Читать книгу Tod eines SA-Mannes - Dieter Heymann - Страница 6
Dienstag, 30. Januar 1934
ОглавлениеEr musste sich beeilen. Viel zu lange hatte er sich Zeit gelassen. Dabei wusste er doch, dass er gerade heute rechtzeitig zuhause sein sollte, bevor es losging. Wieder einmal … Schon einige Zeit sah er sich und seiner Familie zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt, doch seit dem letzten Jahr war es viel schlimmer geworden.
Die Schmierereien, eingeworfene Schaufenster, wüste Beschimpfungen und Beleidigungen auf offener Straße bedeuteten eine Steigerung der Aggressionen gegenüber seiner Glaubensgemeinschaft, während es vorher »nur« Getuschel oder Lästereien hinter vorgehaltener Hand gewesen waren. Einen guten Ruf hatten sie in Europa noch nie gehabt, schlecht geredet wurde seit Jahrhunderten über sie. Sie galten als Geizkragen und Wucherer, damit lebten sie schon seit vielen Generationen. Doch nun gab es schon viele Monate diese menschenverachtende Hetze – und die wurde nicht nur geduldet, sondern war sogar politisch legalisiert worden.
Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden konnten zusammengeschlagen oder durften willkürlich verhaftet werden, ohne dass die Täter Konsequenzen zu befürchten hatten. Zeitweilig waren die Braunhemden gar als Hilfspolizisten eingesetzt worden, bis die politischen Gegner endlich ausgeschaltet waren. Wo sollte das noch hinführen?
Besonders schlimm waren sie, wenn sie getrunken hatten. Und heute würde der Alkohol in Strömen fließen, denn sie hatten ja einen Grund zum Feiern. Heute war ein Jahrestag, der erste dieser Art: Genau ein Jahr war Adolf Hitler im Amt des Reichskanzlers und wurde von einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung als der Retter der deutschen Nation und Erlöser des deutschen Volkes gefeiert. Das würden die braunen Horden heute gebührend begießen.
Mit einem Fackelmarsch durch die Straßen Rheines würde es anfangen; auf dem Marktplatz mit seiner mittelalterlich wirkenden Bebauung war dann eine Rede des Bürgermeisters Hubert Schüttemeyer geplant, der als früherer Zentrumspolitiker offenbar die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt hatte und zwischenzeitlich der NSDAP beigetreten war. Danach würde auch der Kreisleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Emil Lewecke, zu den Einwohnern Rheines sprechen und, wenn die offizielle Feierstunde vorbei war, würden sich die Mitglieder der Sturmabteilung zu ihrem Stammlokal »Emskrug« in der Münsterstraße begeben und sich sinnlos betrinken, wobei sie sich vermutlich wieder gegenseitig aufstacheln und immer aggressiver werden würden.
Rheine war eine Kleinstadt im nördlichen Münsterland, in der preußischen Provinz Westfalen. Im Jahre 1327 mit den Stadtrechten ausgestattet, hatten ihre Bewohner vor allem im Dreißigjährigen Krieg sehr gelitten. Ein Jahr vor Beendigung der Kriegshandlungen war Rheine 1647 noch fast vollständig in Schutt und Asche gelegt worden. Mit dem Bau der ersten mechanisch betriebenen Textilfabrik im Münsterland und dem Anschluss an das Eisenbahnnetz Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Industrialisierung und damit der wirtschaftliche Aufschwung der Region. Südlich vor den Toren der Stadt hatte die Reichsbahn nach dem Weltkrieg den einzigen Rangierbahnhof des Münsterlandes errichtet; Rheine war jetzt nicht mehr nur Textilzentrum, sondern auch Eisenbahnerstadt geworden. Mit dem Bau der 102,5 Meter hohen Kirche St. Antonius, einer Kirche, wie sie nicht einmal das viel größere Münster zu bieten hatte, kam das gestiegene Selbstbewusstsein der Einwohner zum Ausdruck.
Auch in Rheine hatten die Nationalsozialisten wie im ganzen Deutschen Reich durch die nach dem Berliner Reichstagsbrand verabschiedeten Gesetze, insbesondere der Reichstagsbrandverordnung und dem Ermächtigungsgesetz, mittels Verhaftungen oppositioneller Politiker und durch Verbote, beziehungsweise Selbstauflösungen anderer Parteien, schrittweise die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung übernommen. Spätestens mit dem Inkrafttreten des Gemeindeverfassungsgesetzes vom 15.12.1933 war die Macht der NSDAP auch auf kommunaler Ebene vollkommen und damit die Machtergreifung abgeschlossen: Es gab nur noch eine Partei!
Keinesfalls wollte Bernhard Silberstein der braunen Meute begegnen, denn das konnte für ihn als Juden sehr ungemütlich werden. Außerdem wollte er rechtzeitig bei seiner Familie sein, um seine Frau Gerda und seine beiden Kinder Hans und Gisela zu beruhigen, denn der »Emskrug« lag seinem Wohn- und Geschäftshaus gleich schräg gegenüber.
Silberstein betrieb in vierter Generation ein Textilgeschäft mit eigener Schneiderei, das der Familie lange Zeit ein gesichertes Einkommen eingebracht hatte.
Der Urgroßvater hatte sich in Rheine an der Ems niedergelassen, um das Geschäft zu gründen. Die Silbersteins hatten es seitdem zu einigem Wohlstand gebracht und waren in der Emsstadt gut angesehen. Ihre Waren verkauften sich dank der hervorragenden Qualität selbst in der Zeit der großen Wirtschaftskrise sehr gut. Schon seit einigen Jahren hetzten allerdings die Anhänger der Nationalsozialisten gegen Juden und machten Silberstein und seiner Familie das Leben zunehmend schwerer. Gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kam es sogar zu Boykottaufrufen jüdischer Geschäfte durch die SA. Mit Farbe wurden der Davidstern und hetzerische Parolen auf die beiden Schaufenster gepinselt; gleichzeitig zeigten die Braunhemden vor dem Eingang Präsenz und hielten damit potenzielle Kunden davon ab, das Geschäft zu betreten. Nur die Wenigsten trauten sich heute noch, neue Kleidung der Marke Silberstein anfertigen zu lassen.
Zwei der drei angestellten Näherinnen mussten im letzten Jahr aus Auftragsmangel schweren Herzens entlassen werden. Lediglich Agnes, die älteste der Mitarbeiterinnen, arbeitete noch für das Textilkaufhaus; trotz ihres christlichen Glaubens war sie stets stolz darauf gewesen, einem Modehaus mit derartigem Renommee zu dienen und betrachtete ihren Arbeitgeber als einen Künstler.
Eine Ausnahme vom Boykottverhalten der übrigen Bevölkerung machten die Große-Schulthoffs, deren Bauernhof vor den Toren Rheines im Stadtteil Altenrheine lag und die im Mai die Hochzeit ihrer zweitältesten Tochter feiern wollten. Sie hatten Bernhard Silberstein für heute auf ihren Hof eingeladen, damit dieser bei den Brauteltern Maß für das passende Kleid und einen neuen Anzug nehmen konnte. Außerdem mussten die Stoffe aus der mitgebrachten Mustersammlung ausgewählt werden.
Wenigstens einige der Kunden ließen sich in ihren Ansichten nicht beirren und hielten den Silbersteins trotz angedrohter Repressalien noch die Treue.
