Читать книгу Blindflug Abu Dhabi - Dieter Eppler - Страница 4

Оглавление

Wie alles begann, 2001

Das Telefon klingelt. Viel zu früh, denke ich, ohne genau zu wissen, wie spät es ist. Noch immer steckt die Müdigkeit der vor einem Tag abgeschlossenen Nordatlantik-Rotation in meinen Gliedern. Durch die Vorhänge unseres Schlafzimmers dringen frühmorgendliche Sonnenstrahlen und werfen ein mattes Licht in den Raum. Die Nacht schleicht sich langsam davon. Noch immer klingelt das Telefon. Ich grabe meinen Kopf ins Kissen und versuche, den Lärm zu ignorieren.

«Warum geht denn keiner ran?», denke ich entnervt.

Meine Frau Franziska ist bereits aufgestanden, die Kinder müssen in die Schule. Oder sind sie vielleicht alle schon aus dem Haus? Wie spät ist es eigentlich?

Ein erneutes Abtauchen ins Traumland wird unmöglich. Der oder die Anruferin kennt keine Gnade.

«Halloo …?», melde ich mich verschlafen.

«Dieter, hast du gehört, was passiert ist?» Die aufgeregte Stimme unserer Nachbarin reisst mich vollends aus der Dämmerung. Als ehemalige Flight Attendant der Swissair ist Bettina mit der Fliegerei noch immer eng verbunden.

«Der 111er ist abgestürzt!»

Sofort bin ich hellwach. «Was? Wo – und wann?»

«In der Nähe von Halifax, heute Nacht! Die Ursache ist unbekannt.»

«Und was ist mit der Crew und den Passagieren?», erkundige ich mich.

«Auch das ist ungewiss, auf jeden Fall wurden noch keine Überlebenden gefunden», entgegnet Bettina mit gepresster Stimme.

Ich springe aus dem Bett, haste die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo ich sofort den Fernseher einschalte. CNN berichtet live. Bilder der Nacht, unruhige, aufgewühlte Wasser vor der Küste Neuschottlands. Der Leuchtturm von Peggy’s Cove, Rettungsboote mit Suchscheinwerfern, Fischkutter, Kleidungsstücke, ein leerer Crewbag. Zeugen und Reporter in nass-glänzenden Regenjacken, die ihre Statements in ein Gewühl von Mikrofonen abgeben.

Ein Swissair-Wrack im Fokus der Medien. Bilder der Verwüstung. Ich muss sofort wissen, wer im Cockpit sass, denn ich habe gute Freunde, die den MD11 fliegen. Wo mögen sie jetzt gerade stecken? Ich logge ins Intranet ein, doch der Zugang zur Besatzungsliste des abgestürzten Fluges ist gesperrt. Wieder klingelt das Telefon. Es ist eine Freundin, die sich nach mir erkundigt. Sie hat vom Absturz gehört und beginnt, als sie meine Stimme hört, vor Erleichterung zu schluchzen. Das Telefon wird an diesem Tag noch viele Male läuten.

Franziska kommt ins Wohnzimmer und setzt sich, wie in Trance, zu mir. Fassungslos starren wir auf den Bildschirm und folgen einer Berichterstattung, die wenig Hoffnung lässt. Spekulationen und Fragen wechseln mit Momenten des Schweigens. Leider holen unsere Mutmassungen über die Ereignisse dieser Nacht die Toten nicht mehr ins Leben zurück.

Das war vor zwölf Jahren. Mittlerweile ist viel passiert. Nie hätte ich an jenem Morgen gedacht, dass dieser Absturz der Beginn einer Ereigniskette sein könnte, die uns dereinst vom Zürcher Unterland in die Arabische Wüste vertreibt. Geschweige denn, dass die Swissair, unser aller Stolz, in wenigen Jahren einen Kollaps erleiden und in ihrem vollen Flottenumfang am Boden stehen würde.

Wie hinter dumpfem Milchglas verschwimmen die Erinnerungen an den langsamen Untergang der Swissair. Dazu zählt der MD11-Absturz von Halifax ebenso wie die Al-Kaida-Anschläge auf die USA vom September 2001. In Manhattan implodieren die beiden Türme des New Yorker World Trade Centers, und mit ihnen auch das Selbstverständnis der US-Politik und der Weltwirtschaft. Zumindest für kurze Zeit.

