Читать книгу Der Konzeptionist - Dieter Steichler - Страница 4

Eine brisante Präsentation

Оглавление

Frankfurt/Zürich. In den Nächten vor der Konzept-Präsentation hatte Textor einen komischen, immer wiederkehrenden Traum, von dem er sich folgendes merken konnte: Das Innere des Menschen ist eigentlich eine eklige Erfindung, eine Art Kombination aus Chemie- und Physikfabrik, deren Ausdünstungen man mittels Parfüm, Deodorant, Intimspray, Mundwasser oder schon durch einen kleinen Kaugummi kurzfristig zurückdrängen kann. Langfristig ist dagegen nichts zu machen. Denn der Gestank entsteht durch die Nahrung, die im Gekröse verarbeitet wird und je nach Nährwert mit Glück einem gesunden Geist in einem gesunden Körper dienlich ist. Als Abfälle entstehen dabei zum größten Teil Gas, Kot und Urin, zum kleineren Schweiß und Tränen oder Rotz und Spucke. Ohne Rücksicht auf Verluste. Irgendwas kommt immer heraus.

Wenn man nur die Absonderungen eines Menschen im Laufe seines Lebens in einem Behälter sammeln würde, statt in die Mülltonne zu befördern oder in die Kanalisation zu schwenken, welch eine ekelhafte Menge würde sich da stauen! An der Stelle hatte der Traum immer diesen irrealen Bruch mit folgender Überleitung: Löwen mögen kein Parfüm. Stinken ist natürlich erwünscht. Teure Düfte werden nicht gebraucht. Dreck gewinnt an Bedeutung. Für viele Raubtiere scheint der stinkende Mensch eine normale Ergänzung zu sein. Komischer Traum...

Textor dachte nicht weiter darüber nach, denn die Präsentation verlangte volle Aufmerksamkeit. Er hatte seinen ganzen Ehrgeiz auf eine dem zu erwartenden Honorar adäquate Konzeption gesetzt – mit noch niemals publik gewordenen Ideen und Umsetzungen! Zwei Jahrzehnte Erfahrung machten ihn da sicher. Textor war jetzt etwas über vierzig, er wollte es noch einmal allen beweisen. Imaginiert konzipiert lief er tagelang durch die Gegend, um letztlich doch keine zwischenmenschliche Antwort auf die Frage zu finden: Wem wollte er was beweisen? Es gab niemanden. Daran änderte auch nicht der Termin in Zürich, der für ihn zwar noch einen geschäftlichen Baustein darstellte, den er aber seit der Ideenfindung als Das-geht-seinen-Gang innerlich bereits erfolgreich abgehakt hatte. Sollte heißen: Er fand sich so gut wie immer, konzeptionell unschlagbar, jedoch als Mensch nicht ausgeglichen. Obwohl er mit Ildiko eine gescheite, adrette Frau hatte, war er immer auf der Suche nach Glück, um das Vakuum von fortpflanzungsmäßiger Nutzlosigkeit und durch Hormone angetriebene zeugungsfähige Nützlichkeit zu versuchen auszufüllen. So begann der Konzeptionist fast jeden Tag mit einem He-Till-wach´-auf-zu-neuem-Leben! Also auf nach Zürich!

Tillmann Textor wollte eigentlich mit dem Auto in die Schweiz fahren, einen Tag vor der Präsentation, gemütlich Quartier machen, sich vorbereiten. Doch da kam Hagenbächlis Anruf. Die Präsentation musste schon am Dienstag stattfinden. Der Tobacco-Präsident höchstpersönlich hatte sich angekündigt. Also Flieger. Wie Textor das freute. Denn das bereits bezahlte Ticket war besser als selber tanken und vor allem selber fahren mit all den Zeitgenossen auf den gleichen Fahrbahnen, die seinen Porsche-Verschnitt nicht akzeptierten – aus Unkenntnis oder nach dem Prinzip: Die Straße gehört allen und Mein-Klein-Wagen hat die gleiche Vorfahrt, wenn er von rechts nach links die Fahrspur wechselt, weil ein Lastkraftwagen vor ihm fünf Sachen langsamer fährt als der eigene Schwung fordert, um nicht vom Gas gehen oder gar abbremsen zu müssen. Egal, ob der heran bretternde Textor dafür in den Eisen steht.

