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Großstadtzoo Banker, Nutten und Touristen – auf der Gran Vía treffen sie sich alle.
Оглавлениеvon Martin Dahms
Damit wir uns orientieren: Ich lebe hier um die Ecke, 50 Meter von der Gran Vía entfernt. Auf dem Weg zur Markthalle laufe ich über die Gran Vía. Wenn ich meine Tochter zur Schule bringe, laufe ich über die Gran Vía. Wenn ich einen Film in Originalversion sehen will, gehe ich zu den Kinos an der Plaza España, am oberen Ende der Gran Vía. Wenn ich mich mit Schauspielern treffe, verabrede ich mich mit ihnen im Hotel Emperador, an der Ecke Gran Vía, Calle San Bernardo. Für mich ist die Gran Vía: Zuhause.
Sie ist wie eine Bresche Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Madrider Altstadt geschlagen worden. Sie ist keine Straße mit sehr langer Geschichte. Sie steht für Modernität. Der Baustil ist eklektisch, ein bisschen Art déco, mit Skulpturen oder Säulenreihen auf den Dächern, ein bisschen amerikanischer Wolkenkratzer. So wie die alte Telefónica-Zentrale, das bekannteste Gebäude an der Gran Vía. Ich mag die Größe, diesen anderen Maßstab, den du sonst in der Altstadt nicht findest.
Ich bin in Bilbao geboren und aufgewachsen, und das prägt für den Rest des Lebens: Ein bilbaíno bleibt immer ein bilbaíno. Aber als ich 1999 aus New York, wo ich Film studiert hatte, nach Spanien zurückkehrte, entschied ich mich für Madrid. Hier ist die spanische Filmindustrie zu Hause, hier sind die Produktionsfirmen, hier sind die Schauspieler. Und Madrid ist groß: Je größer eine Stadt, umso lieber ist sie mir.
Wobei Madrid ein besonderer Fall unter den Metropolen ist: Sie ist eine Dorfstadt oder ein Stadtdorf. Madrid liegt in der Mitte eines Landes am Rande Europas. Madrid hat keinen Hafen wie Bilbao oder Barcelona, die deswegen offener sind für das, was im Rest Europas geschieht. Madrid ist immer noch sehr castizo – volkstümlich, urwüchsig.
Das kannst du in den Seitenstraßen der Gran Vía erleben. Nur ein paar Schritte, und du bist in den Gassen Malasañas. Gerade warst du noch in der großen Avenida mit ihren Prachtbauten, ihren Büros und Hotels und Boutiquen, und auf einmal, keine hundert Meter entfernt, siehst du die Señora im Morgenrock und Hausschuhen in einer dieser Straßen, in denen die großen Mode- oder Fast-Food-Ketten nicht angekommen sind. Neben der großen Stadt hast du das Dorf. Ich glaube nicht, dass du diesen Kontrast auf so engem Raum in anderen Großstädten erleben kannst.
Malasaña und das Nachbarviertel Conde Duque, das sind die Ecken, in denen ich mich gewöhnlich bewege. Aber die Gran Vía ist für mich das Größte. Wie wahrscheinlich für alle Provinzler. Schon als Kind, als ich zum ersten Mal mit meinen Eltern nach Madrid kam, staunte ich über die Fauna, die sich hier versammelt. Wenn wir uns Madrid als großes Dorf vorstellen, dann ist die Gran Vía die Hauptstraße, in der alles geschieht, in der sich alle treffen. Du setzt dich – wenn dich der Verkehr nicht stört – in ein Straßencafé, trinkst eine Cola oder ein Bier und schaust dir die Leute an.
An allen großen Städten gefällt mir: die Unsichtbarkeit. Sehen, ohne gesehen zu werden. Als Drehbuchautor und Regisseur muss ich beobachten. Die Gran Vía ist der perfekte Ort dafür. Wenn du nur ein paar Stunden in Madrid bist, würde ich immer sagen: Geh zur Gran Vía. Hier hast du sie alle, die Banker und die Nutten, die zielstrebigen Einheimischen und die ratlos umherschauenden Touristen, die Einkaufsbummler, die Bettler, die Taschendiebe. Den ganzen Madrider Zoo.
Pablo Berger ist gerade für seinen Stummfilm Blancanieves (Schneewittchen) mit zehn Goyas, den Preisen der spanischen Filmakademie, ausgezeichnet worden.