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1. Kapitel

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Hauptkommissarin Valerie Voss hatte sich unlängst gewünscht, zum nächsten Tatort nicht wieder bis ans andere Ende der Stadt fahren zu müssen. Manche Wünsche erfüllen sich schneller als gedacht.

»Komm, Val! Wir haben einen neuen Fall«, sagte ihr Mann und Kollege Hinnerk Lange. »Männliche Leiche im Großen Tiergarten.«

»Wie praktisch, dann können wir ja zu Fuß gehen. Noch lieber wäre mir allerdings gewesen, man hätte sie zu einer zivileren Zeit entdeckt. Werde ich langsam alt oder kommt es mir nur so vor, als würden wir grundsätzlich nur noch nachts aus den Federn geholt werden?«

»Ich glaube nicht, dass es häufiger als früher ist«, zog sich Hinnerk aus der Affäre.

»Wer läuft nachts im Tiergarten herum und stolpert über Leichen? Das kann doch nur ein Schwuler sein.«

»Ist doch Wurscht. Wenigstens ist die Leiche noch halbwegs frisch und nicht schon halb verwest. Lass uns unsere Joggingklamotten anziehen. Ein bisschen Bewegung wird uns guttun.«

»Joggen will ich am frühen Morgen und nicht mitten in der Nacht. Aber es kann durchaus sein, dass die Stelle so abseits liegt, dass wir mit dem Wagen eh nicht herankommen würden.«

Wenig später verließen beide ihr Haus am Rande des Tiergartens in Freizeitkleidung. Durch ihre langen, zusammengebundenen Haare wirkten sie, als hätten sie sich im Partnerlook zurechtgemacht. Nur Valeries Haare waren weißblond aufgehellt und Hinnerks glichen mehr der sprichwörtlichen Farbe eines Straßenköters. Das hübsche Paar, dem man sein Alter nicht ansah, hatte bereits einen erwachsenen Sohn, der gerade volljährig geworden war. Ben zog es vor, in WGs zu wohnen, um nicht von seinen Eltern kontrolliert zu werden. Dass weder Valerie noch Hinnerk derlei Ambitionen verfolgte, negierte Ben erfolgreich. Allein der Gedanke, über jeden Schritt Rechenschaft ablegen zu müssen, reichte ihm schon.

Der Tatort war schon weitläufig abgesperrt, als der KTU Mitarbeiter Manfred Hoger auf die beiden zukam und ihnen die obligatorischen weißen Schutzanzüge reichte. Zähneknirschend zog Valerie den Overall an und streifte die blauen Plastiküberschuhe über.

»Ist die Identität des Toten schon bekannt?«, fragte Hinnerk.

»Das ist eine seltsame Angelegenheit«, sagte Manfred. »Von der Kleidung her könnte man meinen, es handele sich um einen Mann. Hose, Holzfällerhemd und Basecap, aber dem Ausweis nach ist es eine Frau. Man könnte diesen Menschen durchaus für einen Morphodit* halten.«

»Vielleicht ist der Ausweis gestohlen oder sie war eine Lesbe?«

»Gestohlen ist der Ausweis nicht. Das Foto stimmt mit der Leiche überein.«

»Also doch lesbisch? Fragt sich nur, was sie nachts hier im Park gemacht hat. Oder ist der Fundort nicht der Tatort?«

»Eher nicht. Dann müsste viel mehr Blut zu finden sein. Man hat ihr nämlich die Brüste abgeschnitten, und in der Vagina steckt ein Dildo.«

»Pfui Deibel, also wieder so ein Irrer, der hier sein Unwesen treibt«, sagte Valerie. »Gibt es eigentlich nur noch Durchgeknallte?«

»Auf mich wirkt es so, als wollte man sie bestrafen. Entweder weil sie ihre Weiblichkeit verleugnete, oder auf das reduzieren wollte, was sie einmal war.«

»Du meinst, sie ist eine Transe, die sich einer Mann-zu-Frau Operation unterzogen hat?«

