Читать книгу Götzenbild - Dietrich Novak - Страница 5

Kapitel 2

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Das Callcenter sah aus wie so viele andere. Durch die halb hohen Glasscheiben konnte man Mitarbeiter in ihren Boxen sehen, die unaufhörlich in das Mikro ihres Headsets sprachen. Dabei lächelten sie abwechselnd oder verzogen arrogant das Gesicht. Vom Alter und Geschlecht her waren sie unterschiedlich. Es gab junge Männer und Frauen, aber auch reifere Semester, die ihre ganze Persönlichkeit einbrachten.

Das junge Ding am Empfang setzte ihr schönstes Lächeln auf, als zwei so attraktive Männer eintraten. Sie trug die neueste Frisur, sofern man überhaupt von einer solchen sprechen konnte, und ihre Bluse war gerade so offenherzig, dass es nicht billig wirkte.

»Wie kann ich den Herren behilflich sein?«, flötete sie.

»Indem Sie jemanden rufen, der hier etwas zu sagen hat«, sagte Hinnerk barsch, woraufhin das Lächeln der Dame augenblicklich einfror.

»Ich kann unseren Teamchef holen. In welcher Angelegenheit, bitte?«

Hinnerk und Lars zeigten wortlos ihre Dienstausweise.

»Oh«, machte die Brünette und trippelte los.

Wenig später erschien ein aalglatter Jüngling, dessen Lächeln eingemeißelt zu sein schien.

»Guten Tag, mein Name ist Möller, Sven Möller. Bitte folgen Sie mir doch in mein Büro«, sagte er und machte eine einladende Geste.

Nachdem sie einen ebenfalls verglasten Gang entlang gegangen waren, erreichten sie einen nüchternen Raum mit bis zum Boden reichenden Fenstern und wenigen Designermöbeln. Hinnerk und Lars nahmen auf zwei Stühlen Platz, die schöner aussahen als sie bequem waren, der Teamchef lümmelte sich in seinen Chefsessel.

»Es geht um ihre Mitarbeiterin Frau Feist.«

»Ja, was ist mit ihr? Wenn sie noch mal auftaucht kann sie sich ihre Papiere holen. Unzuverlässige Mitarbeiter können wir im Team nicht gebrauchen.«

»Sie wird nicht wieder auftauchen, da kann ich Sie beruhigen«, sagte Hinnerk. »Sie liegt nämlich mausetot in der Pathologie.«

»Oops, das konnte man ja nicht ahnen. Ich dachte, sie ist mit diesem Verehrer durchgebrannt, der hier laufend anrief. Ich musste Frau Feist mehrmals darauf aufmerksam machen, dass sie eine Abmahnung riskiert, falls sie weiterhin während der Arbeit Privatgespräche führt. Wo kommen wir denn da hin!«

»Das ist ein gutes Stichwort«, sagte Lars. »Wir dürfen um eine Liste der Telefonate bitten, die Frau Feist geführt hat.«

»Aber das geht nicht, meine Herren. Das sind Firmeninterna. Diese Informationen unterliegen dem Datenschutz.«

»Der uns gegenüber aufgehoben ist, aber netter Versuch«, sagte Hinnerk. »Falls Sie eine richterliche Anordnung brauchen, können wir uns gleich darum kümmern. Oder die Frau Staatsanwältin stattet Ihnen einen Besuch ab und verschafft sich die Infos gleich hier vor Ort.«

»Halt, halt, Sie fahren hier gleich Geschütze auf … ich darf nur darum bitten, dass die Daten bei Ihnen unter Verschluss bleiben …«

»Ja, dachten Sie, wir veröffentlichen sie im Internet? Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass Sie zumindest einen Teil davon auf diese Weise erhalten haben.«

»Also, ich muss doch sehr bitten … wir sind ein seriöses Unternehmen …«

»Geschenkt«, sagte Hinnerk. »Bitte veranlassen Sie umgehend entsprechende Maßnahmen.«

»Ja, aber das kann schon eine Weile dauern …«

»Wir warten so lange …«

Der Teamchef griff zum Hörer und drückte eine Taste. »Chrissy, ich brauche eine Liste der Telefonate, die Nina Feist zuletzt geführt hat.« Er hielt einen Moment die Sprechmuschel zu. »Für welchen Zeitraum, bitte?«

»Nun, sagen wir vorerst für die letzten zehn Arbeitstage von Nina Feist.«

Sven Möller gab entsprechende Anweisung und legte auf.

»Was können Sie uns sonst noch über Frau Feist sagen?«, fragte Lars übergangslos.

»Sie war eine, die auf der Kippe stand, weil sie nur halbherzig dabei war. Man merkte ihr an, dass sie nicht für die Sache brannte. Von denen gibt es immer wieder mal welche, die nur gut verdienen wollen, aber die entsprechende Leistung scheuen.«

»Vielleicht war es einfach nur nicht ihr Ding, Leuten etwas aufzuschwatzen, das sie eigentlich nicht brauchen«, sagte Hinnerk.