»Die Ersparnisse werden hoffentlich solange reichen, bis dieser Alptraum endlich zu Ende ist«, hatte Silberstein auf dem Weg nach Altenrheine bitter gedacht. Seinen geliebten Opel Laubfrosch hatte der Textilkaufmann im Herbst verkauft, nachdem auch dieser mehrfach mit Schmierereien versehen worden war und er für sein Auto das Schlimmste befürchten musste. Den Erlös aus diesem Verkauf konnte er inzwischen gut für den Lebensunterhalt der Familie gebrauchen, er schmolz aber langsam dahin.
Somit war ihm heute für die etwa drei Kilometer lange Strecke nach Altenrheine trotz der ungemütlichen Kälte nur die Möglichkeit geblieben, den Weg zu Fuß zurückzulegen, denn im Besitz eines Fahrrades war er nicht.
Die Große-Schulthoffs hatten ihn freundlich auf ihrem Hof begrüßt.
»Bitte kommen Sie herein, Herr Silberstein«, hatte ihn Frau Große-Schulhoff mit einem Lächeln im Gesicht empfangen. »Wir freuen uns schon seit heute Früh auf Ihren Besuch, denn neue Kleidung bestellt man sich ja schließlich nicht jeden Tag!« Ihr Ehemann war hinzugekommen und hatte dem Modekaufmann fest die Hand geschüttelt. »Schön, dass Sie da sind. Meine Frau konnte Ihren Besuch gar nicht mehr erwarten.«
Zusammen waren sie in die große Küche gegangen, wo Silberstein Maßband, Schreibblock und Bleistift aus seinem Koffer hervorgeholt hatte.
Während er bei seinen Kunden die Maße für Kleid und Anzug genommen hatte, hatten sie sich über die politische Situation in Rheine unterhalten.
»Nicht, dass ich die Roten besonders mag. Ich habe immer Zentrum gewählt, aber wer soll den Nationalsozialisten auf die Finger schauen, wenn alle Oppositionspolitiker im Falkenhof sitzen?«, hatte sich Große-Schulthoff empört.
Die nicht ungefährliche Meinung des Hausherrn wurde nicht mehr öffentlich geäußert, denn Kritik an den Nationalsozialisten wurde in der Tat nur allzu schnell mit Verhaftung und Einkerkerung im mittlerweile zu diesem Zweck entfremdeten Falkenhof bestraft. Dieser war ursprünglich zur Sicherung der tiefer gelegenen damaligen Emsfurt angelegt worden und stammte vermutlich aus dem achten oder neunten Jahrhundert. Das Gebäude war einmal karolingisches Königsgut; als »Villa Reni« erbaut, galt sie als die Keimzelle Rheines. Später als Adelssitz genutzt, würden sich die früheren Bewohner wohl angesichts der heutigen Funktion des Gutes als Folterstube im Grabe umdrehen.
Große-Schulthoff hatte weiter gesprochen: »Was den Menschen Ihres Glaubens in diesen Tagen an Hass entgegen schlägt, ist skandalös. Was haben Sie den Nationalsozialisten getan? Warum diese Hetze gegen Ihre Religion? Was bringt es, alle Juden aus dem Reich zu vertreiben? Ich habe angesichts unserer Regierung kein gutes Gefühl. Passen Sie nur gut auf sich und Ihre Familie auf, Herr Silberstein!«
Frau Große-Schulthoff hatte extra einen Kuchen gebacken, der zusammen mit einer Kanne Kaffee serviert worden war.
»Bitte greifen Sie zu, Herr Silberstein. Es kommt von Herzen«, hatte sie mehrfach beteuert.
Zum Apfelkuchen war geschlagene Sahne serviert worden, für einige Zeit hatte der Geschäftsmann angesichts dieser Köstlichkeit seine Probleme vergessen können.
Leider sollte sich die zusätzliche Stunde unbeschwerten Beisammenseins mit netter Unterhaltung jetzt bitter rächen.
»Verflucht, es wird schon dunkel«, schoss es ihm durch den Kopf. Gleich würden sie losmarschieren und er war noch nicht zuhause. Vermutlich machten sich seine Frau und die beiden Kinder schon Sorgen.
Er versuchte seine Schritte nochmals zu beschleunigen, als er die Hindenburgstraße, die bis vor wenigen Monaten noch Gasstraße hieß, überquerte und in die Ibbenbürener Straße einbog. Nach kurzer Zeit war er bereits in der Emsstraße, die ihn zur Nepomukbrücke führen würde.
»Vielleicht schaffe ich es noch, bevor sie sich treffen; es ist ja nicht mehr weit«, machte er sich selbst Mut. Wegen der nasskalten Witterung eilten die Menschen mit schnellen Schritten von der Straße in die warmen Geschäfte, um dort ihre Einkäufe zu tätigen.
Silberstein war durch sein zügiges Tempo dennoch ins Schwitzen gekommen. Zum Glück – da war sie schon, die Brücke über die Ems. Dahinter nur noch einige dutzend Meter hoch bis zur Münsterstraße, dort nach links abbiegen und er hatte es geschafft.
Plötzlich sah er sie, sie schauten genau in seine Richtung. Sein Herz setzte vor Schreck aus, denn sie wussten nur zu genau, wer er war …
Im »Emskrug«, einem im rustikalen Stil eingerichteten Lokal, war es zu dieser Zeit noch ruhig. Das Tagesgeschäft war verhalten gewesen, einige wenige Ältere hatten sich zu Skatrunden an den Tischen zusammengesetzt, die Arbeiter kamen auf ein Feierabendbier und ein Schwätzchen vorbei. Wirt Alfons Hergemöller hatte sich für den Abend eine zusätzliche Bedienung organisiert, die gerade eingetroffen war. Hier würde die SA heute den Jahrestag der Machtübernahme feiern und dementsprechend viel Arbeit anfallen. Die Männer der Sturmabteilung galten als rohe, trinkfeste Gesellen. »Hoffentlich gibt es am Abend nicht schon wieder eine Schlägerei«, dachte Hergemöller. Er hatte in der Vergangenheit so seine Erfahrungen gemacht.
Die 19-jährige Johanna war die Tochter eines Bekannten und versuchte sich im »Emskrug« ein paar Groschen zu verdienen. Sie hatte ihre Aushilfsstelle als Kellnerin vor einigen Wochen probeweise angetreten. Anfangs sehr zurückhaltend, verrichtete sie ihre Arbeit inzwischen zur vollsten Zufriedenheit ihres Chefs. Sie war bei den Gästen schnell beliebt, wozu sicherlich neben ihrem freundlichen Wesen auch ihr sehr hübsches Äußeres beitrug.
Gerade hatte sie damit angefangen, die Gläser zu spülen, als sie die ersten braunen Uniformen hereinkommen sah.
»Heil Hitler! Alfons, mach uns mal drei Bier und drei Kurze«, hörte sie einen der neu Angekommen rufen. Das Trio machte es sich am Tresen bequem.
»Ist schon in Arbeit«, hörte sie Alfons antworten.
»Heute Abend werden wir allen zeigen, wer im Reich das Sagen hat. Erinnert euch nur daran, wie schnell wir mit den Roten fertig geworden sind«, warf der Wortführer in die Runde und erntete lauten Zuspruch.
Der Wirt war noch damit beschäftigt, die Getränke einzuschenken, als Johanna erneut einen kalten Luftzug spürte. Die nächsten SA-Angehörigen betraten das Gasthaus.
