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Kapitel 1

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Das Pflegeheim Abendruh im Norden Berlins wirkte auf den ersten Blick wie ein ganz normales Krankenhaus, vielleicht sogar wie ein Altenwohnheim. Nur wer näher trat, bemerkte die besondere Atmosphäre dieses Hauses. Schon im Eingangsbereich saßen alte Menschen in Rollstühlen mit leerem Blick. Andere stierten auf der Sonnenterrasse vor sich hin oder lagen teilnahmslos in ihren Betten. Man spürte keine Fröhlichkeit oder banges Erwarten der bald bevorstehenden Entlassung, denn für viele war es die Endstation ihres Lebens. Ihre Krankheit war derart fortgeschritten, dass es keine Heilung mehr geben würde. Von den Angehörigen wegen Überforderung dort untergebracht oder einfach abgeschoben, sah man in den Augen der alten Menschen, dass sie mit ihrem Leben abgeschlossen hatten.

Wolfram Schmiedinger liefen Tränen über das faltige Gesicht, als er von seiner Tochter Sonja und ihrem Mann Horst im Rollstuhl hineingeschoben wurde.

»Hier riecht es nach Tod«, sagte der alte Mann.

»Vater, bitte, mach es uns doch nicht so schwer.« Sonja war nahe daran, auch zu weinen. »Du hast jetzt dreimal hintereinander hilflos in der Wohnung gelegen. Du kannst einfach nicht länger alleine zu Hause sein. Wir gehen beide arbeiten, und der ambulante Pflegedienst ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn du ihn brauchst, ist gerade niemand da. So kann es doch nicht weitergehen. Hier kümmert man sich um dich, und wir kommen dich so oft wie möglich besuchen. Das verspreche ich dir.«

»Ihr müsst ja hier nicht leben … Ach, es wird Zeit, dass ihr mich unter die Erde bringt. Dann habt ihr eure Ruhe.«

»Jetzt sei aber nicht ungerecht, Schwiegervater«, meinte Horst. »Wir bringen dich nicht her, um dich loszuwerden, sondern weil man dir hier besser helfen kann. Du unterstellst Sonja Motive, die einfach nicht stimmen.«

»Ist ja schon gut, ihr meint es nur gut, ich weiß. Alle meinen es immer nur gut«, sagte Wolfram kraftlos.

In dem Moment kam ihnen eine junge Frau mit entschlossener Miene entgegen.

»Ah, der Herr Schmiedinger … Ich bin Schwester Ruth und bringe Sie jetzt in ihr neues Zuhause. Sie werden sehen, es wird Ihnen gut bei uns gefallen.«

»Das glaube ich weniger, doch was bleibt mir anderes übrig, als mich zu fügen? Ich habe doch keine Wahl«, antwortete Wolfram.

»Jetzt vergessen wir mal die trüben Gedanken. Den Menschen geht es allen ähnlich wie Ihnen. Hier haben Sie Gesellschaft unter Gleichgesinnten. Fragen Sie nur nach. Die meisten wollen gar nicht mehr nach Hause, weil es dort so langweilig ist … Und wenn Sie erst unseren schönen Garten gesehen haben … Und jeden Tag gibt es leckeres Essen. Das ist doch ganz etwas anderes, als sich selbst versorgen zu müssen.«

»Ja, ja, schon gut.«

Hauptkommissarin Valerie Voss hatte über ein Jahr lang zugesehen, wie ihr Mann Hinnerk Lange sie betrog. Dann hatte sie die Scheidung eingereicht, weil sie es nicht länger ertrug. Hinnerk war damit einverstanden gewesen, dass man Valerie das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Ben übertrug, weil er der Meinung war, ein Kind gehöre in erster Linie zur Mutter. An seinem Status als Supervater hatte sich ohnehin nichts geändert, denn er sah Ben mehrmals in der Woche und behielt ihn öfter sogar übers Wochenende.

Hinnerk lebte seit geraumer Zeit mit Marion Haberland in einer gemeinsamen Wohnung. Das Haus hatte er großzügig Valerie und Ben überlassen. Natürlich war auch Katze Minka bei Valerie geblieben, denn Hinnerk hatte sie ihr einst geschenkt, als Valeries Kater von einer mehrfachen Mörderin getötet worden war.