»Was haben Sie eigentlich für eine Vorstellung von unserer Arbeit?«

»Ich denke, da nicht so falsch zu liegen. Auch ich erhalte privat mitunter Anrufe, die mehr als lästig sind.«

»Aber bestimmt nicht von uns. Wir haben einen festen Kundenstamm …«

»Der ständig erweitert werden soll … danke, ersparen Sie mir weitere Floskeln. Gibt es auf dem Gelände einen firmeneigenen Parkplatz?«

»Nicht direkt. Unsere Mitarbeiter nutzen den auf dem Nachbargrundstück, von der Rollbergstraße aus zu erreichen, wenn sie nicht auf der Straße parken wollen.«

»Haben Sie einmal nachgeschaut, ob womöglich der Pkw von Frau Feist dort noch steht?«

»Natürlich nicht, da hätte ich viel zu tun. Außerdem ging ich davon aus, dass sie längst über alle Berge ist.«

»Verstehe. Gibt es Mitarbeiter, mit denen sich Nina Feist besonders gut verstanden hat, vor allem männliche?«

»Mir fällt nur eine weibliche ein, Mia Kolberg. Auch eine von denen …«

»…die auf der Kippe stehen, ich weiß«, brachte Hinnerk den Satz zu Ende. »Dann würden wir die Dame gerne sprechen. Oder hat sie heute Spätdienst?«

»Nein, sie ist an ihrem Platz. Sie können sich im Aufenthaltsraum mit ihr unterhalten. Die Zeit müsste sie allerdings nacharbeiten.«

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Unter Umständen erhalten wir von ihr sachdienliche Hinweise«, ereiferte sich Lars.

»Ja … aber … also gut, ich rufe sie.«

Wenig später saßen Hinnerk und Lars einer etwas unscheinbaren Endzwanzigerin gegenüber, die zugegeben eine angenehme Stimme hatte. Als Mia von Ninas Tod erfuhr, wurde sie schneeweiß im Gesicht.

»Wie schrecklich, ich habe ihr immer gesagt, sie soll nicht auf dem dunklen Parkplatz ihren Wagen abstellen, wenn sie Spätschicht hatte.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ihr dort etwas zugestoßen sein könnte? Haben Sie vielleicht noch tagelang den Pkw dort stehen sehn?«

»Nein, ich selbst habe keinen Wagen. Vorne ist ja gleich die U-Bahn und …«

»Und auf dem Parkplatz einmal nachzusehen, sind Sie nicht auf die Idee gekommen?«

»Nein, als Nina nicht mehr zur Arbeit kam, ging ich davon aus, sie habe etwas Besseres gefunden. Ein Traumjob ist das nicht gerade … und der ständige Druck …«

»Hatte Frau Feist Kontakt mit einem der männlichen Kollegen?«

»Eher nicht. Sie hat einmal mir gegenüber geäußert, dass sie keinen von denen ausstehen könne, weil wohl keiner ehrlich sei.«

»Hat sich trotzdem einer um sie bemüht, auch wenn er nicht erhört wurde?«

»Nein, davon hat sie nie etwas gesagt, und mir ist auch nichts aufgefallen.«

»Aber von dem Anrufer, der sie immer wieder belästigte, hatten Sie Kenntnis?«

»Ach Gott, diese Typen gibt es immer wieder, die ein Callcenter mit einer dieser Nummer verwechseln … ich meine, wo Frauen … na ja, und der hat auch etwas von angenehmer Stimme gefaselt … so was darf man gar nicht ernst nehmen.«

»Aber Frau Feist hat doch richtig Ärger deswegen bekommen …«

»Ja, sie war nicht entschlossen genug und ist immer wieder darauf eingegangen. Erst als ihr die Abmahnung drohte, hat sie das Gespräch immer gleich unterbrochen.«

»Das heißt, der Mann hat bis zum Schluss nicht aufgegeben?«

»Ja, das war ein besonders Hartnäckiger.«

»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Besonders am letzten Tag, den Nina Feist anwesend war?«

»Nein, wir sind uns gar nicht begegnet. Ich hatte Frühdienst und sie Spätschicht. Dazwischen gibt es noch eine Mittelschicht.«

»Danke erst mal, falls Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine Karte«, sagte Hinnerk.

Plötzlich stand Sven Möller im Raum. »Wenn Sie dann fertig sind, gehen Sie bitte wieder an Ihren Platz«, sagte er zu Mia. »Und Sie meine Herren, trinken Sie doch derweil einen Kaffee. Die Liste kommt gleich. Einen schönen Tag noch.«

»Du mich auch«, sagte Lars, als Möller draußen war. Damit sprach er nur Hinnerks Gedanken aus.

Nachdem sie die Liste erhalten und zuvor jeweils drei Tassen Kaffee getrunken hatten, gingen beide zu dem bewussten Parkplatz. Ein Pkw fiel besonders auf, ein gebrauchter, dunkelblauer Ford Mondeo, der besonders schmutzig war.

Hinnerk zückte sein Handy. »Ja, Hinnerk Lange hier. Ich brauche bitte eine Kennzeichenüberprüfung … ein blauer Ford Mondeo mit dem Berliner Kennzeichen … ja, ich warte.«

Kurz darauf erhielt er Antwort. »Die Halterin heißt Nina Feist? Ja, das dachte ich mir. Danke, Kollege.« Hinnerk drückte das Gespräch weg und wählte sofort neu. »Lange hier, schickt bitte die KTU zu einem Parkplatz in der Rollbergstraße Nummer … ja, wir haben das Fahrzeug eines Mordopfers gefunden.«

»Was versprichst du dir davon?«, fragte Lars, als Hinnerk das Gespräch beendet hatte. »Nach so langer Zeit wird es wohl kaum noch Spuren geben bei dem Kommen und Gehen.«

»Das kann man nie wissen. Das Fahrzeug muss ohnehin gründlich untersucht werden. Womöglich hat der Täter darin gesessen.«

»Ja, klar …«

»Ich gehe mal schnell pinkeln … der viele Kaffee … und wenn die KTU hier ist, geht es ab ins Präsidium. Bin schon ganz gespannt auf die Auswertung der Liste. Vielleicht ist der Anrufer unser Täter. Zumindest hat er gewusst, wo Nina Feist gearbeitet hat.«

Die Suche mithilfe der Leichenspürhunde im Volkspark Friedrichshain war ergebnislos verlaufen. Entweder der Täter hatte die Beine des Opfers woanders deponiert oder behalten.

