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Psychologie Leider gut Wir sehen die Welt düsterer, als sie ist. Das liegt nicht nur an den Medien, sondern auch an unserer Psyche
ОглавлениеVON CHRISTOPH DRÖSSER UND MARTIN SPIEWAK
DIE ZEIT, 21.03.2013 Nr. 13
Der Welt, in der wir leben, geht es schlecht. Diesen Eindruck muss bekommen, wer die Ergebnisse der repräsentativen Umfrage liest, die TNS Infratest für die ZEIT durchgeführt hat. Ob Ernährung, öffentliche Sicherheit, Gemeinsinn oder Gesundheitsversorgung: Die Mehrheit der Bundesbürger sieht dies alles im Niedergang begriffen. Drei Viertel der Befragten meinen, dass es den Menschen in den Entwicklungsländern immer schlechter gehe. Und sogar neun von zehn glauben, dass wir die Umwelt immer mehr verschmutzten.
Sieben der zehn pessimistisch formulierten Sätze, die wir ihnen vorlegten, fanden die Zustimmung der Befragten. Lediglich in den Kategorien Bildung, Demokratie und – wen wundert’s – Wirtschaft zeigen sich die Deutschen zurzeit relativ sorgenfrei.
Die Wahrheit ist: Der Welt geht es sehr gut! Wir leben nicht im Paradies, aber noch nie ging es den meisten Menschen auf der Welt so gut wie heute. Um das einzusehen, muss man die Gegenwart nicht mit dem Mittelalter vergleichen, noch nicht einmal mit der Nachkriegszeit. Es reicht ein Blick in die siebziger Jahre. Als der Ölpreisschock den Deutschen klarmachte, dass wirtschaftliches Wachstum keine Selbstverständlichkeit ist. Als der Bericht des Club of Rome der Welt vor Augen führte, dass sich die Umwelt nicht folgenlos ausbeuten lässt. Als die Krise für jeden Zeitungsleser zum täglichen Begleiter wurde.
Die Nachrichtensendungen informieren über Missstände, das ist ihre Aufgabe. Was dagegen selten Schlagzeilen macht: Wir leben länger und gesünder als noch vor 40 Jahren, wir arbeiten weniger und sind dennoch reicher. Unsere Kinder erhalten eine höherwertige Bildung, die Generationen verstehen sich prächtig, die Umwelt ist so sauber wie lange nicht mehr. Wir leben – historisch einmalig – mit allen unseren europäischen Nachbarn seit Jahrzehnten im Frieden, Gewalt und gesellschaftliche Konflikte haben sich stark verringert. Nicht alle profitieren in gleichem Maße von diesem Mehr an Lebensqualität und Wohlstand, aber für die Mehrheit zeigen die langfristigen Trends in eine positive Richtung.
Das gilt für Deutschland, aber mehr noch für den Rest der Welt. Die Lebensverhältnisse in den meisten Staaten auf dem Globus haben sich so grundlegend verbessert, wie dies noch vor zwei Jahrzehnten niemand vorauszusagen gewagt hätte. Die Kindersterblichkeit hat sich seither halbiert. Der Anteil derer, die Zugang zu Bildung, Gesundheit und fließend Wasser haben, ist immens gestiegen. Seit den siebziger Jahren hat sich die Nahrungsmittelproduktion in den Entwicklungsländern verdreifacht. Laut dem jüngsten Global Burden of Disease- Report verliert die Menschheit mittlerweile mehr Lebensjahre durch Übergewicht als durch Unterernährung. Und zu keiner Zeit wurden so viele Regierungen von ihren Bürgern zumindest halbwegs demokratisch gewählt.
Stellt man das Heute dem Gestern vorbehaltlos gegenüber, leben wir in einem goldenen Zeitalter. Warum nur nehmen wir die guten Nachrichten nicht zur Kenntnis? Warum blicken wir so düster auf die Gegenwart, sehen uns von Krisen, Katastrophen und Verfall bedrängt, wenn die tatsächlichen Trends eine Erfolgsgeschichte beschreiben?
Und warum malt der Mensch sich die große Welt selbst dann düster aus, wenn die unmittelbare Erfahrung dazu wenig Anlass gibt? Als die Demoskopen von Allensbach 2009 nach dem Zustand der Familie fragten, antworteten nur 20 Prozent der Deutschen, dass der Zusammenhalt in den Familien stark sei. Bezogen auf die eigene Familie waren es dagegen 82 Prozent. Mit der Schule insgesamt zeigen sich die Bundesbürger höchst unzufrieden; die Lehrer ihrer Kinder jedoch halten mehr als 80 Prozent der Eltern laut einer Emnid-Umfrage des vergangenen Jahres für kompetent, fair und engagiert.
