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1. Kapitel

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Auf dem alten Friedhof mitten in der Stadt hielten sich in den frühen Abendstunden kaum noch Besucher auf. Ausnahmen waren zwei Frauen, die eine wesentlich älter als die andere, die sich in den letzten Tagen und Wochen schon öfter mal zugenickt hatten. Von der stark befahrenen Hauptverkehrsstraße Alt-Moabit drang leicht gedämpft Motorenlärm herüber. An den Bäumen und Büschen zeigte sich das erste Grün, und es sah ganz danach aus, als würde auch in diesem Jahr der Sommer bereits im April beginnen.

Valerie Voss hatte keinen Blick für die ersten Frühlingsboten. Mit ihrer tiefschwarzen Kleidung sah sie noch strenger und trauriger aus, sofern das überhaupt möglich war. Sie kam beinahe täglich an diesen beschaulichen Ort. Noch immer war es für sie undenkbar, dass von ihrem geliebten Mann, Hinnerk, nichts als ein Häufchen Asche, die sich in einer Schmuckurne unter der Erde befand, übrig geblieben war. Aber es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, nicht in einer Holzkiste langsam zu zerfallen. Und Valerie, die ebenso darüber dachte, hatte diesen Wunsch nur allzu gerne erfüllt.

Hinnerk Lange, ebenso wie Valerie Hauptkommissar beim LKA Berlin, war sozusagen für Volk und Vaterland gestorben. Wenn auch nicht zu Kriegszeiten, aber durchaus in übertragenem Sinne. Denn die Verbrechensbekämpfung war ihm genau wie Valerie ein Bedürfnis gewesen. Sicher, er hatte ständig mit dem Feuer gespielt, denn in ihrem Beruf musste man täglich mit dem Schlimmsten rechnen, aber dennoch hätte er in keinem anderen Beruf arbeiten wollen. Und es war immer gut gegangen, bis auf eine Schussverletzung in der Schulter und jenen verfluchten Tag, an dem er sozusagen ins offene Messer gelaufen war. Denn ein offensichtlich geistesgestörter Mörder, der bereits mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hatte, eröffnete ohne Vorwarnung das Feuer, als Hinnerk seinen Unterschlupf – ein alter Bauwagen – betrat. (Siehe Band 16 „Das letzte Wort hat immer der Tod“) Seine mindestens ebenso skrupellose Freundin hatte nicht versucht, ihn davon abzuhalten. Wahrscheinlich hatte sie sein Handeln sogar gutgeheißen. Sie büßte jetzt ihre Verbrechen im Zuchthaus – lebenslang, und der Mann war auf der Flucht in einen Sattelschlepper gelaufen, was er nicht überlebt hatte. All das war kein Trost für Valerie, denn sie kannte keine rachsüchtigen Gefühle. Nur konnte sie sich ein Leben ohne den geliebten Mann kaum vorstellen.

Routinemäßig entfernte sie ein paar lose Blätter von der Urnendoppelgrabanlage. Es war für sie beide außer Frage gewesen, dass sie auch im Tode nebeneinander ruhen wollten. Sie hatte diesen Mann so sehr geliebt, der schon Jahre ihr Kollege gewesen war, bevor sie sich näher gekommen waren. Und nach einem Intermezzo mit einer anderen Frau, das Valerie zur Scheidung bewegt hatte, waren sie nach deren tragischem Tod wieder näher zusammengerückt und hatten sogar ein zweites Mal geheiratet. Die Frucht ihrer Liebe war ihr reizender Sohn, Ben, der inzwischen volljährig war und eigene Wege ging.

Unbemerkt hatte sich die alte Frau Valerie genähert.

>>Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche<<, sagte sie vorsichtig. >>Aber Sie sind mir schon öfter aufgefallen. So oft, wie Sie hier sind.<<

>>Ja, ohne meinen Mann ist das große Haus so leer. Und mir erscheint alles so sinnlos.<<

>>Das kenne ich nur allzu gut. Mein Mann ist zwar schon seit einigen Jahren tot, aber ich komme immer noch oft hierher, weil ich mich hier ihm besonders nah fühle. Verrückt, nicht? Dabei weiß ich, dass hier nur seine verbrauchte Hülle liegt. Das was ihn ausgemacht hat, lässt sich hier nicht finden. Leider besucht er mich nur noch sehr selten in unserer Wohnung. Die erste Zeit war es häufiger. Damit fiel mir der Abschied etwas leichter. Aber Sie sind noch so jung, wer weiß, was das Leben noch bereit hält für Sie.<<

>>So taufrisch bin ich auch nicht mehr. Schließlich haben wir bereits einen erwachsenen Sohn<<, sagte Valerie mit bitterem Unterton.

