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Dieter Wahl
Mein Walk of Fame
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Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame Peter Ustinov wurde berühmt als Oscar-dekoriertes Multitalent,
Entertainer und Leinwand-Detektiv Poirot Vorsichtig kurve ich den Chaillot-Hügel an den Trocadéro-Gärten hinauf, obwohl hier im tiefen Pariser Herbst weder überfrorene Straßen noch Schneekrümel lauern. Aber ich will in der leichten morgendlichen Nebelsuppe an den Uferterrassen der Seine und auf ihrem raureifglitschigen Pflaster nichts riskieren. Denn das Rendezvous, dem wir entgegenfahren, ist mir heilig. Im Kofferraum hat Kameramann Eberhard Güldner unser Filmequipment verstaut mit jeglicher Art von technischem Zubehör, obwohl wir nicht wie gewöhnlich 500 Kilometer nach Genf oder Straßburg oder 300 Kilometer nach Brüssel brettern. Im Gegenteil, von unserem Korrespondentenbüro im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt bis hierher zum Palais de Chaillot gegenüber dem Eiffelturm ist es ein Katzensprung. Aber Eberhard hat das gesamte Arsenal an Produktionsutensilien eingepackt, um auf alles vorbereitet zu sein. Denn die Gelegenheit zu diesem Prominententreff ist zu einmalig. Auch meine Frau Marion ist mit von der Partie, um sich um Ton, Licht und Fotos zu kümmern. Ich kann es immer noch nicht so recht glauben, dass wir ihn in wenigen Minuten treffen sollen. Aber Peter Ustinov hat es mir fernmündlich hoch und heilig versprochen, nachdem ich ihn mit telefonischer Ausdauer ein gutes halbes Jahr kreuz und quer durch Europa verfolgt habe. Nun also soll das Interview mit ihm am heutigen Montagvormittag, dem 20. Oktober 1986, Realität werden. Vereinbart ist 10 Uhr. Noch bleiben 20 Minuten, was reichen müsste, wenn wir hoffentlich schnell eine Parkmöglichkeit finden. Von der Unrast des Suchens und dem Glück des Findens Gottlob sind die alles überschwemmenden Touristenströme des Sommers weitgehend versiegt und plätschern nur noch in verhaltener Gruppenstärke dahin. Ich erblicke nur noch vereinzelte regenschirmschwingende Fremdenführer an den imposanten architektonischen Besuchermagneten mehrerer Pariser Weltausstellungen. Für sie entstand auch hier oben 1878 das Trocadéro-Palais, das dann für eine weitere Weltausstellung 1937 zum Palais de Chaillot umgebaut wurde. Die Freifläche zwischen den beiden Seitenpavillons ermöglicht einen atemberaubenden Panoramablick hinunter zu der an einer Seine-Schleife 324 Meter in den Himmel strebenden Stahlpyramide des Eiffelturms, hochgezogen zur Weltausstellung 1889. In einem der beiden Museen des Chaillot hat der französische Historiker Henri Langlois 5000 geschichtsträchtige Filmraritäten zusammengetragen und damit einen einmaligen Fundus der Kinematografie geschaffen. Vom Drachen aus dem Nibelungenstreifen eines Fritz Lang über das Kettenhemd Iwans des Schrecklichen aus dem Zweiteiler Eisensteins bis zu Requisiten von Agatha Christies schrulligem belgischem Detektiv Hercule Poirot, dem Peter Ustinov zu bleibender Leinwand-Berühmtheit verhalf. Nicht minder überzeugend gebärdete er sich als verrückter Kaiser Nero im Monumentalstreifen „Quo vadis“. Dafür wurde er als „Bester Nebendarsteller“ für den Oscar nominiert, bekam ihn aber nicht. Dafür erhielt er den begehrten Academy Award gleich in doppelter Ausführung für seine genial gespielten Charakterrollen in zwei anderen Hollywood-Produktionen – zum einen als sadistischer Sklavenhändler in Stanley Kubricks Historien-Epos „Spartacus“ und zum anderen als Kleinkrimineller in Jules Dassins Agenten-Komödie „Topkapi“. Ustinov, der weltgewandte Grandseigneur der Unterhaltungskunst in all ihren Facetten. Ein Virtuose der Wandlungsfähigkeit, dessen breite Palette er in jede Richtung mit Glaubwürdigkeit ausgefüllt hat – ob als scharfsinniger Polizist, trotteliger Ganove oder mörderischer Imperator. Das geht mir durch den Kopf und nötigt mir nochmals gehörigen Respekt ab, während ich den „Audi 100“ in eine Parklücke der Avenue Georges Mandel einrangiere und den Automaten füttere. Es ist Viertel vor zehn. Zur vollen Stunde erwartet er uns hier auf dem herbstblättrig geschmückten nebelfeuchten Platz über den Dächern von Paris. Dunst, der vom Fluss weiter unten in seidenzarten Schleiern heraufweht und sich in hauchdünner Bescheidenheit aufs Pflaster legt. Sollte der Treff missglücken, hätte das keine redaktionellen Folgen. Es ist kein geforderter Pflichttermin, sondern eine hausgemachte Kür. Denn zum knallharten täglichen Brot der Berichterstattung über die aktuelle Politik in unserem weiträumigen westeuropäischen Länderbereich hatte ich begonnen, mir und dem Fernsehpublikum einen selbst gestellten Auftrag zu erfüllen. Ich hatte mir eine Liste ausgeknobelt mit Namen hochkarätiger internationaler Persönlichkeiten, die ich aus der Welt von Kunst, Literatur, Politik, Film, Theater- und Showbühne verehre und näher kennenlernen und befragen wollte – nicht über den letzten Skandal oder die vorletzte