»Heil Hitler«, erklang es von allen Seiten.
Weitere Getränke wurden bestellt und Zigaretten angezündet. Schnell bestimmte die SA den Geräuschpegel im Gasthaus.
»Auf unseren Führer und unseren Stabschef«, erklang es von einem anderen SA-Mann und Gläser wurden mit einem vielstimmigen »Prost« aneinander gestoßen.
Stabschef Ernst Röhm, oberster SA-Mann und enger Vertrauter Hitlers, hatte die Sturmabteilung nach einem längeren Südamerikaaufenthalt ab 1931 zu einer breit angelegten Organisation ausgebaut und dabei die Mitgliedszahlen vervielfacht. Mit seiner paramilitärischen Truppe hatte Röhm die politischen Gegner terrorisiert und damit nicht unerheblich zur Machtübernahme der Nationalsozialisten beigetragen. Der Stabschef hatte dabei seine ganz eigenen Vorstellungen für das zukünftige Deutschland und machte seine Forderungen in letzter Zeit immer öfter und lauter geltend. Die nächsten Monate würden zeigen, inwieweit Hitler seinen Wünschen entgegen kam.
Während lauthals über die führende Rolle der Sturmabteilung im Reich, die Visionen und Forderungen Röhms diskutiert wurde, betraten immer mehr Uniformierte die Wirtschaft. An die Wände des Raumes waren Standarten, Fackeln und eine Fahne gelehnt, die später für den Marsch gebraucht würden.
»Hallo meine Süße. Du wirst ja immer hübscher!«
Johanna schreckte hoch. Ihr war bewusst, dass sie oftmals mit neugierigen Blicken des männlichen Geschlechts bedacht wurde, denn ihre weiblichen Reize zeigten sich mit zunehmendem Alter immer deutlicher. Sie hatte langes, blondes Haar, das sie heute zu einem Dutt gebunden hatte. Doch der Mann, der sie angesprochen hatte, konnte ihr Vater sein. Er hatte gelichtetes Haar und ein faltiges Gesicht. Zudem verursachte er mit seinem ungepflegten Äußeren und einem widerlichen Mundgeruch Ekel bei ihr.
Johanna versuchte ihn zu ignorieren und konzentrierte sich auf die bereits gespülten Gläser, die sie Hergemöller anreichen musste.
Doch in diesem Moment spürte sie sogar seine Hand auf ihrem für das Spülen entblößten Arm.
»Was meinst du, wir könnten uns später auf ein Bierchen zusammen setzen und dann schauen wir mal, was der Abend noch so bringt …«
Der Mann hatte sich weit über das Spülbecken gelehnt.
»Ewald, lass die Johanna in Ruhe und halte sie nicht von der Arbeit ab«, versuchte der Wirt seiner attraktiven Angestellten zu helfen.
Doch der Mann gab sich so schnell nicht geschlagen.
»Ich wette, ich bin nicht der Erste, der es bei dir versucht. Wir könnten viel Spaß zusammen haben.«
Entsetzt zog sie ihren Arm zurück, als eine laute Stimme durch das Gastzimmer schrie: »Nimm deine Finger weg von Johanna!« In der Gaststube wurde es schlagartig ruhig. Die verbliebenen übrigen Gäste schauten sich beunruhigt an und nahmen noch schnell einen Schluck aus ihren Gläsern, um das Lokal notfalls zügig verlassen zu können, falls die Situation eskalieren sollte.
Der andere Mann näherte sich langsam der Theke. Wie alle Angehörigen der SA war er mit brauner Hose und passendem Hemd mit Krawatte bekleidet und trug eine rot-weiße Armbinde mit schwarzem Hakenkreuz am linken Ärmel. Er war etwa Mitte zwanzig, hatte dunkles, zurückgekämmtes Haar und sah kräftig aus.
»Oh je«, dachte Johanna. »Gleich schlagen sie sich um mich, das hat mir gerade noch gefehlt.«
Dabei hatte sie absolut kein Interesse an dem arrogant wirkenden Erwin Jansen, der sich gerade aufspielte. Mit dem schmierigen Ewald Schmalstieg, der sie berührt hatte, würde sie schon alleine fertig werden.
»Wag es noch einmal sie anzufassen und du wirst mich kennen lernen! Die steht nicht auf alte Böcke wie dich. Die braucht was Jüngeres!«
Sie verdrehte angesichts dieser schrägen Worte die Augen. So mussten sich die Frauen auf einem arabischen Markt fühlen, auf dem sie meistbietend versteigert wurden!
Der Ältere hatte von Johanna abgelassen und wandte sich, sein Bier in der Hand, seinem Konkurrenten zu. Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Sturmführer Alois Walbusch dazwischen ging: »Ruhig Blut, Jungs. Vertragt euch, wir wollen doch keinen Streit. Heute sind wir genau ein Jahr die Herrscher über unser Vaterland, deshalb haben wir doch wohl Wichtigeres zu tun als uns um einen Rock zu schlagen. Ich will, dass ihr euch auf eure Aufgaben konzentriert und keinen Ärger macht!«
Walbusch war Ende vierzig und hatte sich bei vielen Schlägereien mit den im katholischen Münsterland allerdings nicht sehr zahlreichen Kommunisten als sehr standhaft erwiesen und sich daher in der Sturmabteilung nicht nur seinen Führungsposten, sondern auch den damit verbundenen Respekt erarbeitet. Das war wohl der Grund, warum beide Streithähne einen Augenblick verharrten und sich mit unverständlichem Gemurmel voneinander abwandten.
»Achtung, alle: Das Horst-Wessel-Lied!«, forderte der Sturmführer, um die Situation weiter zu beruhigen.
Sein Plan ging auf, denn sofort erklang aus vielen Kehlen: »Die Fahnen hoch, die Reihen dicht geschlossen …«, die Hymne der NSDAP, die nach ihrem Verfasser benannt worden war. Sturmbannführer Horst Wessel war vor vier Jahren von einem KPD-Mitglied ermordet worden und danach von der Partei zu einem Märtyrer hochstilisiert worden.
Johanna atmete durch und verrichtete wieder ihre Arbeit. »Das ist gerade noch mal gut gegangen«, dachte sie dankbar.
Die SA-Männer waren für ihre Trinkfestigkeit bekannt und so hatte sie in der Folgezeit eine Menge zu tun.
Als sie nach einiger Zeit wieder aufblickte, öffnete sich die Tür und zwei weitere, etwa zwanzigjährige Uniformierte betraten den »Emskrug«. Sie lief rot an, als sie Paul Kemper und Felix Baumann erkannte.