>>War es ein Unfall oder eine schwere Krankheit? Verzeihen Sie, wenn ich frage. Aber er war doch in einem Alter ...<<

>>Mein Mann ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Ein Risiko, das er einkalkuliert hat. Wir sind nämlich beide Hauptkommissare beim LKA. Sehen Sie schon wieder … Ich spreche, als wäre er noch da.<<

>>Das ist doch ganz natürlich, so kurz nach … Hat man denn den Täter wenigstens gefasst?<<

>>Schon, aber Sie verstehen, dass das kein Trost für mich ist. Ich wollte sogar meinen Beruf aufgeben, weil ich den Glauben an das Gute im Menschen verloren habe. Doch ...<<

>>Doch jetzt haben Sie es sich anders überlegt?<<

>>Nein, ja … Morgen trete ich wieder meinen Dienst an. Etwas, das ich vor wenigen Wochen noch für unmöglich gehalten habe. Aber Hinnerk hat an meine Pflicht und unser Lebensziel appelliert. Nicht dass Sie jetzt glauben, ich könne mit Toten kommunizieren … Es war mehr seine Stimme in meinem Kopf … Als wäre er noch bei mir.<<

>>Das ist er bestimmt auch, meine Liebe. Manche Seelen brauchen etwas länger, um hinüberzugehen. Und bei Gewaltverbrechen … Ach, was rede ich denn. Ich will nur ausdrücken, dass ich Sie keinesfalls für überspannt halte. Im Gegenteil, ich danke für Ihr Vertrauen, das Sie mir schenken. Und falls Sie jemanden zum Reden brauchen – Ich bin gerne für Sie da. Martha, heiße ich übrigens.<<

>>Angenehm, Valerie.<<


Dr. Paul Zeisig, seines Zeichens Abteilungsleiter der Mordkommission – gefürchtet und obgleich seiner Strenge von einigen sogar gehasst – war an diesem Morgen früher als sonst im Büro. Marlies Schmidt, die gute Seele der Abteilung – von allen nur liebevoll Schmidtchen oder Lieschen genannt, machte große Augen, als Zeisig in der Tür stand. Sie war gerade im Begriff einen kleinen Blumenstrauß in einer Vase zu arrangieren.

>>Musste das Gemüse unbedingt sein?<<, fragte Zeisig süffisant. >>Frau Voss soll nicht das Gefühl bekommen, dass es etwas Besonderes ist, wenn sie wieder ihrer Arbeit nachgeht.<<

>>Warum eigentlich nicht?<<, begehrte Marlies auf. >>Nach längeren Reisen oder Krankheiten begrüßen wir uns immer mit Blumen. Und darf ich Sie erinnern, dass Valerie nur aufgrund Ihres hartnäckigen Überredens zurückkehrt?<<

>>Das dürfte noch die Frage sein. Frau Voss tut grundsätzlich nur, was sie will. So gut kenne ich sie schon. Ihre Rückkehr haben wir wohl einer höheren Macht zu verdanken. Aber packen Sie Ihre Boxhandschuhe wieder ein. Ich habe ja nichts gegen einen Begrüßungsstrauß, aber es erinnert sie vielleicht zu sehr, was zu ihrer Auszeit geführt hat.<<

>>Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie dumm von mir. Soll ich lieber die Blumen ... ?<<

>>Nein, lassen Sie es, wie es ist, Sie grundgutes Kind. Ich bitte nur darum, ein gewisses Thema zu meiden, soweit sich das bewerkstelligen lässt.<<

>>Was denken Sie denn? Dass wir alle gefühllose Holzklötze sind?<<

>>Natürlich nicht. Ich meine nur … Ach der Kollege Bremer … Guten Morgen! Sind Sie mit Ihrem neuen Arbeitsplatz einverstanden?<<

>>Aber sicher doch. Ich kann ja froh sein, dass es mir nicht wie Kollegin Thiel ergangen ist.<<

>> Seien Sie nicht albern. Gegenüber Kommissarin Julia Thiel habe ich von vornherein deutlich gemacht, dass sie nur vertretungsweise hier ist. Im Gegensatz zu Ihnen. Wir haben einen Hauptkommissar verloren, und da ist es nur rechtens, dass wir einen neuen bekommen. Aber ein anderes Thema, bitte, ich sehe gerade Frau Voss um die Ecke biegen.<<

Valerie kam mit unergründlicher Miene den Gang entlang und blieb dann vor Dr. Zeisig stehen.