Marlies wertete mit Eifer die Telefonliste des Callcenters aus. Dabei interessierte sie zunächst weniger, wen Nina Feist angerufen hatte, als wer sich mit ihrem Platz hatte verbinden lassen. Und da gab es tatsächlich eine Festnetznummer, die insgesamt zehnmal auftauchte. Es stellte sich heraus, dass sie zu einem Jörn Ritter gehörte.

»Oh, oh, ich ahne Schlimmes«, sagte Valerie. »Jemand der so offensichtlich über das Festnetz telefoniert, und nicht über einen schlecht nachzuvollziehenden Handyprovider, ist entweder besonders dreist oder hat tatsächlich nichts zu verbergen. Ich werde dem Knaben mal einen Besuch abstatten. Bis später.«

Draußen auf dem Flur begegnete Valerie die neue Staatsanwältin, Ingrid Lindblom. Eine attraktive Blondine, die im Gegensatz zu Valerie sehr weiblich gekleidet war. Ihre Blicke taxierten Valerie mit ihrem knappen T-Shirt und den engen Jeans eingehend, und Valerie glaubte, darin ein gewisses Interesse festzustellen.

»Gut, dass ich Sie treffe. Ist Herr Lange im Büro oder außer Haus?«, fragte sie kühl.

»Eben war er noch da.«

Warum sagt sie nicht Ihr Mann? dachte Valerie. Und diese Augen durchbohren mich ja förmlich. Aber attraktiv ist die Dame, das muss man ihr lassen, sehr sogar …

Wenig später, als Valerie längst unterwegs war, saß Hinnerk Ingrid Lindblom in ihrem Büro gegenüber.

»Sie haben eine Anzeige wegen Nötigung erhalten«, kam sie direkt auf den Punkt. »Es macht sich nicht so gut, wenn ein Hauptkommissar Selbstjustiz verübt …«

»Das hört sich ja an, als hätte ich den Dreckskerl umgebracht«, sagte Hinnerk. »Er hat mich zuerst beleidigt, bevor ich ihn daran gehindert habe, weiterzufahren. So sieht es aus. Die bilden sich doch ein, weil sie schneller sind, könnten sie sich alles erlauben. Es wird verdammt noch mal Zeit, dass Fahrräder auch Nummernschilder erhalten.«

»Kümmern Sie sich jetzt um die Aufgaben des Ordnungsamtes? Der Streit fing doch an, als Sie sich beschwert haben, dass er auf dem Bürgersteig fuhr.«

»Richtig, der Radweg war nämlich direkt daneben. Und weil diese Typen kein Unrechtsbewusstsein haben und denken, sie könnten sich alles erlauben, hat er mich noch unflätig beschimpft. Fick dich ist ja schon fast alltäglich geworden, aber ich lasse mich nicht ungestraft als Hurensohn bezeichnen.«

»Bleibt die Tatsache, dass sie den Mann festgehalten und an der Weiterfahrt gehindert haben. Für ihn erfüllt das den Tatbestand der Nötigung.«

»Was blieb mir denn anderes übrig als ihn aufzuhalten? Schließlich wollte ich seine Personalien aufnehmen. Dazu habe ich als Polizeibeamter ein Recht. Der wäre doch glatt weitergerast und hätte mir noch den Stinkefinger gezeigt.«

»Wäre … hätte … beides eher ungebräuchliche Vokabeln für einen Mann in Ihrer Position …«

»Sie mögen ja eine ausgezeichnete Staatsanwältin sein, aber Sie haben sich den falschen Angeklagten ausgesucht.«

»Ich klage Sie nicht an, schließlich sind wir hier nicht bei Gericht. Ich habe Sie nur kommen lassen, um aus Ihrem Munde den Vorfall geschildert zu bekommen. Weiterhin möchte ich Sie bitten, künftig Ihr Temperament etwas zu zügeln.«

»Wenn ich sehe, wie hier der Bock zum Gärtner gemacht wird … kann ich das nicht versprechen.«

»Sehen Sie, genau das meine ich. Statt vernünftig zu argumentieren, brausen Sie unangemessen auf … haben Sie private Probleme, ist Ihre Ehe nicht glücklich?«

»Das geht Sie mit Verlaub einen Sch … an. Für mich ist das Gespräch jetzt beendet, Frau Staatsanwältin. Tun Sie Ihre Pflicht und brummen mir eine Ordnungsstrafe auf oder lassen mich vom Dienst suspendieren …«

»Seien Sie nicht albern …«

Hinnerk sprang auf. »Auf gute Zusammenarbeit, kann man da nur sagen.«

»Ja, das hoffe ich …«

Statt einer Antwort, lief Hinnerk hinaus und warf die Tür ins Schloss.

