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Kapitel 1

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Valerie Voss cremte sich nach dem Abtrocknen ausgiebig mit duftender Körperlotion ein. Dann griff sie nach dem Föhn, um ihre weißblond aufgehellten, kinnlangen Haare zu trocknen. Sie ließ noch nicht lange „wachsen“, aber der neue weiblichere Look passte ausgezeichnet zu ihrer momentanen Lebenssituation. Sie war nicht nur frisch verliebt, sondern hatte sich auch endlich dazu durchgerungen, sich zu der Liebe zu ihrem Kollegen Hinnerk Lange zu bekennen. Im Präsidium des LKA Berlin hatten es schon lange die Spatzen von den Dächern gepfiffen, dass früher oder später der Funke zwischen den beiden überspringen würde. Aber Valerie hatte das immer vehement bestritten. Einmal, weil sie etwas gegen eine Liebschaft unter Kollegen hatte, zum anderen war sie in der Wahl des Geschlechts nicht festgelegt, wie eine Liaison mit der Rechtsmedizinerin Tina zeigte. Der hatte sie aber vor kurzem ziemlich vor den Kopf gestoßen, indem sie sich zu Hinnerk bekannte.

Beide lebten inzwischen im selben Haus, was nicht allzu viel besagte in einem riesigen Wohnblock wie der „Schlange“, wie die Autobahnüberbauung in der Schlangenbader Straße volkstümlich genannt wurde, denn dort gab es mehr als tausend Wohneinheiten. Valerie hatte ihr geliebtes Kreuzberg verlassen, weil man ihr vor der Haustür ihren Oldtimer, einen flaschengrünen Karmann Ghia aus den 70ern, abgefackelt hatte. Nicht etwa die Autonomen waren für die Tat verantwortlich gewesen, sondern eine gewisse Elvira Lobrecht, die kurz darauf auch noch Valeries Kater vergiftet hatte. Als Motive hatten Eifersucht und Rachegelüste gedient, denn während Elvira hoffnungslos in Alex Schumann verliebt gewesen war, konnte Valerie von sich behaupten, seine Geliebte gewesen zu sein.

Als Alex mehrerer Morde verdächtigt worden war, hatte Valerie ihn schonungslos verfolgt und mitansehen müssen, wie er bei einem von ihm selbst verschuldeten Unfall ums Leben kam. Das Schlimmste an der Sache war, dass nie geklärt werden würde, ob Alex wirklich die Morde begangen hatte, oder doch sein Zwillingsbruder, der auf der Flucht ebenfalls tödlich verunglückte. Ebenso belastete Valerie die Frage, ob Alex nur ungestüm auf sie zugelaufen und dabei aus dem Fenster gestürzt war, oder ob er die Absicht gehabt hatte, Valerie hinauszustürzen.

Für Elvira hatten die Umstände von Alex’ Tod ausgereicht, Valerie bis aufs Blut zu hassen und an ihr Rache zu nehmen. Auch hatte sich jüngst herausgestellt, dass die Frau sich berufen gefühlt hatte, Alex’ Mission, oder die seines Bruders, fortzusetzen, indem sie Menschen, die vom Glauben abgefallen waren oder gegen Gottes Gebote verstoßen hatten, kurzerhand ins Jenseits befördert hatte.

Durch die gemeinsame Bearbeitung der Fälle waren sich dann Valerie und Hinnerk näher gekommen. Dabei hatten beide sogar auf eigene Faust als Urlauber getarnt in fremden Gefilden gewildert. Valerie war Alex ins Allgäu nachgereist, um feststellen zu müssen, dass sie seinen Bruder verfolgt hatte. Ihm und seiner Mutter hilflos ausgeliefert, war sie nur knapp dem Tode entkommen und von Hinnerk mit einem Rettungshubschrauber aufgefunden worden.

Bald darauf hatte sich Valerie revanchieren können, indem sie Hinnerk nach Südtirol nachgereist war, der bis dorthin Elvira Lobrecht verfolgt hatte. Bei dieser Gelegenheit waren sie beide in die Gefangenschaft der geistig verwirrten Frau geraten, die nicht davor zurückgescheut war, ihre leibliche Mutter und ihre Großmutter zu töten. Bei einem Schusswechsel mit der italienischen Polizei war Elvira dann erschossen worden. Mit großer Wahrscheinlichkeit von ihr beabsichtigt, weil das grausame Spiel für sie verloren gewesen war.

Während Valerie im Bad ein leichtes Tages-Make-up auflegte, hörte sie Hinnerk in der Küche pfeifend den Frühstückstisch decken. Sie hatten zusammen in Valeries Wohnung übernachtet, da Valerie sich nach ihrem Kurztrip auf Minka, der kleinen von Hinnerk aus dem Tierheim besorgten Nachfolgerin des Katers, gefreut und sie nicht noch länger alleine lassen gewollt hatte. Außerdem musste Valerie sich wohl oder übel eingestehen, dass ihr die gemeinsame Übernachtung mit Hinnerk im Südtiroler Weißen Rössl gefallen hatte. Ein Umstand, an den man sich durchaus gewöhnen konnte, wie sie fand.