*Morphodit ist die ältere Bezeichnung für einen Menschen, dessen

Geschlecht nicht eindeutig zuzuordnen ist. (Anmerkung des Autors)

»Wäre möglich. Die Rechtmedizin wird euch die Erklärung bringen. Frau Kern und Herr Habich sind schon bei der Arbeit.«

»Gut, dann werde ich die gleich mal sprechen«, sagte Valerie lächelnd. »Hinni, du kannst ja Manfred noch weiter befragen.«

»Ja, geh nur! Ich komme dir schon nicht ins Gehege.«

Hinnerks seltsame Aussage bezog sich auf die Tatsache, dass sich zwischen Valerie und Stella Kern gerade etwas anbahnte. Keine große Sache für Hinnerk, da er auf Frauen nicht eifersüchtig war. Außerdem war Valerie schon immer zweigleisig gefahren und hatte über längere Zeit ein Verhältnis mit Stella Kerns Vorgängerin, Tina Ruhland gehabt. In ihrer Ehe sprach man offen über derlei Dinge, weil Besitzdenken beiden fern lag.

»Gibt es brauchbare Spuren?«, fragte Hinnerk, als Valerie weitergegangen war.

»Das muss sich noch herausstellen. Da ist ziemlich viel herumgetrampelt worden. Unter anderem von dem, der die Leiche gefunden hat. Er steht da drüben und ist eher abgenervt als ängstlich, wenn du mich fragst.«

»Ich spreche gleich mit ihm. Habt ihr ein Handy oder persönliche Dinge bei ihr gefunden?«

»Nein, eine Handtasche hatte sie ja nicht dabei. Der Ausweis steckte in der Brusttasche des Hemdes. Als wollte man den Zettel am Zeh vorwegnehmen.«

»Wenn uns jemand die Arbeit erleichtern will, muss er zwingende Gründe haben. Und wenn es nur der Hinweis auf diese spezielle Person ist.«

Valerie begrüßte Stella mit einem Kuss auf die Wange, was Knud etwas befremdlich aufnahm.

»Hallo, werden wir mal wieder um die Nachtruhe gebracht«, sagte Valerie.

»Ja, wie üblich. Schön dich zu sehen. Der Anlass ist mal wieder alles andere als schön.«

»Hoger hat da so eine Vermutung geäußert. Ich würde dich bitten, bei der Toten darauf zu achten, ob es sich um eine biologische Frau handelt oder ob an ihr eine Geschlechtsangleichung vorgenommen wurde. Du erkennst das doch, oder?«

»In der Regel schon. Auch wenn es sehr gut gemacht ist. Was veranlasst euch zu dieser Vermutung?«

»Das Ganze erinnert an eine Bestrafung. Warum sollte man einer Frau die Brüste entfernen und ihr einen Kunstpenis in die Vagina stecken?«

»Vielleicht aus Hass gegenüber Frauen?«

»Und was soll die Verkleidung? Ich glaube kaum, dass sie freiwillig so herumgelaufen ist. Für eine Kampflesbe hat sie zu lange Haare. Hoger könnte Recht haben. Da wollte jemand etwas rückgängig machen, weil

er mit der Geschlechtsanpassung nicht einverstanden war.«

»Ziemlich rüde Methoden …«

»Wer weiß schon, was in den Köpfen von Psychopathen vorgeht? Je mehr ich mit denen zu tun habe, desto weniger möchte ich es eigentlich wissen. Eine Erklärung für ihr verwerfliches Tun ist es in den meisten Fällen eh kaum. Zu abstrus sind die Gedankengänge.«