»Die Tür hat eine Klinke, Herr Lange, also benutzen Sie sie bitte auch!«, hörte er hinter sich herrufen, doch da war er schon in seiner Abteilung.

»Das ist ja ein charmanter Fetzen, unsere neue Staatsanwältin«, sagte er wutentbrannt. »Wenn ich mich nicht sehr täusche, mag die keine Männer. Hält die mir doch eine Standpauke, weil mich das Arschloch wegen Nötigung angezeigt hat.«

»Ich hab dir doch gesagt, das gibt Ärger«, meinte Lars.

»Tu mir einen Gefallen und erspar mir deine klugen Sprüche. Jedenfalls stelle ich mir unter einer guten Zusammenarbeit etwas anderes vor.« Hinnerk ließ offen, ob er damit Frau Lindblom oder Lars meinte, und Lars hütete sich, noch etwas hinzuzufügen.

Valerie traf vor der Wohnung von Jörn Ritter ein. Sie befand sich im Hinterhaus eines Kreuzberger Altbaus im dritten Stock. Nach einer kurzen Wartezeit wurde tatsächlich geöffnet. Ritter war ein vom Alter her schwer einzuschätzender Mann. Seine wenigen Haare glänzten fettig, und seine Kleidung war sehr leger, um nicht zu sagen schlampig.

»Das ist ja mal eine Überraschung«, sagte er, als er Valeries Ausweis sah. »Sind alle Kommissarinnen beim LKA so schön?«

»Mir ist bekannt, dass Sie im Komplimente machen sehr geübt sind, Herr Ritter, nur sollten Sie sich vorher genau überlegen, wem Sie sie machen.«

»Ist es schon eine Straftat, einer Kommissarin zu sagen, wie schön sie ist?«

»Nein, ich meinte weniger mich als eine Mitarbeiterin eines Callcenters, die Sie derart bedrängt haben, dass es schon an Stalking grenzt. Aber wollen wir das hier im Flur besprechen?«

»Nein, kommen Sie rein! Gehen wir doch in die Küche, da ist es im Verhältnis zum Wohnzimmer noch relativ ordentlich.«

Ritter bot Valerie einen Platz auf einem schäbigen Küchenstuhl an, und sie war froh, eine Jeans, und keine helle Hose, anzuhaben.

»So, hat sich die Kleine also über mich beschwert? Aber das deswegen gleich die Kripo kommt …«

»Ich bin nicht hier, weil Sie Frau Feist mit Anrufen belästigt haben, sondern weil sie inzwischen tot aufgefunden wurde.«

»Sagen Sie bloß. Feist hieß sie also. Ein sehr unpassender Name für eine Frau mit so erotischer Stimme. Auf welche Weise ist sie denn ums Leben gekommen?«

»Ich hoffte, Sie würden mir das beantworten.«

»Wie könnte ich? Ich habe die Dame niemals getroffen. Sie wollte ja nicht. Ich weiß nicht einmal, ob sie hübsch oder hässlich war.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass Frau Feist sehr hübsch war, und besonders schöne Beine hatte.« Valerie beobachtete Ritters Reaktion, aber der feixte nur.

»Hat mich mein Gefühl also nicht getrogen. Bei Frauen mit verführerischen Stimmen kann man böse Überraschungen erleben.«

»Sie scheinen einen Großteil Ihrer Zeit mit Telefonieren zu verbringen. Können Sie sich das leisten?«

»Ach, wissen Sie, im Zeitalter der Telefonflatrates ist das kein Problem mehr. Außerdem irren Sie sich, falls Sie glauben ich mache das gewohnheitsmäßig. Diese Frau hatte etwas Besonderes, ich hätte sie gerne getroffen.«

»Angenommen, Frau Feist wäre auf ihre Einladung eingegangen – verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber wenn ich mich hier so umsehe … was hätten Sie ihr bieten können? Oder unterhalten Sie noch eine besser ausgestattete Zweitwohnung oder eine großzügig bemessene Werkstatt?«

»Es soll Frauen geben, die auf materielle Dinge nicht so viel Wert legen. Ich bin ein ganz lieber Kerl und im Bett einsame Spitze.«

»So genau wollte ich es eigentlich nicht wissen.«

Ritter grinste. »Und zu Ihrer zweiten Frage: Nein, das ist meine einzige Wohnung, und eine Werkstatt besitze ich auch nicht. Sehe ich wie ein Künstler oder Handwerker aus?«

»Man sieht einem Menschen seinen Beruf oder seine Hobbys nicht auf Anhieb an. Und in Kreuzberg findet man bekanntermaßen viele Fabriketagen oder alte Werkstätten. Ich habe selbst einmal in diesem Bezirk gelebt.«

»Wie schade, dass wir uns nicht schon damals begegnet sind. Aber ich muss Sie enttäuschen, eine Fabriketage kann ich mir nicht leisten. Andernfalls würde ich dort sicher auch wohnen.«

»Manche Räume sind zum Arbeiten noch immer geeignet, zum Wohnen aber weniger«, gab Valerie nicht auf.