>>Guten Morgen, Frau Voss. Ich freue mich außerordentlich, Sie wieder bei uns zu haben.<<

>>Danke für die Blumen. Dabei haben Sie mich des Öfteren auf den Mond gewünscht.<<

>>Wie ich sehe, sind Sie wieder fast die Alte. Darf ich Ihnen gleich Ihren neuen Kollegen, Hauptkommissar Bremer vorstellen?<<

>>Hallo, ich bin Konstantin.<<

>>Hallo, Valerie.<<

>>Freut mich. Ich war schon ganz gespannt auf Sie. Soviel, wie ich über Sie gehört habe.<<

>>Ja, genug der Nettigkeiten<<, sagte Zeisig. >>Wo ist eigentlich Kollege Wieland?<<

>>Habe ich da gerade meinen Namen gehört?<< Heiko Wieland stürmte in den Raum und warf seine Tasche auf einen der Schreibtische. >>Bin ich zu spät? Ich habe mich extra etwas früher auf den Weg gemacht ...<<

>>Nein, keine Sorge. Es ist ja noch relativ früh am Morgen. Wenngleich Sie auch der Letzte sind<<, meinte Zeisig.

>>Habe ich noch meinen alten Platz?<< fragte Valerie.

>>Nein<<, mischte sich Marlies ein. >>Wir dachten ...<<

>>Ich meinte mich zu erinnern<<, unterbrach sie Zeisig, >>Sie hätten geäußert, nicht auf den Platz sehen zu wollen, der Ihrem Mann gehörte. Deshalb halte ich es für die beste Lösung, wenn Sie selbst diesen einnehmen. Ihnen gegenüber sitzt jetzt Herr Wieland, dessen Platz nun Herr Bremer einnimmt.<<

>>Danke, sehr freundlich. Ich hoffe, es macht den Kollegen nichts aus<<, sagte Valerie beschämt.

>>Aber ich bitte Sie! Es kommt doch nicht darauf an, wo jemand sitzt, sondern was er leistet. Lassen Sie es langsam angehen. Soviel ich weiß gibt es im Moment keinen akuten Fall. Also immer mit der Ruhe!<<

Damit entschwand Zeisig, und Valerie konnte sich nur wundern. >>Was ist denn mit dem los? Der zeigt ja fast menschliche Züge.<<

Konstantin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ja, diese Dame hat das Herz auf dem richtigen Fleck und offenbar das Gemüt auf der Zunge, dachte er.

>>Die Sachen von dir habe ich nur dazugetan<<, sagte Marlies kleinlaut. >>Weil ich nicht wusste, was du ...<<

>>Schon gut Schmidtchen. Ich sortier‘ mir das schon.<<

Valerie räumte die untere Schreibtischschublade komplett leer und legte ausschließlich Dinge hinein, die Hinnerk gehört hatten. So konnte sie öfter mal einen Blick hineinwerfen, wenn die Sehnsucht zu groß würde. Dass dabei auch das eine oder andere Tränchen fließen würde, zeigten ihr ihre feuchten Augen, die sie verschämt trocknete. Weder Heiko noch Konstantin sprachen sie dabei an, sondern ließen ihr die Zeit.

Als sie ihr Werk beendet hatte, ging sie zu Marlies in deren kleines Büro.

>>Hast du ein Käffchen für mich, Schmidtchen?<<

>>Na klar, kommt sofort.<<

Marlies brühte zwei Tassen frisch auf und kam dann damit zurück.

>>Ich bin so froh, dass du wieder da bist<<, sagte sie.

>>Wenn ich dich so anschaue, und vor allem den Ring an deiner rechten Hand, dann bist du noch aus anderen Gründen froh.<<

>>Du nun wieder. Hast ihn sogleich bemerkt. Ja, ich bin jetzt eine verheiratete Frau. Gerade rechtzeitig, bevor das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, hat Björn mir einen Antrag gemacht. Und der kleine Jan ist wie ausgewechselt. Scheinbar hatte er nicht so recht daran geglaubt, dass ich für immer bleibe.<<

>>Ich freue mich so für dich, Schmidtchen. Ach, nee. Das ist ja jetzt überholt. Wie heißt du denn jetzt?<<

>>Du brauchst dich nicht umgewöhnen. Als emanzipierte Frau habe ich meinen Namen behalten. So wie du und Hinni es auch gemacht ha… Ach, ich bin eine so dumme Kuh, entschuldige.<<

