Читать книгу Der ungeliebte Amadeus und andere Kriminalgeschichten - Dietmar Hann - Страница 5

Kommissar Opa

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„Der war‘s, der Dicke dahinten. Der ist der Mörder. Könnt ihr Gift drauf nehmen!“

Opa Werner stand schon eine Weile unbemerkt in der Tür. Ihm reichten wenige Szenen eines Krimis, um todsicher den Täter vorhersagen zu können. Da er seine Ermittlungsergebnisse nie für sich behielt, mündete fast jeder Krimiabend in einen handfesten Familienkrach.

„Werner!“, herrschte ihn Oma Helga an.

„Mensch Papa, du kannst einem wirklich jeden Krimispaß verderben. Setz dich draußen auf die Hollywoodschaukel, lies ein gutes Buch und lass uns in Ruhe den Film anschauen“, wies Tochter Rosalie den Vater ruhig, aber bestimmt zurecht.

Schwiegersohn Frank sagte nichts. Er goss sich ein Glas mit Wodka voll, trank es in einem Zug aus und verzog sich auf die Terrasse, um zu rauchen.

„Ja, hau bloß ab, Opa. Wir haben uns so auf den ‚Tatort‘ gefreut und du, du versaust uns wieder die ganze Spannung.“ Enkelin Eileen standen Tränen in den Augen.

„Ey, Alter, verpiss dich endlich!“, rief Enkel Maik.

„Aber Maiiik!“, entsetzten sich Oma Helga, Mutter Rosalie und Schwester Eileen.

Vater Frank zog grimmig an der Zigarette. Er hasste seinen Schwiegervater. Irgendwann, dachte er, wirst du für deine Bosheiten büßen.

Kriminalhauptkommissar a. D. Werner Gattermann ließ alles an sich abprallen. Vierzig Jahre lang hatte er kleine und große Gauner gejagt, musste viel Leid und Elend bei den Opfern erleben und war sogar zweimal angeschossen worden. Er wusste genau, dass der Job eines Kriminalkommissars kein Vergnügen war, sondern harte, entbehrungsreiche und mitunter sehr gefährliche Arbeit bedeutete. Und deshalb konnte er nicht begreifen, dass sich viele Menschen mit großem Vergnügen von Mord und Totschlag im Fernsehen unterhalten ließen. Leider auch seine Familie. Außerdem gingen ihm alle Fernsehkommissare total auf den Sack, weil sie seiner Meinung nach stümperhaft ermittelten, sich wie Wildsäue im Straßenverkehr verhielten und es auch sonst mit den Gesetzen nicht so genau nahmen.

„Na, ihr Lieben, jetzt wo ihr wisst, wer der Mörder ist, könnten wir doch eigentlich ‘ne Runde Skat kloppen …“

„Raaaus“, brüllten Oma Helga, Tochter Rosalie, Enkelin Eileen, Enkel Maik und sogar Schwiegersohn Frank auf der Terrasse.

„Na, wie sieht’s aus, Mädels“, unterbrach Rosalie das belanglose Geplapper beim Abendessen, „nachher Lust auf‘n Skat?“

„Was denn, heute? Heut ist Donnerstag, Rosalie. Donnerstags geh ich zum Handarbeitszirkel. Das weißt du doch!“

„Was‘n, jetze? Oooch, Mama!“, maulte Eileen, „Bock hab‘ ich ja, aber leider Null Zeit. Muss morgen ‘n Referat über Goethes Frauengeschichten halten. Und das hab ich noch nicht fertig.“

„Häh? Der olle Goethe hat Geschichten über die Frauen geschrieben?“, mischte sich Frank ein.

„Wat jibtet morgen Mittag eigentlich zu fressen“, wollte Maik wissen und handelte sich damit strafende Blicke seiner Verwandten ein.

„Maik, ‚essen‘ heißt das! In unserem Hause wird gegessen und nicht gefressen. Wenn das bei deinen Kumpels daheim anders sein sollte, ist das deren Angelegenheit. Aber keinesfalls unser Niveau. Merk dir das bitte!“

Maik verdrehte die Augen und grapschte sich das letzte Käsebrötchen vom Teller. Die ewigen Zurechtweisungen seiner Mutter hingen ihm zum Halse heraus.

„Und nun zu dir, mein lieber Gatte. Selbstverständlich hat Johann Wolfgang von Goethe auch über Frauen geschrieben. Eileen muss aber ein Referat über die Liebesverhältnisse des Geheimrats halten. Und das ist ja wohl ein Unterschied, nicht wahr? Aber nichtsdestotrotz ein sehr interessantes Thema.“

Frank schob eine Zigarette zwischen die Lippen und machte sich auf den Weg zur Terrasse. Er hasste es, wenn seine Frau zu Hause und vor allem ihm gegenüber die Oberlehrerin herauskehrte. Natürlich wusste er, was ein Liebesverhältnis ist. Darüber musste ihn niemand belehren, schon gar nicht seine Frau. Er kannte sich sogar mit Verhältnissen aus, die ohne den Zusatz „Liebe“ auskamen und dennoch oder vielleicht gerade deshalb wunderbar funktionierten.

„Zerbrich dir nicht dein schönes Köpfchen, Kind, das Referat kriegen wir schon hin. Muss ja auch mal von Vorteil sein, eine Lehrerin als Mutter zu haben. Dazu noch ‘ne Deutschlehrerin! Der reinste Glücksfall, nicht wahr? Mein Deutschkurs ist bereits durch mit dem Goethestoff. Katharina Fuchs hat ein super Referat zum gleichen Thema gehalten. Ihre Ausarbeitungen liegen auf meinem Schreibtisch. Kannst ja mal reinschauen. Ausnahmsweise.“ Rosalie zwinkerte ihrer Tochter zu und die zwinkerte zurück.

„Und, Mama, wen kümmert es, wenn du mal an einem Zirkelabend fehlst? Davon geht die Welt nicht unter. So eine Schnellstrickerin wie du hat doch im Handumdrehen die Rückstände wieder aufgeholt, nicht wahr? Zur Not auch zu Hause, als Hausaufgabe sozusagen.“ Rosalie lächelte, Eileen kicherte, Maik vergaß einen Augenblick zu kauen und Oma Helga schaute ihre Tochter grimmig an.

„Ach, Mama, guck doch nicht so böse. Sei ehrlich, du hast nur Angst, den neuesten Klatsch und Tratsch zu verpassen und mal nicht auf dem Laufenden zu sein. Aber man muss auch Opfer bringen können. Schließlich ist es für einen guten Zweck. Papa braucht unsere Zuwendung. Und du weißt, dass wir ihm keine größere Freude bereiten können, als mit ihm Skat zu spielen.“

Werner nickte und strahlte. Schließlich nickte auch Helga, allerdings ohne zu strahlen. Rosalie hatte ja Recht, ab und zu mussten Opfer gebracht werden, damit der Familiensegen nicht in Schieflage geriet. Ab und zu! Doch seit seiner Pensionierung musste sie dauernd auf Werners Macken Rücksicht nehmen. Und dadurch fühlte sie sich selbst beinahe wie ein Opfer.

„Meinetwegen. Aber damit das klar ist: Eine Stunde und keine Sekunde länger. Und dann sofort!“

Werner nickte wieder und strahlte noch ein bisschen mehr. Eine Stunde war immerhin besser als gar kein Skat. Und so, wie er seine Helga kannte, würde sie ihre Drohung sowieso nicht wahrmachen, dafür spielte sie selbst viel zu gern Karten.

Dass Rosalie vor wenigen Minuten lediglich die „Mädels“ zum Skatspielen animiert hatte, wunderte niemanden in der Familie. Werner musste nicht gefragt werden, der hätte Tag und Nacht „Skat kloppen“ können. Maik würde niemand fragen, denn schon vor Jahren hatte es die Familie genervt aufgegeben, ihm die Skatregeln beizubringen. Und Frank wollte niemand fragen. Der spielte derart miserabel, dass ein Skatabend mit ihm für alle zur Qual wurde und stets in Zank und Streit endete. Zum Glück hatte sich Eileen sehr gelehrig gezeigt. Noch ehe bei ihr die Pubertät einsetzte, beherrschte sie die Kunst des Reizens beim Skat aus dem Effeff. Und das, so meinte Opa Werner, wäre für‘s Leben allemal wichtiger, als Kerle mit hautengen Jeans, tief ausgeschnittenen Shirts und angetuschten Wimpern zu reizen.