Als Valerie und Hinnerk leicht übernächtigt einige Stunden später ins Büro kamen, informierten sie Heiko Wieland über den neuen Fall. Der smarte Kommissar aus Wiesbaden, der mit seinem Freund zusammenlebte, war erst unlängst zu ihnen gestoßen. Inzwischen wohnte sogar Ben als Untermieter bei Heiko und Fabian. Anfangs in zwei Zimmern mit eigenem Bad und separatem Eingang. Doch dann hatte Heiko seinen Bruder Tobias wiedergefunden, der jahrelang als vermisst galt. Tobi, der sich mittlerweile Sergej nannte, war Päderasten in die Hände gefallen, nach Hamburg verschleppt worden und später nach Berlin geflüchtet, wo er als Stricher arbeitete. Um ihn aus dem Milieu herauszuholen, hatte Heiko ihn bei sich aufgenommen. Was für Ben bedeutet hatte, ein Zimmer abzugeben. Doch da sich alle gut verstanden, war das kein Problem gewesen.

»Die Befragung des Zeugen hat nicht viel gebracht«, sagte Hinnerk. »Als er mit seinem Cruisingpartner am Fundort ankam, war die Frau schon tot. Vom Täter gab es natürlich keine Spur mehr. Aufgrund der Kleidung dachten die beiden zunächst, es handle sich um einen Mann. Die von dem Kunstpenis verursachte Beule in der Hose hielten sie für eine Erektion. Dass man der Frau die Brüste amputiert hatte, auf den Gedanken kamen sie deshalb nicht, wunderten sich nur über das blutdurchtränkte Hemd.«

»Dass der Tiergarten nachts so gefährlich ist, hätte ich nicht gedacht«, sagte Heiko.

»Ja, lass dir das eine Lehre sein«, meinte Valerie. »Falls dir auch mal nach sexueller Abwechslung zumute ist.«

»Also hör mal! Weder provoziere ich die Kerle, indem ich in Frauenkleidern herumlaufe, noch bin ich notgeil, da ich in einer festen Beziehung lebe.«

»Das sieht man doch nicht so eng bei euch. Und in unserem Fall war es umgekehrt. Eine Frau trug Männerkleidung.«

»Das erinnert mich an den Fassbinder-Film „In einem Jahr mit dreizehn Monden“«, sagte Heiko. »Die Transsexuelle geht nachts in den Park zu den Schwulen und wird fürchterlich vertrimmt, als man merkt, was Sache ist. Glaubt ihr, unser Opfer hatte es sich auch anders überlegt?«

»Das wäre zumindest ein ganz neuer Gedanke«, sagte Hinnerk. »Ich kenne zwar den Film nicht, aber der Vergleich ist nicht von der Hand zu weisen.«

»Das erscheint mir weit hergeholt«, meinte Valerie. »Das fand ich schon in dem Film fragwürdig. Schwule wollen etwas in die Hand nehmen, wenn sie eine fremde Hose aufmachen und keine Damenwäsche sehen. Dass man sie nach dem Mord umgezogen hat, erscheint mir naheliegender.«

»Als Adresse ist bei dieser Jana Steinbach die Ebersstraße in Schöneberg angegeben«, sagte Hinnerk. »Jana deutet für mich übrigens darauf hin, dass der Vorname zuvor Jan war. Jedenfalls stehen in der Ebersstraße meines Wissens vorwiegend Altbauten mit riesigen Wohnungen. Es ist also gut möglich, dass sie in einer Wohngemeinschaft gelebt hat.«

»Lieschen, bring doch mal in Erfahrung, ob Jana Steinbach die Hauptmieterin der Wohnung ist, oder wer sonst.«

»Das kann aber einen Moment dauern. Am besten, ihr genehmigt euch derweil einen Kaffee«, sagte Marlies Schmidt, die Kriminalassistentin und gute Seele der Abteilung, die von allen nur Schmidtchen oder Lieschen genannt wurde, was in keinem Fall abwertend gemeint war.

»Das erinnert mich an einen Fall vor vielen Jahren«, sagte Hinnerk. »Damals fand man eine Transsexuelle erschlagen in ihrer Wohnung auf. Die Ehefrau hatte sich kurz zuvor in der Küche erhängt.«

»Und warum weiß ich nichts von dem Fall?«, fragte Valerie.