Auf Platz eins der amerikanischen Sachbuch-Bestsellerliste steht der Titel America The Beautiful, der davon handelt, wie das Land sich neu erfinden kann. In Deutschland dagegen steht Frank Schirrmachers zeitkritisches Traktat Ego an der Spitze.
Es sind jedoch nicht nur die als miesepetrig geltenden Deutschen, die unter negativ verzerrten Urteilen leiden. In unzähligen Experimenten haben Kognitionspsychologen vorgeführt, wie unzuverlässig die menschliche Wahrnehmung ist, wie sehr uns unsere Erinnerungen betrügen und wie stark momentane Gedanken und Gefühle allgemeine Bewertungen steuern. Der amerikanische Psychologe Daniel Kahneman hat über diese Mechanismen ein ganzes Buch geschrieben (Schnelles Denken, langsames Denken), das seit Monaten weltweit in den Bestsellerlisten steht.
Die wichtigste dieser sogenannten Heuristiken ist jene der selektiven Verfügbarkeit. Sie sorgt dafür, »dass die Gegenwart im Vergleich mit der Vergangenheit meist schlecht abschneidet«, sagt der Würzburger Psychologe Fritz Strack. Wenn wir die Gegenwart bewerten, fallen uns eher unsere aktuellen Probleme ein. Denken wir dagegen an die Vergangenheit, sind die Probleme entweder verblasst oder aber gelöst und insofern weniger dramatisch.
Fragt man zum Beispiel nach dem Zustand der Umwelt, fällt den meisten der drohende Klimawandel ein, der seit vielen Jahren die öffentliche Diskussion dominiert. Natürlich wird die Erwärmung der Erdatmosphäre nachhaltige Folgen für Mensch und Natur haben. Welche das jedoch sind, ist ungewiss, hierzulande werden sie aller Voraussicht nach eher gering ausfallen. Real und eigentlich für jedermann erkennbar, hat sich dagegen die Qualität der Luft verbessert. Der deutsche Wald erfreut sich bester Gesundheit, in vielen Flüssen und Seen, die noch vor 40 Jahren eine Dreckbrühe waren, kann man wieder baden.
Doch unser Gehirn gibt negativen Signalen immer den Vorrang. Der amerikanische Ernährungspsychologe Paul Rozin macht das an einem Beispiel plastisch. Eine einzige Küchenschabe ruiniert die Anziehungskraft einer Schüssel Kirschen völlig – während eine Kirsche in einer Schüssel voller Schaben keinen Effekt hat. Wahrscheinlich lässt sich unsere Vorliebe für Widrigkeiten als Produkt der Evolution verstehen. Wer seine Aufmerksamkeit stärker auf das Schlechte und Gefährliche richtete, hatte größere Chancen, sich anzupassen, zu überleben und sich fortzupflanzen.
Ein einzelner Mord überlagert jede sachliche Verbrechensstatistik
Bei der Kriminalität liegen das subjektive Bedrohungsgefühl und die reale Gefahr besonders weit auseinander. Da kann man noch so häufig darauf hinweisen, dass die Kriminalität insgesamt seit Jahrzehnten abnimmt – der Fall eines ermordeten Kindes, über den die Medien wochenlang berichten, überlagert jede Statistik.
Die Medien nutzen diese Wahrnehmungsmuster und verstärken sie. »Das ist der Grund, warum Berichte über Krisen und Katastrophen derart dominant sind: Sie bedienen ein Bedürfnis, und sie werden in Redaktionen bevorzugt ausgewählt«, sagt der Tübinger Medienforscher Bernhard Pörksen. Alltag und Normalität dagegen seien nicht medienfähig.
Bad news is good news – das war schon immer so. Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Welt der Nachrichten über die Jahrzehnte immer düsterer geworden ist. Hans Mathias Kepplinger, Professor für Empirische Kommunikationsforschung in Mainz, spricht von einer »Verdunkelung des publizistischen Ereignishorizontes«. Die Darstellung, sagt Kepplinger, habe sich von der Realität zunehmend abgekoppelt. Und die digitalen Medien dürften die Tendenz zum Alarmismus weiter verschärft haben – Nachrichtenwebsites, Blogs und das Gezwitscher der Massen auf Twitter verstärken einander gegenseitig, aus einer kleinen Nachrichtenwelle wird schnell ein Tsunami.