Liebschaft. Nein, ich wollte ihre Intelligenz nicht durch Lappalien beleidigen, sondern ihre Meinung zu substanziellen Themen erfahren. Das machte den Reiz meiner Idee aus, deren Verwirklichung ich mir allerdings leichter vorgestellt hatte. Zugute kam mir dabei ein Bonus, den ich voll ausspielte: Als Mann des DDR-Fernsehens war ich inmitten der Westpresse ein Exot, auf den oft auch ein West-Prominenter neugierig war. Da traf Neugier auf Neugier. Anfangs griff ich mir aus meinem Wunschzettel diesen und jenen Kandidaten heraus, den ich glaubte, problemlos vor die Kamera zu bekommen, weil er unter demselben Himmel in Paris wohnte. Schnell aber dämmerte mir, dass ein Multigenie und Kosmopolit wie Peter Ustinov als Weltbürger in ganz Europa zu Hause ist und man ihm von Paris bis Genf hinterherrecherchieren muss. Das habe ich monatelang immer mal wieder getan, wenn Luftlöcher in der Arbeit es gestatteten. Ihn zu suchen, war eine strapaziöse Telefon-Odyssee – ihn gefunden zu haben, eine überreichliche Belohnung. Über zahlreiche Umwege hatte ich mir Ustinovs private Telefonnummer von seinem Haus in Bursins zwischen Genfer See und Jura-Gebirge besorgt. Damit begann eine wochenlange Durststrecke vergeblicher Versuche. Nach intensivem Schweigen ließ sich plötzlich die Stimme einer Haushälterin vernehmen und es entspann sich ein nerviger Dialog: „Herr Ustinov ist unterwegs.“ „Wo?“ „Diesmal in Europa.“ „Könnten Sie das bitte präzisieren?“ „Fragen Sie in seiner Filiale in Boulogne-Billancourt nach. Das ist bei Paris.“ Ich konnte es nicht fassen. Da horchte ich in aller Welt herum und direkt neben mir nur einige Straßen weiter saß sein Management. Wenigstens hatte ich seine Agentin auf Anhieb an der Strippe. Madame Coutourie hörte sich mein Begehr geduldig an und gab bereitwillig Auskunft: „Monsieur Ustinov ist derzeit in England.“ „In London?“ „Ja, in einem Hotel in London. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ Das war schon etwas Genaueres. Ich schöpfte wieder Mut. Nach weiteren Kreuz-und-quer-Recherchen in Ustinovs Freundeskreis kannte ich schließlich seine Bleibe in der Themse-Stadt. Pech: Der Weltenbummler hatte bereits das Hotelzimmer geräumt. Glück: Der beherzte Portier erwischte ihn noch in der Empfangshalle, wo ihn eine Gruppe von Autogrammjägern umzingelt und damit aufgehalten hatte. Ich bin ihnen dafür heute noch dankbar. Bange Warteminuten erschienen mir wie eine Ewigkeit, aber schließlich war er am Telefon. Endlich! Der Druck des Suchens wich dem Glück des Findens. Ja, es war die filmbekannte Stimme von Peter, dem Großen. Als ich mich als Deutscher oute, wechselt er mühelos vom tadellosen Englisch ins tadellose Deutsch. Statt Adresse ein Winksignal Meine von mir dramatisch ausgeschmückte Verfolgungsjagd auf seinen Spuren amüsierte ihn sichtlich. Das war auch spürbar am Tonfall, der in wohlwollender Modulation durch die Leitung drang. Ja, übermorgen sei er in Paris. „Ein Treffen und ein Interview fürs Ostfernsehen? Ein Novum! Warum nicht?“ „Wo und wann?“ „Kommen Sie gegen zehn zum Trocadéro-Platz, zu der kleinen leicht abschüssigen Straße links hinter dem Palais de Chaillot. Dort warte ich.“ „Welche Hausnummer, Herr Ustinov?“ „Ist nicht nötig. Ich schaue von der obersten Etage aus dem Fenster und winke mit meinem Schal.“ Ich glaubte mich verhört zu haben, fragte ungläubig und verdattert zurück: „Am Fenster?“ Ich spürte förmlich durch den Hörer, wie er die Situation genoss: „Ja, Sie sehen mich oben am Fenster. Ich werde winken.“ Damit verabschiedete er sich und ließ mich mit meiner Verblüffung allein. Auf die Minute genau erscheint er Punkt zehn im Obergeschoss eines unauffälligen Altpariser Reihenhauses im Fensterrahmen und wedelt mit einem Schal. Echt Ustinov! Das ist sein Auftritt! Wenn keine Bühne da ist, schafft er sie sich selbst. Gagverliebt, wie ihn alle beschreiben, die ihn erlebt haben. Wir nun auch. Ein Erzkomödiant mit fanatischem Sinn fürs Ausgefallene. Ein geistreicher Gaukler, der seine Zeit kritisch auslotet, ihre Krankheiten mit der Präzision eines Skalpells seziert und mit erbarmungsloser Satire geißelt. Ein Tänzer auf vielen Hochzeiten – und auf einem dünnen Seil über dem Abgrund, wenn er die Mächtigen dieser Welt für ihre Todsünden sowohl mit beißender Satire als auch mit beiläufigem Spott überzieht. Nie laut und polternd, sondern mit leisem, feinsinnigem Humor. Nie Hiebe mit der Axt oder dem Säbel, sondern Pikser mit der Nadel oder Stiche mit dem Florett. Dafür hasst ihn die Schar der Angegriffenen und liebt ihn der Rest der Welt. Ein kreativer Intellektueller und 14-facher Ehrendoktor, ausgestattet mit der Gabe des unverbesserlichen Optimismus. Sein Motto: „Humor ist einfach eine komische Art, ernst zu sein.