»Weil du damals im Mutterschutz warst, Schatz. Ich wollte dich nicht aufregen. Die Ermittlungen verliefen eh im Sande. Niemand wollte etwas gehört oder gesehen haben. Brauchbare Spuren gab es auch nicht. Die Staatsanwaltschaft ging schließlich von Einbrechern aus dem Ostblock aus, die damals in Banden organisiert ihr Unwesen trieben. Als die Einbrüche schlagartig aufhörten, nahm man an, sie wären in die Heimat zurückgekehrt.«

»Ich hab hier was!«, rief Marlies und kam kurz darauf zurück. »Frau Steinbach hat mit einem gewissen Detlef Krüger zusammengewohnt, der als Hauptmieter eingetragen ist.«

»Dann sollten wir uns den Herrn mal ansehen«, sagte Hinnerk. »Vielleicht haben wir dann schon unseren Mörder. Falls nicht, sollte er zumindest über den Tod seiner Mitbewohnerin informiert werden.«

»Schon gut, ich fahre hin. Falls es eine Todesnachricht zu überbringen gibt, ist das ohnehin mein Part, wie ich den Verein hier kenne«, meinte Valerie.

»Du machst das eben am besten mit deiner einfühlsamen Art«, spottete Hinnerk.

»Darf ich mitkommen?«, fragte Heiko.

»Gern, das Elend anderer Leute scheint dich magisch anzuziehen. Tschuldigung, war nicht so gemeint.«


Auf Namens- und Klingelschild tauchten dann tatsächlich D. Krüger und J. Steinbach auf. Doch in der Wohnungstür erschien eine ältere Frau mit dünnen, blonden Haaren, an der das Auffälligste ihre enorme Oberweite war, die nur unzureichend durch den Morgenmantel verdeckt wurde.

»Hauptkommissarin Voss und Kommissar Wieland vom LKA«, sagte Valerie. »Wir möchten zu Herrn Krüger.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Es geht um Jana Steinbach.«

»Bitte, kommen Sie herein!«

Valerie und Heiko wurden in ein mit Anti-quitäten überladenes Zimmer geführt, das an einen Salon der guten alten Zeit erinnerte. An den Wänden hingen Ölgemälde in breiten Goldrahmen, und überall stand irgendwelcher Nippes herum. Schon auf dem Flur waren Valerie großformatige Fotos aufgefallen, die eine stark geschminkte Frau mit aufwendiger Frisur zeigten. Im Wohnzimmer kamen Plakate hinzu, die eine gewisse Delia als Stargast ankündigten.

»Sind Sie die Mutter von Herrn Krüger?«, fragte Heiko.

»Der war gut«, antwortete die Frau kichernd. »Als meine eigene Mutter hat mich bisher noch niemand bezeichnet.«

»Dann sind Sie Detlef Krüger?«

»Bitte nicht diesen Vornamen, den habe ich immer gehasst. Sagen Sie bitte Delia zu mir.«

»Sie sind das auf den Fotos und Plakaten …«

»Ja, wenn’s recht ist. Es ist nur alles schon eine Weile her. Was ist mit Jana? Hatte sie einen Unfall?«

»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Frau Steinbach heute Nacht tot aufgefunden wurde. Man hat sie ermordet.«

Delia ließ sich auf einen Stuhl fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

»Wer war das? Wer hat diesem lieben Ding etwas angetan?«, fragte sie unter Tränen.

»Das wissen wir noch nicht. Ist Frau Steinbach bedroht oder verfolgt worden?«, fragte Valerie.

»Nein, das hätte sie mir erzählt. Im Gegenteil, sie war so glücklich, endlich einen Mann gefunden zu haben, der sie so akzeptierte, wie sie war.«

»Sie meinen, nach der Geschlechtsanpassung?«

Delia nickte.