Irgendwann in ferner Zukunft werden die Menschen darüber lachen oder sich nur wundern über dieses Stink-Motor-Zeitalter, in dem sich ihre Vorfahren mittels Lenkrad und Pedal ohne Unterschied ob Schwerlaster mit oder ohne Anhänger, kleiner Transporter, Bus, Van, Geländewagen, Wohnwagen, Zwölf-, Acht- oder -Sechszylinder-Limousine, Coupé Cabrio, Mittelklasseauto, Kleinwagen, Motorrad alle auf ein und derselben Trasse gleichzeitig vorwärts kämpften, teils todesmutig bei strömendem Regen, Nebel oder Eis und Schnee, bei Tag und Nacht. Nur im Vertrauen darauf, dass jeder die Regeln einhält, die ihn zur aktiven Teilnahme an diesem Nahkampf namens Autobahnverkehr befähigen, während die passiven Teilnehmer beim Verkehr sogar schlafen können, wenn sie können. Dann lieber Fliegen!

Ergo einchecken am Frankfurter Flughafen mit dem zwiespältigen Gefühl einerseits der Autobahn-Nahkampfzone entronnen zu sein, aber mit der Entmündigung belastet, nicht mehr sein eigener Herr im eigenen Cockpit zu sein, sondern dirigiert zu werden von Menschen deren körperlicher und geistiger Gefühlszustand gänzlich unbekannt war. Könnte ja sein, dass die zwischenmenschliche Probleme haben oder gar in einem letzten depressiven Showdown ein ganzes Flugzeug samt Inhalt als donnernden Bühnenabgang benutzen, wer weiß...He Till, vergiss es, ermahnte er sich, du hast doch keine Flugangst! Überhaupt nicht! Du bist schon so oft geflogen und immer wieder heil gelandet worden. Und so geschah es natürlich wieder. Weil Fliegen eine natürliche Sache ist.

Der Dienstag war der letzte Tag im Oktober. Die Landung in Zürich-Kloten verlief trotz aller Bedenken, die eigentlich keine waren, wie gewohnt glatt. Ungewohnt war, dass der morgendliche Halbschlaf schon wieder ausfiel. Bereits um neun Uhr musste Textor einchecken, um Punkt elf in Zürich zu sein. Hagenbächli holte ihn am Flughafen ab. Der Himmel war leicht bewölkt, die Temperatur lag bei vierzehn Grad. Angenehm, dachte Textor, auf jeden Fall besser als der Hochnebel, der über Frankfurt herrschte.

Sie fuhren mit dem Taxi erst in ein pompöses Hotel an der Limmat, in dem laut Hagenbächli auch der Tobacco-Präsident gastierte. Textor checkte kurz ein, dann ging es weiter in ein Gewerbegebiet im Norden von Zürich. Wie eine Marionette, die ihn da und dorthin bugsierte, folgte Textor seinem Strippenzieher Hagenbächli. Egal, der Konzeptionist war total auf die anstehende Präsentation konzentriert und ließ sich bereitwillig führen. Nur einmal stutzte er, als sie in einem Hochhaus auf ziemlich hoher Etage direkt nach dem Schnelllift die Empfangshalle eines international bekannten Kosmetikkonzerns im Eiltempo passierten. Sie wurden sozusagen durchgewinkt. Textor sah im Vorbeigehen diverse Fläschchen und Tuben in einer Vitrine an der Empfangstheke und wunderte sich, was Kosmetik und Tabak wohl gemeinsam hätten.