»Wo hast du denn die Lebensmittel her?«, fragte Valerie, als sie angezogen ins Wohnzimmer kam, »warst du in aller Herrgottsfrühe schon einkaufen?«

»Das war nicht nötig«, antwortete Hinnerk lächelnd. »Dein Kühlschrank hat sich als wahre Fundgrube erwiesen.«

»Das muss meine Mutter in weiser Voraussicht gewesen sein. Ich darf nicht vergessen, mich dafür bei ihr zu bedanken. Eigentlich hatte ich sie nur gebeten, die Katze zu versorgen, aber sie meinte wohl, dass auch ich es nötig habe.«

»Wie geht’s ihr denn, besser?«

Hinnerk spielte auf einen Vorfall an, der Valerie ziemlich beunruhigt hatte. Karen Voss war von ihr bewusstlos in ihrer Wohnung aufgefunden worden, weil sie einen gefährlichen Mix aus Alkohol und Beruhigungsmitteln zu sich genommen hatte. Sie bestritt zwar, dass es sich um einen Suizidversuch gehandelt habe, aber Valerie sah das anders. Karen wurde nämlich nicht damit fertig, von ihrem Mann Christoph wegen einer Jüngeren verlassen worden zu sein.

»Ja, du hast doch mitbekommen, dass sie neulich hier war, als wir telefoniert haben.«

»Telefoniert ist etwas hochgestapelt, so kurz angebunden wie du warst.«

»Schließlich hatte mir kurz zuvor das halbnackte, rote Gift in deiner Wohnung erklärt, mit dir verlobt zu sein … falls du dich erinnerst«

»Und weil du grundsätzlich alles glaubst, was man dir erzählt, Frau Kommissarin, hast du mir nicht vertraut.«

»Keine leichte Aufgabe, wenn man von Natur aus misstrauisch ist, Herr Kommissar.«

»Kann sein, dass unsere beruflichen Titel bald Geschichte sind, wenn der Alte erst erfährt, was in Südtirol passiert ist«, meinte Hinnerk scherzhaft, aber durchaus mit ernstem Unterton.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er uns beide rausschmeißt, weil wir während seines Urlaubs ungefragt in Südtirol ermittelt haben?«

»Weiß man’s? Kommt drauf an, was die Presse draus macht. Zwei Berliner Kommissare ermitteln undercover im Ausland, und am Ende gibt es drei Tote. Das ist der Stoff, aus dem die Sensationsschlagzeilen gemacht werden.«

»Und wenn schon. Bei dieser Gelegenheit sind vier Morde aufgeklärt worden, das heiligt die Mittel. Und schließlich haben wir nicht geschossen.«

»Du schon. Wenn auch nicht gezielt auf die Täterin.«

»Die mit deiner Dienstwaffe geballert hat…«

»Eben. Aber was soll’s? Ändern können wir es nicht mehr. Passiert ist eben passiert. Vielleicht bringt der Alte so viel gute Laune aus dem Urlaub mit, dass er ein Auge zudrückt.«

»Jetzt hast du mich unsicher gemacht«, sagte Valerie kleinlaut, »so habe ich es bisher nicht betrachtet.«

Harald Glaseck liebte es, mit seinem Jagdhund Kalle durch den Spandauer Forst zu streifen, denn die Bewegung und die viele frische Luft taten ihnen beiden gut. Seit den siebziger Jahren hatte sich dort ein reichhaltiger Bestand an Pflanzen und Tieren entwickelt. So bot das Gebiet neben einem weitläufigen Laubwald, aus Birken, Eichen, Eschen und Ulmen bestehend, auch durch die Gewässer und Moore Lebensräume für Säugetiere wie Iltisse, Wildschweine, Dachse und sogar Waschbären, Biber und Fischotter. Man konnte Vögel wie Eisvogel, Habicht, Waldschnepfe und Zwergtaucher beobachten und verschiedene Insekten wie zum Beispiel den gefährdeten Hirschkäfer.

Kalle war ein braver Hund, der normalerweise aufs Wort reagierte, wenn auch nicht immer aufs erste. Trotzdem machte sich Glaseck keine Sorgen, denn bisher war ihnen noch nie ein Wildschwein zunahe gekommen, das für den Jagdhund durchaus gefährlich werden konnte. Als er an diesem Tag unverhofft auf Entdeckungstour ging, vermutete sein Herrchen, er sei hinter einem wilden Kaninchen her, aber schon bald fand er ihn eifrig in laubbedeckter Erde scharrend vor. Objekt der Begierde war nicht etwa eine Ringelnatter, sondern etwas ungleich Größeres, Breiteres. Schwanzwedelnd apportierte der Hund kurz darauf stolz und ließ seine Beute vor Glasecks Füße fallen.

Harald Glaseck stellten sich die Nackenhaare senkrecht auf. Zunächst meinte er, in dem seltsamen Gegenstand einen dieser geschmacklosen Faschingsartikel zu erkennen. Einer von denen, bei dem das Kunstblut besonders verschwenderisch verwendet worden war, aber bei intensiverer Betrachtung erkannte er, dass es sich um eine reale abgetrennte Hand handelte. Der Größe und der Form nach, die eines Mannes. Sie musste einmal einem jungen Menschen gehört haben, denn sie war noch nicht faltig und wies keine sogenannten Altersflecke auf. Dafür umso mehr dunkles, verkrustetes Blut an der Schnittstelle, die viel zu glatt verlief, um vermuten zu lassen, dass die Hand womöglich abgerissen worden war.