»Wie lange war Jana Steinbach schon vor dem Gesetz eine Frau?«

»Seit gut zwei Jahren. Ich habe sie auf diesem Weg begleitet. Als ich sie bei mir aufgenommen habe, nahm sie schon Hormone und lebte als Frau. Sie hat dann zunächst die Änderung des Vornamens beantragt. Keine große Sache. Es musste ja nur ein Buchstabe hinzugefügt werden, damit aus Jan Jana wurde. Die letzte, entscheidende Operation ließ sie dann zwei Jahre später vornehmen. Sie war wie eine Tochter für mich. Ich hatte ja nie Kinder.«

»Sie selbst haben diesen Schritt nie in Erwägung gezogen?«, fragte Heiko.

»Sie sind sehr direkt, junger Mann. Aber in meinem Alter ist man etwas freizügiger mit den Auskünften, die die eigene Person betreffen. Wissen Sie, zu meiner Zeit war das alles noch nicht so einfach. Da fuhr man noch nach Casablanca, um sich operieren zu lassen. Nicht selten ging auch mal etwas schief dabei. Ich hatte das Glück, auf der Bühne die Frau in mir ausleben zu können. Man hat mich gefeiert, wie viele andere auch. Doch die Namensänderung ohne vorhergehende Operation wurde erst 2011 möglich. Vorher musste man sich drei Jahre „beweisen“, zwei unabhängige Gutachten vorlegen und zumindest die Absicht der Geschlechtsanpassung nachweisen. Ich hatte keine Lust auf diese Tortur und mich daran gewöhnt, so zu leben wie bisher.«

»Was wissen Sie über die neue Liebe von Jana«, fragte Valerie. »Haben Sie den Mann persönlich kennengelernt?«

»Er war nur einmal hier. Ein typischer Hetero, dem ich wohl etwas peinlich war. Wenn ich ehrlich bin, war er mir nicht sehr sympathisch mit seinen kalten Augen. Doch Jana war so verliebt. Ich wollte ihr Glück nicht zerstören. Jede von uns hat doch davon geträumt, einmal ein ganz normales, bürgerliches Leben zu führen.«

»Mit uns meinen Sie Ihre Kolleginnen?«

Delia nickte. »Die Kerle waren doch immer nur auf den besonderen Kick aus. Geheiratet haben sie andere. Ich kannte mal eine, die hat sich auf dem Transenstrich in der Winterfeldstraße prostituiert. Da gab es Freier, die unbedingt vorher wissen wollten, ob „er“ noch dran sei. Ach, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen …«

»Wissen Sie, wie der Liebhaber Ihrer Freundin heißt und wo er wohnt?«

»Er hat sich mit Kai-Uwe Wendler vorgestellt. Aber ob das sein richtiger Name ist?«

»Und die Adresse kennen Sie nicht?«

»Nicht genau. Jana meinte, er wohne in der Mommsenstraße in der Pension seiner Tante. Dort hat sie ihn ein paar Mal besucht.«

»Danke, das ist doch schon etwas.«

»Halten Sie es für möglich, dass er Jana umgebracht hat? Das wäre ja schrecklich. Hätte ich nur meine Vorbehalte gegen ihn nicht für mich behalten.«

»Hinterher ist man immer schlauer. Gut, dann werden wir uns mal um diesen Herrn kümmern. Haben Sie sich eigentlich nicht gewundert, dass Ihre Freundin heute Nacht nicht nach Hause gekommen ist?«

»Nein, ich dachte, sie wäre bei ihm.«

»In welchen Lokalen oder Bars hat Jana Steinbach verkehrt?«

»Wir sind hin und wieder mal ins Rauschgold oder ins Incógnito gegangen. Allein war sie gelegentlich im Roses oder im Bassy. Doch ich habe mich dort nicht so wohl gefühlt. Die Shows waren mir ein wenig zu schrill. Eben etwas für die jüngere Generation. Ich nehme lieber mal im Lebensstern einen Drink, wenn ich überhaupt noch ausgehe. Doch dort war es Jana zu ruhig. Sie liebte den Trubel.«

»Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt, lasse ich meine Karte hier«, sagte Valerie. »Sobald die Leiche von der Staatsanwaltschaft freigegeben wird, erhalten Sie Bescheid.«