„Ach Mädels, ihr seid so lieb!“ Werner tat, als wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Meinetwegen müsst ihr aber keine Opfer bringen. Wir brauchen doch nur drei Spieler. Meine Wenigkeit und Rosalie, das sind schon zwei. Eileen, du setzt dich erst mal an dein Referat, derweil ist Oma unser dritter Mann. Und Helga, wenn du zu deinem Strickverein gehst, wird Eileen ja fertig sein und kann dich ablösen. So ist uns allen gedient, oder?“ Werner strahlte, als wäre er eine Reklamefigur der Leuchtmittelindustrie.

Rosalie schmunzelte. Sie hatte ihren Vater durchschaut. Mit seinem Kompromissvorschlag ließ sich die von Mama strikt begrenzte Spielzeit mindestens verdoppeln. Mir soll‘s recht sein, dachte sie, ich habe Zeit. Ausnahmsweise mal. Die Unterrichtsstunden für morgen sind vorbereitet und Arbeiten muss ich auch keine korrigieren.

Helga und Eileen begannen, den Tisch abzuräumen.

„Na los, pack schon mit an!“, forderte Rosalie ihren Sohn auf.

„Kann nicht, muss kacken!“ Maik verzog das Gesicht zur Grimasse und eilte in Richtung Klo. Das fehlte noch, dass er die Finger für „Weiberarbeit“ krumm machte.

Als Werner einen Moment mit seiner Tochter allein war, tätschelte er ihr den Unterarm und küsste sie auf die Stirn. „Danke, mein Kind, das war sehr lieb von dir.“

Im Stillen feixte er. Ach Rosalie, du bist durchschaut. Mit deinen pädagogischen Mätzchen kannst du vielleicht kleine Schulmonster beeindrucken, mich ausgebufften Exbullen nicht. Wär‘ schön, wenn dich Vaterliebe zu dieser Idee inspiriert hätte. Glaub ich dir aber nicht. Deine Fürsorglichkeit zielt doch nur darauf ab, euch ungestörten Wochenendkrimispaß zu sichern. Gib’s zu, Tochter, das ist dein wahres Motiv. Na gut, dann wird Hauptkommissar Opa mal gnädig sein und euch die Täter allein ermitteln lassen.

Für einen Moment kam Werner Anke in den Sinn. Seine ältere Tochter hatte zwar keinen so wohlklingenden Namen wie die jüngere, war aber anmutiger und herzlicher als diese.

Anke hätte aus purer Liebe zum Vater Skatabende organisiert. Auch am Wochenende, denn mit Krimis hatte sie genau wie er nichts am Hut. Allein schon deshalb war sie seine Lieblingstochter.

Anke hatte im Studium einen netten Mann kennengelernt, ihn mit 23 Jahren geheiratet, ihm mit 24 und 26 jeweils eine Tochter geboren und mit 27 feststellen müssen, dass er doch nicht ganz so nett war, denn er hatte ihre zehn Jahre jüngere Schwester geschwängert. Andreas beteuerte unter Tränen und Rotzblasen, dass er nur ein einziges Mal schwach geworden wäre. Und auch nur, weil sich Rosalie ihm halbnackt an den Hals geworfen hätte und er, beschwipst wie er war, den Reizen ihrer jugendlich festen Brüste nicht widerstehen konnte. Rosalie dagegen schwor Stein und Bein, dass Andreas sie schon bedrängt hätte, als sie noch 16 war und sie sich nur deshalb ein Jahr später mit ihm eingelassen habe, weil er immer häufiger gedroht hätte, sie auch mit Gewalt zu nehmen, wenn sie nicht endlich willig wäre. Tatsächlich war sie es aber leid gewesen, ständig von den Freundinnen gehänselt zu werden, weil sie mit 17 immer noch Jungfrau war. Das allerdings hatte sie bis heute niemandem gebeichtet. Helga glaubte ihrer Lieblingstochter aufs Wort. Daraufhin glaubte Anke ihrem Mann ebenfalls aufs Wort. Nicht zuletzt, weil sie ihre Schwester nur zu gut kannte. Werner, der aus berufsbedingter Routine heraus nur Fakten Glauben schenkte, hielt sich zurück. Der einzige offensichtliche Fakt war nämlich Rosalies zunehmender Bauchumfang.

Dieser Familienkonflikt wollte sich partout nicht im Guten lösen lassen. Deshalb wurde nach der einen Version auf Helgas Betreiben hin Anke samt Familie des Hauses verwiesen. Nach der anderen hat sie von sich aus das Elternhaus verlassen und alle Kontakte abgebrochen.

Ach, meine Große, es will mir das Herz zerreißen, dass wir uns nicht wieder vertragen haben. Dass ihr nach Australien ausgewandert seid ebenso. Und nicht mal deine Kinder wollen mit ihren Großeltern und ihrer Halbschwester etwas zu tun haben. Welch ein Jammer.

„Papaha, was ist lohos? Etwa Angst, dass du heute gegen deine Mädels keinen Stich siehst?“ Rosalie kam mit einem Tablett voll mit Gläsern, Flaschen und mehreren Tüten Knabberkram aus der Küche. Gerda folgte ihr mit Spielkarten, Notizblock und Kugelschreiber. „Auf, auf, Werner, es ist nicht mehr ganz so heiß, wir können auf der Terrasse spielen!“

„Frank! Das ist doch bestimmt schon die dritte Zigarette hintereinander, nicht wahr?“, schimpfte Rosalie, als sie ihren Mann draußen hinter einer dicken Qualmwolke entdeckte. „Ab sofort ist die Terrasse Nichtraucherzone. Geh runter zum Teich und setz dich mit deinem Aschenbecher auf die Hollywoodschaukel. Da könnt ihr beide ungestört vor euch hin stinken. Hier jedenfalls wird jetzt ein gepflegter Skat gespielt.“

„Gedroschen, Rosalie“, rief Werner, der gerade aus dem Wohnzimmer kam, „hier wird jetzt Skat gedroschen, dass die Heide wackelt. Und das ist nur was für Kenner und Könner und nix für Luschen und Nullen. Also, Schwiegersohn, ab nach Hollywood.“

„Ach, leckt mich doch alle …“, Frank zeigte den Stinkefinger, nahm den Aschenbecher, schnappte sich die Flasche Bier vom Tisch, die eigentlich für Werner bestimmt war, und schlenderte betont lässig zum Teich hinunter. Schon wenig später vernahm er aus Richtung Terrasse all die Wortfetzen und Geräusche, die ihm schon seit Jahren das Leben im Hause Gattermann vergällten: Hat sich schon mal einer totgemischt! – 18? – Immer! – 20? – Na, aber! – Zwo? – Weg! – Sagt einer mehr? – Wie soll er heißen? – Pikus, der Waldspecht! – Wer kommt raus? – Immer der, der so doof fragt!

Bereits nach der dritten Runde erschien Eileen am Spieltisch und wurde mit Gejohle begrüßt. Sie hatte die Ausarbeitungen der Schülerin aus dem Parallelkurs einfach kopiert, fertig war die Laube!

Und schon schallte es durch den Garten: Beim Grand spielt man Ässe … – … und wer keene hat … – … der hält die Fresse! – Hineingewichst … – … und nicht gezittert! – Hosen runter! – … von jedem Dorf ’n Köter! – Kontra! – Re – Schneider, schwarz, angesagt …

Wenn die Spieler tatsächlich für einen Moment etwas leiser wurden, war aus Maiks Zimmer dröhnendes Geballer zu vernehmen. Er glaubte wohl, mal wieder die Welt vor dem Bösen retten zu müssen und brachte dazu die Spielekonsole zum Glühen.