“ Extrem ungewöhnlich ist er seit jeher, der Sohn eines deutschen Journalisten und einer französischen Malerin, der zudem noch russische und äthiopische Vorfahren hat. Er weiß selbst nicht so recht, was er eigentlich ist. Auf jeden Fall aber ein begnadeter Theater-, Film- und Selbstdarsteller, Regisseur und Schriftsteller, Maler und Karikaturist, Bühnenbildner, Entertainer und Alleinunterhalter, der sein Publikum mit geistreichen Pointen überschüttet. Sie sprudeln nur so aus ihm heraus, als wir zum Café Kleber am Rande des kopfsteingepflasterten Rondells schlendern. Er parliert mit uns in fließendem Deutsch, beherrscht aber mit derselben verbalen Leichtigkeit weitere sieben Sprachen: Englisch, Russisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch und Türkisch. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der stets bestens informierte Haudegen der alten Schule sich unterwegs an einem Kiosk mit Zeitungen aus aller Herren Länder eindeckt. Er ist 65 Jahre alt und Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Weißhaarig, gelbgemusterte Krawatte zum hellgrün gemuschelten Seidenschal, weißes Hemd unter dunklem dickwolligem Wintermantel. Ich vermisse das Presseklischee, er habe es immer eilig. Sollte es so sein, woran ich nicht zweifle, merkt man es ihm nicht an. Er ist die personifizierte freundliche Ruhe und Ausgeglichenheit eines Mannes, der mit sich selbst, seinem Leben, seinem Standpunkt und Stehvermögen im Reinen ist. Ein älterer Herr, der weiß, was er ist, kann und will, wenngleich er sich schon wieder zwischen zwei stressigen Terminen befindet. Neulich, so berichtet er, habe er in der kirgisischen Hauptstadt Frunse den kommunistischen Schriftsteller Tschingis Aitmatow besucht, der mit seiner verfilmten und vielfach übersetzten Erzählung „Djamila“ berühmt wurde. Später, in der Perestroika-Zeit, war er Berater Gorbatschows, letzter Botschafter für die Sowjetunion in Luxemburg und anschließend für Kirgisistan in Frankreich und den Beneluxtaaten. Vor unserem Treffen, so plaudert Ustinov in offener, unverblümter Art weiter, habe er in Washington einen Empfang von Ronald Reagan moderiert. Seine Miene wird verschmitzt. Er habe sich gewundert, dass der Präsident immer als Letzter über seine Witzeleien gelacht habe – bis er mitbekam, dass der Boss des Weißen Hauses wohl schwerhörig sei. Daraufhin habe er ihm sicherheitshalber die Pointen seiner Scherze noch einmal ins Ohr geflüstert. Der Anflug eines schelmischen Lächelns gleitet über sein Gesicht. Obwohl leichtes Frösteln in der Luft liegt, hat der Wirt vom Café Kleber noch Korbstühle draußen gelassen, wenngleich sie niemand benutzt – außer Peter Ustinov. Wir setzen uns zu ihm und laden ihn zu einem Espresso ein. Der Kellner verschwindet und erscheint mit einem Gästebuch und der Bitte nach einem Autogramm. Es wird gut drei Jahre später noch wertvoller werden, nachdem Frankreich Monsieur Ustinov mit der höchsten Würde beglückt, die einem Ausländer zuteilwerden kann. Die „Académie française der Schönen Künste“ nimmt den England-Schweizer Anfang 1989 in ihren erlesenen Kreis der „Unsterblichen“ auf. Das ist schon für einen Franzosen eine kaum vorstellbare Ehre, für einen Fremdling kommt es einer Heiligsprechung gleich. Und noch ein Jahr weiter wird Ustinovs Autogramm bestimmt glasgerahmt einen Ehrenplatz im Café Kléber erhalten, denn 1990 schlägt ihn Königin Elisabeth II. zum Ritter und adelt ihn mit dem Titel „Sir“. Ein vermisster Trabi Der künftige England-Adlige und Franzosen-Heilige hat seinen Zeitungsstapel mit sehr irdischer Bedächtigkeit auf einem Stuhl abgelegt und es sich in seinem flauschigen Mantel bequem gemacht. Während der Kellner dienstbeflissen den Kaffee bringt, macht Eberhard in gewohnter Professionalität die Kamera klar und drückt mir ein Mikrofon in die Hand. Unser Interview auf dem Plateau über den Ufern der Seine kann beginnen. Typisch Ustinov: Die erste Frage stellt er selbst: „Warum sind Sie nicht mit dem Trabi gekommen?“ Wieder ein Angriff aufs Zwerchfell. „Weil“, erkläre ich ihm, „weil der Trabant zwar ein rustikaler DDR-Volkswagen ist, der aber zu klein ist für die zentnerschwere Fracht von Kamera, Filmbüchsen, Tongeräten, Halogenbeleuchtung, Stativen und vielerlei anderem Zubehör, zumal er uns ja auch nochmitschleppen muss – und das bei Überlandfahrten quer durch Europa. Da ist die große Westkutsche Audi 100 schon geeigneter.“ Das leuchtet ihm ein, dem unsteten Weltreisenden, der selbst immer genug persönliches und berufliches Gepäck mit sich herumschleppt. „Trabant“-Kenner Ustinov vor dem Trocadéro-Café Kléber über den Dächern von Paris: „Ich bin ein Gratwanderer.“ Foto: Marion Wahl
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Mireille Mathieu eroberte als „Spatz von Avignon“ im rasanten