»Danke, dann kann ich sie wenigsten ordentlich beisetzen lassen.«

»Wie ist Jana eigentlich umgebracht worden?«

»Wollen Sie das wirklich wissen? Es könnte Ihnen den Schlaf rauben.«

»Besser, als wenn ich mir etwas zusammenfantasiere.«

»Der Täter hat ihr die Brüste amputiert. Letztendlich hat der hohe Blutverlust zum Tode geführt.«

»So ein Dreckschwein. Ihr Busen war ihr ganzer Stolz. Hat man sie vergewaltigt?«

»Der Obduktionsbericht liegt noch nicht vor. Aber in ihrer Scheide steckte ein Kunstpenis. Zusätzlich hat man ihr typisch männliche Kleidung angezogen. Können Sie daraus etwas schließen?«

»Das liegt doch auf der Hand. Jemand war mit ihrer Geschlechtsumwandlung nicht einverstanden und wollte zumindest symbolisch wieder den Urzustand herstellen. Der Täter muss ein Transenhasser sein.«

»Ja, das klingt logisch. Somit würde Herr Wendler nicht in Frage kommen. Es sei denn, er hätte ihr was vorgemacht …«

»Finden Sie es bitte heraus. Nicht dass es noch mehr Opfer gibt. Unser Leben ist schon so kompliziert genug und sollte nicht mit einem so schrecklichen Tod enden.«

»Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Schon aus eigenem Interesse. Es kann nicht angehen, dass hier jemand Gott spielt, weil jemand anders tickt, als er es sich vorstellen kann. Nur greifen bei Psychopathen leider keine logischen Argumente. Der ewige Teufelskreis von Schuld und Schuldfähigkeit.«


In der Mommsenstraße gab es drei Pensionen, aber keine mit dem Namen Wendler. Erst als Valerie zum dritten Mal die Straße langsam abgefahren war, während Heiko und sie – jeder auf seiner Seite – die Häuser absuchte, sahen sie ein kleineres Schild, auf dem Pension Ursula stand. Um den Eingang zu erreichen, musste man über den Hof ins Hinterhaus gehen. Auf dem Schild neben der Tür im zweiten Stock stand tatsächlich „Inh. Ursula Wendler“.

Die Dame fiel allerdings aus allen Wolken, als Heiko sie nach ihrem Neffen Kai-Uwe fragte.

»Ich habe keine Geschwister und demzufolge auch keinen Neffen, Herr Kommissar.«

»Dann hat sich jemand mit fremden Federn geschmückt. Haben Sie einen Gast, der diesen Vornamen trägt?«

»Ich pflege meine Logiergäste nicht beim Vornamen zu nennen.«

»Aber auf der Anmeldung müsste es doch verzeichnet sein. Um die Sache abzukürzen: Hat heute Nacht oder am Morgen jemand bei Ihnen ausgecheckt?«

»Nachts checken bei mir keine Gäste aus, weil ich nicht rund um die Uhr präsent sein kann. Und um die nächste Frage gleich vorwegzunehmen: Nein, ich habe keinen Nachtportier, weil ich ihn mir nicht leisten kann. Heute Morgen ist niemand abgereist, aber gestern und vorgestern. Gestern ein Ehepaar und vorgestern ein einzelner Herr.«

»Dann schauen Sie bitte nach, wie der Herr heißt.«

»Einen Moment, bitte!«

Die Pensionswirtin öffnete einen Schrank und blätterte in ihren Unterlagen.

»Der Herr heißt Uwe Vogler.«

»Nun, zumindest ein Teil des Vornamens stimmt überein«, sagte Valerie. »Können Sie den Mann beschreiben? Hatte er Besuch während seines Aufenthalts?«

»Ich schätze ihn um die Dreißig. Er hat blondes Haar, ist schlank und etwa ein Meter achtzig groß. Besucht hat ihn eine auffallend hübsche Dame. Sogar mehrmals.«

»War es diese hier?«, fragte Valerie und zeigte Frau Wendler ein Handyfoto.