Glaseck überlegte, was zu tun sei. Sollte er sich auf die Suche nach dem restlichen Körper machen? Etwas in ihm widersetzte sich dagegen. Er war nicht unbedingt darauf aus, eine in Verwesung übergegangene Leiche betrachten zu müssen. Ganz zu schweigen von den vielen Fragen, die man ihm stellen würde. Hatte er den Toten wirklich nicht gekannt? Was hatte er ausgerechnet an dieser Stelle gemacht?, usw. Sollte er anonyme Meldung machen? Auch keine gute Idee. In Filmen sah man immer wieder, wie mittels Stimmerkennungsprogrammen Personen identifiziert wurden. Und wenn er erst einmal in die Mühlen der Justiz geraten würde …

Glaseck schuf beherzt mit seiner Schuhspitze eine Vertiefung im Boden, die er mithilfe eines dicken Astes noch erweiterte. Dann stieß er die Hand hinein, warf Erde und einige Hände voll Laub darüber und betrachtete zufrieden sein Werk. Die Stelle war in keinster Weise vom umliegenden Waldboden zu unterscheiden. Sollten sich andere zufällige Finder auf den unsicheren Pfad der Verbrechensermittlung begeben. Ihm war seine Ruhe lieber.

Im Kommissariat wurden Valerie und Hinnerk mit einem freundlichen »Hallo« begrüßt. Schmidtchen, eigentlich Marlies Schmidt, der gute Geist der Abteilung und eine Mischung aus Sekretärin und Assistentin, strahlte Valerie aus ihren großen Knopfaugen an, über die meistens eine ihrer krausen Locken fiel.

»Gott sei Dank, dass ihr wieder hier seid.«

»Von mir aus hätten sie schon noch eine Weile bleiben können«, meinte Lars Scheibli mit schelmischem Grinsen, »damit ich auch einmal zum Zuge komme.«

»Du kannst es wohl gar nicht erwarten, selbst die Verantwortung zu tragen?«, zog ihn Hinnerk auf. »Vergiss nicht, dass du erst Kommissar-Anwärter bist.«

»Wie könnte ich? Wo ihr mich doch fast jeden Tag daran erinnert.«

»Ja, du Armer, geknechtet und missverstanden. Wie hältst du das nur aus?«

»Gar nicht, das ist es ja eben. Und die Verantwortung zu tragen, davor habe ich mich noch nie gescheut.«

»Dann erzähl doch mal, was du während unserer Abwesenheit selbstverantwortlich entschieden hast.«

»Witz komm raus, du bist umzingelt«, maulte Lars. »Die zwei Tage, die Valerie gerade mal weg war …«

»Sei froh, du Streber, dass es nicht länger war. Denn was hättest du wohl gemacht, wenn wir einen brandneuen Fall hereinbekommen hätten? Die anderen Abteilungen um Hilfe gebeten?«

»Quatsch, ich hätte das getan, was ich immer tue, euch den Kleinkram abgenommen und vielleicht ein klitzekleines bisschen ermittelt.«

»Gottbewahre, und dich dabei womöglich in tödliche Gefahr gebracht, wie es uns gerade erst ergangen ist. Und wir sind alte Hasen.«

»Hat die Verrückte euch wirklich umbringen wollen?«, fragte Lars gespannt, »Schmidtchen hat da so etwas angedeutet. Außerdem war sie nahe dran, sich sämtliche Fingernägel bis aufs Leben abzukauen, weil sie solche Angst um euch hatte.«

»Was man von dir bestimmt nicht sagen kann«, konterte Valerie, »wenn man ein Gemüt wie ein Schaukelpferd hat … Sind eigentlich alle Typen bei euch im „Ländle“ so drauf?«

»Weiß ich nicht, kann sein. Aber wozu sich aufregen, wo ihr es doch bis jetzt jedes Mal geschafft habt, euch aus eigener Kraft aus der Schei … aus dem Dreck zu zieh’n.«

»Diesmal war’s knapp«, sagte Hinnerk. »Als Valerie mich gefunden hat, lag ich gefesselt und geknebelt in einem Erdloch. Und anschließend ist Valerie selber in die Falle getappt und hat sich unfreiwillig zu mir gesellt. Und dann haben wir gemeinsam in den Lauf meiner entsicherten Waffe geschaut. Die hatte mir das Miststück nämlich abgenommen und daraufhin gedroht, uns beide zu erschießen.«

»Wie war das mit den alten Hasen?«, scherzte Lars. »Was war denn das für eine Falle, in die Valerie getappt ist?«

»Die Lobrecht hat einen alten Teppich über die Grube gelegt, und in dem scheiß Schuppen war es stockdunkel«, gab Valerie Auskunft. »Als ich einem Geräusch nachgegangen bin, ist die Falle zugeschnappt. Ich bin mitsamt dem Teppich abgestürzt.«

»Und dabei hat sie meinen Pisseimer umgeworfen«, lachte Hinnerk.