Während Paul sich gleich den übrigen Kameraden zuwandte, schaute Felix ihr in die Augen und nickte ihr kaum merklich zu. Sie kannte Felix seit ihrer Schulzeit, er war einige Klassen über ihr. Schon damals schwärmte sie für ihn. Er war schlank, hatte dunkles, kurzes Haar und wirkte fast schüchtern. In seiner Gegenwart hatte sie immer das Gefühl, er denke gerade über irgendetwas nach. Das alles hatte wohl bewirkt, dass sie ihn in aller Heimlichkeit geradezu anhimmelte. »Männliche Poltergeister«, wie sie Männer wie Erwin Jansen für sich nannte, hatte sie noch nie gemocht. Felix Baumann hatte sie allerdings zu ihrer großen Enttäuschung nie richtig wahrgenommen, obwohl sie sich immer wenn sie ihn sah Mühe gab, zumindest einen Blickkontakt zu ihm herzustellen. Sie war für ihn vermutlich einfach noch ein Kind, das nicht weiter beachtenswert war. Ihr Verhältnis hatte sich erst geändert, als sie sich vor einigen Monaten wiedergesehen hatten; sie waren sich zufällig im Spätherbst in der Innenstadt über den Weg gelaufen. »Jetzt oder nie«, hatte sie sich gedacht und all ihren Mut zusammen genommen, um ihn anzusprechen. Er hatte freundlich reagiert und sie hatten eine geraume Zeit auf der Straße zusammengestanden, um miteinander zu reden. Seit diesem ersten Wiedersehen unterhielten sie sich stets eine Weile, wenn sie sich durch Zufall trafen. Felix war sehr an Literatur interessiert und hatte ihr verraten, seine große Leidenschaft für Bücher mit seiner Anstellung in einer Buchhandlung auch zu seinem Beruf gemacht zu haben. Sehnsüchtig, leider aber bis heute vergeblich wartete Johanna auf eine Einladung ins Kino, zum sonntäglichen Spaziergang oder dergleichen. Lag es an seiner Schüchternheit? Sie glaubte, ihr Interesse an ihm genügend durchblicken lassen zu haben. Vielleicht musste tatsächlich sie die Dinge in die Hand nehmen und wenig damenhaft die Initiative ergreifen.
Für Johanna war es eine Riesenüberraschung gewesen, als sie Felix im »Emskrug« erstmals in der braunen Kleidung der SA sah. Er passte so gar nicht zu einer Horde roher Schlägertypen. Felix rechtfertigte seinen Eintritt in den Sturm damit, von einem nicht näher benannten Freund, vermutlich Paul, dazu überredet worden zu sein, in der Parteiorganisation mitzumachen. Zwar verabscheue er Gewalt, aber das Gefühl der Gemeinschaft und Kameradschaft gefalle ihm ausgesprochen gut.
Zudem werde ihm das Gefühl vermittelt, seinen Teil zu den großen Veränderungen im Reich beizutragen.
Nachdem der Trubel im Gasthaus noch einige Zeit weitergegangen war, ergriff Sturmführer Alois Walbusch wieder das Wort und forderte seine Kameraden dazu auf, die Gläser leer zu trinken. Es sei Zeit, zum Treffpunkt aufzubrechen.
Als fast alle abmarschbereit waren, öffnete sich noch einmal die Eingangstür und drei Braunhemden traten ein.
Schon beim Eintreten rief einer der Neuankömmlinge mit lauter Stimme: »Dem Isidor haben wir’s gezeigt. Der verzieht sich für die nächste Zeit in sein Rattenloch!« Der wohlbeleibteste von ihnen, ein Hüne von fast zwei Metern, hatte gesprochen und erntete dafür Gelächter. »Der wollte doch glatt über die Ems, ohne Wegezoll zu zahlen. Als wir mit ihm fertig waren, hatte er zwei blaue Augen und eine leere Geldbörse«, verkündete er seinen johlenden Sturmleuten.
Dann drehte er seinen massigen Körper zum Tresen: »Schnell Alfons: Bevor wir gehen, noch eine Runde für alle; der Jude bezahlt schließlich!«
Dabei wedelte er unter dem Gegröle der anderen mit der erbeuteten Geldbörse.
Während die Gruppe ihn hochleben ließ, wandte er sich einem Braunhemd zu seiner rechten zu und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Die Kameradschaftskasse hätte es ja wohl nicht mehr hergegeben, nicht wahr, Rudolf?« Der Angesprochene verzog das Gesicht und lief rot an. Außer der Getränke umher reichenden Johanna hatte niemand diese Bemerkung gehört.
Schnell waren Heinrich Plagemann, Adolf Meyering und Ludger Bröker von ihren Kameraden umringt und mussten noch vor dem Abmarsch in allen Einzelheiten erzählen, wie sie einem Juden Geld abgepresst hatten.
Bernhard Silberstein erstarrte vor Schreck. Schnell zog er seinen Mantelkragen hoch und seinen Hut tiefer ins Gesicht, doch es war nicht mehr rechtzeitig genug. Sie waren bereits auf ihn aufmerksam geworden. Wenn er sie nur vorher schon gesehen hätte, hätte er sich noch nach links wenden können, denn dort war in einigen hundert Metern Entfernung die Hindenburgbrücke, über die er ebenfalls die Ems überqueren konnte; hinter der Brücke hätte er nur noch rechts in die Münsterstraße einzubiegen und sich am »Emskrug« vorbei zu mogeln brauchen. Doch dieser Gedanke war ihm erst gekommen, als es bereits zu spät war. Sie waren schon fast bei ihm – drei braun gekleidete Männer, deren Gesichter nichts Gutes verhießen.
Viele Male hatte dieses Trio in den letzten Monaten vor seinem Geschäft gestanden und seine Kunden durch Einschüchterungen und oftmals auch durch Beschimpfungen oder gar Drohungen davon abgehalten, seinen Laden zu betreten. Sie hatten Schilder mit der Aufschrift »Deutsche kauft nicht bei Juden« um ihre Körper gehängt und sein Schaufenster mit antijüdischen Parolen beschmiert. Dabei hatte sich der hier anwesende Hüne als besonders unangenehmer Zeitgenosse erwiesen. Silberstein war in der Vergangenheit jedes Mal erschauert, wenn er ihn gesehen hatte.
»Wo will denn der Jud’ so schnell hin?«, hörte er den Riesen überlaut sagen, so dass auch andere Passanten auf ihn aufmerksam wurden. »Das hier …«, er zeigte dabei auf ein kleines, weiß verputztes Fachwerkhäuschen, das rechts am Anfang der Brücke errichtet worden war, »… ist der alte Zollposten. Jeder, der früher die Brücke nutzte, musste eine Gebühr entrichten. Für Juden gilt das noch heute!«
Silberstein versuchte, die drei nicht zu provozieren und erhob keinen Widerspruch, obwohl alles in ihm aufschrie. Würde er dieses Aufeinandertreffen heil überstehen?
Er hatte ein mulmiges Gefühl im Magen, als er antwortete: »Ja, ja. Natürlich, wie viel verlangen Sie denn?«
»Lass mich mal nachdenken, Jud’. Die Zollgebühr errechnet sich prozentual. Es kommt also darauf an, wie viel Geld du mitführst. Lass mal sehen, was du dabei hast!«
»Ja, selbstverständlich.«
Der Kaufmann kramte daraufhin umständlich in den Taschen seines Mantels und zog schließlich seine Geldbörse hervor.
