Читать книгу Der kleine Medicus. Band 1: Die geheimnisvolle Villa - Dietrich Grönemeyer - Страница 5
Ein Schulunfall mit Folgen
Оглавление„Schneller! Wir sind spät dran!“, rief Nano.
„Ich komme ja schon!“, sagte Marie. „Hoffentlich schaffen wir es noch. Meine Deutschlehrerin ist doch immer so streng.“
„Komm, wir nehmen die Abkürzung durch den Park!“
„Aber der Park ist jetzt doch noch geschlossen“, entgegnete sie.
„Na und?“
Nano mochte seine kleine Schwester. Manchmal war es ihm aber auch unangenehm, mit ihr zusammen gesehen zu werden. Sie war nämlich gerade erst in die dritte Klasse gekommen. Nano und Marie waren nicht alleine unterwegs, denn Kannickel umrundete sie, lief ein Stück voraus und machte ab und zu Sprünge wie ein Feldhase.
„Du kannst nicht mitkommen! Los! Zurück nach Hause!“, rief Marie.
Kannickel war der Hund der Familie Sonntag und verdankte seinen Namen ebendiesen komischen Sprüngen, über die Nano und Marie so gerne lachten.
Vor allem über den Buckel, den die Hündin dabei machte. Und dann waren da noch die Schlappohren, die dafür sorgten, dass man den Hund aus einiger Entfernung tatsächlich für ein Kaninchen halten konnte.
„Jetzt geh schon nach Hause, Kannickel!“, rief Nano und kletterte über das kleine Türchen des Stadtparks.
Kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, half er seiner Schwester.
Nano hieß eigentlich Florian Sonntag und war zwölf Jahre alt. Seinen Spitznamen hatte seine Oma Rosi erfunden, die aus Italien stammte. Da Nano kleiner war als andere Jungen in seinem Alter, hatte ihn seine Oma irgendwann Nanolino genannt. Das war Italienisch und bedeutete auf Deutsch Zwerglein. Und aus Nanolino war schließlich Nano geworden, also Zwerg.
Marie hingegen hieß tatsächlich Marie.
Zur Familie Sonntag gehörten außerdem Marlene, Nanos und Maries Mutter, sowie Opa Erwin. Der war allerdings meistens schlecht gelaunt und schimpfte oft auf alles und jeden. Ein echter Griesgram.
Und Kannickel mochte er auch nicht. Das wäre vielleicht noch erträglich gewesen, wenn er nicht auch noch im Haus der Sonntags am Schillerhain gewohnt hätte. Nanos und Maries Vater lebte nicht mehr.
Er war vor ein paar Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Marlene Sonntag war also Witwe.
Oma Rosi besaß ihr eigenes Haus und war nie schlecht gelaunt. In ihrem großen Garten wuchsen unzählige Kräuter und Heilpflanzen. Von Naturheilkunde verstand sie eine ganze Menge. Das interessierte Nano sehr, denn er wollte unbedingt Arzt werden. Das war sein Traumberuf. Und das nicht nur, weil er diesen schlimmen Traum gehabt hatte. Nano hatte nämlich geträumt, dass Kannickel krank sei. Schwer krank.
Schweißgebadet war er aufgewacht und hatte plötzlich eine geniale Idee. Er wollte heilen lernen, er wollte den Menschen, den Tieren, einfach allen helfen, gesund zu werden. Oder besser noch, er wollte allen helfen, gesund zu bleiben.
„Schneller, Marie! Die Glocke läutet schon!“, rief Nano.
„Ich kann nicht schneller!“, hörte er seine Schwester neben sich.
Die Glocke war die Schulglocke. Der Unterricht begann!
Nano und Marie rannten über den Pausenhof und schafften es tatsächlich gerade noch, vor ihren Lehrern im Klassenzimmer zu sein.
„Und das alles wegen Mathe“, keuchte Nano und zog das Heft aus seiner Tasche.
Eine Mathestunde dauerte viel länger als jede andere Schulstunde. Jedenfalls fühlte es sich so an. Die Zeiger der Uhr über der Tür bewegten sich langsamer, der Lehrer sprach langsamer. Am liebsten hätte Nano die Zeiger ein bisschen angeschubst und die Uhr vorgestellt. Aber das ging ja nicht. Er musste also ausharren, bis die Stunde endlich vorbei war.
Dann stand Deutsch auf dem Stundenplan.
Nach der ersten Pause ging Nano zur Rundturnhalle, die so hieß, weil sie so rund war wie der Mond.
Sogar die beiden Tribünen waren an den runden Bau angepasst. Warum sich der Architekt für diese ungewöhnliche Form entschieden hatte, wusste Nano nicht. Dafür aber wusste er, dass jetzt die beste Schulstunde des Tages kommen würde: Sport.