>>Alles gut. Das wird noch öfter passieren. Da muss ich jetzt durch. Hast du mich deshalb nicht zu eurer Hochzeit eingeladen?<<

Marlies schüttelte energisch den Kopf. >>Wir haben niemand eingeladen. Nach dem Standesamt sind wir nur kurz mit den beiden Trauzeugen essen gegangen. Björn wollte es so.<<

>>Ich hoffe, du auch. Lass dir nicht die Butter vom Brot nehmen.<<

>>Nein, nein, ich kann mich schon durchsetzen.<<

>>Übrigens danke für den schönen Strauß. Der ist doch von dir, nicht?<<

>>Die Kollegen haben alle was dazugegeben ...<<

>>Du weißt doch, was passiert, wenn du schwindelst. Dann bekommst du eine lange Nase wie Pinocchio.<<

Plötzlich stand Zeisig in der Tür. >>Ich störe die Damen nur ungern, aber soeben habe ich einen Anruf erhalten. Einem stadtbekannten Callboy ist seine letzte Kundschaft nicht bekommen. Kommen Sie bitte kurz mit nach drüben, Frau Voss?<<

Valerie nahm ihre Kaffeetasse und folgte ihrem Chef nach nebenan.

>>Ich schlage vor, dass Herr Bremer und Herr Wieland zum Tatort fahren. KTU und Rechtsmedizin sind schon vor Ort.<<

>>Und was ist mit mir?<<, fragte Valerie. >>Ich bin nicht zum Däumchendrehen gekommen.<<

>>Oh, ich lasse Ihnen gern den Vortritt, werte Kollegin<<, meinte Bremer. >>Herr Dr. Zeisig erwartet ohnehin den Abschlussbericht unseres letzten Falles.<<

>>Dann regeln Sie das unter sich. Hauptsache, es vergeht nicht noch mehr Zeit.<<

>>Wir sind schon unterwegs<<, sagte Valerie. >>Komm, Heiko!<<


>>Gut siehst du aus. Das Schwarz kontrastiert hervorragend zu deinen hellen Haaren<<, meinte Heiko unterwegs. >>Täusche ich mich oder trägst du sie jetzt kürzer?<<

>>Gut beobachtet. Und so nach und nach verabschiede ich mich auch von dem Weißblond, bevor ich noch eine Glatze bekomme. Einschneidende Veränderungen in meinem Leben habe ich immer mit einer Veränderung meines Outfits kommentiert. Daran wird sich auch künftig nichts ändern.<<

>>Eine schöne Frau wie dich kann ohnehin nichts entstellen.<<

>>Pack deinen Charme wieder ein. Meine Antennen sind momentan nicht auf Empfang gestellt. Aber trotzdem danke.<<

>>Und wie gefällt dir der Neue?<<

>>Auf den ersten Blick möchte ich mir noch kein Urteil bilden. Hat‘s bei dir etwa gefunkt?<<

Heiko lachte. >>Nein, wirklich nicht. Auch wenn er bildhübsch ist mit seinen schwarzen Haaren und blauen Augen. Aber er ist nicht nur überzeugter Hetero, sondern auch ein Womanizer<<

>>Oh nein, bitte nicht schon wieder ...<<, stöhnte Valerie.

>>Und ich wage zu behaupten, dass er Schwule hasst.<<

>>Warum, ist er unverschämt zu dir?<<

>>Das nicht gerade. Er behandelt mich durchaus respektvoll. Es ist mehr so ein Gefühl.<<

>>Dann pass bloß auf! Es wäre nicht der Erste, der aus unterdrückten Gefühlen hasst. Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.<<

Heiko lachte wieder. >>Für eine Klemmschwester halte ich ihn wirklich nicht. Aber wenn du mich so fragst, von der Bettkante würde ich ihn nicht stoßen.<<

>>Und was ist mit deinem Fabian?<<

>>Du, alles bestens. Seitdem wir keine Untermieter mehr haben … Aber andere Mütter haben eben auch hübsche Söhne. Wie ist es dir eigentlich in der schrecklichen Zeit danach ergangen? Hat sich jemand um dich gekümmert? Unsere Besuche und Anrufe hast du ja weitgehend abgewimmelt.<<

>>Weil ich nicht unentwegt dasselbe erzählen wollte … Tyra hat sich aufopfernd um mich gekümmert. Sie hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen und stand rund um die Uhr zur Verfügung.<<