Der Zwang, das Nachrichtenangebot ständig zu erneuern, treibt an, was Kommunikationswissenschaftler die »Verfügbarkeitskaskaden« nennen. Die Meldung über eine neue »Seuche«, ein Verbrechensopfer, einen Politikerskandal zieht Leser und Zuschauer in ihren Bann; Experten und Interessengruppen melden sich zu Wort oder schalten sich über Diskussionsforen und Blogs in die Debatte ein; die Politik sieht sich genötigt zu reagieren, was Anlass zu weiteren Beiträgen gibt. Es entsteht der Eindruck einer Ereigniskette, die in Wirklichkeit gar nicht existiert. Nach einiger Zeit bricht die Empörungswelle, das Interesse lässt nach, Überdruss setzt ein. Was genau passiert ist, haben die meisten Leser inzwischen vergessen. Es bleiben Unsicherheit, Misstrauen und das Gefühl, dass alles irgendwie immer schlimmer wird.
Der »Dioxinskandal« im Frühjahr 2010, an dessen Details sich kaum noch jemand erinnert, verlief nach diesem Muster. Damals ging es um Futtermittel, in denen das Gift gefunden wurde. Der Dortmunder Mathematiker Walter Krämer hat den Verlauf in seinem Buch Die Angst der Woche nachgezeichnet. Er hält es geradezu für das »Geschäftsmodell« vieler Medien, Nachrichten über Gift in Lebensmitteln oder in der Umwelt künstlich aufzubauschen. »Wenn zum Beispiel Dioxin in Ihrer Buttermilch gefunden wird, dann ist das eigentlich keine Meldung. Jedes Gift der Erde ist in jedem Schluck Wasser, den Sie trinken, enthalten.« Die Dosis macht das Gift, das wusste schon Paracelsus.
Mit modernen Analysemethoden lassen sich mittlerweile einzelne Moleküle einer Substanz nachweisen, und mit den feiner werdenden Messmethoden werden häufig auch die Grenzwerte abgesenkt. Diese Werte sind politische Zahlen und unterscheiden sich von Region zu Region, von Produkt zu Produkt. Eier können in der EU aus dem Verkehr gezogen werden, wenn sie mehr als drei Billionstel Gramm Dioxin pro Gramm enthalten, Fischleber darf fast die zehnfache Menge enthalten, weil sich der Stoff in den Tieren anreichert und sie sonst unverkäuflich wären.
Mitunter lassen Erfolge im Kampf gegen einen Missstand das Problem sogar noch größer erscheinen. So hat sich die Zahl der Krippenplätze seit Mitte der neunziger Jahre in Westdeutschland verzehnfacht. Dennoch gibt es aktuell mehr Berichte über fehlende Krippenplätze als jemals zuvor. Der Grund ist das Versprechen der Politik, für jedes Elternpaar, das dies für sein Kind wünscht, einen Platz bereitzustellen. Und so fokussiert sich der Blick der Öffentlichkeit nicht auf den erzielten Erfolg, sondern auf die Plätze, die noch bis zur Vollversorgung fehlen.
Wer nichts hat, der hat auch nichts zu verlieren. Bevor es Handys gab, hat keiner sie vermisst – unsere Kinder, die mit Smartphones aufwachsen, können sich die Welt ohne sie nicht mehr vorstellen. Auch dahinter steckt ein psychologischer Mechanismus, der sogenannte Besitztumseffekt (endowment effect), für dessen Beschreibung Daniel Kahneman 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekam. Danach wiegt der Schmerz über einen Verlust immer stärker als die Freude über einen vergleichbaren Gewinn. Je mehr jemand besitzt, desto größer ist die Verlustangst. Je besser die Lebensverhältnisse in einem Land, desto größer die Angst der Bürger vor Einbußen, desto geringer die Bereitschaft zum Risiko. Wer dagegen wenig zu verlieren hat, geht höhere Risiken ein.
Ökonomen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung haben dies jüngst in einer Studie eindrücklich bestätigt. Sie stellten Teilnehmer aus verschiedenen Ländern vor die Wahl: auf der einen Seite ein sicherer, niedriger Geldbetrag – auf der anderen eine Lotterie mit möglichen hohen Gewinnen. Das Maß für die Risikobereitschaft: Wie viel muss man mindestens garantieren, um die Teilnehmer von der Lotterie wegzulocken? Die risikofreudigsten Menschen leben danach in Äthiopien, Nicaragua und Vietnam. Das Land, in dem die meisten Menschen lieber den sicheren Gewinn einstreichen wollten, war: Deutschland.