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Zweierlei Wut
ОглавлениеKann jemand, der Aufstände begrüßt, eine Diktatur fordert, Philister erschreckt und sich nicht scheut, die seit Urzeiten bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als »die ganze alte Scheiße« zu beschimpfen, eine Wissenschaft begründen, sei es nun die des Sozialismus oder sonst eine? Mein kommunistischer Bekannter hat ja recht: Es sind nicht Texte von Marx, sondern Unzufriedenheiten, die Menschen normalerweise in den Denk- und Handlungshorizont linker Überzeugungen schleudern – manchmal zum Anarchismus, manchmal zum Kommunismus, manchmal zu Occupy und manchmal zu einer bescheiden mühsamen Arbeit als Rechtsanwältin für Flüchtlinge ohne Papiere. Selbst bei Marx gab es, wie ich gezeigt habe, diese Erregungszustände; seine Arbeit war durchaus Nervensache.
Wie hängen diese Nerven aber mit seinen Analysen zusammen? Warum reicht es manchen Menschen nicht, ihr Unbehagen am Gemeinwesen in einer Krawalldemo, einem Songtext, einem Graffito oder einer anderen spontanen Verausgabung der Affekte zu entladen?
Ich selbst bin von der beschriebenen Affektspannung nicht an der Hand von Karl Marx abgekommen, sondern aus einem anderen Grund. So, wie Marx auffiel, dass es unter angeblich seit 1789 gleichgestellten Menschen, die allesamt keine Adligen sind, zwei verschiedene Sorten Teilnahme an der Produktion der gesellschaftlich benötigten Güter und Dienstleistungen gibt, so gibt es, lernte ich mit etwa 16 Jahren, nicht nur eine, sondern mindestens zwei Sorten Wut, die heiße und die kalte.
Menschen werden wütend, wenn ihnen etwas Unlust bereitet oder eine erhoffte Lust verwehrt. Manchmal reicht schon die Befürchtung, dass es so kommen könnte. Dass wir Menschen bei Unlust, verwehrter Lust oder Angst vor einem von beidem wütend werden, ist für Hordentiere wie uns ein von der Evolution nützlich eingerichteter Umstand.
Wenn es andere unseresgleichen sind, die uns Unlust bereiten oder Lust verweigern, können Aggression und das aggressive Gebaren, das aus Wut entsteht, die Verursacher unserer Unlust oder Angst zur Korrektur ihres Verhaltens zwingen. Wenn wir Pech haben, entsteht daraus allerdings wieder Wut bei jenen; das Resultat ist im schlimmsten Fall die berühmte Gewaltspirale, auch als Teufelskreis bekannt.
Mit 13, 14 Jahren, als ich die Begeisterung für Utopien gerade verlor, war ich an Schultagen zwischen 8 und 14 Uhr oft genug wütend. Das lag außer an pubertätstypischen Stimmungsschwankungen an besonderen Umständen, durchaus objektiv messbaren, die auch Eltern und anderen Leuten auffielen, die meine Schule nicht besuchten. Wir hatten es da mit einer im Umlandvergleich überproportional hohen Anzahl von problematischen Lehrerinnen und Lehrern zu tun, Alkoholikern, Depressiven, Cholerikern, Esoterikern, die mangelnde Lernerfolge bei den ihnen anvertrauten jungen Menschen als persönliche Beleidigungen empfanden. Ihre Vergeltungsmaßnahmen schonten die Kinder vermögender oder einflussreicher Eltern mit nachtwandlerischer Sicherheit. Bei denen, die nicht geschont wurden, kam daher Wut auf; zunächst heiße.
Heiße Wut ist Erregung, die zwar die Quelle des Übels erkennt, das sie reizt, aber nicht weiter denken kann als bis zum unmittelbaren Gegenschlag. Heiße Wut war das, was uns dazu aufstachelte, im Unterricht Lärm zu schlagen, das verhasste pädagogische Personal bei Zufallsbegegnungen in der Stadt zu verhöhnen, seine Autos oder Fahrräder zu beschädigen und ähnliche alberne bis ernsthaft destruktive Angriffe mehr zu riskieren, die natürlich ständig mit Niederlagen endeten, nämlich Strafen, Schwierigkeiten zuhause, Schadensersatz usw. Wenn die Wut nicht abebbte (wie sollte sie, die Anlässe bestanden weiter), konnte das zu folgenreich verpfuschten Erziehungslaufbahnen führen, zum Sitzenbleiben beispielsweise, zu Schulverweisen und anderen Erlebnissen, die das Leiden verlängerten und verschärften.
Wut, die zwischen unartikulierbarem Groll und unpräzisen Gegenschlägen hin und her schwingt, kannte auch Karl Marx, nicht nur in Jugendjahren (die bei ihm vergleichsweise behütet und sorgenfrei waren).