Höhenflug die Showbühnen rund um den Globus Dass sie mir einst ein kleines Privatkonzert gegeben hat, erscheint mir noch heute unwirklich. Und doch ist es wahr. Ebenso wahr wie eine erste ungewöhnliche Begegnung mit ihr. Sie pflanzte sich als Anekdote in meine Erinnerungen und schlägt einen weiten Bogen zu dem späteren persönlichen Ständchen, das mir die französische Primadonna des Schlagers in einem Pariser Fernsehstudio gab. Halten wir die Chronologie ein und wenden uns zunächst der vorausgegangenen Anekdote zu. Es war an der afrikanischen Atlantikküste. Im September 1970 hatte es mich journalisten-beruflich nach Guinea verschlagen. Ich wohnte am Rande der Hauptstadt Conakry in einem Hotel, das mit seinem gedrungenen Flachbau eher an einen großen Backstein-Bungalow erinnerte. Es war ein Nobelhaus im Vergleich zu den überaus bescheidenen Gebäuden, mit denen nur wenige hundert Meter weiter der ärmliche Arbeitervorort der Millionenmetropole begann. Einst war sie mit ihren feinsandigen Palmenstränden ein Mekka des internationalen Geldadels. Der verzog sich in profitablere Gefilde, nachdem der sozialismus-orientierte Ahmed Sékou Touré 1958 erster Präsident des unabhängigen Landes geworden war. Nachdem ich die quirlige City erkundet hatte, interessierte mich das Leben abseits der attraktiven Exotik der Hafenstadt. Also schlenderte ich nach getanem Tagewerk auf der Suche nach irgendeiner Form von Gastronomie durch den nahen Arbeitervorort und danach durch das ebenfalls peripher gelegene Armenviertel, dem weitläufigen Hinterhof der Stadt, auf dem sich ein Wellblechdach ans andere reihte. Ich durchschritt staubgraue Gassen mit zumeist heruntergekommenen Fassaden, mit Holperpflaster und langen Holzstützen, an denen ein chaotisches Gewirr von Stromkabeln baumelte. Ich fand weder ein Lokal noch eine imbissähnliche Straßentheke, passierte aber bei meinem Bummel in abendlicher Kühle einige kleine, schon geschlossene Verkaufsläden. Meine Aufmerksamkeit galt einem rissigen, arg verwitterten Schild mit dem handgemalten Schriftzug „Musik- und Souvenirshop“. Neugierig inspizierte ich die Auslagen hinter dem milchig-matten Glas eines Schaufensters und staunte über ihre bunte Vielfalt inmitten trister Ärmlichkeit. Angepriesen wurden vornehmlich traditionelle einheimische Musikinstrumente. Urige Trommeln, wie die sogenannten Bongas und Talking Drums, Rhythmusinstrumente wie das dem Xylofon ähnliche Balafon sowie Hörner und Flöten in verschiedenen Größen und Ausführungen, wie sie von den Hirten in afrikanischen Savannen gespielt wurden. Besonders angetan hatte es mir die souvenirtaugliche Miniaturausgabe eines Zupfinstruments mit hauchdünnen angelschnurartigen Saiten, die über einen geschnitzten Holzsteg gespannt waren und am fellüberzogenen Resonanzkörper einer halben Kokosnuss endeten. Dieser Verlockung einer optischen Erinnerung in der interessanten Form eines Banjos konnte ich nicht widerstehen, sodass ich mir vornahm, sie am nächsten Tag sofort nach Ladenöffnung zu kaufen – zusammen mit der Souvenirvariante einer ebenfalls reizvollen kleinen Buschtrommel, der traditionellen Djembé mit einem Naturholzkorpus. Das breite Angebot der Musikinstrumente hinter der schlierigen Scheibe wurde durch eine spärliche Kollektion von Schallplatten komplettiert. Zwischen die Singles-Scheiben mit afrikanischer Folklore hatte sich eine einsame Plattenhülle mit ausländischer Prägung verirrt. Unter dem Titel „Mon Crédo“ las ich die Zeile „Mireille Mathieu chante l’amour“. Natürlich war mir das auf dem Cover abgebildete sehr feminine Konterfei mit unverwechselbarer markanter Pagenfrisur, schwungvollen dunklen Augenbrauen und einem konturenstarken grellen Rotmund vertraut. Schließlich besaß ich eine Autogrammkarte von ihr und auf meinem „KB-100“-Tonband waren alle Songs verewigt, die ich bis dato über Radiowellen ergattern konnte – von „Hinter den Kulissen von Paris“ über „Martin“ bis „Das Wunder aller Wunder ist die Liebe“. Was mir fehlte, war ihr erster großer Hit „Mon Crédo“, den ich nun im Tonrillen-Format in der afrikanischen Abgeschiedenheit einer verwahrlosten, slumähnlichen Gegend an der Peripherie von Conakry entdeckte. Die Platte würde – so kam mir in den Sinn – in meinem Mathieu-Archiv die Sammlung von Vinyl-Scheiben ergänzen, die beim DDR-Label „Amiga“ erschienen waren. Ich musste sie haben, nahm mir vor, sie anderentags zu kaufen. Zudem wäre sie das Pendant zu einer Originalität, die ich durch eine ebenso ungewöhnliche Quelle erstanden hatte. In meiner Moskauer Korrespondentenzeit hatte ich immer mal wieder einen exzellenten „Gramplastinki“-Musikladen auf dem Kalinin-Prospekt frequentiert, um in einem erstaunlich weltoffenen Fundus von aktuellen Platten-Schätzen der Pop- und Schlagerszene zu kramen. Dort entdeckte ich auch eine LP mit dem Titel „Merveilleuse Mireille“ – „Wunderbare Mireille“, herausgebracht von der sowjetischen Plattenfirma „Melodija“ als Gestattungsproduktion von „Ariola“. Eine wertvolle Bereicherung, denn die meisten Songs darauf kannte ich nicht. Nun also die Chance, die nächste Rarität zu ergattern und damit eine weitere Lücke im Mathieu-Fundus zu schließen. Als ich am nächsten Tag im Musikladen auftauchte, konnte ich zwar die begehrten Afrika-Variationen von Trommel und Banjo mitnehmen, nicht aber die „Crédo“-Platte. Sie war weg. Ein anderer Käufer war schneller. Und das war auch kein Wunder, denn das Schaufenster-Exemplar war zugleich auch das einzige. Als schlagerverrückter Tonbandnarr hatte ich die Französin mit ihrer glockenhellen