»Ich hatte einen stinknormalen Bürojob, bis mein Rücken nicht mehr mitspielte. Künstlerische oder handwerkliche Ambitionen gehen mir gänzlich ab.«

»Wo haben Sie sich am Abend des dreiundzwanzigsten Mai aufgehalten? Das war ein Freitag, der nicht so heiß wie die übrigen Tage war, und es regnete nicht. Also so recht geeignet für einen Spaziergang.«

»Ich war zu Hause. Der große Läufer bin ich nicht und sitze lieber. Wahrscheinlich habe ich telefoniert, das müsste sich ja nachprüfen lassen.«

»Das werden wir. Bei welchem Provider haben Sie Ihre Flatrate?«

»Bei der Telecom. Zusammen mit Internet und Fernsehen.«

»Und Sie waren nicht doch zufällig in der Rollbergstraße? Gar so weit ist es ja nicht von hier.«

»Mit Sicherheit nicht. Was hätte ich da sollen? Und zu Fuß ist es schon eine ordentliche Strecke. Ich bin nämlich nicht motorisiert.«

»Das wäre meine nächste Frage gewesen. Und Sie haben auch keinen Freund, der Ihnen hin und wieder sein Fahrzeug leiht?«

»Ich gehöre zu der seltenen Spezies, die keinen Führerschein hat.«

»Na ja, es gibt öffentliche Verkehrsmittel …«

»Trotzdem, ich bin meistens hier. So auch an dem bewussten Abend.«

»Gut, dann hätte ich im Moment keine weiteren Fragen. Vielleicht sehen wir uns aber noch einmal wieder.«

»Das würde mich außerordentlich freuen …«

»Ich werde es meinem Mann ausrichten, Herr Ritter …«

Der sechste Juli war besonders heiß in Berlin. Die Freibäder waren mehr als gut besucht. Überall sah man halbnackte Menschen, die in der Sonne brieten, im Schatten dösten oder Erfrischung in den Wasserbecken suchten.

Er hatte seine Decke auf dem Rasen ausgebreitet und lag auf dem Bauch, um seine Erregung zu verbergen. Seine große, dunkle Sonnenbrille verbarg seine gierigen Blicke. Es gab viel zu sehen, denn das Freibad im Humboldthain wimmelte nur so von hübschen jungen Frauen, die mit ihren Freundinnen, Liebhabern oder Kindern etwas Abkühlung suchten. Ihn interessierten nur die scheinbar alleinstehenden. Und darunter nur jene, die sich durch eine tadellose Figur auszeichneten. Er mochte keine pummeligen oder zu kleine Frauen, und solche mit sogenannten Reiterhosen waren ihm ein Graus. Seine Traumfrau musste groß sein, mit festen Schenkeln, schlanker Taille und wohlgeformten Brüsten. Sie musste kein Model sein, die oft nur einen kleinen Busen hatten und ihm deutlich zu mager waren.

Eine fiel ihm sofort ins Auge. Eine Blonde mit nicht besonders schönem Gesicht, aber dafür umso perfekterem Körper, den ihr knapper Bikini nur unzureichend verhüllte. Wenn sie ging, wiegte sie sich in den Hüften, ohne dass es aufgesetzt oder einstudiert wirkte. Als sie sich hinlegte und das Oberteil ihres Bikinis öffnete, sah er, dass ihre Brüste genau die richtige Größe hatten, nicht zu viel und nicht zu wenig. Und er wäre jede Wette eingegangen, dass die Schöne nicht mit Silikon nachgeholfen hatte.

Ja, das war genau die Richtige, dachte er und legte sich einen Schlachtplan zurecht, wie er an sie herankommen könnte. Es war keine von denen, die vordergründig Kontakt zu Männern suchte, denn die bewundernden Blicke, die ihr galten, quittierte sie mit Gleichgültigkeit oder Missachtung. Entweder hatte man ihr schon zu oft gesagt, wie tadellos sie aussah, oder es war eine von den Treuen, die sich für ihren Freund aufsparte, der zwar heute keine Zeit hatte, sie zu begleiten, sich aber sicher sein konnte, dass sie sich nicht anderweitig orientierte, überlegte er.

Dann kam seine Stunde, als sie aufstand und das Selbstbedienungscafé auf dem Gelände ansteuerte. Er machte keinen plumpen Annäherungsversuch oder setzte sich gar an ihren Tisch. Vielmehr nahm er an einem der Nebentische Platz und schaute nur hin und wieder in ihre Richtung. Wobei sein Blick sekundenlang auf ihr verharrte, um sich sogleich wieder abzuwenden.

Das Glück war mit ihm, denn als sie nach dem Kaffee noch ein Eis kaufen wollte, sich erneut in die Warteschlange einreihte und ihr kleines Portemonnaie fallen ließ, stand er nah genug, um sich blitzschnell bücken und die herausfallenden Münzen einsammeln zu können. Als er sich aufrichtete und das Fallgut überreichte, blickte er in ein lächelndes Gesicht, das sogleich um einiges hübscher wirkte.

»Es gibt doch tatsächlich noch Kavaliere«, sagte sie mit einer etwas plärrenden Stimme, die bestimmt so manchen Mann verschreckte, aber ihm ging es ja nicht um die Stimme, die war für ihn ganz ohne Wert.

»Lassen Sie öfter mal was fallen?«, fragte er grinsend.