Derweil führte Hagenbächli Textor in einen abgedunkelten Konferenzraum, deutete auf ein Rednerpult mit Overheadprojektor samt Leinwand im Hintergrund und sagte nur:

„Ich werde Sie nachher, falls notwendig, mit den Anwesenden bekannt machen.“

Textor ahnte, was das bedeutete. Würde seine Konzeption nicht verabschiedet, ergo genehmigt, würde er weder dem Tobacco-Präsidenten noch den Marketingdirektoren der anderen Tabak-Konzerne vorgestellt werden. Würde hin, würde her …er hasste Konjunktive, er war momentan so von sich überzeugt, dass er nur im Indikativ dachte. Entsprechend legte er sofort mit einem kurzen „Hallo“ los.

„Wir wissen, wo wir stehen und wie wir stehen, deshalb kurz und schmerzlos, die folgenden Statistiken gehören zu jeder Konzeption, das heißt zur anfänglichen Vertiefung.“

Er wartete auf keinerlei Reaktion und hakte die Folien Ausgangsbasis und Situationsanalyse ziemlich schnell im angenommenen Einvernehmen mit den Anwesenden ab, denn jeder hier kannte die Situation der Tabakindustrie in Folge des sinkenden Zigarettenverbrauchs in- und auswendig.

Textor zitierte dann ein paar Meinungsbildner in speziellen Interviews sowie generelle Entwicklungen in der Weltbevölkerung zum Zigarettenrauchen. Daraus formulierte er folgende Positionierung:

„Das Zigarettenrauchen sollte entgegen dem negativen Trend künftig als unverzichtbarer Bestandteil des weltweiten Genusskonsums gesehen werden. Jeder Mensch kann schließlich selbst entscheiden, was ihm Spaß macht, was er braucht.“ Kann er das? Textor traute seinen eigenen Worten nicht, aber es kam keine Widerrede.

„Die Politik zeigt uns als Krankmacher und Todbringer. Aber gilt das nicht auch für Alkohol und Zucker?! Unsere Aufgabenstellung ist es deshalb einzig und allein, ein neues Image, ein neues Erscheinungsbild für das Zigarettenrauchen zu kreieren.“

Eine entsprechende Folie untermauerte diesen Anspruch. Dann kam Textor zur neuen Strategie, die von allen mit Spannung erwartet wurde.

„Aus der Positionierung, also wie wir im Markt gesehen werden möchten, und aus der Aufgabenstellung, die ein neues Image verlangt, ergibt sich folgerichtig die Strategie, dass wir weg von dem alten Image müssen, weg von Freiheit und Abenteuer.“

Textor machte eine Kunstpause, um seiner neuen Strategie, die ebenso eingängig und einzigartig wie die alte sein musste, die notwendige Gewichtung zu verleihen. Außerdem nahm er an, dass seine Rede simultan übersetzt wurde und wollte dem Dolmetscher etwas Zeit geben.

„Als neue Strategie empfehle ich, das Image des Zigarettenrauchens in Richtung Sportlichkeit im Sinn einer fairen Auseinandersetzung darzustellen, die sich letztendlich nicht nur mit sportlichem Flair umgibt, sondern sogar zu einer Sportart entwickelt werden kann, ja sollte.“

Textor hielt inne. Dieser bedeutungsschwere Satz musste verdaut werden.

„Deshalb schlage ich vor, das Zigarettenrauchen als Wettkampf zu etablieren, wie zum Beispiel das Ringen oder Boxen, wenn möglich sogar wie Handball oder Fußball, von der untersten Kreisklasse bis zur höchsten Liga. Und da braucht mir kein Journalist mit dem Ruf zu kommen: Gesundheitsgefährdung! Ich möchte nicht wissen, wie viele Box- und Hand- und Fußball-Invaliden es weltweit gibt.“

Textor fühlte sich jetzt Spitze und kostete das sichtlich aus. Man muss nicht nur dem Dolmetscher, sondern auch den Managern Zeit zum Kapieren geben. Das kannte er aus vielen Präsentationen. Deshalb malte er Kringel um die jeweiligen Stichpunkte auf der Folie und fuhr er erst nach einer halben Minute fort.