Sein absolutes Lieblingsfach. Das lag vor allem an Mister Schlau. Er war nicht nur Nanos Sportlehrer, sondern auch sein Klassenlehrer. Seinen Spitznamen verdankte er seinem unheimlich guten Gedächtnis und den vielen Sprachen, die er beherrschte. Natürlich war er auch ein guter Sportler. Sogar an den Olympischen Spielen hatte er schon mal teilgenommen, aber das war schon eine Weile her. Jetzt war er Sportlehrer und setzte sich auch außerhalb der Schule für seine Schüler ein.
„Was machen wir wohl heute?“, fragte Frido, Nanos bester Freund, nachdem sie sich umgezogen hatten.
„Ich glaube, Mister Schlau fischt gerade die Taue von der Decke“, antwortete Nano.
„Nicht schon wieder!“, meckerte Frido, der es hasste, eines von den dicken Tauen bis zur Decke hinaufzuklettern.
Nano hingegen machte genau das Spaß. Wie ein kleiner Affe kletterte er flink hinauf und sah lachend von oben auf seine Mitschüler herab. Nano war ein echtes Sportass. Vor allem Fußball und Skateboardfahren waren sein Ding.
„He! Nano! Was machst du da oben?“, rief sein Sportlehrer. „Die schöne Aussicht genießen? Komm runter. Die anderen wollen auch noch.“
„Wollen?“, wiederholte Frido leise. „Ich bestimmt nicht.“
„Hörst du? Frido will als Nächster“, sagte Mister Schlau, als Nano das Tau heruntergerutscht kam.
Frido hatte keine Wahl. So langsam wie möglich näherte er sich dem dicken Tau, packte noch langsamer zu und begann zu klettern. Dabei war auch Frido ein guter Sportler und der beste Torwart des FC Heimaterde, in dem auch Nano spielte.
Aber klettern? Und dann auch noch an einem Tau? Nach oben?
Nein, das war nichts für ihn.
„Du kannst ruhig mehrere Zentimeter auf einmal nehmen“, lachte Mister Schlau.
„Ich bin doch schon fast oben“, meinte Frido, obwohl er noch keine zwei Meter erklettert hatte. „Mehr geht nicht. Ich komme wieder runter.“
Frido kam, und zwar schnell.
Sogar sehr schnell.
Er landete mit einem klatschenden Geräusch auf der dicken Matte, ließ sich herunterrollen und wollte gleich wieder aufspringen. Dabei erwischte er leider mit einem Fuß den Mattenrand, rutschte ab und fiel auf den harten Hallenboden.
„Alles klar, Frido?“, fragte Mister Schlau.
Frido machte ein schmerzverzerrtes Gesicht und versuchte aufzustehen.
„Au!“, rief er und setzte sich. Eine Träne rann seine Wange hinunter, während seine Hände den Knöchel seines rechten Fußes umklammerten.
„Lass mal sehen“, sagte der Sportlehrer.
Widerwillig zog Frido seine Hände zurück. Zum Vorschein kam ein dick angeschwollener Knöchel, der schon leicht blau wurde. Als der Lehrer ihn vorsichtig berührte, liefen noch mehr Tränen über Fridos Wangen.
„Au! Das tut höllisch weh!“
„Eispackungen!“, rief Nano aufgeregt. „Frido hat sich bestimmt den Fuß verrenkt oder gebrochen. Das sieht man an dem blauen Bluterguss. Wir müssen den Fuß kühlen und hochlegen. Das weiß ich von meiner Oma.“
„Wir haben ein Kühlkissen im Kühlschrank“, stimmte Mister Schlau zu und schickte einen Schüler los, der auch gleich wieder mit dem Kühlkissen zurück war.
Vorsichtig legte der Lehrer das blaue Kühlkissen auf den blauen Knöchel, den Nano bereits auf einen Sandsack gelagert hatte. Diesmal schrie Frido nicht auf, sondern machte ein fast entspanntes Gesicht.
„Das wird schon wieder“, sagte der Lehrer. „Wir bringen dich zu einem Arzt. Wer kommt mit?“
„Nano!“, bat Frido. „Er soll mitkommen.“
„Lilly und ich kommen auch mit“, sagte Manuel, der genau wie Lilly auch in Nanos und Fridos Klasse ging.
„Okay, von mir aus“, stimmte Mister Schlau zu.
„Aber nur ihr drei. Die anderen gehen zurück ins Klassenzimmer und warten auf den Vertretungslehrer.“
„Wo fahren wir hin?“, fragte Lilly.
„Ihr werdet schon sehen“, antwortete Mister Schlau.