»Im Allgemeinen nicht, und falls sie annehmen, ich hätte es absichtlich getan, muss ich Sie enttäuschen.«

»Das würde ich Ihnen nie unterstellen …«

»Wie ritterlich, aber mich immer wieder mit Ihren Blicken zu taxieren, verbot Ihnen die Höflichkeit nicht? Oder glauben Sie, ich hätte es nicht bemerkt?«

»Es fällt eben schwer, meinen Blicken ein so lohnendes Ziel zu verbieten.«

»Wenigstens sind Sie ehrlich und streiten es nicht ab.«

»Nein, ich bitte um Verzeihung. Andererseits schien es mir, Sie wären derlei Blicke gewohnt und wirkten sogar etwas gelangweilt.«

»Das haben Sie ganz richtig erkannt. Einmal habe ich einen festen Partner und zum anderen finde ich Männer, die sich angesichts sexueller Reize wie ein hechelnder Hofhund verhalten einfach widerlich.«

»Das war deutlich, aber es handelt sich hier um ein Missverständnis. Auch ich bin in festen Händen und dabei äußerst treu. Mein Interesse galt Ihnen aus beruflichen Gründen. Ich bin nämlich Fotograf und beliefere seriöse Magazine mit meinen Arbeiten, um es gleich vorwegzunehmen.«

»Der Trick ist so abgedroschen, dass ich schon wieder geneigt bin, Ihnen zu glauben.«

»Können diese Augen lügen?«, sagte er und lüpfte für einen Moment seine Sonnenbrille, um seine blassblauen Augen zu zeigen.

Ihr Lächeln zeigte ihm, dass er gewonnen hatte. »Ich müsste lügen, wenn ich sagte, an künstlerischen Fotos nicht interessiert zu sein«, meinte sie. »Nicht dass ich finanziell darauf angewiesen wäre, aber welche Frau fühlt sich nicht geschmeichelt, wenn man sie in günstiges Licht setzt, wie es eben nur ein Profi kann. Für welche Magazine arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?«

»Zum Beispiel für die deutsche Vogue, Cosmopolitan, Elle und Glamour, um nur einige zu nennen.«

»Respekt, aber sind die nicht ausschließlich auf professionelle Models aus?«

»Nicht ausschließlich. Es gibt immer einen Markt für die schöne Unbekannte von nebenan. Von der Siegerin der Castingshow Germanys Next Topmodel, die alljährlich das Cover der Cosmopolitan ziert, hatte zuvor auch niemand etwas gehört.«

»Nun, ich glaube, als Aushängeschild auf solch einem Cover zu prangen, wäre nicht so mein Ding. Aber künstlerische Fotos für den Privatgebrauch könnten mir schon gefallen. Könnte man einige Arbeiten von Ihnen sehen?«

»Ja gerne, wenn Sie Zeit haben, nehme ich Sie kurz in mein Atelier mit und könnte auch schon erste Probeschüsse machen. Natürlich nur, falls Sie Lust haben.«

Habe ich dich doch wieder an der richtigen Stelle erwischt, du eitles Luder, dachte er und hätte sich am liebsten die Hände gerieben.

»Etwas Zeit hätte ich schon. Ist es weit von hier?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur der berühmte Katzensprung. Ich fahre Sie selbstverständlich auch wieder hierher zurück oder woandershin. Oder sind Sie motorisiert?«

»Schon, aber ich bin mit der S-Bahn gekommen. Weil dieses Freibad direkt neben den Gleisen liegt. Man weiß ja nie, ob man einen Parkplatz bekommt.«

»Das stimmt. Ich musste auch etwas weiter vorne in der Hussitenstraße parken. Also, wollen wir?«

»Gut, wir treffen uns gleich vor dem Eingang. Aber endlos Zeit habe ich nicht.«

»Ich auch nicht. Für eine erste Information wird es reichen.«

Als er wenig später vor dem Ausgang im Park wartete, dachte er für einen Moment, sein Opfer hätte es sich anders überlegt, aber schließlich kam sie mit einem leichten Sommerkleid und ihrer Badetasche auf ihn zu.

Vor seinem Kleintransporter angelangt, half er ihr galant beim Einsteigen und fuhr dann Richtung Bernauer Straße los.

»Fahren Sie immer mit einem so großen Fahrzeug durch die Gegend?«, fragte sie.

»Ich habe kein anderes. Außerdem ist es sehr praktisch, weil ich stets meine Ausrüstung dabei haben kann.«

»Ja, das leuchtet mir ein.«

Die weitere Fahrt verlief schweigend, erst als immer mehr Zeit verging, wurde die Badeschöne unruhig.

»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte sie nervös. »Sie meinten doch, es wäre nicht weit.«

»Haben Sie bitte noch einen Moment Geduld. Weit ist in Berlin relativ. Ein günstiges Objekt, in dem man ungestört arbeiten kann, findet man nicht um die Ecke. Ich bin nicht gewillt, den Mietwucher mitzumachen – nicht dass ich es mir nicht leisten könnte – aber seitdem die Bezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain en vogue sind, verlangt man unbeschreiblich hohe Mieten. An mir sollen sich die Miethaie nicht gesundstoßen.«

Sie sah ihn einen Moment intensiv von der Seite an, was ihm nicht entging, aber er lächelte entwaffnend.

Wenig später bog er in eine Durchfahrt ein und fuhr im Schritttempo bis auf den Hof. Dort stand ein etwas heruntergekommenes Gebäude mit ockerfarbenen Klinkern und blinden Scheiben.

»Wenig Vertrauen erweckend«, sagte sie misstrauisch.

