumöbeln und nachzuerzählen, man muss auch die Gabe haben, in jener besonderen Weise den Nerv der Zeit treffen (oder den Nerv des Lesers?), wie es Stieg offenbar in allen drei Büchern gelang. Wäre Stieg noch am Leben, hätte er das Buch vielleicht als »Jugendsünde« veröffentlicht. So wie du es geschrieben hast, klingt in der Tat vieles für mich wie von einem noch nicht ausgereiften Stieg. Man könnte die »Pyramide« als Frühwerk auffassen, in dem vieles von dem schon angelegt ist, was Stieg Larsson zu so überwältigender Größe verholfen hat, aber es hat sich noch nicht zu voller Pracht entfaltet. Die Konturen von Mikael sind schon zu erkennen, aber eine Lisbeth muss erst noch geboren werden aus dem Unrat dieser Welt und der Erfahrungen, die wir in ihr machen, je länger wir leben. (Das klang jetzt total nach Stieg, oder?) Deine Charlotte ist dagegen, wie ich dir schon früher schrieb, eine eher blasse Figur. In ihr sind zwar Abgründe angelegt, aber diese Abgründe sind kleine Dellen im Vergleich zu den Tiefen, die Lisbeth durchschritten hat. Aber das Thema hatten wir schon und ich möchte mich nicht wiederholen. Mögen nun andere darüber urteilen, was an dem Buch gelungen und was weniger gelungen ist. Jedenfalls wünsche ich dir viel Glück mit dem Projekt. Ich staune schon jetzt darüber, welches Potential eine Idee haben kann, die die Ausgeburt einer Südtiroler Bierlaune ist. Ich finde es nett, dass du mich im Vorwort des Buches erwähnen möchtest, aber ich sage es noch einmal klipp und klar: Mein Anteil an diesem Buch ist der allergeringste und allerunbedeutendste, den man sich in dieser Schriftstellerwelt nur erdenken kann. Mein ganzes Verdienst besteht darin, eines Abends mit einem Kollegen, der später zur Legende werden sollte, in der Kneipe gesessen und mit ihm ein bisschen rumgesponnen zu haben. Und, na gut, mein Gedächtnis arbeitet vielleicht ganz gut und die Geschichte hat Stieg quasi überlebt, und das zufällig in meinem Geist. Aber ansonsten? Stieg allein die Ehre! Und wenn das Buch von David Lagercrantz nicht so unglaublich unlarssonhaft (unlarssonlike, kann man das ins Deutsche so übersetzen?) geworden wäre, hätte ich vielleicht wirklich mit Norstedts Kontakt aufgenommen, wie du schon damals in Bozen rietest, und wir hätten heute so was wie den achten Harry Potter auf dem Markt. Aber man muss sich mit Recht fragen, ob Stieg an diesem ganzen Rummel und nicht zuletzt an den finanziellen Dimensionen, die der Umgang mit seinem Werk angenommen hat, überhaupt seine Freude gehabt hätte. Sicher, jeder lebt gern gut und Stieg hätte ohne Frage viele sinnvolle Ideen gehabt, hätte Amnesty unterstützen oder das Geld in sozialpolitisch bedeutende Projekte stecken können, aber im Kern seines Wesens war er immer ein schlichtes Gemüt ohne Allüren. Und dazu passt diese Independent-Produktion, die du anvisierst, perfekt! Lieber D., lass es mich wissen, wenn du noch irgendetwas brauchst. Ich habe dir mit Fragen zu Details der Geschichte oft nicht weiterhelfen können, aber ich finde, was du daraus gemacht hast, wirklich gelungen. Und ich sage dir ganz offen: Ich liebe die Internatsgeschichte und überhaupt den zweiten Teil und ich sehe nicht, wie Stieg gerade die ersten Kapitel des zweiten Teils besser hätte schreiben können. Und ich liebe Alfred Eisenkrug. Der Mann hat das Zeug zum Kult! Das ist, neben aller Kritik, die ich dir bisher während des Schaffensprozesses zugemutet habe, doch auch mal ein Ansporn, oder? Danke nochmals für das Herzblut, das du bisher schon in das Projekt hast einfließen lassen, ohne zu wissen, ob sich der Aufwand je auszahlen wird. Meine besten Wünsche begleiten dich und wenn du mal nach Schweden kommst... Du weißt ja...

In herzlicher Verbundenheit

Henrik

Stieg Larsson lebt!

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