>>Deine schwedische Mutter hat eben eine Menge nachzuholen. Immerhin hat sie dich erst wiedergefunden, als du schon eine erwachsene Frau warst.<<** (siehe Band 7 „Ohne Skrupel“)

>>Ja, ich weiß. Aber irgendwann geht mir allzu viel Bemutterung auf die Nerven. Das war bei Karen nicht anders.<<

>>Wie geht‘s denn deiner Ziehmutter? Hat sie die niederschmetternde Diagnose einigermaßen verkraftet?<<

>>Mal so, mal so. Als sie von dem Unterleibskrebs in fortgeschrittenem Stadium erfuhr, wollte sie am liebsten sofort sterben. Dann hat Herbert sie wieder aufgebaut, als er mit ihr die Kreuzfahrt unternommen hat, aber je näher das Datum der möglichen Lebenserwartung rückt, desto unruhiger wird sie. Kein Wunder. Herbert ist wirklich ein Schatz. Dabei ist er durch seine Herzkrankheit ständig gefährdet. Mir graust davor, wenn er allein zurückbleibt.<<

>>So ist es nun mal im Leben. Einer muss immer zurückbleiben.<<

>>Und wie ist es euch so ergangen, ohne uns?<<

>>So lala. Sei froh, dass du deine Vertretung nicht mehr kennenlernen musstest. Julia Thiel ist das ganze Gegenteil von dir. Verschlossen wie eine Auster. Sollte mich nicht wundern, wenn sie nur auf Frauen steht. Ihre herbmännliche Erscheinung verstärkt diesen Eindruck noch. Konstantin, dessen Charme bei ihr gänzlich versagte, konnte nicht aufhören, sie ständig herauszufordern. Zum Schluss hat sie Gift und Galle gespuckt.<<

>>Und warum soll ich froh sein, sie nicht persönlich erlebt zu haben? Vielleicht hätten wir uns gut verstanden, weil wir beide dem weiblichen Geschlecht zugetan sind.<<

>>Sie hätte bestimmt keinen Hehl daraus gemacht, dass sie über deine Rückkehr nicht gerade erfreut ist. Sie hat sich nämlich ernsthaft Hoffnungen gemacht, bleiben zu können, und wollte keinesfalls in ihre alte Abteilung zurück.<<

>>Obwohl dieser Konstantin ihr so zugesetzt hat?<<

>>Ja, wo sie herkommt, ist es wohl noch schlimmer. Bei uns hatte sie wenigstens Marlies und mich. Aber der Alte war unerbittlich. Na, du kennst ihn ja zur Genüge.<<

>>Wohl wahr. Da kann er noch so viel Süßholz raspeln. Aber wie ich höre, wart ihr dennoch erfolgreich.<<

>>Ja, wir haben schon den einen oder anderen Fall gelöst. Konstantin macht seinem Namen alle Ehre. Er ist in seiner Leistung konstant und unermüdlich bei der Arbeit.<<

>>Na, dich hat‘s ja ordentlich erwischt ...<<

>>Ach was, hör bloß auf. Und selbst wenn, es wird mir wenig nützen ...<<


Inzwischen waren Valerie und Heiko am Zielort angekommen. Das Haus befand sich am Marlene Dietrich Platz, der Teil der futuristisch anmutenden Anlage am Potsdamer Platz war. Dort, wo einst der verkehrsreichste Platz Europas mit zahlreichen Straßenbahnlinien und Bussen und eine der ersten Ampelanlagen – der sogenannte Verkehrsturm – gewesen war, herrschte seit der Jahrtausendwende gepflegte Langeweile. Von dem einstigen großstädtischen Amüsierviertel, in dem tagsüber Angestellte, Sekretärinnen und Geschäftsleute zu ihren Arbeitsstätten eilten und nachts Amüsierwillige, Varietébesucher und Prostituierte das Bild prägten und es sogar ein Rotlichtmilieu gegeben hatte, flanierten zwar noch immer Touristen, aber von dem Flair war nichts geblieben. Das einmalige Kaufhaus Wertheim war durch eine Shopping Meile ersetzt worden, die sich kaum von den anderen in der Stadt unterschied. Ja, es gab wieder ein Theater und Schachtelkinos, aber wer noch Amüsiertempel wie das Haus Vaterland, das Pschorr-Haus oder Prachtbauten wie das Vox-Haus oder das Grand-Hotel Bellevue kannte, konnte seine Enttäuschung kaum verbergen.