»Innen ist es ganz schnuckelig, Sie werden sehen. Eine prachtvolle Fassade lockt nur zwielichtiges Gesindel an.«

»Ich habe auch gar kein Firmenschild gesehen, ich meine, als professioneller Fotograf mit eigenem Studio …«

»Es ist nicht besonders groß. Sie haben es bestimmt übersehen. Die wichtigen Leute, um die es geht, finden mich schon. Kommen Sie, gleich gibt es eine Erfrischung.«

Widerwillig betrat sie durch eine rostige Eisentür einen mittelgroßen Flur, von dem eine Treppe nach oben führte. Der schmale Raum war nur spärlich beleuchtet und wirkte wenig einladend.

»Einen Moment, ich mache gleich mehr Licht, dann sieht alles etwas freundlicher aus«, sagte er und verschwand in einer Kammer unter der Treppe.

Bei ihr schalteten sich plötzlich alle Alarmsirenen ein. Hier stimmt etwas nicht, dachte sie und lief auf die Ausgangstür zu.

In dem Moment ging das Licht aus. Es fiel nur noch spärliches Tageslicht durch die blinden Scheiben auf den oberen Podesten. Fast gleichzeitig spürte sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken.

»Aber, aber, wer wird denn gleich die Flucht ergreifen? Jetzt, wo das Spektakel erst losgehen soll?«, flüsterte er und drückte ihr einen Wattebausch auf Mund und Nase, woraufhin sie fast unmittelbar gnädige Finsternis umhüllte.

»Ich glaube zwar nicht, dass dieser Hinterhofcasanova Jörn Ritter unser Täter ist, aber überprüf bitte zur Sicherheit, ob ein Fahrzeug auf seinen Namen angemeldet ist, Schmidtchen. Er behauptet zwar, keinen Führerschein zu besitzen, aber …«, sagte Valerie gerade, als das Telefon läutete. »Voss, was gibt’s …?«

»Ich weiß, dass es gerade nicht passt, aber ich brauche deine Hilfe«, sagte eine klägliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ach, Mama, du klingst so seltsam. Was ist denn los?«

»Ich werde einfach nicht mehr fertig mit deinem Vater. Etwas muss geschehen, und zwar schnell.«

»Wir besprechen das heute Abend, ja? Ich komme auf jeden Fall nachher vorbei. Bis dahin bewahre ruhig Blut …«

»Das sagt sich so einfach. Wenn du nicht kommst, weiß ich nicht, was ich tue …«

»Versprochen, Mama, bis später.«

»Ärger?«, fragte Hinnerk.

»Sie sagt, sie wird nicht mehr fertig mit Papa …«

»Das musste ja früher oder später so kommen. Demenzkranke sind immer für eine Überraschung gut. Leicht hat sie es bestimmt nicht mit ihm. Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee war, deiner Mutter das aufzubürden.«

»Was sollte ich denn machen? Zurück zu seiner Geliebten wollte er nicht, ich kann mich auch nicht um ihn kümmern … und für ein Pflegeheim ist mir mein Vater zu schade. Ich dachte auch, Mama würde die neue Aufgabe guttun. Seit seinem Auszug wusste sie doch nichts mehr mit ihrer Zeit anzufangen.«

»Du vergisst, dass deine Mutter auch nicht mehr die Jüngste ist. Und zur körperlichen Belastung kommt noch die seelische. Sie macht das jetzt schon über fünf Jahre mit. Irgendwann ist die Kraft verbraucht.«

»Das weiß ich doch alles selber. Aber Menschen kann man eben nicht einfach so erlösen wie Haustiere. Hier in Deutschland jedenfalls nicht …«

»Weiß du was, fahr doch gleich mal bei ihr vorbei. Vielleicht haben sich die Wogen bis dahin schon halbwegs geglättet. Wir schaffen das schon alleine hier.«

»Und wenn der Alte nach mir fragt?«

»Dann bist du auswärtig ermitteln … wir sind eh damit beschäftigt, die Telefonliste des Callcenters genauer auszuwerten. Wenn wir Glück haben, findet sich unter einer der Nummern ein Tierpräparator … Lars und ich bleiben dran.«

»Na gut, wenn du meinst …« Valerie drückte Hinnerk einen Kuss auf, griff ihre Tasche und verließ das Büro. Ihre Zweifel, ob unter den möglichen Tierpräparatoren der Täter sein könnte, behielt sie vorerst für sich. Sie verstand zwar nicht viel von der Materie, aber stellte sich vor, dass da ganz andere Verfahren angewendet wurden. Schließlich hatte man die Leiche nicht ausgestopft.

Als Valerie in der Wohnung ihrer Eltern ankam, empfing sie Mutter Karen weinend. In der Wohnung roch es irgendwie seltsam, obwohl mehrere Fenster offen standen.

»Ich hätte nie gedacht, dass du dich so schnell loseisen würdest«, sagte Karen, und die Erleichterung in ihrer Stimme war unüberhörbar.

»Wie geht es Papa?«

»Im Moment schläft er. Frag lieber, wie es mir geht.«

»Das erzählst du mir gleich alles …«

»Willst du einen Kaffee? Kuchen habe ich aber keinen.«

»Ich bin doch nicht zum Essen hergekommen, Mama. Wenn du einen Kaffee fertig hast, gern, sonst eben nicht. Einen kochen musst du nicht extra.«

»Das ist doch keine Arbeit. Das macht ja die Maschine. Aber ich habe frisch gebrühten.«

Anschließend saßen die beiden Frauen im Wohnzimmer und tranken zunächst schweigend, bis Valerie das Wort ergriff.