Valerie und Hinnerk waren im Guten auseinander gegangen. Wie hatte Valeries Mutter Karen so richtig bemerkt? Hinnerk war ein Mann, den man nie für sich alleine haben würde. Nun, es war über fünf Jahre gut gegangen, bis Marion auf der Bildfläche erschienen war. Valerie hatte sofort gespürt, dass diese Frau ihr gefährlich werden konnte, und entsprechend eifersüchtig reagiert, obwohl sie sonst nicht unbedingt der eifersüchtige Typ war und dem anderen weitgehend seine Freiheit ließ.

In Bezug auf Marion hatte Valerie den kürzeren gezogen. Dabei hatte sich Hinnerk vorübergehend von Marion getrennt, als Ben entführt worden war. Doch die Leidenschaft war schnell wieder entflammt. Gegen manchen übermächtigen Gegner konnte man eben einfach nicht ankommen.

Der Stachel saß tief bei Valerie, und Marion war nach wie vor der einzige Streitpunkt in der ansonsten freundschaftlichen Beziehung zwischen dem Exehepaar. Besonders wenn Ben zurückkam und von der hübschen Blondine in großen Tönen schwärmte, denn der Junge mochte die neue Frau an Hinnerks Seite, was für den liebevollen Vater eine große Erleichterung bedeutete.

Valerie trug ihr Haar auch immer noch sehr blond, allerdings hatte sie sich nach der Scheidung von ihrer langen Mähne getrennt. Die meist etwas strubbelige Frisur, die sie schon vor der Ehe mit Hinnerk getragen hatte, sollte für sie ein Neuanfang sein.

Schwieriger war der Umgang in beruflicher Beziehung, denn als Kollegen hatten Valerie und Hinnerk so manchen Fall gemeinsam gelöst. Jetzt trat oft Kommissar Lars Scheibli als Partner des anderen in Aktion, der früher mehr im Hintergrund agiert hatte. Doch das Exehepaar war der Meinung, eine Scheidung müsse nicht zwangsläufig auch zur beruflichen Trennung führen, zumal keiner von beiden zu einer anderen Dienststelle oder in eine andere Stadt versetzt werden wollte. Dazu hingen beide viel zu sehr an Berlin.

An diesem Morgen machte Valerie gerade Ben für die Schule fertig, als das Telefon klingelte.

»Voss, was gibt’s?«, meldete sie sich wie immer.

»Hier ist Mama«, sagte Karen mit dünner Stimme. »Dein Vater ist heute Nacht für immer eingeschlafen.«

Christoph Voss hatte die letzten Jahre im Pflegeheim gelebt, weil Karen mit ihm zu Hause nicht mehr fertig geworden war. Christophs Demenzerkrankung war für ihn und alle Beteiligten nur schwer zu ertragen gewesen, denn oft hatte er seine Angehörigen nicht erkannt oder in lichten Momenten mit seinem Schicksal gehadert, sodass man nicht leicht mit ihm auskam.

Karen Voss lebte inzwischen mit Herbert Schindler zusammen, dessen Frau an der gleichen Krankheit gelitten hatte und im selben Heim verstorben war. Durch die täglichen Besuche bei ihren Partnern hatten sich Karen und Herbert kennengelernt und waren bald darauf eine Beziehung eingegangen. Für Nachwuchs waren beide nicht mehr jung genug, dennoch gab es mittlerweile ein neues Familienmitglied – Cäsar, ein lieber Labradorrüde, den Valerie in nahezu verwahrlostem Zustand aus einem Haus befreit hatte. Sein Herrchen war von Valerie und Hinnerk des mehrfachen Mordes überführt worden. Da Felix Borchert fortan sein restliches Leben in einer Nervenheilanstalt verbrachte, war Cäsar herrenlos geworden, doch Herbert kümmerte sich aufopfernd um das treue Tier, und Karen, die anfangs zurückhaltend reagiert hatte, genoss mittlerweile die gemeinsamen Spaziergänge.