Als wäre das alles nicht nervend genug, tauchte Werner immer, wenn er aussetzen musste, bei Frank auf, schubste die Schaukel an und prahlte: „War das’n Grand Ouvert, Mannomann! Wie er im Buche steht!“ Oder: „Oioioi, die hab ich sowas von Schneider und schwarz gespielt!“ Oder: „Den ‚Null‘ hätten die gewinnen müssen. Aber gegen Werner Gattermann haben sie’s nicht können, hahaha!“ Und jedes Mal, wenn er wieder an den Spieltisch zurückmusste, verabschiedete er sich mit den Worten: „Aber wozu erzähl ich dir das eigentlich, du hast doch davon sowieso keine Ahnung!“

Frank tat meist so, als würde er Werner gar nicht sehen und die Sticheleien nicht hören. Innerlich jedoch wühlten sie ihn auf. Außerdem beschäftigte ihn zurzeit etwas gänzlich anderes. Und von dem hatte Werner keine Ahnung. Und der Rest der Familie zum Glück auch nicht. Dazu kam noch, dass er vor drei Monaten seine Arbeit verloren hatte. Das war in einem Beamtenhaushalt zwar kein finanzieller Beinbruch, wirkte sich aber auf seine Stellung innerhalb der Familie aus. Dass er als Nichtbeamter in Werners Augen von vornherein als Versager galt, der es zu nichts bringen würde, daran hatte er sich fast gewöhnt, doch mit der Zeit hatte dessen Meinung auch auf Rosalie, Helga und Eileen abgefärbt. Sogar auf Maik. Und das wurmte ihn besonders. Bei Eileen konnte er das noch verschmerzen, er mochte sie sehr, aber sie war nun mal nicht seine leibliche Tochter. Sein Sohn hingegen war ihm nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten; er war ihm auch vom Charakter her ähnlich, sofern man von seinen pubertären Entgleisungen absah. Manchmal konnte er sich mit ihm fast schon wie von Mann zu Mann unterhalten.

Werner, dieser Ruhestandsheini, hatte gut reden; seine Pension war gesichert. Auf Lebenszeit. Dass er, Frank, regelmäßig zum Amt latschen und ebenso regelmäßig ohne Arbeitsvermittlung wieder abziehen musste, verflucht noch mal, das war mehr als demütigend. Dabei waren qualifizierte Automechaniker auf dem Arbeitsmarkt Mangelware. Nur blöderweise an seinem Wohnort und in der näheren Umgebung nicht. Dass er sich bereits selbst um Aushilfsjobs bemühte und schwarz die Karren von Freunden und Bekannten reparierte, hielt er vor der Familie geheim. Musste er geheim halten; der hauseigene Bulle a. D. hätte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, verpfiffen. Sicherlich sogar mit Lust. Aber das herauszufinden, hatte Frank keine Lust.

„Na, Schwiegersöhnchen, noch immer am Brüten? Hockst hier wie ‘ne Glucke auf den Eiern!“ Werner hatte sich unbemerkt genähert und die Schaukel angestoßen. Mein Gott, wie schnell spielen die denn heute, dachte Frank.

„Könntest dich ja mal auf der Terrasse blicken lassen, alter Quarzer. Aber ohne Kippe, wenn ich bitten darf. Dann zeigt dir dein lieber Schwiegerpapa, was‘n richtiger Siegertyp draufhaben sollte. Hab allerdings meine Zweifel, ob dir das noch was nützt. Einmal Niete, immer Niete. Arme Rosalie!“

Hau ab, ehe ich mich vergesse, dachte Frank, und als Werner fröhlich pfeifend zum Spieltisch zurückschlenderte, ballte er sogar die Fäuste. Pass bloß auf, alte Großschnauze, dass du nicht eines Nachts „versehentlich“ kopfüber im Teich landest und ersäufst.

Und wieso eigentlich „arme Rosalie“? Wer ist denn hier bedauernswert, häh? Bin doch eindeutig ich.

Wie zur Bestätigung ballte Frank erneut die Fäuste. Abgesehen von Werners ewigen Pöbeleien war er mit dessen Tochter gestraft genug. Ständig versuchte Rosalie an ihm herumzuerziehen: Frank, tu dies nicht, Frank, tu das nicht. – Komm mal hier und kuck mal da. – Weißt gar nicht, was du an mir hast. – Ich meine es doch nur gut mit dir, nicht wahr? – Nichtwahrnichtwahrnichtwahr! Als ob er einer ihrer doofen Schüler wäre … Dabei ging er allmählich auf die fünfzig zu. In diesem Alter ist man längst immun gegen alle Pädagogikkacke. Bereits seine Großmutter wusste das. Ihr Spruch „Mit fünfzig kannste niemanden mehr umficken“ klang ihm noch heute in den Ohren, und vor Augen hatte er, wie sie verschmitzt lächelte, wenn sie diese Weisheit kundtat. Rosalie schien leider nichts vom Erfahrungsschatz seiner Großmutter zu halten, denn sie hörte nicht auf, ihn mit ihren Belehrungen zu schikanieren. Was bei dem Vater kein Wunder war.

Wozu, verdammt noch mal, sollte er sich überhaupt ändern? Rosalie wusste doch selbst nicht, wie sie ihn haben wollte. Heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders, selbst wenn dies im krassen Widerspruch zu ihren vorhergehenden Wünschen stand. Längst hatte er durchschaut, dass es Rosalie nicht wirklich um Erziehungsergebnisse ging, allein das pädagogische Getue verschaffte ihr Befriedigung. Es war schon ein Kreuz mit seiner Frau. Zum Glück gab es im Bett keine Probleme. Deshalb hatte Frank ihre Macken bisher mehr oder weniger geduldig ertragen. Ansonsten hätte er sich viel öfter in Affären geflüchtet oder längst das Weite gesucht.

Frank zündete sich erneut eine Zigarette an. In den letzten Wochen war ihm immer deutlicher klar geworden, dass er dieses Familienleben nicht mehr lange mitmachen würde. Auf keinen Fall. Vor der letzten Konsequenz scheute er aber noch zurück, weil eine Scheidung ein verdammt kostspieliges „Vergnügen“ war. Das wusste er von zwei Kumpels, die das ganze Theater bereits hinter sich hatten und sich seitdem jeglichen Kneipenbesuch verkneifen mussten.

Ich brauche endlich wieder einen festen Job, überlegte er. Egal, ob in meinem erlernten Beruf oder nicht. Meinetwegen auch Kaufhausspion, Wachmann, Bodyguard … Hauptsache bezahlt. Und weit weg von zu Hause.

Frank warf den Zigarettenstummel in den Aschenbecher und sah zur Terrasse hinüber, wo sich Helga und Rosalie laut stritten. Und wie nicht anders zu erwarten war, kam Werner schon angelatscht. Fünf Meter vor der Schaukel winkte er ihm fröhlich zu und rief: „He, willste Hilfspolizist werden?“

Frank stutzte. Konnte der selbsternannte Alleskönner etwa Gedanken lesen? Er sprang auf, ging einen Schritt auf den Schwiegervater zu. „Was? Im Ernst? Wie meinst‘n das?“

Werner trat näher und verzog den Mund zu einem triumphierenden Grinsen: „Naja, sieht aus, als ob du bereits für die Aufnahmeprüfung übst: Stundenlang in die Ferne stieren, ohne an was zu denken. Hahaha!“

Frank ließ sich wieder auf die Schaukel fallen. „Du musst es ja wissen, du Kriminaloberhauptsuperkommissar“, murmelte er und tastete nach der Zigarettenschachtel. Verdammt noch mal, ich werde mich doch scheiden lassen, dachte er, hundertprozentig! Und so bald wie möglich. Schon deinetwegen, du elender Drecksack!

Aber, aber … dazu brauchte er halt Geld. Zu dieser klugen Erkenntnis war er heute bereits mehrmals gekommen. Zum Teufel noch mal, er drehte sich im Kreis. Und alles andere drehte sich immer wieder um das Scheißgeld. Und Rosalie saß auf dem Geld. Wie die Glucke auf den Eiern.