„Ich gehe sogar soweit, vorherzusagen, dass wir je nach Werbeeinsatz und Öffentlichkeitsarbeit schon bald nationale und auch internationale Meisterschaften der Zigarettenraucher haben werden.“

Eine neue Folie verstärkte das Gesagte.

„Es wird zum Beispiel Deutsche Meisterschaften, Europameisterschaften und bestimmt auch Weltmeisterschaften geben!“

Textor machte jetzt keine Pause mehr; denn erfahrungsgemäß hatte er bis auf das zentrale Motiv mit den Slogans alles Wichtige bereits gesagt, und man sollte den Zuhörern jetzt keine Zeit zum eigenständigen Nachdenken geben, um keinerlei Zweifel an der Strategie aufkommen zu lassen.

Deshalb wurde nun die weitere Konzeption zur Umsetzung der Strategie sofort angehängt.

„Die Textmaximen zur neuen Strategie heißen Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, Selbstfindung, Selbstbestimmung, Selbstwertgefühl, mentale Stärke, Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Contenance,

Überlegenheit, Kampfgeist, Einsatzwillen und Zielstrebigkeit.“

Die Gestaltungsmaximen definierte Textor von modern sportlich über identitätsvermittelnd bis zukunftsorientiert und siegreich. Auf einen Blick einprägend und nachvollziehbar. Mit einem Seitenhieb auf vorherige Werbekampagnen unterstrich er den Begriff Identitätsvermittlung.

„Kaum eine Zielgruppe kann sich mit einem Abenteurer oder Cowboy identifizieren, aber in einen sportlichen Sieger können sich alle, Männer wie Frauen, hineinversetzen.“

Als Höhepunkt präsentierte Textor dann die kreative Umsetzung der Strategie in Wort und Bild sowie deren Kombination zum zentralen Motiv.

„S m o K i n g“, rief er und zeigte die Grafik eines rauchenden Mannes. Ganz in schwarz-weiß. Euphorisch wiederholte er:

„S m o K i n g ! Achten Sie bitte auf die Schreibweise! K i n g mit großem K!“

Dazu proklamierte er folgende Slogans:

„SmoKing – Du bist der King!“

„SmoKing – Feel the King!“

Natürlich wusste Textor, dass die Slogans keiner grammatikalischen Prüfung standhielten, aber das Ungewöhnliche, vor allem wenn es nicht ganz richtig ist, hat nun mal den größten Erinnerungswert beziehungsweise Wiedererkennungswert. Hastig wechselte Textor die Folien.

„Als Untertitel zur Verdeutlichung empfehle ich folgende Aussagen.“ Er hielt einen Moment inne.

„SmoKing – Championsliga!“

„SmoKing – Meisterschaften!“

„SmoKing – Du kannst Meister werden!“

„SmoKing – Deutscher Meister!“

„SmoKing – Europameister !“

„SmoKing – Weltmeister! Alles ist möglich!“

Nach diesem Ausruf wechselte er die Stimmlage und die vorletzte Folie und fuhr ironisch lächelnd fort: „Und da ja unser Image als schwer krank anzusehen ist, muss es mit dieser Konzeption unbedingt kuriert werden, müssen wir es schnellstens operieren. Ich schlage deshalb vor, die daraus folgende Kampagne intern als >Operation SmoKing< zu bezeichnen.“

Damit war das Wichtigste gesagt. Schwer atmend starrte Textor ins Halbdunkel, wartete vor allem auf die Reaktion eines Kopfes mit Kopfhörer, den er als den des Tobacco-Präsidenten einstufte.

Hagenbächli reagierte zuerst. Mit wohl dosiertem Beifall, totale Akzeptanz vermittelnd. Die anderen schlossen sich teils an oder nickten nur, aber das reichte. Textor war auf der Siegerstraße. Er holte ein zweites Bündel Folien aus dem Koffer. Es folgte die layoutmäßige Umsetzung des zentralen Motivs in Einsatzmittel wie Plakate im Posterstil, Testimonial- und Teaser-Anzeigen, Flyer, Autoaufkleber und Buttons.