Die drei SA-Angehörigen waren noch einen Schritt näher an ihn herangetreten und umringten ihn von allen Seiten, als ihm der Wortführer die Geldbörse entriss und diese öffnete. Nachdem er einen Blick hineingeworfen und den Inhalt grob abgeschätzt hatte, verkündete er:
»Nicht schlecht, das Sümmchen. Wen hat unser Jud’ denn um soviel Geld betrogen? Werdet ihr jüdischen Raffgeier euch denn nie ändern? Seit Jahrhunderten bringt ihr mit eurer Geldgier ehrliche Deutsche um ihr wohlverdientes Auskommen. Glaubst du allen Ernstes, dass das ewig so weitergeht? Der Führer wird euch einen Strich durch die Rechnung machen und unter euch Juden aufräumen! Die große Zeit des Judentums ist in Deutschland vorbei, wir werden schon mit euch fertig werden! Weil ihr Ratten schon Generationen meiner Vorfahren um ihr Geld betrogen habt, muss ich einen Aufschlag berechnen. Die Gebühr beträgt in diesem Fall einhundert Prozent.«
»Wie bitte?«
Silberstein konnte es nicht glauben. Die SA-Männer wollten ihm sein komplettes Geld wegnehmen. Das war krimineller Straßenraub, und er konnte nichts dagegen tun.
»Ich habe heute lediglich einen Vorschuss für einen Auftrag bekommen. Sie können mir doch nicht meinen gerechten Lohn stehlen«, protestierte er.
Dabei hatte er reflexartig versucht, nach seiner Geldbörse zu greifen. Daraufhin bekam er von einem der Männer einen Schlag ins Gesicht und war für einen Moment benommen. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was gerade geschah. Schon hatte ihn die Faust ein zweites Mal getroffen und er ging angeschlagen zu Boden. Sein Musterkoffer glitt ihm dabei aus der Hand und der Inhalt quoll teilweise heraus, weil sich der Koffer beim Aufschlagen auf dem Straßenpflaster geöffnet hatte.
Einer der drei gab dem Gepäckstück einen Tritt, so dass dieser über das Pflaster schoss und sich Stoffproben, Stecknadeln und Maßband weiter auf der Brücke verteilten.
Vorübergehende Passanten versuchten das Geschehen zu ignorieren und eilten mit abgewandten Gesichtern vorbei. Bevor sich die SA-Männer mit ihrer Beute von ihm abwendeten, gab ihm einer von ihnen noch einen kräftigen Tritt in die Seite, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Silberstein stöhnte vor Schmerz auf.
Doch dann war es endlich vorbei. Sie ließen von ihm ab und er hörte sich entfernende Schritte. Er atmete tief durch und spürte dabei einen stechenden Schmerz in seinem Brustkorb.
Er fühlte sich schrecklich; sein Gesicht war blutverschmiert und er fürchtete, sich eine oder gar mehrere Rippen gebrochen zu haben.
Der erste Versuch sich aufzurichten, schlug fehl. So gut es ging, sammelte er auf dem Boden krabbelnd seine Schneiderutensilien ein. Er sah sich hilfesuchend um, doch auch jetzt noch taten die Vorbeilaufenden so, als würden sie ihn nicht sehen.
Er robbte zum Brückengeländer und schaffte es unter großen Schmerzen, sich aufzurichten.
Mit der einen Hand den Koffer und mit der anderen Hand den eiskalten Stahl des Brückengeländers festhaltend kam er nur langsam voran; irgendwann hatte er sich an der namengebenden Nepomukstatue vorbei gehangelt, die eigentlich Reisenden und Brücken Schutz gewähren sollte.
»Mir hast du deine schützende Hand verwehrt«, dachte er verbittert.
Am Ende der Brücke stützte er sich an den Hauswänden der in diesem Bereich stark ansteigenden Emsstraße ab und kam die wenigen Meter bis zur Münsterstraße nur langsam voran.
Inzwischen war es dunkel geworden, er hoffte darauf, auf dem kurzen Restweg nach Hause nicht noch einmal auf SA-Leute zu treffen.
Was war nur geschehen?
Er war übelst zusammengeschlagen und beraubt worden. Vor einiger Zeit noch hätte er sich unverzüglich auf den Weg zur Polizeiwache gemacht und die Täter angezeigt. Doch hatte das jetzt noch einen Sinn? Als Jude war er inzwischen so gut wie ohne Rechte – und das in seinem eigenen Land. Man würde ihn höchstens auslachen und ohne weiter tätig zu werden wieder nach Hause schicken. Es würde also nichts bringen, das Polizeirevier aufzusuchen.
Silberstein schleppte sich langsam die Emsstraße hoch und warf einen ängstlichen Blick in die Münsterstraße, als er die Kreuzung erreicht hatte.
Vor dem »Emskrug« waren keine braunen Gestalten zu sehen, also riskierte er es, die letzten Meter bis zu seinem Heim zu schleichen.
An der Haustür angekommen drückte er die Klinke und musste mit Schrecken feststellen, dass diese abgeschlossen war. Er war inzwischen durchgefroren, hatte immer stärker werdende Schmerzen und sehnte sich nach seinem Sofa.
Er hatte Gerda und den Kindern in den letzten Monaten immer wieder gepredigt, die Haustür aus Vorsicht vor judenfeindlichem Besuch stets sorgsam abzuschließen. Doch in diesem Augenblick bereute er seine Worte angesichts seiner heiklen Situation.
Vorsichtig klopfte er an die Haustür und schaute dabei wiederholt ängstlich nach links und rechts. Glücklicherweise sah er keine SA. Doch drinnen geschah nichts, also wiederholte er sein Klopfen, diesmal etwas lauter. Endlich hörte er im Haus Geräusche und schnelle Schritte kamen näher; er wartete einen Augenblick und sprach so leise wie möglich durch das Holz der Tür: »Gerda, ich bin es. Bitte lass mich schnell ein.«
Der Schlüssel drehte sich um und der Einlass wurde einen Spalt breit geöffnet. Gerdas besorgtes Gesicht zeigte sich kurz, bevor sie die Tür voller Entsetzen ganz aufriss. Er wankte ins Haus, bevor sie die Tür zügig hinter ihm schloss.
Gerda schlug angesichts des blutüberströmten Kopfes ihres Mannes die Hände vor den Mund und fragte mit bebender Stimme: »Mein Gott, was ist passiert, wer hat dir das angetan?« Sie musste ihn vorsichtig stützen, als beide durch den Verkaufsraum und über die Treppe in die Wohnung gingen, die das gesamte obere Stockwerk einnahm.
In der Küche setzte er sich unter schmerzhaftem Aufstöhnen und schilderte in kurzen Worten, was ihm widerfahren war. Immer wieder schüttelte er dabei den Kopf, als könne er es selber immer noch nicht glauben. Das Erlebte war ein einziger Albtraum!
Gerda hatte inzwischen Alkohol und Kompressen aus der Hausapotheke geholt und kümmerte sich liebevoll um die Wunde in seinem Gesicht.
»Was ist in diesem Land nur los? Warum machen die so etwas? Sind wir etwa Menschen zweiter Klasse? Ich halte das einfach nicht mehr aus!«, sagte sie mit verzweifelter Stimme.
Er nahm ihren Arm und versuchte sie zu trösten: »So schnell wie sie gekommen sind, werden sie auch wieder verschwinden.
Irgendwann ist es vorbei, dann können wir wieder ein normales Leben führen.«
Er wusste selbst, wie hohl sich das anhörte. Seit einem Jahr waren die Nazis an der Macht und hatten praktisch alle verhaftet, die ihnen gefährlich werden konnten. Wer sollte sie nur wieder vertreiben?
Seine Frau fing an, leise zu schluchzen. Eine Träne lief über ihre Wange, als sie ihrem Mann in die Augen sah. Zu allem Überfluss hörten beide ein Geräusch aus dem Flur, das nur von ihren Kindern kommen konnte.