Ganz zu schweigen von den neuen Wohnhäusern, die mit Luxus warben, aber allesamt Mieten aufriefen, die kaum ein Normalverdiener bezahlen konnte. Wer freilich mit käuflicher Liebe sein Geld verdiente, wie das Opfer, griff gern tief in die Tasche, schon der Exklusivität wegen. Valerie war etwas enttäuscht, als sie von der kleinen Diele aus das Wohnzimmer betrat. Zwar ein großzügiger Raum, aber außer dem Ahornparkett, den bodentiefen Fenstern, einer schmalen Loggia und einem phantastischen Ausblick hatte der Raum nicht viel zu bieten. Noch uninteressanter war das beengte Schlafzimmer, in dem sich die Mitarbeiter der KTU tummelten, während die der Rechtsmedizin darauf warteten, endlich zum Zuge zu kommen.

>>Schön, dich wiederzusehen<<, sagte Manfred Hoger, als er lächelnd auf Valerie zukam und Heiko freundlich zunickte. >>Dann sind die alten Hasen wieder beisammen. Nur auf deine Stella musst du wohl oder übel verzichten. Die hat heute ihren Waschtag.<<

>>Frau Kern ist schon lange nicht mehr meine Stella, obwohl sie mich am schwersten Tag meines Lebens behutsam wie ein Engel vom Tatort wegführte.<<

>>Ja, schlimme Sache. Du hast mein vollstes Mitgefühl. Umso mehr schätze ich, dass du uns erhalten geblieben bist. Und Knud Habich von der Rechtsmedizin hat auch schon ganz feuchte Augen bei deinem Anblick, wenn ich das richtig deute. Also, das Opfer ist der neununddreißigjährige Juan Carlos Dominguez, geboren in Rio.<<

>>Wie kommt ihr auf die Idee, dass er als Callboy gearbeitet hat?<<

>>Weil sich im Schrank eine Sammlung von Sexspielzeug befindet, und eine Kundenkartei, mit Kunden beiderlei Geschlechts, und einen vollen Terminkalender gibt es auch.<<

>>Somit dürfte ihm die sicherlich horrende Miete nicht schwergefallen sein<<, sagte Valerie.

>>Die dürfte augenblicklich im erschwinglichen Bereich sein. Auch hier greift der Mietendeckel. Jedenfalls solange er nicht als verfassungswidrig beurteilt wird.<<

>>Ein Wunder, dass der Täter die Kundenkartei und den Terminkalender nicht mitgenommen hat. Er scheint sich sehr sicher zu fühlen. Oder er weiß, dass er in der Kartei nicht aufgeführt ist. Was steht denn heute bei seinem letzten Termin?<<

>>Nur ein großes Z, allerdings mit Fragezeichen.<<

>>Das könnte zweierlei bedeuten. Dass er unsicher war bezüglich der Identität des Kunden oder ob der Termin auch eingehalten wird. Wie seid ihr eigentlich hereingekommen? War die Tür aufgebrochen? Und wer hat den Leichnam entdeckt?<<

>>Die Tür war nur angelehnt. Eine Nachbarin fand das merkwürdig, und als auf Klopfen und Rufen niemand reagiert hat, ist sie nachsehen gegangen.<<

>>Die Dame müssen wir dann gleich mal sprechen. Hat sich Bargeld in der Wohnung befunden?<<

>>Jede Menge. Auch sonst scheint nichts mitgenommen worden zu sein.<<

>>Also kein Raubmord, sondern eine Tat aus Eifersucht oder Hass. Vielleicht hat er nicht so gespurt, wie der letzte Kunde es gewünscht hat. Gibt es Fingerabdrücke?<<

>>Reichlich. Allein schon hier im Schlafzimmer. Das wird eine Sisyphosaufgabe für euch, um die ich euch nicht beneide.<<

>>Warum sollten wir es auch einmal leicht haben? Weshalb gehst du eigentlich von einem männlichen Täter aus?<<

>>Ich bitte dich, bei der Brutalität … Da müsste es schon eine Furie gewesen sein.<<

>>Frauen können aus Eifersucht oder gekränkter Eitelkeit durchaus zur Furie werden. Und einen Stich ins Herz finde ich nicht sonderlich brutal, oder spielst du auf etwas anderes an?<<

>>Hast du dir mal sein Genital angesehen?<<

>>Nein, noch nicht. So vergnügungssüchtig bin ich nicht. Was ist damit?<<

>>Man hat ihm die Hoden entfernt. Was glaubst du, was das da in dem Gefäß auf dem Nachttisch ist?<<

>>Igitt.<<

>>Die Kollegen von der Rechtsmedizin werden dir mehr dazu sagen können.<<

>>Wonach riecht es hier eigentlich so streng? Irgendwie chemisch.<<

>>Die Leiche ist mit Desinfektionsmittel gewaschen worden, und zwar gründlich. Demnach wird es keine fremde DNA geben oder nur winzige Restspuren.<<

>>Mist. Habt ihr die Tatwaffe gefunden?<<

>>Nein, die muss er mitgenommen haben. Der Eintrittswunde nach zu schließen so etwas wie ein Eispickel. So ihr könnt dann! Wir sind hier drin erst mal fertig.<<

Knud Habich kam in Begleitung eines etwas schüchtern wirkenden, jungen Mannes herein.