Er stutzte. Wie die Gluck… Hatte er doch eben erst gehört.

Dass es ihm in seiner neuen Situation dreckig ging, hatte sie bisher nicht bemerkt. Oder absichtlich übersehen. Er dagegen sollte ihr immer alle Wünsche von der Nasenspitze ablesen. Und das fand er ziemlich ungerecht. Gerecht wäre es, sie mal so richtig zur Kasse zu bitten, dachte er. Oder den alten Kotzbrocken. Geld hat der jedenfalls genug.

„Na, kluckst ja immer noch hier. Nicht einsam? Könntest ruhig mal an deine Liebste denken. Die hat gerade haushoch einen todsicheren Grand ohne Vieren verloren. Bloß gut, dass wir zu Hause nicht um Geld spielen, sonst wäre ich jetzt arm wie eine Kirchenmaus.“

Als Frank unbeeindruckt weiter vor sich hin stierte, schaute Rosalie missbilligend auf ihn herab. „Aber wie es aussieht, interessieren dich die Sorgen deiner Frau nicht sonderlich. Solange der Herr Gatte ohne Sorgen in den Tag hinein leben kann, ist alles in Butter, nicht wahr? Vergiss bitte nicht, wer hier das meiste Geld nach Hause bringt!“ Und schon halb im Gehen begriffen: „Sag mal, die wievielte Zigarette ist das eigentlich? Frank, ich habe dir schon so oft gesagt: Gewöhn dir das Rauchen ab. So dicke haben wir es deinetwegen ja nicht mehr. Außerdem bekommt man vom Rauchen eine graue Haut.“

Frank verdrehte die Augen. Er hasste es, wenn seine Frau ohne Punkt und Komma auf ihn einredete und gar keine Antwort erwartete. Und immer wieder diese Unterstellungen und Belehrungen.

Er seufzte. Wenn Rosalie wüsste … Natürlich dachte er an seine Liebste. Tag und Nacht sogar. Aber eben nicht an Rosalie, denn seine Liebste hieß Melanie.

Melanie war ganz anders gestrickt als seine Frau. Die störte es nicht, dass er rauchte, sie war selbst Raucher. Oder sagte man ‚Raucherin‘? Egal! Frank zog eine weitere Zigarette aus der Schachtel. Wenn die Biester bloß nicht so verflucht teuer wären! Und immer teurer würden!

Melanie nahm keinen Anstoß, wenn seine Fingernägel nicht ganz sauber waren oder wenn er nach Benzin und Öl roch. Melanie brauchte kein Sportcoupé, die fuhr leidenschaftlich gern Motorrad. Und von Motorrädern und Autos verstand er ‘ne Menge. Da machte ihm so leicht keiner was vor. Und da, verdammt noch mal, konnte er im Gegensatz zu daheim jederzeit mitreden. Nein, Melanie kam ihm nicht mit offenen Ratschlägen, geheimen Räten oder mit Goethe und Konsorten. Sie war genau wie er ein durch und durch praktisch veranlagter Mensch. Und sie sah verdammt gut aus. Obwohl sie rauchte. Von wegen grauer Haut!

Die beiden hatten sich vor zwei Monaten auf der Arbeitsagentur kennengelernt. Sie verstanden sich auf Anhieb, sodass sie anschließend noch zwei Stunden auf der Parkbank weiterplauderten. Für den Abend hatten sie sich in der Kneipe verabredet, gingen aber schon nach dem ersten Bier zu ihr auf die Bude, weil sie sich mehr nach Taten als nach Worten sehnten. Frank hatte kein Problem damit, dass sie vom Alter her seine Tochter hätte sein können. Und Melanie störte es nicht, dass es noch eine Rosalie und zwei Kinder gab. Sie hatte auch nichts dagegen, dass er weiterhin mit seiner Frau schlief. Schon allein, damit diese nicht misstrauisch wurde.

Sie trafen sich von da an mehrmals in der Woche gleich vormittags nach dem Agenturbesuch. Und zwar bei ihr zu Hause. Wenn sie schon keine Arbeit hatten, wollten sie wenigstens Spaß haben. Darin waren sich beide einig.

Frank hatte immer das ungute Gefühl, er könnte sich mit seinem häufigen Fernbleiben zu Hause verdächtig machen. Tatsächlich hatte Werner schon die eine oder andere Spitze losgelassen, wenn Frank vormittags das Haus verließ. „Brav Schwiegersohn. Wer sucht, der findet auch. Muss ja nicht unbedingt Arbeit sein …“ Oder: „Helga, der Streber rennt schon wieder zur Agentur. Wenn der mal nicht Agent werden will. Fränk Null-Null-Null, das klingt doch mächtig gewaltig, hahaha!“

Die Sticheleien nervten Frank. „Ach Melanie“, seufzte er, „warum ist nicht alles so herrlich easy wie mit dir?“

„Feierabend!“ Frank war unbemerkt an den Spieltisch getreten. „Morgen ist Freitag. Eileen, Rosalie, ihr müsst früh raus zur Schule! Etwa vergessen?“ Beide schauten entsetzt auf die Uhr, es ging tatsächlich bereits auf Mitternacht zu. Eileen sprintete ins Bad.

Frank packte seine Frau derb am Oberarm: „Los, ab ins Bett!“ Rosalie ließ die Karten fallen und ließ sich willig in Richtung Wohnung schieben. Kurz bevor sie hinter der Tür verschwand, kniff sie ihrem Mann in den Po.

Werner schüttelte den Kopf. „Was die bloß an dem findet, möcht ich wissen. Haste ihre Augen leuchten sehn, Mutter? Und gleich geht das Geschreie, Gejammere und Gestöhne wieder los. Und wetten? Morgen früh hat sie überall blaue Flecke. Ich kapier das nicht, sonst durch und durch autoritär, aber im Bett ’ne gefügige Sklavin. Wo hat Rosalie das bloß her?“

Helga sagte nichts. Sie hatte gerade die Punkte auf dem Notizblock addiert und grämte sich, die Verliererin des Abends zu sein. Wäre sie doch bloß zum Handarbeitszirkel gegangen.

Das Telefon hörte nicht auf zu bimmeln.

„Bist du taub, Helga? Geh endlich ran, ist doch sowieso für dich!“, brüllte Werner in Richtung Flur, ohne das Blättern in seinen alten Fachzeitschriften zu unterbrechen. Es war nicht zu fassen, schon zum dritten Mal durchforstete er die Inhaltsverzeichnisse, konnte aber nicht finden, wonach er suchte. Irgendwo musste doch dieser … dämliche Artikel … sein!

Das Telefon verstummte. Werner atmete auf, grinste breit und trällerte vor sich hin: „Nix-Ge-duld, sel-ber-schuld! Nix-Ge-duld …“

Schließlich warf er die Zeitschrift wütend auf den Tisch. Bei diesem Dauergebimmel war ihm nun auch die Geduld vergangen. Und dass er bei dem herrlichen Wetter draußen hier drinnen Fachliteratur wälzen musste, daran war er sogar noch selbst schuld. Warum hatte er sich beim letzten Skatabend mit den Exkollegen bloß breitschlagen lassen, ein Seminar zur Verbrechensverhütung abzuhalten. Dazu noch für Senioren. Er als Ruheständler? Wie blöd muss man eigentlich sein! Wahrscheinlich hatte er schon ein Bier zu viel intus, als er seinem ehemaligen Chef großspurig zusagte. Und nun hatte er den Salat, musste suchen und konnte nicht finden.

Das Telefon bimmelte wieder.

„Helll-gaaa!“, schrie Werner durchs Haus, aber nichts rührte sich. Jetzt erst merkte er, dass außer ihm niemand daheim war. Er schlug sich die flache Hand vor die Stirn: Mensch, stimmte ja, Helga hatte einen Termin beim Zahnarzt, Rosalie und die Kinder waren in der Lernfabrik und sein Schwiegersohn, dieser Arbeits-Loser, machte sich mal wieder einen schönen Tag auf der Jobagentur.