Langsam öffnete sich die Tür und der elfjährige Hans betrat Hand in Hand mit der siebenjährigen Gisela erschrockenen Gesichts die Küche. Beide ahnten, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Zwar versuchten Gerda und Bernhard Silberstein, die Situation herunterzuspielen, um die Kinder zu beruhigen; aber diese bekamen ja jeden Tag in der Schule die Anfeindungen gegenüber Juden selbst zu spüren und ahnten nur zu genau, was passiert sein musste.
»Wie erklärt man unschuldigen Kindern, dass man als Mensch jüdischen Glaubens praktisch von heute auf morgen keinerlei Rechte mehr im eigenen Land hat«, dachte der Textilkaufmann frustriert.
Die SA kam am späten Abend geschlossen zurück. Laut grölend betraten sie erneut den »Emskrug«. Sie hatten sich zuvor auf dem Thie, einem Platz unweit des Marktes, getroffen und aufgestellt. Mit Fackeln versehen und eine Fahnenabordnung mitführend waren sie in einem Rundmarsch durch die Straßen Rheines gezogen und hatten dabei das Horst-Wessel- und das Deutschlandlied gesungen. An ihrem Ziel, dem mit vielen Menschen gut gefüllten mittelalterlichen Marktplatz, hatten sie sich vor dem schön anzusehenden Letterhaus-Hotel mit seinem von Säulen gestützten Balkon aufgereiht. Das Hotel galt mit seinem imposanten Treppengiebel als das erste Haus am Platz und war in den letzten Jahren schon des Öfteren Bühne für die Reden lokaler Politiker gewesen.
Vom Balkon aus hatten Bürgermeister Schüttemeyer und Kreisleiter Lewecke zu ihren Zuhörern gesprochen und dabei den Aufbruch in eine neue Zeit hervorgehoben. Beide hatten von den Maßnahmen der Regierung gegen die Massenarbeitslosigkeit und den Investitionen des Staates berichtet, die den Menschen wieder Lohn und Brot gebracht hätten. Mit politischen Gegnern und Feinden Deutschlands sei im vergangenen Jahr aufgeräumt worden. Dem Land stehe unter der Führung des Reichskanzlers Adolf Hitler eine goldene Zukunft bevor; vor allem Lewecke beschwor die Menschen Rheines, sich in die neue Volksgemeinschaft einzubringen. Die Anwesenden hatten ihre stürmische Begeisterung für die neuen Machthaber mit vielfachen »Heil«-Rufen zum Ausdruck gebracht.
Nach der Kundgebung hatte sich der Marktplatz angesichts der ungemütlichen Temperaturen zügig geleert und die SA war auf der Münsterstraße zu ihrem Lokal abmarschiert. Schnell füllte sich der »Emskrug« und zahlreiche Getränkebestellungen wurden dem Wirt Alfons Hergemöller zugerufen.
Der kam mit dem Einschenken der Getränke kaum nach. Johanna machte beim Spülen Tempo; zwischendurch musste sie das Bier an den vielen Tischen ausliefern und leere Gläser abräumen.
Am einzigen Tisch rechts neben der Eingangstür hatten Felix Baumann und Paul Kemper Platz genommen. Zu ihnen gesellte sich ausgerechnet Erwin Jansen, vermutlich weil er von diesem Platz eine gute Sicht auf Johanna hatte.
»Wenn er wüsste, mit wem er da an einem Tisch sitzt«, dachte sie mit einem flüchtigen Blick auf Felix und musste insgeheim lächeln.
Der Respekt einflößende Heinrich Plagemann betrat die Wirtsstube, schaute sich um und setzte sich ebenfalls dazu. Den letzten freien Stuhl am Tisch sicherte sich Ewald Schmalstieg, der sich offenbar wieder mit Erwin vertragen hatte.
Johanna beeilte sich, den Männern die erste Runde Bier zu servieren.
Als sie die Getränke auf den Tisch stellte, fühlte sie die Blicke Erwins und Ewalds auf sich ruhen. Da sie beim Servieren Ewald ihren Rücken zuwandte, hatte sie bei ihm ein besonders unangenehmes Gefühl. Durch den Alkohol hatte er offenbar seine Hemmungen verloren und musterte unverhohlen ihren Allerwertesten. Sie befürchtete, im Laufe des Abends seine Hand auf ihrem Po zu spüren und nahm sich vor, bei der nächsten Runde von der anderen Seite des Tisches zu bedienen.
Sämtliche Sitzgelegenheiten im Schankraum waren besetzt, viele SA-Männer mussten stehen. Andere Gäste hatten die Wirtschaft bereits verlassen, als sich der Trupp näherte. Es herrschte ein gewaltiger Geräuschpegel und die Luft war von Zigarettenrauch durchzogen. Johanna war im Laufe des Abends pausenlos mit einem Tablett voller oder leerer Gläser unterwegs, zwischendurch musste sie immer wieder spülen.
Sie war froh, dass der Wirt sie nach einiger Zeit bat, aus der Vorratskammer im Innenhof drei neue Flaschen Weizenkorn zu holen.
Als sie dem Hinterausgang näher kam, spürte sie schon die kalte, aber erfrischende Luft. Zwei Männer kamen ihr entgegen, sie hatten sich vermutlich auf der Toilette, die sich ebenfalls im Innenhof befand, erleichtert.
Als sie die Außentür öffnete, sah sie Heinrich Plagemann, der Rudolf Fiedler am Kragen gepackt hatte und ihm etwas Bedrohliches ins Ohr brummte.
Fiedler hatte Johanna bemerkt, wandte seinen Kopf in ihre Richtung und riss die ohnehin entsetzten Augen noch weiter auf. Plagemann drehte sich langsam um und sagte nach einem kurzen Augenblick: »Ein Männergespräch … wir waren sowieso gerade fertig, oder Rudolf?«
»Ja, ja.«
Fiedler beeilte sich, sichtlich erleichtert, ins Wirtshaus zurückzugehen.
Plagemann raunte ihr im Vorbeigehen mit strengem Blick zu: »Du hast nichts gesehen!«
Sie bekam kein Wort heraus; so nickte sie nur hastig, bevor auch der Riese im Gebäude verschwunden war.
Nachdem sie im Vorratsraum gewesen war und dem Wirt das Verlangte ausgehändigt hatte, begab sie sich wieder an ihre Arbeit.
Den ersten Gästen konnte man den ausschweifenden Alkoholgenuss bereits deutlich anmerken. Lieder wurden gesungen und immer wieder auf Stabschef Röhm und Reichskanzler Hitler angestoßen.
Immer wenn sie Gläser zu spülen hatte, suchten Johannas Augen Felix. Dieser nahm in gewohnt zurückhaltender Art kaum an den Gesprächen an seinem Tisch teil und schien über etwas nachzudenken. Sein Sitznachbar Paul Kemper musste wohl gerade etwas Lustiges erzählt haben, denn alle anderen lachten auf einmal laut auf. Immerhin ließ sich auch Felix zu einem Lächeln hinreißen.
Die Gläser waren schon wieder leer und Erwin Jansen gab ihr ein Zeichen, Nachschub zu bringen, nicht ohne ihr einen Luftkuss zuzuwerfen.
Johanna verdrehte gedanklich die Augen. Sie konnte ihn einfach nicht ausstehen! Um ihm aus dem Weg zu gehen, vergaß sie ihren vorher gefassten Entschluss und kam mit fünf Gläsern Bier zwischen Heinrich Plagemann und Ewald Schmalstieg an den Tisch.
