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Im Säuremeer

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Nano sah sich um. Neben ihm saß ein Hase mit rosarotem Fell und kaute lässig vor sich hin. Er war etwa halb so groß wie er. Sie befanden sich in einer Kapsel, die als Mini-U-Boot ausgestattet war, um durch einen menschlichen Körper zu reisen. Dazu war die Kapsel von Micro Minitec auf die Größe einer kleinen Pille geschrumpft und verschluckt worden.

„Das glaubt mir kein Mensch“, hauchte Nano. „Was meinst du, Rappel?“

Der rosarote Hase sagte kein Wort, sondern kaute weiter. Sonst rührte sich nichts. Aber Nano hatte eine Vorahnung, dass dies nicht so bleiben würde.

„Ihr hängt fest“, erklärte Dr. X per Funk. „Am Magenmund direkt über dem Magen. Dieser Verschlussmechanismus zwischen Speiseröhre und Magen verhindert, dass der Magen überläuft.“

„So wie ein Spion, der zum Feind überläuft?“, fragte Nano. „Wie bei James Bond?“

„Nein“, antwortete Dr. X schmunzelnd. „Eher wie bei einem vollen Glas, in das man noch mehr Wasser füllt.

Der Magenmund und die Speiseröhre verkrampfen zwar eigentlich nicht, das ist kaum bekannt. Aber weiter unten, am Eintritt zum Magen, ist auch Muskulatur – und das Zwerchfell. Sie können an Kraft verlieren und ausleiern. Wenn das passiert, gelangt Magensäure in die empfindliche Speiseröhre. Vor allem nach dem Essen. Man spürt dann ein sonderbares Brennen, das Sodbrennen genannt wird. Das ist auf Dauer gesundheitsschädlich.“

„Was ist, Micro, hast du jetzt einen Pups, also, ich meine, einen Rülpsi im Hals?“, fragte Nano. Er wollte witzig sein und so seine heimliche Angst überwinden.

„Ja, zum ersten Mal, und zwar, weil ich dich verschluckt habe, du Nervensäge“, antwortete sie mit leicht spöttischem Ton.

„Ich? Eine Nervensäge?“, maulte er. „Ich bin ganz bestimmt keine …“

In diesem Augenblick fing die Kapsel an, sich immer heftiger zu bewegen.

„Aufgepasst!“, rief Dr. X ins Mikrofon. „Die Fahrt geht weiter!“

„Wieso?“, fragte Nano, der schon gehofft hatte, von Micro Minitec gleich wieder ausgespuckt zu werden.

Stattdessen gab das Zwerchfell den Weg frei.

„Hilfe!“, schrie Nano, denn unter der Kapsel tat sich ein bodenloser Abgrund auf. Rappel sah ihn mit großen Augen an. Nanos Herz pochte bis ans Kinn, sein Magen schien oben über dem Abgrund geblieben zu sein.

War das sein Ende? Er wollte gerade seine Augen schließen, als sein Blick ein Icon auf dem Display erfasste. Es zeigte die Kapsel, jedoch mit zwei Flügeln.

Nano zögerte keine Sekunde und berührte es blitzschnell.

Plötzlich verlangsamte sich der Sturz. Aus dem freien Fall wurde eine Art Gleitflug. Neben dem Icon erschien auf dem Display eine Grafik der Kapsel, die rechts und links Flügel ausgefahren hatte.

„Ein fliegendes Mini-U-Boot!“, rief Nano erleichtert.

„Du bist wirklich eine tolle Erfinderin, Micro!“


„Du warst aber auch nicht schlecht“, lobte ihn Micro Minitec. „Und eine Fingerlänge schneller als ich.“

„Ich wollte nicht so lange warten“, entgegnete Nano, noch immer mit pochenden Schläfen. Sein Magen aber kehrte wieder an seinen angestammten Platz zurück.

„Wie kann ich die Kapsel steuern?“, fragte er. „Was ist mit dem Antrieb?“

„Den gibt es nicht“, antwortete Micro Minitec.

„Die Kapsel ist ja eine Weiterentwicklung der Kapselendoskopie. Der Patient schluckt eine kleine Kapsel mit eingebauter Kamera, die den Magen und Darm fotografiert. Ich habe nur ein Cockpit hinzugefügt, aber keinen Antrieb. Wir lenken die Kapsel von außen. Mit dem Joystick kannst du lediglich den Bug heben und senken. Aber mehr nicht.

Den Rest siehst du auf dem Display. Die Icons sind selbsterklärend, wie du ja schon bemerkt hast. Ein paar Außenwerkzeuge sind noch dabei, zwei Greifarme und eine Minischere etwa. Die wirst du aber bestimmt nicht benötigen.“

„Okay“, nickte Nano und sah auf das Display.