»Um Gottes willen, ist sie tot? Wenn man sich etwas Schminke vorstellt, könnte sie es gewesen sein, die in seiner Begleitung kam.«

»Welche Adresse hat Herr Vogler angegeben?«

»Am Falkplatz 5, in 10437 Berlin. Ich habe ihn noch gefragt, warum er sich ein Zimmer nimmt, wenn er in Berlin wohnt. Er meinte, seine Wohnung sei gerade untervermietet.«

»Vielen Dank. Bei eventuellen Rückfragen melden wir uns.«

»Bitte sehr, wenn ich helfen kann.«

Valerie und Heiko fuhren gleich im Anschluss zum Prenzlauer Berg. Das Haus Am Falkplatz 5 bestand aus drei Vorderhäusern und einem Seitenflügel mit einem gemeinsamen Innenhof. Dem Klingelschild nach befand sich die Wohnung im dritten Obergeschoss des Seitenflügels. Sofort nach dem Klingeln ertönte der Summer. Doch als Valerie und Heiko oben ankamen, öffnete ihnen eine junge Frau, die sie fragend ansah.

»Wir sind vom LKA«, sagte Valerie. »Hauptkommissarin Voss und Kommissar Wieland. Ist Herr Vogler zu Hause?«

»Da haben Sie aber Glück. Er ist gerade zu Besuch.«

»Wieso, ist das nicht seine Wohnung?«

»Nein, meine. Wir wohnten nur vorübergehend zusammen hier. Jetzt hat mein Bruder eine eigene Wohnung. Aber kommen Sie doch bitte durch!«

Am Ende des langen Korridors befand sich das Wohnzimmer, auf dessen Couch ein jüngerer Mann saß. Jetzt war es an Valerie und Heiko sich fragende Blicke zuzuwerfen, denn der Mann war nicht blond, sondern tief dunkelhaarig.

»Herr Vogler? Uwe Vogler? Wir sind …«

»Sie brauchen sich nicht erneut vorzustellen. Ich habe schon gehört …«

»Kennen Sie eine Jana Steinbach?«

»Nein, wer soll das sein?«

»Die Dame, die sie mehrmals mit in die Pension Ursula genommen haben«, sagte Valerie.

»Sie machen Witze, oder?«

»Wir scherzen grundsätzlich nicht.« Valerie zeigte das Handyfoto. »So sah sie aus. Nicht mehr ganz so hübsch wie zu Lebzeiten.«

»Ich habe die Frau noch nie gesehen. Und eine Pension Ursula ist mir gänzlich unbekannt.«

»Seltsam, jemand hat sich dort mit Ihrem Ausweis angemeldet.«

»Waren Sie mal blond? Zum Beispiel als das Ausweisfoto gemacht wurde?«, fragte Heiko.

»Nein, nie. Ich bin doch keine Schwuchtel.«

»Keine sehr schöne Bezeichnung für einen Menschen, der sich mehr für das eigene Geschlecht interessiert.«

»Wie auch immer. Ich gehöre nicht dazu. Und der Ausweis ist mir unlängst in einer Kneipe gestohlen worden. Ich habe das bereits gemeldet und einen neuen beantragt.«

»Wir werden das nachprüfen. Wo waren Sie gestern Nacht zwischen null und zwei Uhr?«

»Er war mit mir zusammen. Ich bin übrigens Merle Vogler, die Schwester von Uwe.«

»Das sagten Sie schon. Was heißt zusammen? Waren Sie beide hier in der Wohnung?«

»Nein, wir waren in der Nähe beim Griechen im Asteria in der Schönhauser essen und später im Doors in der Knaackstraße.«

»Sind Sie damit einverstanden, dass ich ein Handyfoto von Ihnen beiden mache?«, fragte Heiko.

»Bitte, solange ich keine Autogramme geben muss.«

»Wo sagten Sie, ist Ihnen der Ausweis gestohlen worden?«, fragte Valerie, während Heiko die Fotos machte.