»Sei froh, dass ich dir nicht auf den Kopf gefallen bin. Sonst hätte sich dein Dachschaden um einiges vergrößert.«

»Womit das alte Sprichwort wieder zum Zuge kommt: Was sich liebt das neckt sich«, grinste Schmidtchen. »Wann läuten denn nun die Hochzeitsglocken?«

»Davon kann doch im Moment gar keine Rede sein«, protestierte Valerie. »Wir sind ja noch nicht einmal verlobt. Ich lege auf den altmodischen, spießigen Kram ohnehin keinen Wert. Wozu sich auf dem Papier bescheinigen lassen, dass man zueinander gehört? Das weiß man auch so.«

»Vielleicht könnt ihr Valerie wenigstens zureden, dass es vernünftig wäre, sich eine gemeinsame Wohnung zu nehmen«, nahm Hinnerk seine Chance wahr.

»Untersteht euch. Ich habe noch nicht einmal alles ausgepackt und soll schon wieder einpacken, nein danke.«

»Val, hör doch mal. Ich habe dir zu einer Wohnung verholfen, in der man deinen Kater umgebracht hat. Und wozu zwei Mieten zahlen, wenn wir es billiger haben können. Wenn wir innerhalb des Hause umziehen, kann man einfach alles rübertragen.« Hinnerks leidenschaftlicher Appell fiel beinahe flehentlich aus.

»Punkt eins: Der Katz ist vor dem Haus vergiftet worden und nicht in der Wohnung. Deshalb müsste man allenfalls ganz woanders hinziehen«, begann Valerie.

»Von mir aus auch das. Ich hänge nicht an der „Schlange“.«

»Punkt zwei: Wir nagen nicht gerade am Hungertuch, sind also auf eine halbe Miete nicht angewiesen. Und Punkt drei: Wir arbeiten schon den ganzen Tag zusammen. Da müssen wir nicht auch noch die übrige Zeit miteinander verbringen.«

Hinnerk lag der Widerspruch förmlich auf der Zunge, aber Valerie gebot ihm Einhalt.

»Ich finde es viel spannender, zwei Wohnungen zur Verfügung zu haben, je nach Lust und Laune. Und im Notfall kann man sich auch mal in die eigenen vier Wände zurückziehen.«

»Wenn du jetzt schon Bedarf nach Abstand hast … wo es noch gar nicht richtig zwischen uns angefangen hat …«

»Sei doch nicht beleidigt. So habe ich es doch nicht gemeint. Jetzt helft mir doch mal, oder wisst ihr auch nicht, wie ich es meine?«

»Also, ich finde beides hat seine Vorteile«, sagte Schmidtchen, »ich bin mehr der Typ, der zum Zusammenziehen tendiert, weil das den Kuschelfaktor erhöht. Aber Valerie hat schon immer ihre Unabhängigkeit geschätzt …«

»Ich kann Valerie verstehen«, meinte Lars. »Wozu die Sache überstürzen? Da ihr ohnehin im selben Haus wohnt, könnt ihr euch sozusagen in Hausschuhen besuchen. Alles andere findet sich.«

»Also, unentschieden«, bemerkte Hinnerk enttäuscht.

»Ja, deshalb bleibt alles so, wie es ist, vorläufig jedenfalls.« Valerie gab Hinnerk einen Kuss als Entschädigung.

»Wenn das die Belohnung ist, dürfen wir ruhig mal öfter verschiedener Meinung sein«, grinste Hinnerk.

»Ich hoffe, das wird nicht der einzige Grund sein, warum wir uns küssen. Und hier im Büro werden wir es künftig tunlichst umgehen. Wir müssen nicht noch Öl aufs Feuer gießen.«

»Ich wusste, dass noch ein „Aber“ kommt.«

Der junge Mann mit der muskulösen Figur und dem modischen Dreimillimeter-Haarschnitt stand halb durch die Gardine verdeckt am Fenster seines dunklen Zimmers. Er starrte wie gebannt auf das gegenüberliegende Haus, genauer gesagt auf zwei erleuchtete Fenster einer Wohnung auf gleicher Höhe. Hin und wieder hob er sein Fernglas an die Augen und spürte, wie eine sich stetig steigernde Erregung sich seines Körpers bemächtigte.

Dort war sie wieder, die blonde Schönheit mit der weißen Alabasterhaut und den weich auf ihre Schultern fallenden hellblonden Haaren. Sie lief splitterfasernackt durch ihre Wohnung und blieb nur mitunter stehen, um sich lasziv zu räkeln, wobei ihre prallen Brüste in Bewegung gerieten. Manchmal schaute sie sogar mit sinnlichem Augenaufschlag in seine Richtung, als wüsste sie ganz genau, was gespielt wurde.