Im Segelflug meisterte die Kapsel den Abgrund und setzte sanft auf der Oberfläche auf. Die Flügel zogen sich automatisch zurück.


„Wo sind wir?“, fragte er und blickte auf eine Art Meer. Die Kapsel bewegte sich auf Wellen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das fahle Licht.

„Das ist kein Wasser“, stellte er schließlich fest.

„Wasser macht nicht diesen komischen Schaum und diese Schlieren. Und was ist das denn für ein Ding? Ein Eisberg?“, fragte Nano und duckte sich unbewusst weg, als neben der Kapsel plötzlich ein großer, schwimmender, löchriger Felsen auftauchte.

„Ah, natürlich! Das ist eines von den Brotstückchen, die Micro verschluckt hat. Und diese fetten, roten Brocken da, das sind Tomatenstückchen“, erkannte er nach einer Weile.

Dann nahm der Seegang zu. Aus kleinen Wellen wurden Wellenberge. Nano schaute durch den Glasboden der Kapsel. Auch unter ihm wurde alles durchgewirbelt.

Eine große Welle schwappte über die Kapsel hinweg.

„Ein Seebeben! Ojeee, wir sind verloren!“

Nano drückte aufgeregt die Funktaste.

„Hallo? Hallo? Hört ihr mich? Dr. X? Hiiilfe! In Micros Bauch geht gerade die Welt unter! SOS! Helft uns! SOS!

Nano und Rappel in Seenot!“

„Keine Angst“, meldete sich die beruhigende Stimme von Dr. X aus dem Lautsprecher. „Ihr seid nicht in Gefahr. Ihr schwimmt nur in der Magensäure.“

„Säure? Die scheint wirklich ganz schön sauer auf uns zu sein“, befürchtete Nano. „Die schäumt ja vor Wut.“

„Keine Sorge, eure Kapsel ist säurefest“, erklärte Dr. X.

„Bist du sicher?“, entgegnete Nano und betrachtete ängstlich den Bug der Kapsel. Das gerade noch glänzende Metall verfärbte sich und wurde zusehends stumpf und schwarz. Die Wellen der Magensäure sahen aus wie große Mäuler, die begonnen hatten, an der Kapsel zu beißen und zu nagen.

„Ach du Sch…!“ Nano verschluckte die letzten Buchstaben und biss sich auf die Lippen. „Wir werden aufgelöst! Hilfe!!“, rief er. „Micro will uns verdauen!“

„Das sieht wirklich ungewöhnlich aus“, stellte Dr. X fest, als er die übertragenen Bilder von der Kapsel sah. „Eine derartige Veränderung haben wir noch nie beobachtet.“

„Sag ich doch, wir werden aufgelöst!“ Nanos Stimme versagte. Er rutschte immer tiefer in seinen Sitz.

„Werdet ihr nicht“, widersprach Micro Minitec ruhig.

„Diese Verfärbung hat nichts zu bedeuten. Die Säure ist nur ein bisschen aggressiver als bei unseren bisherigen Experimenten. Der Außenhülle kann sie trotzdem nichts anhaben.“

„Ja, vermutlich hat Micro recht“, stimmte Dr. X zu.

„Die Magenschleimhaut produziert übrigens täglich bis zu drei Liter Magensaft. Diese Säure dient nicht nur zur Verdauung, sondern auch zum Abtöten von unerwünschten Eindringlingen wie Bakterien.“

„Also doch!“, meinte Nano und sah Rappel besorgt an.

„Kannst du bitte deinem Magen sagen, dass er uns in Ruhe lassen soll, Micro?“

„Das geht leider nicht“, schmunzelte Micro Minitec.

„Auf die Arbeit des Magens habe ich keinen Einfluss. Das geht vollautomatisch. Wie das Atmen.“

„Schade“, meinte Nano.

„Aber keine Sorge, in der Kapsel seid ihr wirklich sicher“, ergänzte Dr. X.

„Also gut, das mag ja sein. Aber jetzt stürzt auch noch die ganze Meereshöhle ein“, entgegnete Nano. „Alle Wände bewegen sich! Ich fürchte, wir sind Micro auf den Magen geschlagen.“

„Nein, seid ihr nicht“, widersprach Micro Minitec.

„Das ist ganz normal. Durch die Bewegungen des gesamten Magens wird der Speisebrei durchgeknetet und durchgemischt. Anschließend wird er zum Magenausgang befördert und dann in kleinen Portionen weitergegeben.“

„Übergeben könnte ich mich auch“, meinte Nano.