Stimme von Anfang an in das Beuteschema meiner Schlagerstars eingereiht, deren Songs ich möglichst lückenlos besitzen wollte. Ich habe noch lange nach meiner Teenagerzeit die gängigsten Schlagersendungen in Ost und West verfolgt und Glanznummern auf Tonband und später Kassette festgehalten – ob in UKW-Qualität bei der montäglichen „Schlagerrevue“ von Radio DDR mit Heinz Quermann oder mit schwankender Kurzwelle bei der Samstag-„Hitparade“ von Radio Luxemburg mit Camillo Felgen. Das war für mich bedenkenlose friedliche Koexistenz im Äther. Alles, was ich zudem an Informationen über meine Stars erfahren konnte, wurde notiert oder abgeheftet oder aufgeklebt. So wusste ich denn auch, dass „Mon Crédo“ ihr zum ersten Spitzenplatz in der französischen Hitparade verholfen hatte und sie mit 1,7 Millionen verkaufte Exemplare ihren ersten weltweiten Erfolg landen konnte. Der gefühlvolle Titel war ein Glaubensbekenntnis an die Kraft der Liebe, die sie künftig in hundertfachen Chanson- und Schlagerversionen beschwören sollte – in mehr als fünfzig Karrierejahren und rund 1200 Liedern in elf Sprachen. Für sie wurde die erste Zeile von „Mon Crédo“ zum ewigen Leitspruch: „Ja, ich glaube, dass ein Leben mit einem Wort der Liebe beginnt.“ Dass mir Mireille Mathieu an abgelegenen afrikanischen Armenviertel-Gestaden des Atlantischen Ozeans als einzige Ausländerin unter einheimischen Interpreten begegnete, fand ich bemerkenswert. Wäre es der Amerikaner Elvis Presley oder der Engländer Tom Jones gewesen, hätte es mich weniger erstaunt. Aber dass es eine Französin ist, war ungewöhnlich, denn Frankreich als ehemalige Kolonialmacht war in Guinea nicht sonderlich beliebt. Da machte Mireille wohl eine Ausnahme. Im bundesdeutschen TV hatte sie schon 1969, ein Jahr vor meiner Conakry-Plattenentdeckung, eine eigene ZDF-Show mit dem Titel „Rendezvous mit Mireille“. Und ich wusste von Kollegen der Unterhaltungsredaktion meines Stalles, dass auch das DDR-Fernsehen fürs Jahresende 1970 als erste Farb-Stereosendung einen Galaabend mit ihr aus Leipzig vorbereitete. Das war dann auch so und nach meiner Rückkehr aus Conakry verfolgte ich ihren Auftritt via Bildschirm und schwor mir, sie bei ihrem nächsten DDR-Gastspiel unbedingt live zu erleben. Dass sie mir mal ein persönliches Ständchen bringen würde, wäre damals ein völlig absurder Gedanke gewesen. Und doch ist es 17 Jahre später passiert. Auf Spurensuche Die Geschichte spielt im Mai 1987. Da erhielt ich von ihrem Management die langersehnte Mitteilung, dass Madame Mathieu dem Wunsch des Pariser DDR-Fernsehkorrespondenten nach einem Interview zustimme. Man bitte aber um Verständnis, dass wegen ihres übervollen Terminkalenders Ort und Zeit nur kurzfristig mitgeteilt werden könnten. Da war sie nun endlich, die erhoffte Zusage auf meine Bitte, die ich monatelang erneuert hatte. Aber im Pariser Büro mit gefalteten Händen auf den Termin zu warten, war realitätsfremd. Denn der Aktionsradius unserer aktuellen Berichterstattung ging weit über unser Gastland Frankreich hinaus, erstreckte sich auch auf Italien, Benelux und die Schweiz. So katapultierte uns das politische Tagesgeschehen denn auch wieder kurzfristig aus Paris und Frankreich hinaus nach Oberitalien. Also zogen wir los nach dem oft praktizierten Prinzip „Nachts Auto fahren und am Tag arbeiten“ und ich betete, der Termin mit der Mathieu möge bitte nicht in diese Zeit unserer Paris-Abwesenheit fallen. Zugleich kam mir die Idee, auf der Rückfahrt mit einem kleinen Umweg in ihrer südfranzösischen Geburtsstadt Avignon Station zu machen. Der Chef unseres außenpolitischen Magazins „Objektiv“, Paul Rummel, hatte Interesse bekundet und ich wollte diese zuschauerfreundliche Gelegenheit nicht nur für ein stereotypes Interview nutzen, sondern es in ein Porträt des Weltstars einordnen. Gerade recht kämen da Bilder aus ihrem Heimatort, in dem sie Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sie hat ihn ja sogar noch besungen – und das auch auf Deutsch: „An einem Sonntag in Avignon spielt la musique in Avignon. Dazu im Kreis dreht sich das Karussell, bist Du noch traurig, steig ein und das ändert sich schnell.“ Was sie mit stimmgewaltiger Strahlkraft in den Schlager-Olymp hochgejubelt hat, erlebe ich nun mit Kameramann Eberhard Güldner tatsächlich im prosaischen Alltag dieser mediterran angehauchten altehrwürdigen Papststadt am Unterlauf der Rhône. Als wir eintreffen, gibt es zufällig, wie für uns arrangiert, ein turbulentes Markttreiben mit Karussell und Liebespärchen – just wie im Schlager beschrieben, der sich damit authentisch bebildern ließe. „An einem Sonntag in Avignon“ hatte sich 1970 ganze 13 Wochen in den bundesdeutschen Charts behaupten können. Tatsächlich wurde ein Sonntag die entscheidende Wende im Leben der Mireille Mathieu. Ihr alles bestimmender Tag aber war zunächst ein Montag in Avignon. Da erblickte sie am 22. Juli 1946 als Tochter des Steinhauers Roger Mathieu und der Hausfrau Marcelle-Sophie das Licht der Welt – eine matte Funzel in einer