Er war hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen. Eigentlich durfte sich eine Frau nicht derart unkeusch verhalten, und die Frauen seiner Konfession hätten das auch nie getan, höchstens für ihren Mann, bei hermetisch geschlossenen Vorhängen. Aber das war eben das Dilemma, ein Muslim musste warten, bis er verheiratet war, oder sich mit Frauen vertrösten, die mit ihrer Gunst und ihren Reizen nicht geizten. Deshalb gingen seine Freunde auch heimlich in Bordelle oder gaben sich mit liederlichen Mädchen und Frauen ab. Freilich dachten sie nicht im Traum daran, diese auch zu heiraten, denn ein gläubiger Muslim durfte nur eine Muslima ehelichen, eine, die völlig unberührt in die Ehe ging, oft von den Vätern ausgesucht und schon seit Kindesbeinen einem Mann versprochen, den sie erst kurz vor der Hochzeit kennenlernte.

Er ließ gerade die rechte Hand vom Fernglas los, um sich in der Hose Erleichterung zu verschaffen, als drüben die Vorhänge zugezogen wurden. Ende der Vorstellung! In diesem Moment klopfte es an seiner Zimmertür.

»Mehmet! Warum schließt du dich ein? Was machst du da drin?«, klang es mit schriller Stimme vom Flur her.

»Nichts, ich will einfach meine Ruhe haben, Anne.«

»Mach sofort auf. Das sind ja ganz neue Moden!«

Widerwillig nahm er eine gebückte Haltung ein, um die ausgeprägte Beule in seiner Hose zu verbergen, drehte den Schlüssel herum und ließ sich auf sein Bett fallen, wo er eilig ein Kissen vor seinen Bauch hielt.

»Warum sitzt du denn im Dunkeln? Ist dir nicht gut?«

»Doch, bis eben war mir noch gut, sehr sogar.«

»Wie sprichst du eigentlich mit deiner Mutter? Denk daran, dass Allah alles sieht und hört. Nur weil dein Vater nicht hier ist, weil er meint, in seiner Heimat werde er dringender gebraucht …«

Die Frau mit der dunklen Haut und dem brünetten Haar, das sie innerhalb der Wohnung unbedeckt trug, wäre von Fremden nie als eine gebürtige Deutsche und als ehemalige Protestantin erkannt worden, zumal sie nie ohne Kopftuch das Haus verließ und peinlich darauf achtete, dass nicht einmal der Haaransatz hervorschaute.

»Was du mit dringender gebraucht umschreibst, bedeutet, dass Vater sich um seine anderen beiden Frauen kümmern muss, die er in der Heimat zurückgelassen hat«, ereiferte sich Mehmet. »Das hast du vorher gewusst, als du dem Islam beigetreten bist. Und wie läufst du eigentlich herum? Es könnte jeden Moment jemand zu Besuch kommen …«

»Dann kann es nur die zahlreiche Verwandtschaft deines Vaters sein, die dürfen mich ohnehin ohne Kopftuch sehen. Es heißt: Die gläubigen Frauen sollen ihren Schleier auf den Kleiderausschnitt schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, es sei denn ihren Ehegatten, ihren Vätern, den Vätern ihrer Ehegatten, ihren Söhnen, den Söhnen ihrer Ehegatten, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und den Söhnen ihrer Schwestern, ihren Frauen, den männlichen Gefolgsleuten, die keinen Trieb mehr haben, den Kindern, die die Blöße der Frauen nicht beachten. Und wenn es einer deiner Freunde ist, die man allesamt nicht mehr als Kinder, die die Blöße der Frauen nicht beachten, bezeichnen kann … denen wirst du öffnen, derweil ich mich bedecke.«

»Und wenn ein Fremder an die Tür kommt?«

»Der wird eben einen Moment warten müssen. Außerdem, ich habe den Qur’an (Koran) auch gelesen, mein Sohn. Keine der drei infrage kommenden Verse bietet einen eindeutigen Anhaltspunkt, dass Frauen ein Kopftuch oder einen gesichtsverhüllenden Schleier tragen sollen. Die eine Stelle in Sure 24, 31 betrifft sowohl Männer als auch Frauen und zielt auf Schicklichkeit und Protzerei, indem Frauen nahegelegt wird, einen himar Schal zu tragen, der alles, bis auf das verdeckt, was bei Wahrung der Keuschheit sichtbar sein darf. Weiterhin wird Frauen nahegelegt, ihren Schmuck mit Zurückhaltung zu tragen. Aber daraus lässt sich nicht das Tragen einer Verdeckung oder gar die Verdeckung des gesamten Gesichts ableiten.

In der Sure 33, 59 heißt es an einer Stelle, dass die Frauen ein gilbab Gewand tragen sollen, damit sie als verehelicht „erkannt“ und nicht belästigt werden.

Die dritte Stelle befindet sich in Sure 33, 53 und bezieht sich lediglich auf die Frauen des Propheten, indem gefordert wird, dass Gäste im Hause des Propheten, wenn sie dessen Frauen um etwas bitten, dies hinter einer higab Abschirmung tun sollen. Damit war eine Trennwand gemeint und keineswegs ein Kleidungsstück. So sieht es aus. Auch ich habe meine Hausaufgaben gemacht.«

Mehmet, der immer noch ärgerlich über die Störung seiner erotischen Fantasien war, blieb keine Antwort schuldig.