»Wann hast du es erfahren?«, fragte Valerie ihre Mutter und konnte ihre Tränen kaum zurückhalten.

»Gerade eben. Die Klinikleitung hat mich angerufen. Als man ihn wecken wollte, konnte man nur noch seinen Tod feststellen. Ein Segen, dass er so friedlich eingeschlafen ist. Die letzten Jahre hat er sich genug gequält.«

»Du nicht, Mama?«

»Doch, natürlich, du weißt ja, was ich durchgemacht habe, aber ich hätte ihm trotzdem noch einige Jahre gegönnt. In manchen Momenten schien er mir ganz glücklich oder sein Zustand verhinderte allzu viel Nachgrübeln.«

»Kann ich irgendetwas tun, Mama?«

»Nein, Mädelchen, lass mal. Herbert und ich schaffen das schon. Aber wenn du ihn noch einmal sehen willst?«

»Ja, auf jeden Fall. Ich könnte dich abholen, wenn ich Ben zur Schule gebracht habe …«

»So machen wir’s, bis später.«

Valerie brach in Tränen aus, als sie aufgelegt hatte.

»Warum weinst du denn, Mama?«, fragte Ben.

»Opa ist heute Nacht gestorben. Er ist ganz friedlich eingeschlafen und muss sich nicht mehr quälen.«

Ben wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Opa hatte ihn meist nicht mehr erkannt und ihn oft sogar aus dem Zimmer gewiesen. Das war für den Kleinen nicht leicht gewesen. Eigentlich hatte er den kranken Mann nie anders erlebt, denn bei Bens Geburt war Christoph schon sehr krank gewesen, doch trotz seines kindlichen Alters begriff er instinktiv, was es bedeutete, einen nahen Angehörigen für immer zu verlieren. Mehr aus Solidarität als aus Kummer weinte er mit seiner Mutter mit.

»Du musst nicht weinen, Schatz. Dein Opa hat ein relativ langes Leben gehabt und viel erlebt. Nicht allen Menschen ist es vergönnt, uralt zu werden. Sieh mal, deine anderen Großeltern, also Papis Eltern, sind schon viel früher gestorben. Deshalb hast du sie auch nie kennengelernt.«

»Hatten sie dieselbe Krankheit wie Opa?«

»Nein, sie sind bei einem Unfall gestorben. Papi spricht nicht oft darüber, weil es ihm damals sehr wehgetan hat.«

»Ach so, also vergessen nicht alle alten Leute, wer sie sind?«

»Nein, natürlich nicht. Die meisten sind auch noch in hohem Alter bei klarem Verstand. Nur wenn sie krank werden, ändert sich das manchmal. Aber damit man auch im Alter noch klug ist, muss man zuerst einmal viel lernen. Und deshalb solltest du nicht die Schule warten lassen, damit du nicht dumm bleibst.«

»So dumm wie du denkst, bin ich gar nicht. Und ob ich in der Schule wirklich viel lernen werde …? Manchmal ist es ganz schön langweilig.«

»Das ändert sich, mein Schatz. Warte mal, bis die Fächer schwieriger werden … Und das mit dem dumm bleiben sagt man nur so. Ich weiß doch, was für ein kluges Kerlchen du bist. Schließlich kommst du nach uns.«

»Ja, aber eins weiß ich schon. Ich werde bestimmt keine Verbrecher jagen, wenn ich groß bin. Da hat man viel zu wenig Freizeit.«

»Wo du Recht hast, hast du Recht. Jetzt mach dich aber schnell fertig. Mama muss nur noch mal telefonieren.«

Ben stürmte in sein Zimmer, um seine Schultasche zu holen. Valerie sagte derweil im Präsidium Bescheid, dass sie später kommen würde. Dann machten sich Mutter und Sohn auf den Weg.

Karen Voss begrüßte später im Heim Abendruh einige der Patienten mit freundlichem Nicken oder drückte ihnen kurz die Hand.

»Du wirst es nicht glauben, aber es wird mir fehlen, hier jeden Tag herzukommen«, sagte sie zu Valerie.