bescheidenen familiären Welt. Ein ärmliches, beengtes Zuhause, das sie samt spärlicher Kost mit ihren 13 jüngeren Geschwistern teilen musste. Vielleicht war es diese Ärmlichkeit, weshalb die Adresse ihres Geburtshauses, in dem sie auch aufwuchs, später nicht publik werden sollte. Nirgendwo habe ich sie gefunden. Auch ihr Manager Johnny Stark hatte sie mir verweigert. Seinem erfolgsverwöhnten Schützling sollte wohl nicht nachgesagt werden, aus primitiven, nahezu asozialen Verhältnissen zu kommen. So hatten wir auf den vier Rädern unseres „Audi 100“ Norditalien erfolgreich mit Südfrankreich verbunden, standen unter dem Zeitdruck der sofortigen Weiterreise nach Paris in ihrer Geburtsstadt und hätten gern gewusst, wo sich in dieser 65 Quadratkilometer großen Provence-Metropole ihr früheres Elternhaus versteckt. Was blieb mir übrig, als vor Ort zu recherchieren. Einwohnermeldeamt? Datenschutz! Der rettende Hinweis kam per Zufall, als ich Taxifahrer befragte. Einer von ihnen meinte: Ja, er wisse Bescheid, weil seine Frau mit Mireille in die Schule gegangen sei. Sie habe im Arbeiterviertel „La Croix des Oiseaux“ gewohnt – am Boulevard Georges Clemenceau 29 in einem tristen Mietshaus, das noch heute existiere. Aber das wolle heute kaum jemand mehr wahrhaben, denn die prominenteste Bürgerin der Stadt würde man gern als unbefleckte Vorzeige-Diva präsentieren. Das erinnerte mich an meine Begegnung mit ihr in Afrika. Dort im Arbeiterviertel von Conakry, hier im Arbeiterviertel von Avignon. Der Taxifahrer sollte natürlich auf seine Kosten kommen. Deshalb ließ ich mich hinchauffieren – im Schlepptau hinter uns Eberhard mit unserem technikbestückten Dienstwagen. Mich überfiel die unangenehme Frage: Würde es noch jemand in diesem uralten Wohnblock geben, der sich an die weltberühmt gewordene Mitbewohnerin erinnert? Glücksfall einer Nostalgie-Plauderei Ich klingelte aufs Geratewohl an einigen Türen auf verschiedenen Etagen und bekam entweder niemanden zu Gesicht oder keine Antwort. Dann der berühmte Lotto-Glückstreffer. Eine alte Dame hatte die Familie Mathieu noch kennengelernt, hatte nebenan gewohnt, war sogar mit ihr befreundet. Nun gab sie bereitwillig und mit sichtlichem Stolz Auskunft. Aber, bat sie sich aus, ohne zu filmen und ohne ihren Namen zu nennen, der auf dem Klingelschild stand. Ich habe ihr strikte Diskretion zugesagt und sie auch bis heute eingehalten. Für mich war sie „die alte Dame“ – und die legte mit einem überraschend offenherzigen Wortschwall los. Da sprudelte plötzlich eine Fontäne an Eindrücken und Informationen. Ja, sie erinnere sich noch sehr lebhaft an Mireille, die schon als Kleinkind von sich reden gemacht habe. Als Vierjährige habe sie erstmals in aller Öffentlichkeit gesungen und damit für ein Stadtgespräch und viel Lob gesorgt. Initiator sei damals ihr Vater Roger gewesen, der selbst eine wohlklingende Tenorstimme gehabt habe. Als die, so erfuhr ich, wieder mal bei einer Mitternachtsmesse in Avignon gefragt war, bat Papa um die gesangliche Begleitung seines ältesten Kindes Mireille. Die habe ihm die Schau gestohlen, erzählte die alte Dame mit vergnügtem Unterton und plauderte über die Ambitionen von Vater Mathieu. Er träumte in jungen Jahren von einer Opernkarriere. Was ihm seine Eltern verwehrt hatten, wollte er nun seinem Kind gestatten, an dessen Talent er glaubte. Er animierte die Tochter zum Vorsingen und achtete auf eine präzise Artikulation, die sie später perfektionierte. Den Teenager Mireille, so berichtete die alte Dame weiter, habe sie oft Gitarre spielend und singend auf dem Hinterhof angetroffen, umringt von Kindern aus der Nachbarschaft. Angetan hatten es ihr Lieder der Chanson-Königin Edith Piaf, die sie in jeder Weise zu kopieren versuchte bis hin zu ihrer Vorliebe für schwarze Kleider. Sie ahmte ihre Stimme nach, trainierte sie in diese Richtung. Mireille, so sagte mir die frühere Nachbarin, habe ihr immer ein wenig leidgetan. Sie wäre ein sympathisches, lebensfrohes und aufgeschlossenes Mädchen gewesen, obwohl sie in besonders harten und schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sei. Als ältestes Kind habe sie sich mit Hingabe um ihre anderen dreizehn Geschwister gekümmert. Damit immer etwas Ess- und Trinkbares auf dem Tisch stand, habe sie mit dazuverdienen müssen. Deshalb blieb keine Zeit, eine Lese- und Rechtschreibstörung zu korrigieren. Die familiäre Notlage zwang sie, schon mit 14 Jahren die Schule ohne Abschluss zu verlassen, um als Hilfskraft in einer Konservenfirma und einer Papierfabrik mitzuhelfen, das schmale Familienbudget aufzubessern. Es muss, so vermutete die alte Dame, eine stupide Arbeit gewesen sein. Einen ganzen Tag lang am Fließband stehen oder Briefe falten. Aber es sei eben auch eine Existenzfrage gewesen. Als Ausgleich zur beruflichen Perspektivlosigkeit und zur harten Doppelarbeit daheim und im Betrieb seien Musik und Gesang wohl ihre ständige Stütze gewesen, meinte die alte Dame. „Sie sind doch vom Fernsehen?