Dem Ausschreibungsprospekt für die Wettkämpfe mit den Teilnahmebedingungen, beginnend auf lokaler Ebene, dem Terminplan und den Datenschutzbestimmungen widmete er sich etwas länger, hauptsächlich um die juristische Bedeutung zu betonen, wobei Hagenbächli eifrig Zustimmung signalisierte. Kernsatz: Jeder Raucher nimmt auf eigenes Risiko teil, Mindestalter 21 Jahre. Eventuelle

Schadenansprüche sind kategorisch ausgeschlossen.

Textor stellte dann noch die für einen reibungslosen Wettkampfablauf notwendigen Ausweise, Tickets, Ergebnislisten, Urkunden, Medaillen und die mögliche Ausstattung einer Wettkampfhalle vor. Nur die von ihm grob geplanten Preisgelder erregten spontanen Widerspruch aus dem Halbdunkel. Sie waren zu niedrig angesetzt. Textor korrigierte sofort nach oben. Er spürte förmlich wie die andere Seite Feuer gefangen hatte.

Er präsentierte nun wie ein Internetauftritt, eine Homepage und Downloads für >SmoKing< aussehen könnten. Selbst Außenwerbung wie Banner, Tafeln Flaggen, Fahnen, Reiter, Türme, Banden und Fahrzeugbeschriftung wurden layoutmäßig lebendig. Auch eine eigene Wettkampf-Zeitung zog Textor in Erwägung, da keine positive Berichterstattung in den unabhängigen Medien zu erwarten war, weil er sich Berichte auf Sportseiten sowie in Funk- und TV schlecht vorstellen konnte. Aber da gab es zum Glück noch den von ihm schon oft praktizierten PR-Media-Mix, der nichts anderes bedeutete als eine Hand wäscht die andere. Soll heißen: Das Medium, das positiv oder wenigstens neutral berichtet, wird beispielsweise bei der Schaltung von großformatigen Anzeigen oder Spots bevorzugt. Dabei muss es nicht um Zigarettenwerbung handeln, es könnten ja auch Kosmetikartikel sein, wozu ist am schließlich auch an anderen Konzernen beteiligt, oder?! Rein theoretisch dachte Textor diese Möglichkeiten der Beeinflussung an, ohne sie breit auszuführen. Denn diese Idee war erst am Gären, seit er sich bewusst wurde, im Konferenzraum eines Kosmetik-Konzerns

zu sein.

Der Finanzplan zum Schluss interessierte niemand mehr. Auch die Art der Erfassung und Auswertung der Konzeption, respektive eine Erfolgskontrolle waren wohl zweitrangig. Alles verabschiedet, war demnach alles genehmigt. Den noch angehängten Ausblick mit der Empfehlung einer jährlichen Überprüfung hätte Textor sich schenken können. Keiner hörte mehr zu, endlich ging das Licht an, das heißt, es wurde hell, weil sich die Jalousien öffneten.

Hagenbächli stand sofort auf und gratulierte Textor zu der gelungenen Präsentation. Der nahm kurz befreit lächelnd an, schaute dann aber in die nun erhellte Runde, um die Reaktionen des Tobacco-Präsidenten und seiner Manager zu erfassen. Er sah in die Gesichter, konnte jedoch keinen Kopf eindeutig als den des Präsidenten identifizieren. Zu sehen waren lauter grau melierte Instanzen. Erst als einer langsam den Kopfhörer abstreifte und die anderen folgten, vermutete Textor diesen als Präsidenten und wusste sich bald bestätigt. Denn der Erstere erhob sich und applaudierte kurz, die anderen folgten mit lang andauernder Zustimmung. Jetzt war Textors Glück vollkommen. Sie hatten die Strategie akzeptiert, dem Zigarettenrauchen ein sportliches Image zu verleihen, auch als Assoziation zu anderen gefährlichen Sportarten wie Boxen, Fußball und Reiten mit allen Kategorien bis hin zu Weltmeisterschaften. Genug Anschubkapital war ja da, damit sich daraus ein Sog entwickeln konnte, dessen Strömung Millionen Menschen mitreißen könnte. Aber auch mit Protesten musste gerechnet werden. Dafür hatte sich Textor einen besonderen Plan zurechtgelegt. Eine Gegenarmee! Finanziert durch die Zigarettenindustrie. Doch das behielt er noch im Kopf.