»Das kann nicht dein Ernst sein, Mama. Wenn es etwas auf der Welt gibt, das du entbehren kannst, dann sind es die täglichen Besuche in diesem Haus.«

»Nein, nein, ich meine das durchaus so. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und irgendwie gehörte es die letzten Jahre doch zu meinem Leben …«

» … das du jetzt in vollen Zügen genießen solltest. Jetzt, wo die Belastung von dir abgefallen ist. Du hast das Glück so etwas wie einen Neuanfang machen zu können. Herbert wird dir schon dabei helfen. Warum ist er eigentlich nicht mitgekommen?«

»Dumme Frage, weil er Cäsar nicht alleine lassen wollte. Außerdem ist es noch nicht so lange her, dass er das alles selber durchmachen musste.«

»Verstehe, das habe ich nicht bedacht. Ein bisschen fürchte ich mich davor, Papa so zu sehen …«

»Das sagst du? Wo du in deinem Beruf schon so viele Leichen sehen musstest?«

»Es ist schließlich ein Unterschied, ob man einen Fremden oder seinen Vater … Mein einziger Trost ist, dass Papa friedlich eingeschlafen ist. Wenn ich bedenke, welcher Anblick mir üblicherweise geboten wird …«

»Du wolltest es ja nicht anders. Dir hätte klar sein müssen, dass der Beruf kein Zuckerschlecken ist.«

»Nicht schon wieder dieselbe Leier, Mama. Das haben wir wirklich oft genug erörtert.«

Valerie und Karen meldeten sich in der Schwesternstation und wurden kurz darauf von Pfleger Robert, einem blassen, dunkelhaarigen jungen Mann mit schlaksiger Figur, zu Christophs Zimmer begleitet. Robert schloss auf und ließ den beiden Frauen den Vortritt.

Valerie blieb mit einigem Abstand vom Bett ihres Vaters stehen und bemerkte, dass sie feuchte Augen bekam.

»Er sieht aus, als würde er jeden Moment aufwachen«, sagte sie erstickt.

Christoph Voss lag mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen, in denen sich ein Kreuz befand, auf dem Rücken. Sein Gesicht wirkte entspannt, nicht gerade glücklich, wie es bei Toten mitunter vorkommen sollte, aber auch nicht angestrengt oder leidend. Neben seinem Bett standen auf großen Ständern Kerzen, die jetzt von Robert angezündet wurden.

Karen ging auf ihren Mann zu, streichelte sein Gesicht und nahm ihm entschlossen das Kreuz aus den erstarrten Händen.

»Wer hat das angeordnet?«, fragte sie leicht gereizt.

»Das ist in unserem Haus so üblich, Verblichenen ein …«

»Mein Mann war nie fromm«, unterbrach Karen den Pfleger. »Das soll nicht heißen, dass er gottlos war, doch dieses Ritual wäre ihm bestimmt zu viel gewesen. Er war kein gläubiger Katholik im herkömmlichen Sinne. Also nehmen Sie das bitte wieder mit.«

»Ja, wenn Sie es wünschen.« Robert ging etwas pikiert zur Tür. »Ich lasse Sie dann mal allein. Bitte melden Sie sich doch nachher in der Verwaltung wegen der Formalitäten.«

Karen nickte und man sah ihr an, dass sie den Pfleger in diesem Moment lieber von hinten sah.

Valerie ging jetzt nahe an Christoph Voss heran und küsste seinen eiskalten Mund. Dann hielt sie eine Weile stumme Zwiesprache mit ihm. Er war ein guter Vater gewesen und hatte sie nie geschlagen. In jüngeren Jahren war er etwas aufbrausend, um nicht zu sagen cholerisch gewesen. Seine Zornausbrüche hatten Valerie oft erschreckt, doch er war nie handgreiflich geworden. Karen hatte die Hand schon lockerer gesessen, eine gelegentliche Ohrfeige war immer mal drin gewesen. Christophs häufige erotischen Eskapaden hatten das Vater-Tochter Verhältnis nie getrübt, bis er kurz vor seiner Erkrankung zu seiner jüngeren Geliebten gezogen war.