»Fest steht, dass klassische Qur’an-Interpreten darauf beharren, dass es eine religiöse Pflicht für Muslimas ist, ein Kopftuch oder eine andere Verschleierung zu tragen. Vater will das so, und ich auch. Während seiner Abwesenheit vertrete ich ihn eh als Familienoberhaupt.«

»Ja, ist ja schon gut. Ich wollte nur darauf hinweisen.«

Paul Schütterer war viel früher aus dem Urlaub zurück-gekehrt als erwartet. Dementsprechend schlecht gelaunt war er, was sein gereizter Gesichtsausdruck und das nervöse Zucken um seine Mundwinkel verrieten. Sein dünnes Haupthaar gab bereits große Teile seiner Kopfhaut frei. Deshalb wurde hinter vorgehaltener Hand gerne gewitzelt: „Paul wird auch immer schütterer“. Nur heute hätte sich das niemand aus Angst vor den Folgen gewagt.

»So früh haben wir Sie gar nicht zurückerwartet, Chef«, sagte Hinnerk und Valerie lächelte ihm freundlich zu.

»Das kann ich mir denken«, blaffte Schütterer. »Da hat man kaum den Arsch aus der Tür bewegt, und schon tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Was habt ihr euch eigentlich beide dabei gedacht, unerlaubt in Italien zu ermitteln? Wir sind zum Gespött der Presse geworden. Die Neue Südtiroler Tageszeitung schreibt:

Deutsche Kommissare in zweifachen Mordfall verwickelt. Die mutmaßliche Täterin musste dabei sterben.“

Und die Dolomiten - ehemals Der Tiroler - überschlagen sich ebenfalls.

Südtirolerin schießt mit der Dienstwaffe eines deutschen Kommissars auf italienische Polizisten“,

heißt es da. Ich glaube, euch hat man ins Gehirn geschissen. Mir wird weisgemacht, einen Erholungsurlaub antreten zu wollen … ich habe leider versäumt, Ihnen vorher die Dienstwaffe und den –Ausweis abzunehmen, Herr Lange. So wie ich es bei Ihrer Kollegin Frau Voss getan habe. Und die hat nichts Besseres zu tun, als Ihnen nachzureisen. Dabei war sie kurz zuvor gerade erst selber mit einem blauen Auge davongekommen. Also, mir fehlen die Worte.«

»Dafür war Ihre Rede ziemlich lang«, sagte Valerie, »vielleicht darf ich erklären?«

»Nein, das dürfen Sie nicht. Es gibt nichts zu erklären. Die Tatsachen sprechen für sich. Sie wollten die Lobrecht fassen und sind ihr in die Falle getappt. Es ist nicht erst seit heute bekannt, dass diese Geisteskranken einen enormen Scharfsinn und eine abgrundtiefe Verschlagenheit entwickeln können. Um ein Haar hätte ich zwei meiner besten, aber leider auch unbelehrbaren, Mitarbeiter verloren.«

»Chef, ich hatte Grund zur Annahme, dass Elvira Lobrecht ihre Mutter umbringen wollte«, wagte Hinnerk einen Einwand. »Das hat sie dann ja auch getan, und ihre Großmutter gleich dazu. Ich wollte verhindern, dass …«

»Wir sind in erster Linie dazu da, Verbrechen aufzuklären«, unterbrach ihn Schütterer, »wenn wir auch noch alle, die eventuell ausgeführt werden, verhindern wollten, wären wir auf verlorenem Posten.«

»Und was ist mit der Pflicht, Straftaten zu verhüten?«, fragte Hinnerk nach.

»Papperlapapp, das war in diesem Fall die Aufgabe der zuständigen Kollegen in Südtirol. Egal, was Sie noch an Ausreden anführen wollen, Tatsache ist, Sie haben unerlaubter Weise Ihre Dienstwaffe mit in die Ferien genommen. Und damit ist geschossen worden, sogar auf Polizisten. Wenn Sie nicht so ein unerhörtes Schwein gehabt hätten, zu dieser Zeit in einer Grube gefangen gehalten zu werden wie die Maus in der Falle, wäre es schwer zu beweisen gewesen, dass nicht Sie, sondern die Lobrecht geschossen hat. In diesem Falle hätten die Schlagzeilen dann wohl gelautet: „Deutscher Kommissar schießt auf italienische Kollegen.“ Das hätte einen Skandal erster Güte gegeben.«

Hinnerk wagte nicht, erneut zu widersprechen, denn er hätte auf die Schmauchspuren hinweisen können, die nicht an seinen Händen, sondern an denen der Lobrecht sichergestellt worden wären, wenn nicht ohnehin die Carabinieri ihr Auge in Auge gegenüber gestanden hätten. Aber weil er genau wusste, wie sein Chef es meinte, schluckte er alles herunter.