>>Darf ich vorstellen, Hauptkommissarin Voss, und das ist mein neuer Kollege Bernd Siebert. Er ist erst kurze Zeit bei unserer Truppe, deshalb kannst du ihn noch nicht kennen.<<

>>Hallo<<, sagte Valerie artig, und Bernd nickte ihr verhalten lächelnd zu.

Knud hatte mit Kennermiene die Situation erfasst. >>Da braucht es ja nur noch eine Scheibe Toast mit Butter. Die zwei Eier im Glas sind schon da<<, sagte er bitter.

Valerie machte ein finsteres Gesicht. >>Dein Zynismus scheint in der letzten Zeit noch zugenommen zu haben.<<

>>Ja, was denkst du denn? Weil die Sauerei immer größer wird. Früher gab es noch einfache Mörder, heute sind sie eher Schlächter oder orientieren sich an Hannibal Lecter.<<

>>Teile seines Opfers scheint er ja nicht gegessen zu haben<<, sagte Valerie angewidert.

>>Vielleicht beim nächsten Mal. Bei so viel Wut und Hass im Spiel werden garantiert weitere Opfer folgen.<<

>>Du machst einem so richtig Mut. Kannst du schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?<<

>>Schätzungsweise vor zwei bis drei Stunden, ohne mich da festlegen zu wollen.

>>So, wie er da auf dem Bett liegt, muss der Täter über ihm gekniet haben.<<

>>Ich denke eher, dass er im Stehen erstochen wurde und rücklings aufs Bett gefallen ist. Der Stich ins Herz war gleich tödlich, deshalb bedurfte es keines weiteren. Zufall, oder es war jemand mit medizinischen Kenntnissen zu Gange.<<

>>Alles klar, was den Täterkreis wenigstens etwas einschränkt. Komm ruhig näher, Heiko. Oder erträgst du den Anblick nicht?<<

>>Wenn du mich so fragst, würde ich mir das gern ersparen. Kann ich mich nicht anderweitig nützlich machen? Nachbarn befragen, oder so?<<

>>Sieh an, wenn es um euer bestes Stück geht, seid ihr empfindlich. Die Zeugin, die die Leiche gefunden hat, befragen wir gleich gemeinsam. Oder möchtest du lieber nach persönlichen Dingen wie Briefe oder Andenken Ausschau halten? Ich führe das Gespräch von Frau zu Frau vielleicht lieber allein.<<

>>Auch gut. Wenn Manfred mich schon mal ranlässt ...<<

>>Bestimmt, wenn du lieb bitte, bitte machst.<<

>>Witzig. Jetzt weiß ich, was mir am meisten gefehlt hat – dein Humor.<<


Valerie läutete wenig später an der Tür der Nachbarwohnung. Es öffnete eine hübsche, junge Frau, die etwas blass um die Nase war.

>>Frau Leopold? Lisa Leopold?<<

>>Ja.<<

>>Valerie Voss vom LKA Berlin. Darf ich kurz hereinkommen?<<

>>Selbstverständlich. Ich habe Sie schon erwartet.<<

Valerie ging in das helle Wohnzimmer, das viel weniger nüchtern und unpersönlich als nebenan wirkte. Es zeigte sich einmal wieder, was ein weibliches Händchen mit Stoffen, Deko und Accessoires bewirken konnte.

>>Haben Sie sich ein wenig von dem Schock erholt?<<, fragte sie vorsichtig.