Valeries strikte Weigerung, die neue Frau an seiner Seite kennenzulernen, hatte ihr Vater ziemlich übel genommen. Niemand hätte zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass Valerie diese Frau einmal mögen würde, denn bei einem Essen hatten sie sich auf Anhieb blendend verstanden. Fortan konnte sie nachvollziehen, was Christoph an ihr fand. Sie war so ganz anders als Karen, weniger bürgerlich und nicht so besitzergreifend. Nicole Jakobs Tochter und Christophs beginnende Krankheitssymptome waren letztendlich die Gründe für das Scheitern der Beziehung gewesen. Er war nicht zu seiner Frau zurückgekehrt, sondern hatte sich eine eigene Wohnung genommen. Valerie dachte mit Schrecken an ihren Besuch in der Behausung. An allen Ecken und Enden hatte man wahrnehmen können, wie weit fortgeschritten Christophs Krankheit schon gewesen war.

Dann war Karen über ihren Schatten gesprungen, indem sie ihren Mann wieder bei sich aufnahm. Bis sie einsehen musste, dass er besser in einem Pflegeheim aufgehoben war.

»Komm, Mädelchen, lassen wir deinem Vater jetzt seine Ruhe. Als Nächstes werde ich mich um die Beisetzung kümmern«, holte die Stimme ihrer Mutter Valerie in die Gegenwart zurück.

Karen Voss pustete die Kerzen aus, strich noch einmal über die Hände von Christoph und verließ dann entschlossen das Zimmer. Valerie folgte ihr schweigend.

Draußen auf dem Flur wurde schräg gegenüber eine Tür geöffnet. Eine ältere Dame im Morgenrock mit ungekämmten Haaren winkte Valerie mit dem Zeigefinger heran.

»Sie sind doch von der Kripo, nicht?«, fragte sie mit einer etwas schnarrenden Stimme.

Valerie nickte.

»Dann kommen Sie doch bitte einen Moment herein.«

»Geh schon mal vor zum Verwaltungsbüro«, sagte Valerie zu ihrer Mutter. »Ich komme dann nach.«

Karen blickte etwas irritiert, ging aber schließlich widerspruchslos den Gang entlang.

Im Zimmer der alten Frau schlug Valerie eine Wolke verbrauchter Luft entgegen. »Können wir einen Moment das Fenster öffnen?«, fragte sie direkt.

»Ja, ja machen Sie nur. Ich habe ja meinen wärmenden Morgenmantel an. Bei alten Menschen riecht es manchmal nicht so gut. Aber das werden Sie aus eigener Erfahrung wissen. Wir nähern uns von den Ausdünstungen her schon der Erde, in der wir bald landen werden. Bitte, Sie können gerne den Stuhl nehmen. Ich setze mich aufs Bett.«

»Sie wollten mich sprechen?« Valerie fand die Frau etwas seltsam, ließ sich aber nichts anmerken.

»Sie sollten das mal untersuchen mit den vielen Todesfällen. Hier sterben sie wie die Fliegen. Ich denke, das geht nicht mit rechten Dingen zu …«

»Wie kommen Sie darauf? Haben Sie konkrete Anhaltspunkte? Konnten Sie etwas Ungewöhnliches beobachten?«

»Natürlich. Ich kann nachts schon nicht mehr so gut schlafen, wissen Sie. Ich glaube, das nennt man senile Bettflucht, oder so. Na, jedenfalls schleiche ich manchmal über die Gänge. Sie ahnen nicht, was man da alles beobachten kann, wenn man in andere Zimmer sieht. Nicht mal die Mühe, die Tür zu schließen, macht sie sich, die Hexe, wenn sie ihre todbringenden Spritzen gibt.«

»Wen meinen Sie, eine Ärztin?«

»Nein, die würden sich keine Laus in den Pelz setzen. Die haben ihre Erfüllungsgehilfen. Diese Ruth ist eine von denen.«

»Glauben Sie nicht, dass Sie sich irren? Ich habe Schwester Ruth als eine sympathische Frau kennengelernt, die sich liebevoll um meinen Vater kümmerte.«

»Alles Fassade. Die sind wie Vampire. Nachts zeigen Sie ihr wahres Gesicht. Denken Sie an meine Worte.«

In dem Moment wurde die Tür mit einem Ruck geöffnet. Herein kam eine jüngere Pflegekraft, die ein finsteres Gesicht machte.