»Setz dich doch auf meinen Schoß, Schätzchen. Ich zahle die Runde anderweitig ab, du wirst es nicht bereuen«, hörte sie einen schmutzig grinsenden Erwin sagen, als sie plötzlich etwas an ihrem Hinterteil spürte. Ewald streichelte ungeniert ihren Po und lächelte sie dabei unzweideutig an.
Von Panik erfasst trat sie einen Schritt zurück und schlug seine Hand weg. Dabei fiel ein Glas um und der Inhalt ergoss sich über Heinrich Plagemanns braune Hose. Dieser sprang auf, holte aus und gab Schmalstieg eine schallende Ohrfeige, dass dieser fast von seinem Stuhl fiel.
»Du alter Schmierfink, meinst du immer noch, das junge Gemüse steht auf einen ungepflegten Greis wie dich? Schau dich nur mal selbst an, du machst dich ja lächerlich!«, machte Plagemann seinem Ärger Luft.
Schmalstieg hatte einen hochroten Kopf bekommen, seine Halsschlagader pulsierte heftig. Er konnte seinen Zorn nur mühsam unterdrücken, wusste aber, dass er bei einer Auseinandersetzung mit diesem Kraftprotz den Kürzeren ziehen würde. »Lässt deine Frau dich zuhause nicht mehr ran oder warum musst du so junge Küken begrabschen«, legte der Riese nach.
Die Gespräche waren verstummt, alle schauten Schmalstieg an. Der murmelte irgendetwas Unverständliches, schnappte sich seinen Mantel und verließ beleidigt das Lokal, ohne Plagemann noch eines Blickes zu würdigen.
In der Stille erklang mit einem Mal ein lautes Lachen.
»Der Schmalstieg wird wohl Geld in einen Bordellbesuch investieren müssen, damit er heute Nacht seine innere Ruhe findet«, amüsierte sich Erwin Jansen sichtlich. »Schätzchen, das Angebot von eben steht noch! Ich bin noch kein ausgedienter Wallach wie Schmalstieg, sondern ein junger wilder Hengst!«
Jetzt baute sich Plagemann, einmal in Rage, mit seinem mächtigen Körper vor Jansen auf: »Du mieses kleines Stück Dreck. Meinst du, wir wissen nicht, was mit deiner Verlobten war? Du hast ihr die Ehe versprochen und lagst gleichzeitig mit deiner Nachbarin im Bett. Auf ihre Kosten hast du gelebt; ausgenommen hast du sie, weil du selber nichts auf die Beine stellen kannst, du elender Versager! In den Selbstmord hast du sie getrieben, du Lump, weil sie mit der Schande, die du über sie gebracht hast, nicht mehr leben konnte. Wir brauchen in der Sturmabteilung richtige Männer, die Deutschland wieder zu dem machen, was es früher war und nicht solche elenden, schmarotzenden Kakerlaken wie dich! Nur damit du es weißt: Die Johanna wird meinen Neffen Willi heiraten und du wirst sie nicht ins Unglück stürzen, sondern dich von ihr fernhalten! Hast du mich verstanden?«
Jansen war in sich zusammengesunken. Er wusste nicht, wo er hinschauen sollte, also nahm er einen Schluck Bier.
»Hast du mich verstanden?«, wiederholte Plagemann donnernd seine Frage.
Er brachte ein mühsames »Ja« heraus und nuckelte nochmals an seinem Glas.
Felix und Paul schauten sich derweil peinlich berührt an.
Johanna hingegen hatte den Disput unter den Männern dazu genutzt, sich zurückzuziehen. »Das wird ja immer besser«, dachte sie sich. »Jetzt soll ich auch noch den Willi heiraten!«
Auch Jansen verließ nach kurzer Zeit kleinlaut das Wirtshaus, nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte.
Nachdem sich die Situation nach einigen Minuten entspannt hatte, ging der Trubel noch eine ganze Weile weiter. Viele weitere Getränke wurden bestellt, ausgeliefert und getrunken; zu weiteren Auseinandersetzungen kam es an diesem Abend trotz des hohen Alkoholkonsums nicht mehr.
Irgendwann wurden die meisten der Gäste müde und verabschiedeten sich. Das Wirtshaus leerte sich zusehends.
Auch der Tisch rechts neben der Tür war inzwischen verwaist. Johanna war so beschäftigt gewesen, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass die drei verbliebenen SA-Angehörigen gegangen waren. Sie bedauerte, dass sich Felix nicht von ihr verabschiedet hatte.
Sie dachte über den Disput der Männer heute Abend nach. Was bildeten sich diese Kerle nur ein! Seit sie im »Emskrug« arbeitete, hatte sie sich so manchen Spruch gefallen lassen müssen. Als Bedienung musste sie stets freundlich bleiben, auch wenn sie manchmal am Verstand der Gäste zweifelte. Heute aber amüsierte sie sich fast über das Gehörte: Der Willi wollte sie also ehelichen! Sie wusste zwar, dass sich der Neffe Heinrich Plagemanns Hoffnungen machte, aber der war ihr nicht mehr als ein guter Freund, sie hatte keinerlei weitergehende Gefühle für Wilhelm Plagemann. »Wenn Felix nur endlich sein Interesse zeigen würde …«
Kopfschüttelnd räumte sie das Leergut von den Tischen und brachte es zum Spültisch, als Heinrich Plagemann plötzlich vom Innenhof her das Wirtshaus betrat und wie in Trance durch den Gastraum schritt. Er war also noch nicht gegangen, sondern hatte offenbar lediglich die Toilette aufgesucht.
»Ich fasse es nicht … das wird ein Kameradschaftsabend … da werden die Fetzen fliegen … Unglaublich, skandalös …«, stammelte er vor sich hin.
Alfons Hergemöller kam hinter der Theke hervor, um seinem Gast die Tür zu öffnen. »Heinrich, ist alles in Ordnung mit dir? Kommst du auch heil nach Hause?«
Plagemann schaute ihn an, klopfte ihm stumm auf die Schulter und ging weiter. Alle noch Anwesenden blickten verdutzt hinter ihm her, als er hinaus trat. Nachdem sich die Tür hinter ihm wieder geschlossen hatte, blickte der Wirt fragend in die Runde, doch alle zuckten mit den Schultern; niemand hatte eine Erklärung für das seltsame Verhalten des SA-Mannes.
»War wohl doch ein Bierchen zu viel. Wird älter, unser Heinrich«, kommentierte Hergemöller und wandte sich wieder dem Tresen zu. »Räum noch schnell die letzten Gläser ab«, wies er Johanna an.
Sie wollte sich gerade an die Arbeit machen, als auf einmal Felix neben ihr stand. Sie wäre fast vor Schreck zusammen gezuckt. Sie fragte sich, wo er jetzt herkam.
»Felix, ich dachte … wo warst du … ich meine … ich dachte, du seiest schon nach Hause gegangen«, stammelte sie und merkte, wie sie rot anlief. Seine Anwesenheit machte sie immer wieder aufs Neue nervös.