Als linker Oppositioneller im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts musste er harte Schläge einstecken, von der unmöglich gemachten akademischen Karriere, zu der ihm auch seine offensichtliche intellektuelle Begabung nicht verhelfen konnte, über Zensurmaßregeln gegen Zeitungen, bei denen er schrieb, weil er nicht Professor werden konnte, bis hin zu erzwungenen Wohnungswechseln wegen staatlicher Verfolgung, die ihn erst nach Paris jagte, wo ihn die preußische Regierung anschwärzen ließ, dann nach Brüssel, wo er blieb, bis ihn auch Belgien auswies, so dass er zurück nach Paris und endlich nach London übersiedelte, wo er an seinem Hauptwerk arbeitete, bis er starb.
Der Lesesaal der alten British Library, Marx’ Arbeitsplatz
Auf seinem teils krummen, teils gezackten Weg musste Marx mit seiner Familie, also Frau und Töchtern, ein finanziell unsicheres und gesundheitsschädigendes Leben führen, das ihm unter anderem Karbunkel (die aus Haarwurzelproblemen und Furunkeln entstehen) bescherte.
Dieses spezielle körperliche Leiden befeuerte seine Wut auf die herrschenden Gewalten, denen er die Schuld an seiner prekären Existenz gab, so sehr, dass er mit grimmigem Humor im Juni 1867 an Engels schreiben konnte: »Jedenfalls hoffe ich, dass die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkeln denken wird. Welche Schweinhunde es sind, jetzt wieder neue Probe!«
So arg die heiße Wut in solchen Momenten in ihm geglüht haben muss, die kalte lag ihm näher. »Kalte Wut« nenne ich einen Zustand der Unzufriedenheit über Leiden und ausbleibendes Vergnügen, der zum kühlen, auf langfristigen Erfolg angelegten Plan aushärtet, statt sich in spontanen Eruptionen zu verausgaben.
Persönlich begegnet bin ich dieser kalten Wut das erste Mal bei Freundinnen und Freunden an der unerfreulichen Schule, von der ich schon berichtet habe. Die machten sich klar: Arrest, schlechte Noten und Sitzenbleiben verbessern die Situation nicht. Besser war der Zusammenschluss mit anderen, um einander bei Laune zu halten, oder ein Überlebensplan (etwa: die Schule wechseln, zu Verwandten anderswo ziehen). Am besten war strategisches Handeln: Herausfinden, ob die Gegenseite irgendwelche Regeln befolgte, die man gegen sie nutzen konnte. Tatsächlich muteten sich die Problemlehrerinnen und -lehrer zum Beispiel ungern selbst die Zusatzarbeitszeit der Arrestüberwachung zu, was sich ausnutzen ließ, oder sie lagen untereinander in Streit, den man für Schaukelpolitik instrumentalisieren konnte, und dergleichen mehr.
Die Lehre lag auf der Hand: Heiße Wut beißt und schreit wider das Übel, kalte lernt und versteht, um das zu ändern oder abzuschaffen, was sie provoziert hat.
Nicht alle vollzogen diesen Schritt mit. Ich erinnere mich an einen nicht unsympathischen Mitschüler, der nie bereit war, seine Wut abkühlen zu lassen. Er fand, dass jeder Versuch, die Beweggründe der Gegenseite zu verstehen, letztlich darauf hinauslaufen müsse, ihr bis zu einem gewissen Grad zu vergeben. Diskussionen auf dem Pausenhof, die zum Beispiel um die Unterscheidung zwischen Verrückten, Alkoholikern und Überforderten kreisten, sabotierte er mit Worten wie: »Ich will nicht wissen, ob der Typ ein Alkoholiker ist, er ist ein Drecksack!«
Das beleidigende Wort brachte denselben Furor zum Ausdruck, der die Formulierung »Schweinhunde« im Brief von Marx an Engels ausgelöst hat. Aber es ignoriert, was ich damals nur spürte und nicht artikulieren konnte: Wenn wir wissen, dass ein Lehrer ein Alkoholiker ist, und Beweise dafür finden, die wir unseren Eltern vorlegen können, haben wir einen Hebel gegen ihn gefunden.
Verständnis muss nicht versöhnlich gemeint sein. Im Gegenteil, so lernte ich später, sind es oft die allerunversöhnlichsten Gegnerinnen und Gegner eines Missstandes, die sich ums Verständnis der Situation, ihre logische Zergliederung und historische Erklärung die allergrößten Verdienste erwerben, weil kalte, aber große Wut ihnen die Kraft dazu verleiht.
Zwei der beeindruckendsten Beispiele hierfür, auf die ich im Folgenden aus Kontrast- und Vergleichsgründen bei der Erläuterung des Lebens- und Denkweges von Marx hin und wieder zurückkommen werde, fand ich bei einem schwarzen Mann, der heroisch gegen den Rassismus gekämpft hat, und bei einer weißen Frau, die sich zeitlebens auf einem besonders ungemütlichen Terrain gegen männliches Dominanzgehabe behaupten konnte.