»Na, Oma Hildebrandt, erzählen Sie wieder Ihre Schauergeschichten? Ja, ich weiß, in dunklen Ecken lauern Gespenster und Dämonen, bis hin zu Vampiren. Alle wollen Ihr letztes bisschen Blut haben. Was soll die Hauptkommissarin nur von unserem Haus denken? Dass wir alten Menschen nach dem Leben trachten, damit möglichst schnell ein Zimmer frei wird?«

»Was wahr ist, muss wahr bleiben …«

»Ja, Oma Hildebrandt, wir alle haben unsere ganz spezielle Wahrheit, nicht? Ich bin übrigens Schwester Katja. Wir haben uns noch nicht kennen gelernt, glaube ich«, wandte sich die eher unscheinbare Frau mit dem wohlklingenden Namen, der nicht so recht zu ihr passen wollte, an Valerie.«

»Das dürfte ein kurzes Vergnügen sein, wo mein Vater gerade verschieden ist. Ich habe also keinen Grund, künftig hier zu verkehren. Es sei denn, hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu.«

»Sind Sie schon infiziert von dem Klatsch, den man hier mitunter verbreitet?«

»Sollte ich?«

Schwester Katja grinste verlegen. »Wir sollten uns draußen weiterunterhalten … So, Oma Hildebrandt, ich schließe dann mal wieder das Fenster, damit Sie keinen Husten bekommen. Und wenn ich wiederkomme, gibt’s ein zweites Frühstück, wie jeden Tag.«

»Och, den geschmacklosen Quark und die matschige Birne können Sie selber essen …«

»Sie sehen, unsereins hat es nicht leicht«, sagte Katja und zitierte Valerie hinaus.

»Glauben Sie bloß nicht den Unsinn, den Ihnen die alte Dame serviert«, sagte sie vor der Tür, »an sich ist sie ganz lieb. Nur manchmal geht etwas die Fantasie mit ihr durch, seit …, nun ja, seit sich nach einem Schlaganfall ihr Geist etwas verwirrt hat. Sie wartet auch täglich auf ihre Tochter, die sie nie hatte.«

»Dann ist also nichts dran, an den häufig auftretenden Todesfällen?«

»Bedenken Sie bitte, wo sie sich befinden. Das ist hier kein Kurheim, aus dem man frisch gestärkt entlassen wird. Natürlich sterben hier Menschen, das mussten Sie ja gerade schmerzlich erfahren. Doch die meisten haben ein hohes Alter erreicht. Euthanasie wird hier nicht praktiziert, sonst wären wir schon in Teufels Küche gekommen. In Deutschland versteht man aus gutem Grund damit keinen Spaß. Die Gespenster der Vergangenheit sind noch allgegenwärtig.«

»Also doch Gespenster. Hat Frau Hildebrandt nicht ganz Unrecht …«

»Wenn man es so sehen will …«

»Ich werde dann mal zu meiner Mutter eilen. Die ganzen Formalitäten zu erledigen, ist bestimmt nicht einfach für sie.«

»Ja, von der Wiege bis zur Bahre Formulare, Formulare. Auch das ist Deutschland.«

»Die beste Meinung scheinen Sie über ihre Heimat nicht zu haben. Oder sind Sie hier gar nicht geboren worden?«

»Bingo, meine Kindheit habe ich in Schweden verbracht. Trotzdem würde ich mich inzwischen als Deutsche bezeichnen.«

»Interessant, wie hält man es in Schweden mit der Sterbehilfe?«

»Soviel ich weiß, ist dort seit 2010 die passive Sterbehilfe legal, allerdings mit der Bedingung, dass er oder sie die Auskünfte der Ärzte und die Folgen der Entscheidung versteht. Wovon man in einer Einrichtung wie dieser meistens nicht ausgehen kann. Aber wenn es Sie beruhigt, ich halte nichts davon, Gott zu spielen, und behaupte, dass dies auch für meine Kollegen gilt. Ich bin also im richtigen Land und am rechten Ort.«

Valerie schmunzelte. Ihr gefiel die offene Art der Schwester. Und ihre Erfahrung gab ihr das Gefühl, nicht angelogen worden zu sein.