„Jajajaaa, ich komm ja schon!“ Werner hatte sich aufgerappelt und schleppte sich in Richtung Flur.

„Ich höre!“, knurrte er unwirsch in die Sprechmuschel und lauschte, während er langsam ins Wohnzimmer zurückschlurfte.

„Oh, hello, ich sprechen wiss Mister Wörnör Gät-te-männ in Dschörmännie?“

„Nein, Sie sprechen mit Wer-ner Gat-ter-mann. Ünd wör sünd Sü?“

„Oh, säts wanderfull. Aim so häppi. Pließ raten mal, wer hier sprechen?“

Werner runzelte die Stirn. Sollte das etwa eine Telefonverarsche werden? Hoffentlich keine vom regionalen Rundfunksender! Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass morgen die halbe Stadt über ihn lachte.

„Hör’n Sie, ich habe keine Lust auf Ratespiele. Und falls das ein Trick sein sollte, alte Leute umfragewillig zu quatschen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Werner Gattermann lässt sich nicht aushorchen! Und Wein will er auch nicht kaufen und Finanzberatung braucht er keine, schon gar nicht aus‘m Ausland. Nehmen Sie’s nicht persönlich, baibai!“

„Stopp, stopp, nicht auflegen. Hier spricht deine Enkelin …“

„Eileeen? Was soll der Quatsch! Lernt man neuerdings in der Penne, seinen Großvater zu verarschen, oder was ist los?“

„No, no, nooo! Aim not Eileen, hier is Austrälia … hello Grändfaaser, no, no, wie sagt man in dschörmän, oh jess: hallo Opa!”

Werner schluckte, kratzte sich den Kopf und räusperte sich.

Australien? Enkelin? Dann müsste das ja … theoretisch … eine Tochter von … Anke …

„Hör’n Sie! Machen Sie mit einem alten Mann nicht solche Scherze. Woher wissen Sie überhaupt, dass ich Verwandte in Australi…“ Er räusperte sich. „Die haben noch nie angerufen, warum …“

„Ach Ooopa, mai dier, dier dschörmän Opi, hier is …, na … na? Hu is hier?“

Werner wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das konnte nicht wahr sein, ein erster Kontakt nach so vielen Jahren?

„Ähm, … Marie?“

„No, no, nooo, aim not Märrie?“

„Dann bist du Kathrin?”

„No, no, nooo, aim not Kaaathrin!“

Werner runzelte die Stirn. Weder Marie noch Kathrin? Wer dann? Er hatte nur die zwei Enkeltöchter in Australien. Also doch eine Verarsche! Oder Schlimmeres? Aber wer weiß, vielleicht hatte Anke inzwischen noch eine Toch…

„Hör’n Sie, wenn Sie nicht Marie heißen und nicht Kathrin, können Sie auch nicht meine Enkeltochter sein. Wir machen am besten Schluss, das wird mir jetzt zu dämlich mit Ihnen.“

„Opi, Opi, dier Opi, hier is Käss-riiihn. Kaaathrin is in Austrälia der Näm Kässrihn. Aim sooo häppi, zu sprechen wiss meine liebe Opi in Deutscheland.“

Werner wischte sich über die Augen, schluckte und räusperte sich.

„Hallo Kathrin, äh, Kässrihn“, sagte er leise, „bist du’s wirklich? Ankes älteste Tochter? Ich kann‘s nicht … fassen. Sekunde bitte, muss mal kurz … die Nase …“ Er schnäuzte sich lange und laut. „Kässrihn? Ähm, du musst schon entschuldigen, ich bin so gerührt …“, er schluckte und räusperte sich kräftig, „ähm, das kommt so überraschend, weißt du. Aber warum habt ihr denn nie mal … ähm, ach unwichtig … sag mal, wie alt bist du eigentlich jetzt? Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, warst du noch ein kleiner Wildfang und wolltest immerzu ‚Hoppereiter‘ mit dem Opi machen …“

Es kam keine Antwort.

„Kathrin?“, fragte Werner nach. „Hallooo! Kässrihn, bist du noch dran?“

Am anderen Ende der Leitung knackte es ein paar Mal, aber seine Enkelin antwortete nicht.

Mein Gott, die wird meine Frage nicht verstanden haben, dachte Werner, die spricht doch in Australien Englisch und ich Blödmann laber sie mit Deutsch voll.

„Äääh, Kässrihn? Du andaständ mi?“, versuchte es Werner auf Englisch. „Hau ohld ju nau, mai dier?“ Es war ihm sehr peinlich, derart radebrechen zu müssen. Er konnte vieles gut bis sehr gut, manches sogar perfekt, Fremdsprachen gehörten leider nicht dazu.

Werner glaubte, am anderen Ende der Leitung ein leises Kichern zu hören. Wenn ihn seine Enkelin für sein sprachliches Entgegenkommen auslachte, würde er ab sofort wieder ausschließlich Deutsch mit ihr sprechen.

„Hello Opi, aim twentie und eins Jahre alt. Du vergessen?“ Werner hatte seine australischen Nachkommen natürlich nicht vergessen, war aber derart aufgeregt und im Vokabelwirrwarr verstrickt, dass er Kathrins Alter nicht so schnell errechnen konnte.

Eine Stunde nach Ende des Gesprächs saß Werner noch immer auf der Couch, das Telefon in der zitternden Hand. Seine Enkelin Kathrin hatte angerufen! Dass er dieses Glück noch erleben durfte. Und Anke ging es gut, hatte er erfahren, und Marie natürlich auch. Vielleicht würde sich nun doch alles zum Guten wenden! Er wünschte sich das jedenfalls sehnlichst. Kathrin hatte ihm verraten, dass sie nach Deutschland übersiedeln wolle, in den nächsten Tagen sogar schon, und dass sie vorhabe, sich ein Modedesignstudio in Berlin einzurichten. Ja, der Opi könne wirklich stolz sein auf seinen groß gewordenen „Waildfäng“. Sie würde ihn natürlich bald besuchen kommen, versprochen. Und „männi dier grietings from Mom änd Märrie“ solle sie ausrichten. Ja, auch die hätten den Opi „wärri, wärri“ lieb.

Helga kam mit einer dicken Backe nach Hause, der Zahnarzt hatte ihr zwei Zähne gezogen. Die Wirkung der Betäubungsspritze ließ allmählich nach, die Schmerzen nahmen dafür stetig zu. Deshalb war sie übel gelaunt. Werner hätte schon Bedenken gehabt, seiner Frau die Neuigkeiten mitzuteilen, wenn sie bei bester Laune gewesen wäre. In ihrem jetzigen Zustand jedoch durfte er ihr auf keinen Fall mit Nachrichten von Anke und den Kindern kommen, selbst wenn sie noch so gut waren.

Werner verzog sich stillschweigend in den Garten, legte sich auf die Hollywoodschaukel und grübelte.

Frank und Melanie lagen nackt auf dem Bett und schütteten sich aus vor Lachen.

„Ich hab dich auch ‚wärri, wärri lieb, mai dier‘“, sagte Frank und tätschelte seiner Liebsten den Hintern. „Hätt auch schiefgehen können, was? War noch nie gut im Kopfrechnen. Ich hab mich wirklich super vorbereitet, aber dass der misstrauische Exbulle so’n Scheiß fragt, konnte doch keiner ahnen.“ Frank streichelte Melanie den Rücken. „Aber du warst einfach Spitze als ‚Kässrihn from Austrälia‘. Und der ‚dier Opi from Dschörmännie‘, dieser alte Teufel, wurde bei deinen himmlischen Nachrichten fromm und frömmer. Ich glaub, ihm lief nicht nur der Rotz, der hat richtig geheult vor Rührung. Da wär ich zu gern dabei gewesen, ich hätt mich eingepisst vor Lachen.“

„Ja, es war irre lustig, allerdings auch ganz schön anstrengend, so lange die Stimme zu verstellen. Aber ein bisschen gemein ist es schon, finde ich. Du bist so ein guter Mensch, Frank, hast du es nötig, Gleiches mit Gleichem zu vergelten?“ Melanie küsste ihn auf die eine Wange und streichelte die andere.