Hagenbächli ging nun mit Textor zum Tobacco-Präsidenten. Kurze Vorstellung.

„Welschhead“, entgegnete dieser und klopfte Textor anerkennend auf die Schulter. Auch die anderen Manager äußerten sich lobend. Textor hasste die Händeschüttelei, doch sie war nicht zu umgehen.

Beim anschließenden, obligatorischen Arbeitsessen in der Züricher Altstadt, genauer gesagt in der Oepfel-Chammer am Rindermarkt, die Hagenbächli recht angeheitert immer wieder mit Gottfried Keller in Verbindung brachte, wobei das Arbeitsessen mehr ein Arbeitstrinken war, musste Textor noch einige Hände mehr schütteln, vergaß aber die dazu gehörigen Namen sofort. Eine Welle der Euphorie trug ihn bis ins Hotel, das heißt in die Hotelbar, in der er sich mit dem Tobacco-Präsidenten und Hagenbächli als wohl krönenden Abschluss des Tages zwangsläufig in einer Whiskey-Dreierrunde befand.

Sie hatten die Hotelbar allein für sich. Der Barkeeper hantierte diskret im Hintergrund, wohl wissend, was er dem amerikanischen Stammgast und dessen Gästen servieren musste, einen sehr raren Bourbon aus Kentucky, doppelt pur, das war seit Jahren Ritual.

Nach dem ersten Schlucken oder Schlürfen, je nach Trinkgewohnheit, begann die Konversation wie von selbst. Mit gelöster Zunge, von Hagenbächli frei übersetzt, dozierte Welschhead:

„Wir haben ein Produkt, das gefährlich ist, das süchtig macht und irgendwann krank. Aber es macht auch Spaß, schmeckt, beruhigt, fördert das Selbstbewusstsein und die Konzentration. Das kann man nicht weltweit verbieten. Auch, wenn sich viele eine Prohibition wünschten.“

Alle nickten.

Hagenbächli toastete Textor zu:

“Ich finde es einfach eine super Idee das Rauchen als Sportart zu betrachten und mit lokalen Wettkämpfen zu beginnen. Ich bin sehr gespannt, was sich daraus entwickeln wird. Ich höre schon die Protestler marschieren.“

„Das ist erwünscht, denn dadurch werden die Medien auf >SmoKing< aufmerksam, das öffentliche Interesse steigt, die Massen werden mobilisiert. Denn jede Berichterstattung ist Meinungsbildung, multipliziert die Meinung. Der eine liest sie, der andere hört oder sieht sie, alle geben sie weiter. Somit ist selbst jede Schlagzeile gegen >SmoKing< besser als gar keine, besonders bei einem Produkt, das schon einen sehr schlechten Ruf hat,“ erwiderte der Konzeptionist.

„Ah, ja, ich verstehe, minus mal minus gibt plus. Darauf noch eine Runde, oder?!“

Welschhead schaute fragend und winkte dem Barkeeper, ohne die Reaktionen der anderen abzuwarten. Ganz belanglos fügte der Anwalt hinzu:

„Schon gehört, seit neuestem gibt es günstigere Hypotheken für Nichtraucher.“

Textor meinte nur:

„Irgendwie logisch...“

Unvermittelt wandte sich Hagenbächli direkt an Textor:

„Erzählen Sie doch mal, wie Sie auf dies konzeptionelle Grundidee gekommen sind, das ist doch kein Geheimnis, oder?!“

Textor rollte bejahend die Augen, hegte aber nicht die Absicht, sich konkret zu äußern, sondern plauderte vor sich hin:

„So viel ich über mich weiß, habe ich schon immer versucht, das Denken und Handeln anderer Menschen zu verstehen, nachzuempfinden oder gar vorauszuahnen, wie es werden könnte, wie ich es gern hätte, ohne dass man die Manipulation merken würde. Es bereitet mir einfach Spaß, vom Leben vorgefertigte Figuren, ich meine, geprägte Typen, konzeptionell einzufangen, zu steuern. Und wenn es dann wirklich so geschehen konnte, wenigstens zum Teil, dann freute und freue ich mich riesig. “

„Und weiter?“

Die anderen drängten Textor. Er wurde nun doch konkret:

„Im vorliegenden Fall hatte und habe ich eine Vision mit dem Ziel, Zigarettenraucher als bedrohte Art, als bedrohte Spezies darzustellen, die vor Übergriffen, ergo Dezimierung geschützt werden muss. Dazu war es notwendig, den mächtigen Angreifer aufzubauen, soll heißen zu finanzieren.“

Auf einmal redete man über eine mögliche Anschub-Finanzierung und darüber, dass man damit alles erreichen kann, wenn die Konzeption gut und die Summe hoch genug ist. Denn mit kleinen Steinen kann man vielleicht eine Lawine auslösen, aber kein negatives Image in ein positives verwandeln.

Daraufhin sagte Textor bedächtig:

„Kaum ein mir geläufiger Diktator kam ohne Anschub-Finanzierung an die Macht. Es sei denn, er wurde in eine Diktatoren-Dynastie hinein geboren und war schon als Kind für die Nachfolge bestimmt worden.“

Noch während Hagenbächli dolmetschte, sahen die beiden anderen plötzlich den Konzeptionisten an, als hätte er ein Unwort von sich gegeben: Diktator!

Textor begründete seine Überlegungen sofort:

„Nur wenn sich die konzeptionellen Ziele überhaupt nicht durchsetzen ließen würden, käme sozusagen als letzte Möglichkeit ein Diktator in Frage, einer der die Raucher gnadenlos verfolgte, damit diese Menschen irgendwann eine Art nationalen, vielleicht sogar internationalen Verfolgungsschutz erhalten würden, eine weltweite Raucher-Sicherheit.“

Jetzt hatten sie verstanden, jetzt fingen sie wieder Feuer. Hagenbächli nickte zustimmend. Textor fuhr fort:

„Dabei dürfen wir uns nicht scheuen, wie ein Schäfer zu handeln, der auf der Flucht vor den Wölfen ist. Er muss, wenn es nötig wird, einen Teil der Herde opfern, um die Besten zu retten, bis er einen Pferch erreicht hat, oder?!“

Hagenbächli übersetzte dies dem Tobacco-Präsidenten. Der erwiderte sinngemäß, man müsse Raucher unangreifbar machen, in aller Welt. Tatsächlich so wie eine bedrohte Rasse. Wenn es sein müsse, sollten wir nicht davor zurückschrecken, ein Exempel zu statuieren, zu lancieren, das große Opfer erfordere.

Hagenbächli schloss an, man solle dazu den Gegner, zum Täter aufzuhetzen, anzustacheln, zu später unentschuldbarem Handeln zu bringen, damit er für alle Zeiten am Pranger der Weltgeschichte stünde.

„Eine letzte Runde, okay?!“

Wie zuvor wartete der Tobacco-Präsident keine Reaktion ab und orderte sofort.