„Wann hört dieses Seebeben endlich auf? Mir ist schon ganz schlecht.“

„Gleich“, antwortete Dr. X. „Aber vorher solltest du dir noch etwas ansehen. Pass auf und sieh nach oben zum Mageneingang.“

Nano richtete den Blick nach oben. Der Mageneingang über ihm war ein tiefschwarzes Loch, in dem er zunächst gar nichts erkennen konnte. Doch plötzlich tauchte etwas aus der Dunkelheit auf. Es war ein riesiger Kopf. Zwei tote Augen schienen ihn direkt anzustarren. Haare konnte er nicht erkennen, dafür aber Schuppen. Was war das nur für ein Ungeheuer? Nano gruselte es gewaltig!

Ein Fischkopf raste auf ihn zu und plumpste neben der Kapsel ins Säuremeer.

„Das ist eine kleine Sardine, die ich unzerkaut geschluckt habe“, erklärte Micro Minitec lachend.

„Extra für dich. Damit du verfolgen kannst, was so alles in meinem Bauch passiert.“

„Eine kleine Sardine?“, raunte Nano wütend.

„Wohl eher ein Blauwal.“

„Aufgepasst!“, sagte Dr. X. „Jetzt kannst du sehen, was mit der Sardine passiert.“

Der Fisch schwappte bedrohlich gurgelnd im Säuremeer auf und ab. Nach einer Weile begannen sich wie von Zauberhand die Schuppen zu lösen und verschwanden eine nach der anderen blubbernd in der Säure. Dann war die Haut dran, die sich in Fetzen vom Körper schälte. Schließlich fiel das Fleisch von der Gräte ab, die kurz darauf mit einem lauten, kratzenden Geräusch wie ein riesiger Kamm gefährlich an der kleinen Kapsel entlangschrammte.


„Igitt!“, maulte Nano. „Das ist ja wirklich total ekelhaft! Die Säure hat das Tier in Matsch verwandelt!“

„Natürlich“, sagte Dr. X.

„Schließlich muss der Körper ja an die Nährstoffe kommen, die in der Nahrung enthalten sind. Dazu muss der Fisch zunächst in Einzelteile zerlegt werden.

Das ergibt einen richtig schönen Matsch. Im Darm werden diesem Matsch dann die Eiweißbausteine entzogen, die Aminosäuren. Aus ihnen entstehen dann neue Eiweißbausteine, die für den menschlichen Körper geeignet sind. Fettbausteine liefern die Energie für den Körper. Alle wichtigen Stoffe werden aus der Nahrung entnommen.“

„Aus der Sardine wird Micro Minitec?“, fragte Nano.

„Könnte man so sagen“, stimmte Dr. X zu.

„Das sieht man ihr gar nicht an“, meinte Nano augenzwinkernd. „Sie hat nicht mal Schuppen. Und sie riecht ganz anders.“

„Das will ich doch schwer hoffen!“, meldete sich Micro Minitec zu Wort.

„Und denk dran, auch du bestehst aus der Nahrung, die du gegessen hast.“

„Das war mir schon vorher klar“, sagte Nano. „Ich habe es nur noch nie aus der Nähe gesehen. Der Mensch ist, was er isst. Sagt meine Oma.“

Plötzlich prasselte ein Schauer dicker Tropfen auf die Kapsel nieder.

„Was ist das denn schon wieder?“, wunderte sich Nano.

„Das sind die Belegzellen“, erklärte Dr. X. „Sie befinden sich in den Falten und Grübchen der Schleimhaut. Der Schauer wird von ihnen erzeugt. Es ist frische Säure.“

„Lass mich raten – der Magen meint, wir könnten auch zu Micro werden und Eiweißbausteine liefern?“, empörte sich Nano.

„So ungefähr“, lächelte Dr. X. „Aber das wird ihm nicht gelingen. Übrigens produziert der Magen auch zähflüssigen Schleim.“

„Wie eine Schnecke?“, fragte Nano. „Warum das denn?“

„Er schützt damit die Magenwände“, erklärte Dr. X.

„Damit die aggressive Magensäure den Magen nicht schädigt. Sonst gibt es ein Magengeschwür.“

„Und wie sieht das aus?“, fragte Nano.

„Eine blassgelbe Stelle in der Schleimhaut“, sagte Dr. X.

„Hier gibt es keine blassgelbe Stelle“, stellte Nano fest.

„Na, zum Glück“, freute sich Micro Minitec. „Aber jetzt geht´s weiter.“

Der kleine Medicus. Band 2: Achtung: Super-Säure!

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