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. An jenem Abend war ich erst im Club 23, der ist auf dem Gelände der Kulturbrauerei, aber da war mir das Publikum zu grün. Ich bin dann weiter in den Frannz Club auf demselben Gelände. Theoretisch kann ich ihn aber auch schon vorher verloren haben.«

»Wie lautet Ihre jetzige Adresse, Herr Vogler?«

»Isländische Straße 7, 10439 Berlin. Das ist nur eine Viertelstunde zu Fuß von hier.«

»Wie groß ist die Wohnung?«

»Leider nur ein Zimmer, aber es gibt eine Kleiderkammer. Und da sie im Erdgeschoss liegt, ist sie noch erschwinglich. Mehr kann ich mir leider nicht leisten.«

»Was sind Sie von Beruf?«, wollte Valerie wissen.

»Ich bin Versicherungskaufmann.«

»Interessieren Sie sich für transsexuelle Menschen?«

»Nein, diese Unentschlossenheit, was das eigene Geschlecht betrifft, ist mir irgendwie suspekt.«

»Geht Ihre Abneigung so weit, dass Sie regelrecht Hass empfinden?«

»Ach woher, jeder soll so leben, wie er es für richtig hält, solange er mir nicht zu nahe kommt.«

»Haben Sie schon mal eine derartige Bekanntschaft gemacht? Hat die Dame Ihnen womöglich ihr Vorleben verschwiegen?«

»Zum Glück ist mir so etwas bisher erspart geblieben. Ach, ich verstehe. Die Frau auf dem Foto war wohl auch so eine Geschlechtsverirrte? Egal, ich habe sie noch nie zuvor gesehen und bin froh darüber. Das fehlte mir noch …«

»Das wär’s für heute. Es kann gut sein, dass wir noch einmal auf Sie zukommen, wenn wir Ihr Alibi überprüft haben.«

»Hören Sie, das sind doch unhaltbare Vorwürfe«, sagte Merle Vogler. Wenn Sie Uwe kennen würden …« »Es ist ja sehr ehrenwert, wie sich für Ihren Bruder einsetzen, aber wir müssen jedem Hinweis nachgehen. Wer sich nichts hat zuschulden kommen lassen, braucht von uns nichts zu befürchten. Einen schönen Tag noch Ihnen beiden!«

Unten sprach Heiko Valerie sogleich an.

»Du mochtest den Knaben nicht, oder?«

»Wer sich so despektierlich über andersgeartete Menschen äußert, hat bei mir schlechte Karten.«

»Glaubst du, dass er unser Täter ist, trotz der anderen Haarfarbe?«

»Eher nicht. Mir zeigt das nur, dass Frau Wendler es nicht so genau mit der Anmeldung nimmt. Den Ausweis scheint sie nie gesehen zu haben. Aber sowohl sie als auch Frau Krüger haben den Mann eindeutig als blond beschrieben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er die Frau in seiner kleinen Einzimmerwohnung getötet hat, bei dem vielen Blut. Trotzdem werden wir die Alibis der Geschwister überprüfen. Seit gestern müsste man sich noch an sie erinnern. Aber abgesehen davon, ob Vogler der Täter ist oder nicht, müssen wir die KTU noch mal befragen, ob der Tatort möglicherweise in der Nähe war. Vielleicht ist sie nur zum Fundort geschleppt worden.«

Wie schon erwartet, stellte sich das Alibi der Geschwister als wasserdicht heraus. Beim Griechen konnte man sich an die beiden erinnern, und auch der Barkeeper im Doors erkannte sie wieder. Er meinte, sie hätten die Bar erst gegen zwei Uhr verlassen. Damit kam der große Unbekannte ins Spiel, der sich lediglich der Identität von Uwe Vogler bedient hatte. Trotzdem wollte Valerie der Zimmerwirtin und auch der Mitbewohnerin das Foto von Vogler zeigen. Sie wusste aus Erfahrung, dass Zeugenaussagen nur bedingt zu vertrauen war.

Morphodit

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