Auch an diesem frühen Nachmittag des 11. September ist es unsere Nachbarin Bettina, die mich mit aufgeregter Stimme auffordert, den Fernseher einzuschalten. In New York sei ein Sportflugzeug in einen der beiden Zwillingstürme gerast. Die gezeigten Bilder verwirren und erschrecken zugleich. «Diese monumentale schwarze Rauchsäule, das kann kein Sportflugzeug sein», denke ich. Dann donnert die zweite Maschine ins Wahrzeichen des New Yorker Finanzdistrikts. Ich glaube nicht, was ich sehe! Am helllichten Tag und vor den Augen der ganzen Welt – ein Passagierflugzeug, das, scheinbar kontrolliert, in den Südturm des World Trade Centers rast.

Der Fernseher läuft den ganzen Tag, die Berichterstattung hält mich in ihrem Bann. Am Abend treffe ich mich mit Mario, einem Pilotenfreund, zum Eishockeyspiel der Kloten Flyers.

Doch das Geschehen auf dem Eis ist Nebensache. Gemeinsam versuchen wir, die Ereignisse dieses Tages einzuordnen, zu begreifen und auf unsere Weise zu verarbeiten. Welche Folgen der jüngste Terroranschlag für die Swissair und die Fliegerei insgesamt haben wird, darüber können wir nur mutmassen. Die zivile Luftfahrt wird sich verändern. Das Ausmass ist uns an diesem Abend allerdings noch keineswegs bewusst.

Bevor das Eishockeyspiel beginnt, verliest der Stadionsprecher eine Erklärung, in der die Verantwortlichen des Clubs diesen terroristischen Akt hart verurteilen. Dann wird der Puck eingeworfen.

Die Flyers erweisen sich als Überflieger und besiegen die Gäs­te aus Langnau mit 6:2. Im Gegensatz dazu stehen die Vorzeichen für ihren Hauptsponsor nicht mehr so günstig: Die Luft unter den Flügeln der Swissair ist mit einem Mal erschreckend dünn geworden. Der Sprit sollte nicht einmal mehr für eine kontrollierte Notlandung reichen.

Der 2. Oktober 2001 ist ein herrlicher Spätsommertag. Ich bin in besonderer Mission auf dem Zürichsee unterwegs. Unser Sohn Tim weilt in Uerikon im Klassenlager; sein Lehrer hat mich gebeten, die Fünftklässler auf dem Wasserweg nach Rapperswil zu überführen. Da unser Boot über eher bescheidene Dimensionen verfügt und nicht einmal als Rettungsgondel auf der Titanic durchgegangen wäre, muss ich die Schüler in mehreren Fahrten übersetzen. Der See ist an diesem Dienstagmorgen wenig frequentiert, die Oberfläche spiegelglatt. Wesentlich aufgewühlter dagegen fühlt sich mein Innenleben an. Die Gedanken kreisen unentwegt um die Pressekonferenz des Vorabends, an der die Bankenchefs von UBS und CS, zusammen mit Mario Corti, André Dose und Moritz Suter, über die Zukunft der Swissair informierten. Es fällt mir schwer, die Konsequenzen der teilweise kontroversen Äusserungen abzuschätzen. Nicht zuletzt deswegen, weil mein Vertrauen in gewisse Herren, denen die Hidden Agenda aus der zu klein gewordenen, schlecht sitzenden Jackentasche quillt, massiv angeschlagen ist.

Selbst mit der geschliffensten Rhetorik gelingt es ihnen kaum noch, ihr tückisches Spiel zu verbergen.

Während ich im Hafen von Rapperswil, beim Warten auf den Startschuss zum Klassentransport, den Bug meines Privatkreuzers poliere, reisst mich das Klingeln des Handys aus meinen Grübeleien. Das Display zeigt die Nummer meines Bruders Urs, der sich beruflich im engen Umfeld des Schweizer Fern­sehens bewegt.

«Soeben wurde in London eine Swissair-Maschine am Wegflug gehindert», lässt er mich wissen. «Das gleiche Schicksal dürfte auch anderen Flugzeugen widerfahren, offenbar kann die Swissair den Sprit nicht mehr bezahlen.»

Ich bin erstaunt. Von blockierten Flugzeugen war gestern an der Pressekonferenz nie die Rede. Die Schilderung meines Bruders sowie seine düstere Prognose versetzen – trotz niederen Wellengangs – mein berufliches Selbstverständnis ins Wanken.

«Meine Airline, am Rande des Abgrunds!»

Was geht wohl in diesem Moment in den Schaltzentralen am Balsberg ab? Ich stelle mir vor, wie sich «Supermario» und sein Team mit letzter Energie gegen die Übermacht der Gegner stemmen. Zu stemmen versuchen! Doch wie lange würden die Mittel noch ausreichen? Mich beschleicht ein dumpfes Gefühl. Es scheint, als drehe jemand dem angeschlagenen Vogel langsam den lebenswichtigen Sauerstoff zu. Und ich werde den Eindruck nicht los, als hätte bereits jemand die Grube geschaufelt, in der man den Riesenvogel nach seinen letzten Zuckungen vergraben und endgültig aus dieser Welt schaffen möchte.