»Und für Sie gilt das Gleiche, Frau Voss. Auch Sie führen eine Dienstwaffe im Urlaubsort bei sich und ballern damit wild aus dem Kellerloch durch die Abdeckung. Auch Sie können von Glück sagen, dass dabei kein italienischer Polizist verletzt worden ist, denn wenigstens waren Sie so umsichtig, diese vorher zu Hilfe zu rufen.«

»Die Lobrecht hat gedroht uns umzubringen«, sagte Valerie, »also war es Notwehr, wenn Sie so wollen. Nachdem Sie sich nun gründlich ausgekotzt haben, wäre es an der Zeit, zu erwähnen, dass mit unserer Hilfe vier Mordfälle aufgeklärt worden sind.«

»Was erlauben Sie sich für einen Ton mir gegenüber? Die Dame entwickelt kein Schuldbewusstsein und will auch noch gelobt werden. Ich glaube, ich stehe im Wald.«

»Meine Kollegin meint es nicht so, Sie kennen doch ihre impulsive Art.«

»Sie brauchen sich gar nicht als Kavalier aufzuspielen. Es ist inzwischen ein offenes Geheimnis, dass Sie beide mehr als das Büro teilen …«

»Ja, auch das Bett, wenn Sie es genau wissen wollen«, schrie Valerie und sprang auf. »Dann suspendieren Sie mich doch. Es wäre ja nicht das erste Mal. Aber mein Privatleben geht Sie einen Scheiß an.« Damit verließ sie türenknallend das Büro.

»Also, das ist doch …« Schütterer schnappte förmlich nach Luft.

»Entschuldigen Sie, Chef. Es war alles ein bisschen viel für Valerie in letzter Zeit.«

»Das rechtfertigt kein derartiges Benehmen … ich werde mir überlegen, ob ich die entsprechenden Schritte einleite.«

Hinnerk wusste, dass diese Formulierung von Schütterer gerne gebraucht wurde, aber meistens ohne Folgen blieb, trotzdem sagte er: »Bitte nicht, Chef. Ich verspreche, mich um Valerie zu kümmern. So schnell wird sie keine Dummheiten mehr machen. Aber Sie haben uns noch nicht erzählt, warum Sie früher zurück …«

»Ach, zum Kuckuck, weil meine Frau sich den Fuß verstaucht hat. Es war ihr zu langweilig, im Hotelzimmer liegen zu müssen, deshalb wollte sie nach Hause«, antwortete Schütterer schon etwas ruhiger geworden.

»Und wie kommen Sie an die Zeitungen? Hat man Ihnen die zugeschickt?«

»Ach was, reiner Zufall. Auch wir waren in Italien, wenn auch in einer ganz anderen Gegend, aber dort gab es eben auch deutschsprachige Presse. Und ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können …«

Hinnerk fiel auf, dass Schütterer in einem Satz dreimal auch untergebracht hatte, ein Zeichen dafür, dass ihm die Auseinandersetzung zu schaffen machte.

»Nicht wieder aufregen, Chef. Denken Sie an Ihr Herz.«

»Ach, zum Donnerwetter, ich rege mich auf, wenn es mir passt. Jedenfalls werden Sie vorerst keine neuen Fälle bekommen. Darum können sich die Kollegen aus den anderen Abteilungen kümmern. Strafe muss sein. Auch gibt es genügend unaufgeklärte Fälle, an die Sie sich erneut ranmachen können. Und das gilt für Sie beide. So, Ende der Durchsage! Einen schönen Tag noch!«

»Ihnen auch.« Hinnerk beeilte sich, aus dem Büro zu kommen, bevor es sich Schütterer anders überlegte.

»Moment noch«, hielt ihn sein Chef an der Tür auf. »Das mit der Voss kann ich sogar verstehen. Sie ist ja ein verdammt hübsches Weibsbild. Und wenn man auf freche Klappe steht … aber sehen Sie zu, dass es hier im Haus nicht allzu sehr die Runde macht. Es wird schon genug gequatscht. Was anderes ist es natürlich, wenn Sie in Erwägung ziehen, die Beziehung zu legalisieren …«

»Ich ziehe beziehungsweise ich erwäge, aber leider gehören zwei dazu.«

Zurück in ihrem Büro setzte Hinnerk eine strenge Miene auf. »Wenn du den Alten derart provozierst, ereichst du das Gegenteil«, sagte er zu Valerie.

»Wenigstens krieche ich nicht unter dem Teppich …«, antwortete sie.

»Womit sich die Frage erübrigt, wie das Gespräch verlaufen ist«, meinte Lars.

»Beschissen, damit du’s weißt, wir sind dazu verdonnert worden, die ungelösten Fälle zu bearbeiten. Neu hereinkommende gehen an die anderen Abteilungen.«

»Na toll, das heißt, wir werden die nächste Zeit nicht aus diesen ach so gemütlichen vier Wänden herauskommen …«

»Quatsch keinen Unsinn, Lars, davon, dass die Akten gewälzt werden, lassen sich die Fälle auch nicht lösen. Da heißt es ganz neu ermitteln, und das tut man gewöhnlich draußen«, mischte sich Schmidtchen ein. »Außerdem wird sich Schütterer die Sache noch mal überlegen, wenn die Mordlust in Berlin wieder ansteigt.«

»Bravo, ein Glück, dass wir in unserer Abteilung auch Frauen haben«, grinste Valerie. »Und noch dazu so kluge wie dich Schmidtchen.«

»Komm, Lars, hier ist unser Typ momentan nicht gefragt. Lass uns in die Kantine gehen«, sagte Hinnerk.