»Also, was ist los?«

»Das Übliche, ich kann es nur langsam nicht mehr ertragen. Daran, das dein Vater ständig ins Bett macht und bei mir die Waschmaschine Tag und Nacht läuft, habe ich mich leidlich gewöhnt, aber jetzt pinkelt er auch in die Schränke … zwischendurch will er mich aus der Wohnung werfen, weil er mich nicht erkennt … und waschen will er sich auch nicht lassen … überall wirft er das Essen auf den Boden oder verschüttet etwas …«

»Das macht er doch nicht mit Absicht.«

»Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher. Wenn ihm etwas nicht schmeckt … gestern kann er es noch gerne gegessen haben … ach, es ist nicht zum Aushalten.«

»Aber waschen soll ihn doch der ambulante Pflegedienst. Du kriegst doch Papa nicht alleine hoch …«

»Das ist es ja eben. Abgesehen davon, dass der Pfleger immer in Eile ist, weil er zum Nächsten hasten will, reicht die Zeit gerade dafür, Papa seine Spritze zu geben und einen Waschversuch zu machen. Der scheitert dann kläglich, weil Papa sich nicht von Fremden waschen lassen will. Manchmal auch nicht von mir.«

»Vielleicht geht der Mann nicht energisch genug mit ihm um. Ich meine, das ist doch sein Beruf …«

»Was soll er denn machen, wenn Papa ihm den Waschlappen aus der Hand schlägt und ihn anschreit, er solle die Wohnung verlassen? Nein, wir müssen eine Lösung finden. Für mich ist der Gedanke, meinen Mann in ein Pflegeheim zu bringen, auch unerträglich, doch da kümmert man sich wenigstens um ihn. Die haben doch viel mehr Erfahrung mit diesen Kranken. Von mir aus besuche ich ihn täglich, sogar zweimal, aber hier kann er beim besten Willen nicht bleiben. Ich hasse mich schon selbst dafür, nicht die nötige Geduld mit ihm aufbringen zu können. Wenn ich manchmal grob zu ihm bin, schäme ich mich hinterher entsetzlich. Ich will nicht so sein, wie ich durch ihn geworden bin.«

»Du bist eben auch nur ein Mensch, Mama. Mach dir nicht zu viele Vorwürfe.«

Karen schnäuzte in ihr Taschentuch und griff nach einem Glas, in dem sich bernsteinfarbene Flüssigkeit befand.

»Trinkst du etwa wieder, Mama?«, fragte Valerie besorgt.

»Ohne ab und zu einen Schluck hätte ich das schon längst nicht mehr ertragen.«

»Ach, Mama, das darf doch nicht wahr sein. Du warst so schön darüber hinweg.«

»Ach, Mama, ach, Mama«, äffte Karen ihre Tochter nach. »Weiß du, wie so ein Tag für mich aussieht? Du bekommst davon doch so gut wie nichts mit. Neben all dem Dreck, den ich ständig hier wegwischen muss, bin ich ständig in Sorge, was er jetzt wieder anstellt. Eines Tages zündet er noch die Wohnung an. Wenn ich mal für einige Minuten wegdämmere, steht er auf dem Balkon und ruft um Hilfe. Die Nachbarn grüßen mich schon nicht mehr, weil sie denken, ich kümmere mich nicht genug um deinen Vater. Die sollten das alles mal selbst durchmachen …«

Valerie nahm ihre Mutter in den Arm. »Komm mal her, ich habe ja nicht geahnt, wie schlimm es inzwischen ist. Du hast dich nie sehr beklagt. Aber wenn es nicht mehr geht, müssen wir eben den unvermeidlichen Schritt tun. Hinnerk und ich werden uns nach einem geeigneten Platz für Papa umsehen. Und falls du es alleine finanziell nicht schaffst, helfen wir dir natürlich.«

Plötzlich stand Christoph Voss in der Tür. Er trug keine Unterhose und die Windel baumelte seitlich an ihm herunter.

»Was macht die fremde Frau hier? Schmeiß sie sofort raus«, sagte er böse.

Valerie stand auf und lief auf ihren Vater zu. »Die fremde Frau ist deine Tochter Valerie, Papa. Morgen weißt du es wieder. Und es ist ziemlich unschicklich, sich vor zwei Frauen halbnackt zu zeigen. Also zieh dir wenigstens eine Unterhose an.«

»Ich konnte keine finden. Die räumt sie ja immer alle weg.«

»Die ist deine liebe Frau Karen, Papa, die sich aufopferungsvoll um dich kümmert. Also mach es ihr nicht so schwer.«

Christoph schien einen Moment zu überlegen, drehte sich um und ging wortlos zurück ins Schlafzimmer. Als Valerie ihm nachging, wollte er sich gerade vor dem geöffneten Schrank erleichtern. Valerie riss ein Handtuch heraus und hielt es ihrem Vater vor den Unterleib.

»Komm, das ist nicht der rechte Ort dafür! Siehst du, dort wo die Kacheln an den Wänden sind, macht man das. Ich setzte dich jetzt auf die Brille, und dann kannst du loslegen.«

Als ihr Vater wieder im Bett lag, ging Valerie zu Karen zurück, die hilflos vor sich hinstierte.

»Du hast Recht, Mama, es muss etwas geschehen. Besser heute als morgen«, sagte sie entschlossen.

Götzenbild

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