>>Ja schon, aber es kommt zum Glück sehr selten vor, dass man einen Toten findet.<<

>>Und dann noch mit einer so grausamen Verstümmelung ...<<

>>Wissen Sie, ich habe gar nicht so genau hingesehen. Aus Angst, den Anblick nicht mehr loszuwerden. Das Blut hat mich gleich zur Umkehr bewegt.<<

>>Waren Sie mit Herrn Dominguez befreundet?<<

>>Nein, wir kannten uns eigentlich kaum.<<

>>Aber Sie wissen schon, welchem Beruf er nachgegangen ist?<<

>>Das war nicht schwer zu erraten. Er war ja meistens zuhause, und was da in der Nachbarwohnung so alles ein und ausgegangen ist ...<<

>>Heute Vormittag auch?<<

>>Nein, da hat nur einmal die Tür geklappt.<<

>>Aber gesehen haben Sie niemanden? Oder vielleicht etwas gehört?<<

>>Als ich kurz im Bad war, kam es mir so vor, als hätte ich unterdrückte Stimmen gehört. Aber das kann auch vor einer anderen Wohnung gewesen sein. Und was da gesprochen wurde, habe ich nicht verstanden. Es hat mich auch nicht interessiert.<<

>>Üben Sie eventuell eine ähnliche Tätigkeit aus? Verzeihen Sie, wenn ich so direkt frage, aber so attraktiv wie Sie sind, und die Miete kann sich bestimmt nicht jeder leisten.<<

>>Das stimmt, aber ich spare lieber an anderen Dingen. Ein gutes Wohnumfeld ist mir wichtig, und ich verdiene recht gut als Sekretärin. Und zu Ihrer ersten Frage: Callgirl, das wäre nichts für mich. Dazu bin ich zu moralisch erzogen worden. Und wenn ich daran denke, was man sich da alles für Krankheiten holen kann … Ganz abgesehen von der Ekelschwelle, die es zu überwinden gilt. Ich möchte mir meine Beischlafpartner aussuchen und lasse mich nicht bezahlen.<<

>>Wie kommt es, dass Sie heute nicht im Büro sind?<<

>>Ich habe ein paar Tage Urlaub und will meine Eltern in Kiel besuchen. Eigentlich bin ich schon auf dem Sprung.<<

>>Ich bitte Sie vorerst, so lange zu warten, bis wir Ihre Fingerabdrücke mit denen von nebenan verglichen haben. Auch eine Gen-Probe wäre hilfreich.<<

>>Sie verdächtigen mich aber jetzt nicht, meinen Nachbarn umgebracht zu haben?<<

>>Solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, kann der Verdacht leider nicht ausgeschlossen werden. Sie wissen doch – der Erste am Tatort und so weiter ...<<

>>Glauben Sie, ich wäre so dumm, anschließend seelenruhig die Polizei zu rufen? Ich hätte ihn doch einfach liegen lassen können und abreisen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Alleinstehender erst nach Wochen gefunden wird.<<

>>Das stimmt. Aber Sie könnten auch besonders raffiniert sein. Entschuldigung, ich kenne Sie ja nicht. Um es gleich vorweg zu sagen: Auf den ersten Anschein halte ich Sie nicht zu einer derartig brutalen Tat fähig, aber wir müssen leider routinemäßig ermitteln. Hat es da nie eine gewisse Annäherung zwischen Ihnen und Ihrem Nachbarn gegeben? Ich meine, er sah doch blendend aus für sein Alter.<<

>>Eben – sein Alter. Ich stehe nicht auf Sugar-Daddys. Und als ich begriffen habe, was da nebenan abgeht, sowieso schon nicht. Ja, er hat mich ein- zweimal zum Kaffee eingeladen. Deshalb könnten Sie auch Fingerabdrücke von mir drüben finden. Aber ich habe schnell vermutet, dass er weniger an meiner Person interessiert war, als daran, mich eventuell als Kundin zu gewinnen.<<

>>Und dieser Affront hat sie nicht sauer gemacht? Also ich hätte beleidigt oder sogar wütend reagiert.<<

>>Ich habe es sportlich genommen. Er war ohnehin nicht mein Typ. Und ich habe ihn garantiert nicht ermordet.<<

>>Das wird sich schnell herausstellen. Solange wir keine DNA von Ihnen an seiner Leiche finden werden …<<

>>Das heißt, ich muss jetzt meine Eltern versetzen, bis Ihre Untersuchungen abgeschlossen sind? Das ist wirklich sehr unangenehm.<<

>>Ich weiß, aber es geht leider nicht anders. Doch ich verspreche Ihnen, den DNA-Abgleich vorrangig zu behandeln. Die Kollegen kommen dann gleich, um die nötigen Proben zu nehmen. Ansonsten wünsche ich Ihnen einen schönen Tag und eine baldige gute Reise.<<

>>Sie haben Humor. Das muss ich wirklich sagen.<<

>>Komisch, das habe ich heute schon einmal gehört.<<


Das Verlangen und der Tod

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