“ vergewisserte sie sich. Und als ich bejahte, regte sie an: „Wenn Sie wollen, können Sie ihre Schule filmen. Sie steht noch. Nicht weit von hier in der Rue Verdun.“ Beginn einer Märchenkarriere Die alte Dame hielt kurz inne und es war, als husche ein Sonnenstrahl über ihr Gesicht. Mitten in der Tristesse, so meinte sie, habe die Glückssträhne begonnen. Es sei ihr wie das Märchen vom Aschenputtel vorgekommen, als plötzlich der kometenhafte Aufstieg des Mädchens zur Schlager-Ikone und Pop-Prinzessin begonnen habe. Mireille hatte mit dem Piaf-Chanson „La vie en rose“ einen lokalen Gesangswettbewerb gewonnen – und damit eine Einladung nach Paris zum Vorsingen für die Teilnahme an einem musikalischen Wettstreit in der überaus populären Fernsehsendung „Télé Dimanche“ – „Tele-Sonntag“. Als sie sich dafür qualifiziert hatte, war das wie eine Freikarte zum Weg nach oben. Sie könne sich, sagte die alte Dame, noch gut darauf besinnen, wie die gesamte Familie zu Mireilles 19. Geburtstag ihr sauer Erspartes zusammengelegt habe, um ihr auch diese zweite Reise nach Paris zu ermöglichen. Diesmal ging es um keinen Eignungstest, sondern um alles oder nichts. Würde sie in der landesweiten Live-Übertragung vor einem Millionenpublikum bestehen können? Als die Familie Mathieu die älteste Tochter an einem Sonntag zum Bahnhof begleitete, war an das Lied vom Sonntag in Avignon noch nicht zu denken. Vielleicht aber hat Mireille eben diesen „Telesonntag“ noch einmal durchlebt, wenn sie später die Zeilen gesungen hat: „An einem Sonntag in Avignon, da kommt die Liebe nach Avignon. Da ist die Einsamkeit vorbei oh c’est si bon, oh c’est si bon und es geschieht so allerlei an einem Sonntag in Avignon.“ Ja, an diesem denkwürdigen Sonntag ist in der Tat so allerlei geschehen. Das Ereignis habe sich in der Stadt wie ein Lauffeuer herumgesprochen, erinnerte sich die alte Dame. Da sie selbst noch keinen Fernseher besessen habe, sei sie damals zu Bekannten gegangen, um diese Premiere nicht zu verpassen. Ganz Avignon saß vor der Röhre und erlebte mit, was auf einer Showbühne in der Landeshauptstadt passierte. Da trat die junge Mitbürgerin Mireille vor die Livekameras, um sich in der Sendung „Le jeu de la Chance“ – zu Deutsch „Glücksspiel“ – gegen einen Schwarm von Mitbewerberinnen zu behaupten. Avignon drückte alle verfügbaren Daumen. Es half. Wir folgten einer einladenden Geste der alten Dame, sie vom Treppenhaus in die gute Stube zu begleiten. Dort kramte sie in einer Schublade und legte ein Blatt der Pariser Tageszeitung „France Soir“ vom 22. November 1965 auf den Tisch. Es war die Titelseite mit dem Schwarz-Weiß-Foto einer mit dem Schmelz der Jugend beschenkten Frau. Auffällig sofort eine brave Pony-Frisur und eine Halskette mit Kreuz. Vor ihr ein Mikrofon als einziges Requisit, zu erahnen außerhalb des Bildes eine Fernsehkamera. Im Text darunter lese ich: „In einem schwarzen Kleid hat Mireille Mathieu, 19 Jahre und 1,50 Meter groß, gestern die Zuschauer von ‚Télé Dimanche‘ mit dem Lied ‚Jezabel‘ und einer grandiosen Stimme beeindruckt.“ Mit diesem einen Song ihres großen Vorbildes Edith Piaf und ihrer intensiven Vortragsweise überzeugte sie, wurde sie zur Siegerin gekürt, nachdem auch ihre stärkste Konkurrentin, die beliebte Chansonette Georgette Lemaire, kapituliert hatte. Mireille wurde schlagartig bekannt, bekam plötzlich Fanpost aus Calais im hohen Norden Frankreichs ebenso wie aus Marseille im tiefsten Süden. Damit begann am Sonntag, dem 21. November 1965, eine der steilsten Karrieren in der internationalen Unterhaltungskunst. Mireille ließ zwar später ihre Körpergröße von 1,50 Meter auf offiziell 1,53 Meter korrigieren, was aber nicht nötig gewesen wäre. Denn dass sie zu einer der Größten ihrer Showbranche wurde, haben selbst ihre ärgsten Kritiker nie angezweifelt. Wir bedankten uns bei der alten Dame und rollten mit dem Auto die 700 Kilometer von Avignon nach Paris zurück, die Mireille einst mit der Bahn und viel Herzklopfen und Lampenfieber gefahren war. Im Gepäck Filmrollen mit originellem Stadt-Kolorit von Avignon. Das Drumherum hatten wir also im Kasten. Nun fehlten nur noch Aufnahmen mit ihr selbst. Und die kamen schneller als gedacht. Ein Konzert im Zeitraffer Auf meinem Schreibtisch finde ich die Notiz über einen Telefonanruf von Manager Johnny Stark. Er teilt in einem nüchternen Satz mit, dass Madame Mathieu uns morgen in den Pariser „Gabriel“-Fernsehstudios unweit von den Champs-Élysées erwarte. Eine zeitliche Punktlandung. Nun wird es ernst und ich bereite mich den ganzen Abend auf das Interview vor, während Eberhard schon wieder die Kameratechnik klarmacht. Anderentags sind wir pünktlich zur Stelle und platzen in eine Probe zu ihrer nächsten Abendgala. Johnny Stark empfängt uns, bittet um etwas Geduld und verfrachtet uns in eine hintere Stuhlreihe des Saales, während Mireille vorn in der knalligen Helligkeit von Bühnenspots einige Liedtöne ihres Mottos anstimmt: „Meine Welt ist die Musik.