„Ach was, Werner Gattermann hat einen Denkzettel mehr als verdient! Hab ich dir doch erklärt. Mach dir mal keinen Schädel. Wenn du tust, was wir besprochen haben, kann nichts schiefgehen.“ Frank schaute Melanie tief in die blauen Augen, um ihre Bedenken zu zerstreuen. „Glaub mir, es ist wirklich nur ein Streich innerhalb der Familie, mehr nicht. Wenn auch ein ziemlich böser, na und! Er soll sich ruhig bis auf die Knochen blamieren, wenn er als Kriminalhauptkommissar a. D. schon derart außer Diensten ist, dass er sogar auf den primitiven Enkeltrick reinfällt. Und das, meine Liebe, ist nicht strafbar. Und keine Sorge, die Kohle kriegt er natürlich wieder. So, Mellaschatz, eh ich wieder losmuss, lass uns doch noch mal schnell …“ Frank versuchte, Melanie auf sich zu ziehen, doch sie wollte jetzt lieber unten liegen. Das war was ganz Neues. Egal, Frank liebte es auch, missionarisch zu lieben.

Werner war wieder allein zu Haus. Rosalie und Kinder quälten sich in der höheren Bildungsanstalt, der arbeitsscheue Schwiegersohn lümmelte wahrscheinlich in der Jobagentur herum und Helga hatte einen Friseurtermin. Färben und Dauerwelle, das konnte dauern. Je länger, je lieber, wünschte sich Werner. Er plagte sich mit der Vorbereitung des Präventionsseminars. Zwar hatte er die gesuchten Fachartikel irgendwann gefunden, gründlich studiert und sich Notizen gemacht, kam aber mit dem Entwurf eines eigenen Vortrags nicht richtig voran. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Schuld war seine australische Enkeltochter Kässrihn, die sich wieder Kathrin nannte, seitdem sie nach Berlin übergesiedelt war.

Gestern hatte sie zum zweiten Mal angerufen. Ach, „Dschörmännie“ sei ja so toll, schwärmte sie ihrem „dier Opi“ dabei in einem Mix aus englischen und deutschen Brocken vor. Und „Börlinn“ habe es ihr ganz besonders angetan. Die „Piepels sein so lawli“, der „Tellewischntauer“ so „bigg“ und das „Brändenbörg Gäit“ so „gräit“. Und der Opi könne sich nicht vorstellen, wie „fanni änd sexi“ hier das „Schopping“ sei, vor allem im „KeyDieDabbeljuh“. Werner konnte das tatsächlich nicht. Kathrin ließ ihm auch keine Zeit zum Nachdenken, denn sie schnatterte ohne Luft zu holen. Das Studio sei „sooo bjutifull“, erfuhr er weiter, und „wärri“ günstig gelegen, ganz in der Nähe vom „Ännimälgaaden“, und die Miete sei nicht so „hai“, dass sie diese nicht erwirtschaften könne. Aber leider, leider sei doch nicht alles „wärri gud“. Der „bäd“ Immobilienmakler habe von heute auf morgen die „Prowischn“ verdoppelt und das sei so gemein, weil sie damit doch nicht rechnen konnte. Sie habe bereits die Mama angerufen und die würde das Geld sofort überweisen, wenn Kathrin schon ein Girokonto besäße, sie habe aber noch keine Zeit gehabt, sich eines einzurichten und würde das auch nicht mehr bis morgen schaffen, leider, aber morgen müsse sie schon die „Prowischn“ bezahlen und wenn nicht, dann hätte der Makler noch „ä lott ow“ anderer Interessenten und dann wäre es aus mit ihrem „Drihm“ vom eigenen „Fäschnstjudio“.

„Was soll ich bloß machen, Opi?“, schluchzte es am anderen Ende der Leitung. „Ich bin ‚so wärri‘ traurig und ‚häff so männi tihrs inse Eihs‘.“ Das Schluchzen ging nahtlos in lautes Heulen über.

„Bitte nicht, nicht weinen, mein Engelchen!“, versuchte Werner zu trösten, „vielleicht kann dir der Opa aus der Patsche helfen. Wozu sind denn Opis da, nicht wahr? Hahaha! Na sag schon, wie viel brauchst du?“

„Zwanzig, zwanzigtausend, Opi. Besser wären fünfundzwanzigtausend. Mama hätte mir sogar dreißigtausend überwiesen, aber für die Maklerprovision würden mir zwanzig… äh, fünfundzwanzigtausend erst einmal reichen.“ Kathrin begann erneut herzzerreißend zu schluchzen: Nein, nein, nein, nicht einmal vom besten Opi der Welt könne sie so einen großen Liebesdienst annehmen, und er hätte ja auch nur seine bescheidene Rente … Ach, am besten wäre es, sie ginge wieder zurück nach „Austrälia“. Huhhuhhuh!

Einen Moment hatte sich Werner darüber gewundert, wie perfekt seine Enkelin bereits nach so kurzer Zeit die deutschen Zahlwörter beherrschte und sogar akzentfrei aussprach. Wenn Kathrin Zahlen so am Herzen liegen, freute er sich, wird sie bestimmt mal eine großartige Geschäftsfrau. Und deshalb sagte er ihr die Fünfundzwanzigtausend zu. Er bekomme ja Pension und damit sei eine solche Hilfsaktion innerhalb der Familie schon mal für kurze Zeit zu verkraften. Kathrin überhäufte ihn mit Dankes- und Lobeshymnen und Werner sonnte sich darin.

Ach sooo, fiel ihr plötzlich ein, eine Überweisung sei ja leider noch gar nicht möglich und sie könne das Geld dummerweise auch nicht persönlich von ihm abholen, sie müsse doch in „Börlinn“ bleiben, um zu verhindern, dass der gierige Makler die Räume an andere vermiete. Aber zum Glück habe sie bereits eine deutsche Freundin gefunden, der sie blind vertrauen könne. Die würde sich morgen Vormittag mit ihm in Verbindung setzen und das Geld abholen.

„Ach Opi, ai law ju sooo!“, hatte sie zum Schluss ins Telefon gehaucht, noch drei Küsse hinterhergeschmatzt und aufgelegt, ehe er ihr sagen konnte, dass er sie für etwas leichtsinnig halte.

Werner schmiss den Kugelschreiber hin, zerknüllte sein Manuskript und schaute zum x-ten Mal nervös auf die Uhr. Schon halb elf, warum meldete sich die dämliche Tussi nicht? Würde die erst anrufen, wenn Helga oder Frank zu Hause wären, käme er in arge Erklärungsnot. Verdammt, wenn er doch bloß Kathrins Telefonnummer hätte, dann könnte er schnell mal nachfragen. Aber vielleicht …

Das Telefon bimmelte. Werner bekam einen derartigen Schreck, dass ihm das Gerät beinahe aus der Hand gefallen wäre. Kathrins Freundin war am Apparat und entschuldigte sich für den verspäteten Anruf, aber sie sei wegen eines blöden Staus auf der Autobahn gerade erst in der Stadt angekommen. Sie wolle nur schnell eine Kleinigkeit essen und warte in einer halben Stunde vor der Sparkasse auf Herrn Gattermann. An der Motorradkleidung und an den langen blonden Haaren könne er sie erkennen. Er möge sich aber bitte, bitte beeilen, sie müsse doch pünktlich zur Übergabe der Provision wieder bei ihrer Freundin Kathrin in Berlin sein. Es käme auf jede Minute an. Bis gleich. Knack, tut, tut, tut …

Werner Gattermann verließ die Sparkasse mit einem prall gefüllten Kuvert in der Brusttasche und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. So viel Bargeld hatte er noch nie mit sich herumgeschleppt. Ihm war bewusst, wie unvernünftig er sich verhielt. Und das nicht nur, weil er sich vor zwei Stunden mit dem Thema „Senioren und ihr liebes Geld“ befasst hatte. Auch unabhängig davon war es für ihn selbstverständlich, als alter Mensch größere Beträge niemals ohne Begleitung abzuheben. Aber wen hätte er mitnehmen sollen? Helga? Unmöglich! Die war erstens noch nicht eingeweiht und saß zweitens beim Friseur. Oder Frank? Um Gottes Willen! Dieses arbeitsscheue Element durfte auf keinen Fall Wind von der Höhe seiner Ersparnisse kriegen. Der würde doch glatt die Jobsuche aufgeben und ihn in Zukunft nur noch anschnorren.