»Ohne uns?«, rief Valerie, »kommt gar nicht in die Tüte. Die Akten können warten.«

Mehmet kam an seinem Lieblings-Shisha-Café vorbei. Draußen saßen in gemütlichen Korbsesseln männliche Jugendliche mit hauptsächlich türkischem und arabischem Migrationshintergrund. Einige von ihnen taten das, was sie unter „Chillen“ verstanden, selbstvergessen am Plastikschlauch einer Shisha Wasserpfeife zu ziehen, dabei das blubbernde Wasser im verzierten Glasgefäß zu beobachten und anschließend den Rauch des Orangen-Minz-Tabak-gemischs auszublasen. Die meisten unterschieden sich vom Aussehen her kaum von Mehmet. Bei einigen war der Oberkörper lediglich etwas durchtrainierter, der Bart kunstvoll rasiert oder der Kopf gänzlich kahlgeschoren.

»Ey Alter, was geht?«, fragte der Wortführer der kleinen Gruppe, den alle nur Boss nannten. »Komm, setz dich zu uns, Bruder.«

Bevor es dazu kam, musste Mehmet erst alle umarmen und die aus seiner weitläufigen Verwandtschaft mit Wangenküssen begrüßen. Anders als manch andere Jugendliche beschäftigten sich Mehmets Kumpel weniger mit Computerspielen, Dart und SMS schreiben. Sie interessierten sich für Philosophen und deren Lehren, und ihr Handy nutzten sie für das Speichern der Suren des Koran oder lernten sie auswendig.

Wenn ihnen Platon oder Kant keinen Gesprächsstoff lieferten, dann waren es die Reden des Hauptpredigers der deutschen Islamisten, oder der Dschihad, auch „Heiliger Krieg“ genannt, der gelegentlich sogar den deutschen Verfassungsschutz beschäftigte. Dabei bedeutete der Begriff Dschihad eigentlich nur Bemühung, Einsatz, Anstrengung, Kampf auf dem Wege Gottes. Deshalb wehrten sich muslimische Autoren dagegen, dass Dschihad als Heiliger Krieg oder Kriegsführung bezeichnet wurde. Derlei Übersetzungen sahen sie als falsch an und lehnten sie ab, da es auch die nichtmilitärische Bedeutungen des Dschihad-Begriffs gebe. Dennoch war nicht wegzudiskutieren, dass es Gruppierungen gab, die sich „Deutsche Soldaten“ nannten, als die radikalsten Köpfe einer Jugendbewegung in Deutschland galten und sich den Dschihad auf ihre Fahnen schrieben.

In diesem Sinne waren auch sogenannte Fänger unterwegs, die ihre leichte Beute unter jungen, in deutschen Städten geborenen und dort aufgewachsenen Einwandererkindern fanden. Traditionell islamisch erzogen, „bastelten“ sich diese Kinder ihren eigenen Islam zurecht. Vom Hauptsprecher als „Weihnachtsmann-Muslime“ bezeichnet, feierten sie ungeniert die Wochenenden durch, wohl wissend, dass Alkohol und Sex vor der Ehe für Muslime Sünde ist. Das Schweinefleischverbot für Muslime umgingen sie, indem sie „nur mal probierten“, und meilenweit nach Aftershave oder Eau de Toilette dufteten, obwohl in allen Alkohol enthalten ist.

Trotzdem war Dschahilija, also Unwissenheit, das Schreckgespenst für „den Boss“, Mehmet und wie sie alle hießen. Sie wollten sich von den Deutschen unterscheiden, die in ihren Augen nur rumphilosophierten, aber kein religiöses Fundament besaßen. Untereinander bezeichneten sie sich als „Achi“, was so viel wie mein Bruder hieß, und die Lieblingsvokabel der Jugend von heute „geil“ hatten sie durch „Maschallah“, etwa Gott schütze es ersetzt. Deshalb befürworteten sie auch die kostenlose deutschsprachige Koran-Verteilaktion in Fußgängerzonen wie der Wilmersdorfer Straße unter dem Motto „Lies“ von radikalislamischen Salafisten durchgeführt.

Mehmet pustete gerade seinen viel zu heißen Tee kühler, als er auf der anderen Straßenseite sein Objekt der Begierde, die schöne Blonde, vorübergehen sah. Sie trug einen viel zu kurzen Rock und war für seine Begriffe zu stark geschminkt, aber dennoch konnte er sich nicht satt sehen, wie sie hüftenwackelnd auf ihren High Heels daherschritt.

»Gehst du heute noch trainieren, oder wollen wir uns nachher etwas im Ringen üben?«, fragte der Boss. Mehmet reagierte nicht. »Alter, ich rede mit dir …«

»Was? Ach so, nein, ich muss gleich noch im Laden helfen. Ein andermal, ja?«

Damit sprang er auf und verabschiedete sich hastig.

»Wenn du die Nutte noch einholen willst, musst du dich beeilen«, rief ihm der Boss nach. »Aber denk dran, Allah kann das nicht gutheißen, wenn du dich mit so etwas abgibst.«

Mehmet machte eine abwehrende Bewegung, um in sicherem Abstand auf die andere Straßenseite wechseln zu können. Nervös drehte er sich noch einmal um, ob die anderen etwas mitbekommen hatten, aber die waren schon wieder ins Gespräch vertieft und wurden größtenteils von Passanten verdeckt.

Du sollst nicht morden!

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