Er war seltsam blass im Gesicht und seine Frisur war in Unordnung geraten. »Ich war gerade draußen, ich habe wohl etwas zu viel getrunken. Ich vertrage nicht so viel … mir geht es nicht gut.«
Sie schaute in den Gang zum Innenhof und fragte leise: »Musstest du dich übergeben? Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Paul trat auf einmal hinter ihn und sagte: »Ich kümmere mich um ihn. Ich werde Felix schon heil nach Hause bringen. Ist ja nicht so weit, wir schaffen das, nicht wahr, Felix?«
Dabei blickte Paul pausenlos zwischen der Eingangstür und Felix hin und her. Auch er wirkte verwirrt.
Sie fragte: »Felix, möchtest du vielleicht noch ein Glas Wasser?« Paul antwortete schnell für ihn: »Wir gehen jetzt besser. Es ist schon spät und wir müssen morgen früh wieder zur Arbeit. Gute Nacht, Fräulein Hembrock.« Mit diesen Worten zog er Felix zügig mit zur Tür.
»Gute Nacht«, murmelte sie vor sich hin und blickte den beiden irritiert nach.
Nachdem Johanna die verbliebenen Aufräumarbeiten erledigt und ihren Lohn erhalten hatte, machte auch sie sich kurze Zeit später auf den Heimweg. Vor dem Wirtshaus spürte sie die winterliche Kälte und dachte mit Grauen an die bevorstehende Radfahrt zum Stadtteil Gellendorf, der auf der anderen Emsseite im Südosten Rheines lag. Dort teilte sie sich mit ihrer jüngeren Schwester ein Schlafzimmer in der elterlichen Wohnung. Sie legte Schal und Mütze an und zog die Handschuhe über, bevor sie auf ihr Fahrrad stieg. Die Fahrt würde sie im Dunkeln bewältigen müssen, weil das Licht an ihrem Gefährt schon seit Wochen defekt war. Ihr Weg führte sie über die Hindenburgbrücke, hinter der sie rechts abbiegen würde.
Fast wäre sie ausgerutscht, als sie auf die Hindenburgstraße einbog, die über die Ems führte. Auf der Brücke merkte sie schnell, dass es durch die von der Ems heraufziehende Nässe spiegelglatt war. Vorsichtig bremste sie und stieg ab, um die Brücke, das Fahrrad mit der Hand schiebend, zu überqueren. Hoffentlich waren die Straßenverhältnisse auf der Mackensenstraße, vormals Hemelter Straße, und der darauf folgenden Elter Straße in Richtung Gellendorf besser.
Sie wollte angesichts der ungemütlichen Kälte nur ganz schnell unter ihrer warmen Bettdecke sein.
Fast hatte sie die Brücke schon geschafft.
Da war doch etwas! Sie registrierte auf der anderen Straßenseite umher huschende Schatten, konnte aber aufgrund der schlechten Straßenbeleuchtung nichts Genaueres erkennen. Ihr wurde mulmig in der Magengegend, ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie ging schneller.
Sie schaute angstvoll nach links, im dämmrigen Licht einer Laterne konnte sie mit einem Mal sehen, wer ihr diesen Schrecken eingejagt hatte. Schnell stieg sie wieder auf ihr Rad und setzte ihren Weg fort.
Der Furcht folgten viele Fragezeichen in ihren Kopf …
Heinrich Plagemann schlenderte nachdenklich die Emsstraße hinunter. Er spürte die Kälte nicht, denn zu viel war heute Abend passiert, über das er auf seinem Weg nach Hause nachdenken musste. In seinem Kopf spielte sich das Geschehen noch einmal ab. Was hatte das alles zu bedeuten und wie sollte er reagieren? Völlig in seine Gedanken versunken wandelte er über die Nepomukbrücke. Er blieb stehen, um kurz zu verweilen. An dieser Stelle hatten sie dem Juden Silberstein heute am frühen Abend klargemacht, wer in Rheine inzwischen das Sagen hatte. Mit unnachgiebiger Härte würden sie die Juden schon aus Deutschland vertreiben! Da war die Welt noch in Ordnung gewesen.
Aber nach dem später Passierten dachte er über verschiedene Dinge anders als noch vor wenigen Stunden …
Langsam stieg er hinter der Brücke die Treppe zum Timmermanufer hinunter, einem engen Weg, der ihn an der Ems entlang und unter der Hindenburgbrücke hindurch zu seiner Wohnung in der Nähe der Mühle am Hemelter Bach führen würde.
Das Ufer war nach dem früheren Unternehmer und Reichstagsabgeordneten Carl Timmerman benannt, der sich im vorigen Jahrhundert bei der Industrialisierung Rheines einen Namen gemacht hatte.
Der SA-Mann legte sich einen Plan zurecht, der seine Stellung innerhalb der Truppe erheblich steigern würde. Er würde alles offenlegen und kein Blatt vor den Mund nehmen, sie würden ihn schon kennenlernen! Bereits beim Kameradschaftsabend am Donnerstag würde er berichten, was er wusste. Danach wäre nichts mehr, wie es war! Es würden Köpfe rollen …
Er musste seine Gedanken unterbrechen, denn die Natur rief.
Er war inzwischen unter dem Bogen der Hindenburgbrücke angekommen und kam im Dunkeln auf dem unebenen Pflaster plötzlich ins Straucheln. Er konnte sich zwar fangen, verlor dabei allerdings seine Mütze. Egal, die würde er anschließend vom Boden aufheben, zunächst musste er dringend seine Blase entleeren.
»Tut mir leid, Herr Generalfeldmarschall, aber es muss sein«, dachte Plagemann im Hinblick auf den Namensgeber der Brücke, der im Weltkrieg zum Nationalhelden aufgestiegen und vor neun Jahren zum Reichspräsidenten gewählt worden war. Er stellte sich an die steinerne Wand des Brückenbogens und öffnete seine Hose.
Nachdem er sich erleichtert hatte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Waren das Schritte? Schnell schloss er die Knopfleiste seiner Hose.
Er konnte sich gerade noch halb nach hinten drehen, als ein furchtbarer Schmerz seinen Kopf durchzog. Das Letzte, was er in seinem Leben wahrnahm, war das Einknicken seiner Beine, dann wurde alles schwarz um ihn …
Etwa zweihundert Meter südlich machte ein älterer Mann mit seinem kleinen Mischlingshund seine allabendliche Runde. Da seine Schwester und ihr Mann heute Abend zu Besuch gekommen waren, waren die beiden später als üblich unterwegs. Sein Weg führte ihn stets ein kurzes Stück über das Timmermanufer. Sein Hund schnüffelte aufgeregt nach den Spuren anderer Artgenossen und hob hin und wieder sein Hinterbein. Doch plötzlich blieb er stehen, sein Kopf schoss in die Höhe; er drehte sich nach hinten und knurrte erst leise, bevor er schließlich laut anschlug.
Auch sein Herrchen bemerkte jetzt leise Geräusche von hinten; doch als er sich umdrehte, konnte er wegen der Dunkelheit nichts erkennen.
»Aus, Maxe«, versuchte er seinen Hund zu beruhigen. Er musste kräftig an der Leine ziehen, um das immer noch nach hinten schauende Tier zum Weitergehen zu bewegen. Es dauerte einige Zeit, bis sich Maxe wieder auf den vor ihnen liegenden Weg konzentrierte.
Als der Mann sich nach einigen Metern noch einmal umwandte, bemerkte er auf der Hindenburgbrücke schnelle Bewegungen. Er dachte sich nichts weiter dabei und setzte zusammen mit Maxe seinen Gang fort.