Damit das Abheben des Geldes schnell und möglichst unauffällig vonstattengehen konnte, hatte Werner gestern noch die Überweisung der Summe vom Sparkonto aufs Girokonto veranlasst. Und glücklicherweise war er heute der einzige Kunde im Schalterraum gewesen, sodass er nicht befürchten musste, von Betrügern beobachtet zu werden. Er klopfte zweimal auf die Stelle, wo der Geldumschlag an seinem Herzen ruhte, und sah sich misstrauisch nach allen Seiten um. Aber auch hier drohte keine Gefahr, der Platz vor der Sparkasse war menschenleer. Nur eine junge Frau in Motorradkleidung stand etwas abseits und rauchte. Ihre langen blonden Haare strahlten förmlich im Sonnenlicht. Das musste Kathrins Freundin sein.

„Herr Gattermann?“, fragte sie, als er zwei Schritte vor ihr stand, und trat die Zigarette aus.

„Der bin ich“, nickte er. „Und Sie sind …?“

„Julia Bienert, die Freundin Ihrer Enkelin Kathrin. Kathrin hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Ehrlich gesagt, hab ich Sie mir älter vorgestellt und nicht so rüstig und flott.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Haben Sie das Geld?“

Er ergriff ihre Hand. „Guten Tag erst mal. Danke, man tut, was man kann. Und wie geht‘s Kathrin?“

„Oh, soweit ganz gut.“ Julia sah ihn an. „Aber richtig super wird es ihr erst gehen, wenn sie den blöden Makler bezahlen und das Modestudio eröffnen kann.“ Sie schaute auf die Uhr und zog die Stirn in Falten. „Ich würde ja gern noch einen Kaffee mit Ihnen trinken und ein bisschen plaudern, aber ich muss jetzt wirklich los. Noch so einen Stau wie vorhin und Kathrins Träume sind ausgeträumt.“

„Um Gottes willen, bloß das nicht!“ Werner holte eilig das Kuvert aus der Brusttasche, reichte es Julia und sah ihr dabei prüfend in die Augen. „Ich kann mich doch hundertprozentig auf Sie verlassen, oder? Mit so viel Geld unterwegs zu sein, ist nicht ganz ohne. Bis Berlin ist es schließlich kein Katzensprung.“

„Keine Angst, ich pass‘ schon auf mich auf. Und auf das Geld natürlich auch!“ Julia öffnete den Reißverschluss ihrer Motorradkluft und stopfte sich den Umschlag unters T-Shirt ins Dekolleté. „Hier ist es vor unbefugtem Zugriff absolut sicher“, sagte sie und lächelte ihn an.

Strammes Mädel, dachte Werner. Sehr hübsch. Und dieses Lächeln, einfach bezaubernd. Es wird schon alles gutgehen. Er folgte ihr zum Motorrad, das seinem Wagen fast gegenüber geparkt war.

„Na dann“, sagte Werner und reichte ihr die Hand, „kommen Sie pünktlich und heil in Berlin an. Und grüßen Sie Kathrin von mir.“

„Ach, Herr Gattermann“, rief Julia, während sie den Motorradhelm wieder abnahm, den sie sich gerade erst übergestülpt hatte. Sie schüttelte die blonde Mähne und schlug sich die flache Hand vor die Stirn: „Jetzt hätte ich es doch beinahe vergessen. Ich soll Ihnen natürlich von Kathrin vielen herzlichen Dank sagen. Sobald sie Zeit hat, will sie ihren lieben Opi besuchen und ihn persönlich drücken und küssen. Für heute müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“ Sie legte den Arm um Werners Hals, drückte ihn fest an sich, sodass er nicht nur ihre Brüste, sondern auch das Geldbündel spüren konnte und küsste ihn schmatzend auf beide Wangen.

Puuuh, dachte Werner, als er zu seinem Wagen ging, ist zwar sympathisch und sieht klasse aus, stinkt jedoch mächtig nach Zigarettenqualm. Genau wie mein vermaledeiter Schwiegersohn.

Plötzlich drehte er sich noch einmal um und rief Julia zu: „Kathrin soll mich anrufen, wenn alles geklappt hat!“ In dem Moment streifte sein Blick ihr Nummernschild. Aber … wieso hatte das … ein ortstypisches und kein … Berliner Kennzeichen? Julia wohnte doch in Berlin und nicht in diesem Kaff hier. Wie hätte sie sonst Kathrin kennenlernen sollen? Hier war doch was faul! Werner lief zu Julia zurück, die bereits auf dem Motorrad saß und es gerade startete.

„Ist noch was?“, rief sie, als er neben ihr stand.

„Nur eine Kleinigkeit: Würden Sie bitte noch mal absteigen und mir Ihren Ausweis oder Führerschein zeigen?“

„Hab ich etwa falsch geparkt?“ Julia wurde blass, dann lachte sie: „Aaah, verstehe: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Na ja, bei so viel Geld auch logisch. Warten Sie …“ Doch anstatt abzusteigen und ihre Papiere zu zücken, gab sie Gas und brauste davon.

Werner eilte außer sich vor Entsetzen zu seinem Wagen, warf sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Instinktiv tastete er nach dem Blaulicht, griff jedoch ins Leere. Zum Teufel, er war doch längst „a. D.“ und saß nicht im Polizeiauto! Egal, er musste die flüchtige Julia einholen. Werner schaltete in kurzen Intervallen höher und jagte ihr schließlich im vierten Gang hinterher. Plötzlich bog sie nach links in eine Fußgängergasse ein, in die Werner ihr mit dem Auto nicht folgen konnte.

„Na warte, du blonde Hexe, du trickst Werner Gattermann nicht aus! Der weiß, wo diese Gasse mündet, und da wird er dich kriegen“, schrie er, während er mit 90 Stundenkilometern durch die Stadt raste. Passanten sprangen zur Seite. Werner behielt den Fuß auf dem Gaspedal. Bei Gelb über die Kreuzung. Kein Problem. Mazda überholt, Mercedes überholt. Jetzt noch den Kleinbus …

Als die Motorradfahrerin aus der Gasse herauskam, war sie nicht mehr allein auf der Maschine. Auf dem Rücksitz saß ein Mann, der ebenfalls einen Helm aufhatte, aber keine Motorradkluft, sondern normale Straßenkleidung trug. Sie bog jedoch in die entgegengesetzte Richtung ein und rollte somit direkt auf Werner zu. Als sie aneinander vorbeirauschten, erkannte ihn Julia und gab sofort Gas. Werner bremste scharf, schleuderte wie in einem billigen Actionkrimi den Wagen herum, wobei er fast ein Müllauto rammte, und jagte dem Motorrad hinterher. Der Abstand war inzwischen schon ziemlich groß geworden. Werner fluchte. Zirka hundert Meter vor ihm musste Julia an einer roten Ampel halten.

„Gleich hab‘ ich dich, du Schlampe“, schrie er.

Noch knappe dreißig Meter … Plötzlich sprang der Mann vom Motorrad und rannte in eine Querstraße hinein. Julia startete sofort durch, obwohl die Ampel noch Rot anzeigte. Werner preschte ihr hinterher. Noch zwanzig Meter … Er sah, wie Julia auf einmal den Kopf drehte und nach hinten schaute.

„Ich bin noch daaa“, schrie er ihr zu, „und du wirst mich auch nicht mehr looos! Aber kuck lieber nach vorn, dämliche Kuh, sonst …“

Zu spät. Das Motorrad krachte in einen Radfahrer mit knallroten Kopfhörern auf den Ohren, der, ohne auf den Verkehr zu achten, die Straße kreuzte. Samt Fahrrad wurde er in die Luft geschleudert, knallte zu Boden und schlitterte über den Asphalt, bevor er reglos liegenblieb. Julia war mit der Maschine beim Aufprall auf die Seite gefallen und rutschte ebenfalls über die Straße. Fünf, acht Meter weit.