Nachdem ich sämtliche Schüler am Ziel abgesetzt habe, fahre ich zügig nach Hause und setze mich sogleich vor den Fernseher. Im Verlauf der folgenden Stunden zappe ich mich durch die Berichterstattung auf allen möglichen Schweizer Kanälen. Die Aussagen sind wirr, lückenhaft, widersprüchlich. Staunend und ungläubig nehme ich zur Kenntnis, was sich an diesem Nachmittag in Kloten abspielt. Plötzlich wird mir das Ganze zu viel. Ich springe vom Sofa, suche die Nummer des Generalimporteurs einer bekannten deutschen Automarke und greife zum Telefon. Ob sie sich vorstellen könnten, einen 44-jährigen Piloten, flexibel, interessiert und vielseitig einsetzbar, in ihrem Betrieb zu beschäftigen?, frage ich. Den Namen meines Arbeitgebers lasse ich bewusst weg, obwohl dies kaum nötig gewesen wäre. Die Dame antwortet so freundlich wie spontan: «Das können wir uns grundsätzlich schon, allerdings nicht zum gleichen Salär, wie Sie das gewohnt sind.»

Ich spüre zunehmende Machtlosigkeit. Wieder vor dem Fernseher, realisiere ich nach und nach, wie das Kartenhaus unweigerlich in sich zusammenfällt. An Details kann ich mich nicht mehr erinnern, ich habe sie wohl verdrängt. Irgendwann folgt der Todesstoss: Aus finanziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durchzuführen … Das war’s dann wohl. Schluss. Aus. Ende der Durchsage.

Narrenfreiheit – kollektive Unzufriedenheit

Dem Grounding folgen turbulente Zeiten. Zwischen stillen Protestaktionen mit Gleichgesinnten, am Flughafen und vor den grossen Bankenhäusern der Stadt Zürich, suche ich, gemeinsam mit meiner Frau Franziska, nach beruflichen Alternativen. Als Vater von drei Kindern mag ich nicht bloss hoffen und warten.

Irgendwann landet ein Video der Schweizer Schule in Singapur auf unserem Küchentisch. Auch in Singapur fliegen Schweizer Piloten. Doch die Begeisterung der Familie, insbesondere die der Kinder, hält sich in Grenzen.

Der Pilotenverband AEROPERS indes organisiert regelmäs­sig Versammlungen, zu denen auch Partnerinnen und Ehefrauen eingeladen sind. Solidarität ist gefragt wie nie zuvor. Materielle Ängste und Zukunftssorgen plagen sämtliche Swiss­air-Angestellten in hohem Masse. Wir hoffen auf den Rettungsring von Wirtschaft und Politik, allein, es fehlen Mut und Entschlossenheit zum Wurf. Aus heutiger Sicht betrachtet, mutet das damalige Ringen um Finanzhilfe geradezu lächerlich an. Die nationale Airline, die mit ihrem hervorragenden interna­tionalen Renommee ein exklusives Netz schweizerischer Tugenden um unseren Globus gesponnen hat, lässt man qualvoll zugrunde gehen. Ein allfälliger Reputationsverlust spielt keine Rolle.

Viele verlassen das sinkende Schiff, nicht alle tun dies freiwillig. Die Erleichterung der Bleibenden mischt sich mit Skepsis. Der viel beschworene Phönix steigt aus der Asche, räkelt sich im grellen Sonnenlicht, um alsbald schon in einen bedrohlichen Sturzflug überzugehen. Die Führung der neuen Airline agiert unsicher. Es fehlt ihr zweifellos an Erfahrung. Die vormaligen Manager der Crossair stapfen unvermittelt in grösseren Schuhen durch die Hallen des Zürcher Flughafens. Allerdings ohne dass ihre Füsse entsprechend gewachsen wären. Keine politische Instanz gebietet dem weiterhin raschen Abfluss wertvoller Geldmittel Einhalt.