»Also, machen Sie es gut. Und lassen sie sich nicht allzu sehr ärgern.«

»Mit der Zeit bekommt man ein dickes Fell. Die Wenigsten meinen es böse.«

Schwester Katja verschwand freundlich nickend in einem Nebenraum, und Valerie fragte sich zum Verwaltungsbüro durch. Karen kam gerade aus dem Zimmer und machte ein entnervtes Gesicht. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr, weil wieder ein dringender Fall ruft …«

»Nein, ausnahmsweise mal nicht. Was sich jeden Moment ändern kann. Hast du alles erfahren, was du wissen wolltest?«

»Ja, man hat mir das Formular „Anzeige des Todes“ und die darin enthaltene „Todesbescheinigung“ ausgehändigt. Beide dienen der Eintragung im Sterbebuch beim Standesamt und dem Bestattungsunternehmen für die Durchführung der Bestattung. Wir haben natürlich die Wahl, welches Bestattungsinstitut wir beauftragen, aber das Heim arbeitet mit einem zusammen, das sie mir empfohlen haben.«

»Wahrscheinlich weil sie Prozente bekommen. So läuft das«, sagte Valerie.

»So sind die hier nicht. Wir bekommen sogar etwas von dem bezahlten Entgelt anteilig zurückerstattet.«

»Auch das ist gesetzlich geregelt, Mama, du Schaf. Es ist also keine besondere Kulanz. Sei froh, dass Papa keine eigenen Möbel hier hatte. Die müsstest nämlich du kostenpflichtig entsorgen.«

»Das habe ich schon dem Heimvertrag entnommen. Ganz so blauäugig, wie du glaubst, bin ich denn doch nicht. Ich werde mir das mit dem Bestattungsunternehmen also noch mal überlegen. Trotzdem muss ich nach Hause, um die Sachen für Papa herauszusuchen, die er anhaben soll.«

»Kein Problem, ich fahre dich. Und lass dir ruhig Zeit mit der Wahl des Institutes. Auf einen Tag kommt es nicht an.«

»Musst du nicht in deine Dienststelle?«

»Wenn ich dich heimgebracht habe. Soviel Zeit muss sein. Hat man dir eigentlich gesagt, woran Papa gestorben ist?«

»Natürlich. Die herbeigerufene Leichenbeschauärztin hat doch den Todesschein ausgestellt. Papa ist ganz normal an Herzversagen gestorben. Seine alte Pumpe wollte einfach nicht mehr.«

»Das heißt gar nichts. Das wird am meisten bescheinigt. Wichtig ist die Frage, ob es ein natürlicher Tod ist. Es gibt nämlich Medikamente, die den Herztod hervorrufen.«

»Ich will das nicht hören. Durch deinen Beruf siehst du hinter allem ein Verbrechen. Und schon gar nicht erlaube ich, dass man an Papa herumschnippelt.«

»Wenn eine natürliche Todesursache bescheinigt wurde, erfolgt keine Obduktion, zu deiner Beruhigung.«

»Dann hätten wir das ja geklärt. Können wir dann?«

Auf dem Weg ins Präsidium gingen Valerie viele Gedanken durch den Kopf. Auch hallte noch das Gespräch mit der angeblich etwas meschuggenen alten Frau in ihr nach. Auf Valerie hatte diese auf den ersten Blick einen ganz normalen Eindruck gemacht. Außerdem waren ihr die Bemühungen von Schwester Katja, das Gegenteil zu beweisen, etwas zu eifrig erschienen. Oder sah sie schon Gespenster? Hatte Karen Recht, dass sie hinter allem ein Verbrechen witterte? Auf jeden Fall würde es nichts schaden, das Heim intensiver unter die Lupe zu nehmen, als sie es vor Jahren getan hatte.

Gottlos

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