Werner riss entsetzt die Augen auf. Bremsen quietschten. Seine Bremsen. Er sprang aus dem Auto und rannte, so schnell er konnte, zur Unfallstelle.

Julia lag auf dem Rücken, der Kopf war zur Seite gedreht, das rechte Bein unter der Maschine eingeklemmt. Ein Passant sprang hinzu, hob das Motorrad von Julias Bein und schob es an den Straßenrand. Werner kniete sich neben Julia hin, rief ihren Namen, klopfte aufs Helmvisier, tastete an ihrem Hals nach dem Puls. Einmal, und noch einmal – er spürte nichts. Verdammte Scheiße, dachte er, die ist … tot. Aber die hat doch mein Geld! Und Kathrin hat keins …

Drei Meter weiter versuchte eine zierliche Frau dem verunglückten Radfahrer Erste Hilfe zu leisten, eine andere telefonierte nach dem Rettungsdienst.

Inzwischen war die Unfallstelle von etlichen Gaffern umringt. Einer fragte sogar, ob er helfen könne.

„Neiiin“, schrie Werner, „mir kann keiner helfen! Diese elende Hure hat mich beklaut! Wo hat das Miststück … bloß das … Geld versteckt …?“

Die Gaffer gafften sich erstaunt an: Was war mit dem Alten los? Ein betrogener Zuhälter? Oder ein geprellter Freier? Oder was?

Werner zog den Reißverschluss ihres Overalls bis zur Hüfte herunter und tastete mit beiden Händen Julias Oberkörper ab. Dann schob er eine Hand ganz tief in den Ausschnitt des T-Shirts, suchte auf den Brüsten, neben den Brüsten, zwischen den Brüsten, fand aber nur eine Kette mit einem Herzanhänger – und keinen einzigen Geldschein.

„Ey, Alter, Erste Hilfe geht aber anders. Lass mich mal ran!“, mischte sich ein junger Mann ein und versuchte, ihn am Arm hochzuziehen. Werner wehrte ihn ab und begann, von der Taille an aufwärts unter Julias T-Shirt zu suchen, wobei er es immer weiter nach oben verschob.

In diesem Moment bewegte Julia den linken Fuß. Werner bemerkte es nicht, durch die Gafferschar ging jedoch ein Raunen.

„Mann, der Opa hat se woll nich alle!“, empörte sich eine junge Frau angewidert. „Ruft doch mal einer die Polizei!“

„Ich bin die Polizei“, brüllte Werner aufgebracht, „behindern Sie nicht die Ermittlungen, sonst verhafte ich Sie!“

„Nimm dies fürs ‚Ermitteln‘ und das fürs ‚Verhaften‘, du perverser Grapscher“, keifte eine alte Frau und schlug wütend mit ihrer Handtasche auf ihn ein.

Werner hielt schützend die Arme vor den Kopf. „He, haltet doch mal die … aua!!! … Furie fest … autsch!!! … Das ist Widerstand gegen die Staats… au, verdammt!!! … Das wird Sie teuer …“

Zwei Männer zerrten ihn hoch und drehten ihm die Arme auf den Rücken. „Was soll das, ihr Arschgeigen! Lasst mich looos!“, brüllte er und versuchte, sich zu befreien, aber seine Kraft reichte nicht aus.

Auf einmal entdeckte Werner seinen Schwiegersohn, der sich einen Weg durch die aufgebrachte Menge bahnte. Zuerst war er verwundert, ihn hier zu sehen, dann brüllte er erleichtert: „Frank, Fraaank, hierher! Du musst mir helfen!“ Und die Männer, die ihn noch immer fest im Griff hatten, schnaubte er an: „Da kommt mein Schwiegersohn. Der wird bezeugen, dass ich Polizist bin. Dann könnt ihr euch ‘ne Pfeife anstecken, das schwör ich euch!“

Frank stürzte, ohne seinen Schwiegervater eines Blickes zu würdigen, auf seine Freundin zu. Diese hatte sich, unterstützt von zwei Helfern, etwas aufgerichtet und zog das T-Shirt wieder nach unten. Frank warf seinen Motorradhelm zu Boden und half ihr, sich von ihrem Helm zu befreien. Dann nahm er sie in den Arm. „Melanie, mein Schatz, Gott sei Dank, du lebst …“

Werner traute seinen Augen und Ohren nicht. „Wieso Melanie? Die heißt doch Julia!“, brüllte er. „Und was hast du überhaupt mit dieser Schlampe zu schaffen?“

Melanie barg ihr Gesicht an Franks Brust und schluchzte: „Ich hab … alles vermasselt … Und mein Bein tut so weh!“

Werner versuchte erneut, sich aus dem Griff der Männer zu befreien. Vergeblich. „Was hat die Hexe vermasselt, Frank, waaas? Du steckst doch nicht mit der unter einer …?“

„Und ich hab“, schluchzte Melanie weiter, „… einen Menschen … überfahren!“

„Fraaank, was hab ich dir denn getan, du hinterfotziger Versager, du?“, wütete Werner.

„Was ist mit dem … Radfahrer?“, Melanie sah ihren Freund flehend an. „Er lebt doch, ja? Frank, bitte sag, dass er noch lebt, bitte …!“

Frank blickte zu der Stelle hinüber, wo der Verunglückte lag, konnte ihn aber wegen der Menschentraube ringsherum nicht sehen. Da fiel sein Blick auf das verbeulte Mountainbike. Er sprang auf, hob das Rad an, ließ es wieder fallen, griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Neiiin, das konnte doch nicht … Sicherlich gab es in der Stadt noch mehrere solcher …

„Fraaank, was habt ihr mit Kathrin gemacht?“, schrie Werner seinem Schwiegersohn hinterher, der sich gerade mit Ellenbogen und Fäusten einen Weg durch die Gafferschar bahnte. „Meine Enkelin hat euch doch nichts getan, ihr verdammten Kanaillen, warum …“

Plötzlich gellte ein Schrei durch die Luft, der Werner und den Umstehenden in Mark und Bein drang: „Maiiiiiiiik!“

„Maik?“, wunderte sich Werner. „Wieso Maik? … Maik ist doch in der Schule …“

Endlich war es Werner gelungen, sich loszureißen. Während er die Gaffer beiseitedrängte, rief er: „Frank, was ist mit Maik?“ Im selben Moment sah er den Verunglückten und erkannte entsetzt in ihm seinen Enkel.

Frank stürzte sich auf seinen Schiegervater und warf ihn zu Boden. „Du hast Maik auf dem Gewissen, du … Mörder …“, heulte er und drückte ihm die Kehle zu. Werner konnte sich jedoch mit einem Judogriff befreien. Gegen einen einzelnen Widersacher reichte seine Kraft noch. Doch schon wurde er wieder von vier Armen gepackt und vier andere Arme hielten Frank fest. Wie sehr beide auch rüttelten und zogen, sie schafften es nicht, sich zu befreien, warfen sich jedoch hasserfüllte Blicke zu. Über den toten Maik hinweg.

„Hast du mein Geld, du hinterhältiger Ganove? Ich bring dich … in den Knast …“ Werner war knallrot angelaufen und atmete schwer.

Frank schwieg und lächelte in sich gekehrt.

„Und was ist mit Kathriiin?“, keuchte Werner.

„Die hütet die Kängurus, du Idiot!“, fauchte Frank und grinste dabei wie irre.

Endlich hatte Werner begriffen. „Aber, Frank …“, flüsterte er und wurde kreidebleich, „unser Maik … ich habe meinen Enkel verloren …“

„Und ich meinen … Sooohn“, schrie Frank, „und alles nur, weil du seniler Bullenarsch es nicht … lassen kannst, … Kommissar zu spielen …!“

Der ungeliebte Amadeus und andere Kriminalgeschichten

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