Die drei hatten sich unmerklich in Rage geredet. Nun sahen sie sich irgendwie betroffen an. Mit glühenden Köpfen. Welschhead beschwichtigte:

„Sure, the sky is the limit.“

Hagenbächli meinte nur:

„Ganz sicher ist, dass wir von Anfang an mit sehr massiven Demonstrationen rechnen müssen, oder?!“

Er sah fragend hoch. Textor konterte:

„Ich werde in die Reihen des Gegners bezahlte Leute einschleusen, werde die Gegenbewegung damit unterwandern lassen und dabei so steuern, dass genug Randale entsteht. Denn ganz friedliche Proteste können wir auch nicht gebrauchen. Gewalt muss schon vorherrschen.“

Textor leerte sein Glas und fuhr fort: „ Wenn es bei jedem Protest gegen unsere Operation >SmoKing< einige Verletzte gibt, wird das die Berichterstattung optimieren. Negative Schlagzeilen verkaufen sich eben besser. Und irgendwann wird sich das Blatt wenden. Dann wird sich die öffentliche Meinung auf die Seite der unterdrückten, verfolgten Raucher schlagen."

Oder auch nicht, dachte Hagenbächli und sagte: „Hoffentlich!“, während Welschhead etwas murmelte, das sich anhörte wie:

„Let him do it“.

Er hatte wohl großes Vertrauen zu Textor gefasst.

Am nächsten Tag war der erste November, aber überhaupt kein Novemberwetter. Ein Hoch über Mitteleuropa ließ auch in der Zentralschweiz die Sonne scheinen. Gut gelaunt nahm Textor bei einem Kanzleitreffen weitere Glückwünsche entgegen. Hagenbächli hatte schon im Vorgriff ein Team zusammengestellt, das nun sogleich unter seiner Führung loslegen konnte: Zwei adrette, junge Mitarbeiterinnen waren für die Koordination mit dem verbündeten Kosmetikkonzerns und seiner Public Relations-Abteilung zuständig und mussten kontrollieren, ob die Konzeption planmäßig realisiert wurde. Sie hatten gerade ihre Ausbildungen zur Rechtsgehilfin abgeschlossen und nur von Paragrafen eine Ahnung. Hagenbächli schien das gut so. Denn für diese Arbeit konnte er keine Leute gebrauchen, die sich womöglich Gedanken über die ethischen Aspekte der Kampagne machten.

Textors konzeptioneller Part war bis auf ein paar Kleinigkeiten erledigt. In Gedanken widmete er sich schon seiner Rolle als Manipulator der gegnerischen Demonstranten, damit vom Anfang richtig Dampf gemacht wurde. Die Rolle gefiel ihm, obwohl er eigentlich Gewalt hasste. Aber er war ein zu guter PR-Stratege, um nicht zu wissen, dass sie notwendig war. Er wollte zwar noch einmal mit Welschhead darüber diskutieren, aber der war schon zurück in die Staaten geflogen, so dass auch Textor nichts mehr in Zürich hielt.

Die Kampagne >SmoKing< wurde ein halbes Jahr später gestartet, großformatig beworben und durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit, also durch Beeinflussung der Meinungsbildner sprich Medien, in viele Munde gebracht – vor allem gegen >SmoKing<, aber das war ja gewollt, Hauptsache Berichterstattung. Immer gemäß der Strategie: Ein Meister der Zigarettenraucher wird sich schon finden, doch als es den ersten gab, fand Textor den Namen gar nicht so lustig: Ernst Totlacher hieß der erste Frankfurter Stadtteilmeister, der dann auch Hessenmeister wurde. Er kam aus Frankfurt-Höchst, wo es mit und ohne Wind fast täglich nach Chemie stank. Textor hoffte nur, dass dieser Name nicht überregional weiterkommen würde, denn so ein Name war marketingmäßig nicht gut zu gebrauchen. Einen Allerweltsnamen wie Horst Meier hätte er besser gefunden. Doch das war nicht das Einzige, was Textor konzeptionell nicht beeinflussen konnte. Aber immerhin sah Totlacher gut aus, was wiederum gut für die Vermarktung war, aber viel zu gut, um ihn als Rivalen zu haben, doch an so was dachte Textor nicht. Denn die Figur des Raucher-Champions reflektierte für ihn eine unpersönliche Fiktion seiner Konzeption wie bei allen anderen Figuren, die er bisher erfunden hatte. Dachte er.

Der Konzeptionist

Подняться наверх