“ Sie diskutiert mit dem Regisseur, redet mit Assistenten und Aufnahmeleitern, Kameraleuten, Statisten und Technikern, prüft die Dekoration, macht Ton- und Stellproben, stets aufmerksam überwacht von ihrem Johnny, der im Beruf und Leben der Mathieu eine nicht wegzudenkende Rolle spielt. Der umtriebige Geist hatte sie Ende 1965 im Pariser Olympia-Theater erlebt und ihr enormes künstlerisches Potenzial erkannt. Seither war er immer an ihrer Seite – und, wie gemunkelt wurde, nicht nur als Manager. Zuvor schon hatte er Edith Piaf betreut und auch seine anderen Landsleute Yves Montand, Françoise Hardy, Johnny Hallyday und Sylvie Vartan zu internationalen Stars aufgebaut. Er hatte auch dafür gesorgt, dass sein neuer Schützling aus Avignon einen ersten Plattenvertrag bekam, schnell aus dem fremdbestimmten Schlagschatten der Piaf ins Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit trat und ein eigenständiges Repertoire bekam. Dabei halfen vor allem der Komponist und Musikproduzent Christian Bruhn und der Schlagertexter Georg Buschor. Das westdeutsche Kreativ-Team schneiderte der Mathieu rund hundert Lieder auf den Leib, von denen viele im Westberliner Ariola-Tonstudio produziert wurden. Dazu gehört auch ihr Hit „Hinter den Kulissen von Paris“. Da Deutsch damals für Mireille noch ein Wörterbuch mit sieben Siegeln war, orientierte sie sich sprachlich an Demonstrationsbändern, auf denen ihr Katja Ebstein den Text vorgesungen hatte. Nach Stunden endloser Geduld war die Tonaufnahme fertig. Entschädigt wurde die Mathieu mit vorderen Chart-Plätzen, mit denen sie 1969 den deutschsprachigen Raum eroberte. Nun sehe ich, wie die zierliche Musikantin aus Avignon auf der Studiobühne einige Musiktitel improvisiert. Andere spielt sie mit Gestik, Mimik und ihrer voluminösen, klangreinen Stimme von Anfang bis Ende durch, darunter ihr „Akropolis Adieu“, mit dem sie erstmals eine Plattenmillion erreichte. Sie schmilzt dahin bei ihrem größten kommerziellen Erfolg „La Paloma adé “, der sich ganze 27 Wochen in den deutschen Charts behauptete und auf Platz eins landete. Dass Monsieur Stark uns in die Warteschleife geschickt hat, empfinde ich nun eher als Gnade. Ich hätte in diesem Mäuschen-Modus gern ewig ausgeharrt. Denn so erleben wir in der einzigartigen Kurzfassung eines Mathieu-Konzertes eine gute halbe Stunde lang ihr damals schon breit gefächertes Repertoire und ich stelle mit Befriedigung fest, dass ich all ihre bisherigen großen Erfolge auf meinem „KB 100“ versammelt habe: „Martin“ und „Es geht mir gut, Chéri“ und „Ganz Paris ist ein Theater“, „Korsika“ und „Roma“, „Pariser Tango“ und „Der Zar und das Mädchen“, „Die Glocken von Notre-Dame“ und natürlich „Mon Crédo“ und „An einem Sonntag in Avignon“. Klassiker aus ihren Best-of-Alben. Dann muss ich mich revidieren, denn ein Hit von ihr fehlt in meiner Sammlung. Sie probiert einen mir unbekannten Song mit dem Titel „Kinder dieser Welt“. Es geht nicht um das gängige Klischee von Herz und Schmerz, sondern um das Recht aller Kinder für eine Zukunft ohne Angst und Krieg. Eine brandneue Produktion, wie ich später erfahre, gerade erst in Rillen gepresst. Nach der euphorisch vorgetragenen Hymne „Das Wunder aller Wunder ist die Liebe“ und den schwungvollen Rhythmen von „Hinter den Kulissen von Paris“ sind es nun leise, nachdenkliche Töne: „Kinder dieser Welt sollen nie mehr wieder Helden werden, Kinder weinen Tränen, die die Mächtigen versteh’n, wenn sie ihren Kindern in die Augen sehen.“ Danach Verblüffendes. Als ich gerade zu der festen Überzeugung gekommen bin, dass die lebhaft vor den Kameras agierende Sängerin uns total vergessen hat, ruft sie ihren Partnern zu: „Pause. Ich arbeite jetzt mit den Ostdeutschen!“ Dann kommt sie ohne Zäsur in energiegeladener Eile schnurstracks auf uns zu, begrüßt uns liebenswürdig wie gute alte Bekannte und bittet uns in ihre Garderobe, einen engen Raum voller Schlichtheit, in dem ein Filmteam schon mal Platzangst bekommen kann. Eine Herausforderung für Kameramann Eberhard Güldner. Denn was nützt das beste Fernsehinterview, wenn der Fokus nicht stimmt! Während er wieselflink Licht, Ton und Handkamera einrichtet, mir das Mikrofon reicht und sofort aufs Knöpfchen drückt, freut sich Mireille über einen taufrischen Rosenstrauß, den wir unterwegs erstanden haben. Blumen und Musik, sagt sie, sind ihre Leidenschaften. Es ist 17 Jahre her, dass ich ihr Gesicht in Conakry erstmals auf einer westlichen Plattenhülle gesehen habe. Das jetzige Konterfei in natura hat an Wirkung nichts eingebüßt. Die einprägsame Erscheinung ist geblieben. Seit über zwanzig Jahren die immer gleiche dichte schwarze Pagen-Frisur mit Innenrolle, die an den Haarschopf von Prinz Eisenherz erinnert und für Generationen junger Mädchen ein unverwechselbares Leitbild prägte. Dazu ein zarter Porzellan-Teint. Dunkelschattige, ausdrucksstarke Augen unter elegant geschwungenen Brauen und markante, konturenstarke rote Lippen verstärken den Eindruck, dass die Zeit scheinbar spurlos am Wachstum ihres Lebensbaumes vorübergegangen ist.
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