Aus der heutigen Perspektive erstaunt mich allerdings weit mehr, dass niemand aus dieser Geschichte gelernt hat. Denn keine zehn Jahre später sind es die Bankinstitute selber, die am Abgrund stehen. Aus den Königen sind Bettler geworden – ein Stoff, bei dem die Gebrüder Grimm vor Wonne in die Hände geklatscht hätten! Doch den Banken wird, anders als seinerzeit der serbelnden Swissair, grosszügig unter die Arme gegriffen. Mehr noch, die Manager grosser Geldinstitute geniessen weiterhin Narrenfreiheit. Man lässt sie widerspruchslos gewähren. Ungeachtet der Tatsache, dass in diesen Fällen massiv höhere Rettungskredite als bei der Swissair zugesprochen wurden.

Jene Banker, die sich im Herbst 2001 über Ethik und Fairness hinwegsetzten und anschliessend – ohne mit der Wimper zu zucken – vor laufender Kamera andere brandmarkten, verrichten ihre Geschäfte auch heute noch ungestraft. Zwar deutet sich in politischen Kreisen zunehmender Missmut über die unangetastete Narrenfreiheit in dieser Branche an, doch die Veranlassung, dem munteren Treiben Einhalt zu gebieten, fehlt schlichtweg.

All animals are equal, but some animals are more equal than others.

Dass die Swiss in ihren ersten beiden Jahren überlebt, ist keine Selbstverständlichkeit. Noch weniger, dass sie sich, kaum auf eigenen Beinen stehend, zu einer bedeutungsvollen Stütze im Rahmen des Lufthansa Konglomerats mausert.

Viele sind nach dem Zusammenbruch der Swissair dankbar, weiter in der Fliegerei beschäftigt zu bleiben. Ich bin einer von ihnen! Dankbar, meinen Arbeitsplatz im Cockpit behalten zu können. Doch die Identifikation mit dem neuen Arbeitgeber ist nicht vorhanden. Die Swiss ist Arbeitgeber, die Swissair war Berufung.

Die Schweizer Luftfahrt hat im Verlauf der vergangenen Dekade zahlreiche persönliche Schicksale gefordert. Sie hat aber, so abgedroschen dies klingen mag, auch unendlich viele bis anhin verschlossene Türen geöffnet. Ehemalige Swissair-Angestellte sind ausgeflogen in alle Welt. Sie haben die Branche gewechselt, innovative Herausforderungen angepackt, neue Karrieren lanciert. Mit unterschiedlichem Erfolg. Doch wer erkennt, dass kollektive Unzufriedenheit jeglichem Erfolgserlebnis abträglich ist, wird früher oder später handeln. Muss handeln. Mit einem kleinen Risiko zu scheitern, und einer beträchtlichen Chance zu gewinnen.

Und genau aus diesem Grund habe ich mich im Sommer 2005, knapp vier Jahre nach dem Grounding, dazu bewegen lassen, ein interessantes Angebot aus den Vereinigten Arabischen Emiraten näher zu prüfen. Die aufstrebende «Etihad Airways» hat noch keine zwei Jahre auf dem Buckel. Die Rahmenbedingungen klingen vielversprechend, derweil die Swiss – man höre und staune – mit einer befristeten Rückkehroption für das beruhigende Auffangnetz sorgt.

Franziska macht aus ihrer Begeisterung für ein mehrjähriges Wüstenabenteuer kein Hehl. In mir dagegen wehrt sich etwas. Ich fühle mich hin- und hergerissen. Angetan vom Reiz des Neuen, Unbekannten, gleichzeitig bestrebt, unsere materielle und soziale Sicherheit nicht zu gefährden. Die Wahl zwischen der Integriertheit im vertrauten Umfeld und der Oberflächlichkeit des Expatlebens, zwischen Swiss und Etihad, kurz – zwischen Heimat und Neuland – fällt mir alles andere als leicht.

Die nächsten Tage und Wochen steigern sich unwillkürlich zum Wettlauf der Zeit und der Emotionen. Nicht wenige Male arten die unzähligen Diskussionsrunden am Familientisch in hitzige Wortgefechte, mitunter in Tränen des Protests aus. Franziska scheint entschlossen, doch weder die Kinder noch ich tun sich leicht. Tim, der Älteste, sieht seine Eishockeykarriere wortwörtlich im Sand verlaufen, Linda will auf keinen Fall aufs Unihockey verzichten und Nina, die Jüngste, möchte unseren Hund Cicchi nach Abu Dhabi mitnehmen. Hinzu kommt, dass auch Geschwister, Eltern und Freunde unsere Pläne skeptisch kommentieren. Wir stehen vor einer Entscheidung, deren Konsequenzen schwer einzuschätzen sind. Schweiz oder Vereinigte Arabische Emirate? Alltagstrott oder Abenteuer? Berge oder Wüste?

Ich fühle mich so unentschlossen wie selten zuvor.

Blindflug Abu Dhabi

Подняться наверх