Читать книгу Reds - Dietrich Schulze-Marmeling - Страница 7

Оглавление

KAPITEL 1

„Team of the Macs“

Der 1892 gegründete FC Liverpool1 ging aus dem FC Everton hervor und war das Werk des Bierbrauers, Freimaurers und konservativen Politikers John Houlding. Dieser hatte sich mit den Methodisten und Liberalen im Klub überworfen. Das erste Team des LFC wurde vom Iren John McKenna in Schottland rekrutiert. 1901 wurden die „Reds“ erstmals Meister. Weitere Meisterschaften folgten 1906 sowie 1921 und 1922. Das erste Idol des „Kop“, der berühmten Stehtribüne des Stadions an der Anfield Road, war der Nordire Elisha Scott. In den 1930ern stand der FC Liverpool klar im Schatten des Lokalrivalen FC Everton.

Association Football schlägt Rugby

In Liverpool etablierte sich der Fußball im Vergleich zu anderen englischen Arbeiterstädten relativ spät. 1879/80 berichtete Birminghams Presse von 811 Fußballspielen in der Stadt, die Kollegen in Liverpool entdeckten für den gleichen Zeitraum nur zwei. Die Entwicklung einer Fußballszene wurde zunächst durch Liverpools eigentümliche, von Gelegenheits- und Hilfsarbeitern geprägte Beschäftigungsstruktur gebremst. Anders als die Fabrikanten im Osten, die „Manchester Men“, erwarben Liverpools Gentlemen ihren Reichtum nicht durch Warenproduktion, stattdessen verdienten sie ihr Geld mit Handel, Transport und Bankgeschäften. Das Gros ihrer Gewinne investierten sie dann nicht in der Stadt, sondern in den Kolonien und lukrativen Unternehmen anderswo im Land.

Einfache Jobs fand man damals meist im Hafen: als Dock- oder Lagerhausarbeiter, zudem waren hier viele Lotsen, Seeleute, Kutscher, Einzelhändler, Seiler, Segeltuchmacher, Schiffszimmerleute, Kupferschmiede etc. zuhause. Ihre Arbeitskraft war allerdings nur unregelmäßig gefragt, viele von ihnen verdingten sich als Tagelöhner, geregelte Arbeitszeiten waren noch unbekannt. Ähnlich erging es den Beschäftigten in den kleinen Fabriken, die um den Hafen entstanden und in denen Teile der in Liverpool abgeladenen Rohstoffe verarbeitet wurden.

Unter diesen Umständen war es kaum möglich, einen gemeinsamen Kampf für Arbeiterrechte zu organisieren. Während die Textilarbeiter im Osten Lancashires bereits in den 1850ern am Samstagnachmittag nicht arbeiten mussten (ab 14 Uhr, ab 1874 sogar schon ab 13 Uhr), kamen Liverpools Dockarbeiter erst im April 1890 in den Genuss eines freien Samstagnachmittags. Einem großen Teil der Liverpooler Arbeiterschaft blieb deshalb zunächst nur wenig Raum für den Fußball als Freizeitbeschäftigung.

Auch die Stärke von Rugby und Cricket sowie der Kampf religiöser Führer gegen den Wochenend-Fußball in öffentlichen Parks hemmte die Entwicklung des Spiels. Noch 1923 lehnte der Liverpooler Stadtrat mit 60 zu 25 Stimmen einen Antrag ab, der Sporttreibende auch am „heiligen“ Sonntag die Benutzung der städtischen Parks gestatten sollte. Der erzürnte Beigeordnete Austin Harewood war der Meinung, dass Liverpool sich „im Griff einer klerikalen Tyrannei“ befände.

Last but not least: Der moderne Fußball hatte seinen Ursprung in den elitären Public Schools. „Dank“ der rigiden Klassentrennung in Liverpool, wo man mehr als in anderen Industriestädten unter seinesgleichen blieb, wurde das Spiel von heimkehrenden Public-School-Absolventen nicht „nach unten“ weitergegeben.

Eine entscheidende Schwäche allerdings hatte Liverpools Rugby: Der Sport wurde von elitären Public-School-Absolventen dominiert, die sich den Cup-Wettbewerben des nordenglischen Rugby League2 verweigerten. Denn die Herren mochten nicht gegen Teams antreten, die sozial nicht „in ihrer Liga spielten“. Und überhaupt bestritten Gentlemen nur Freundschaftsspiele. So gab es schließlich doch den Raum für Association Football.

1863 war im Londoner Gasthaus Freemasons’ Tavern mit der Football Association (FA) der weltweit erste nationale Fußballverband gegründet worden. Der FA-Cup als erster nationaler Wettbewerb wurde schließlich zur Saison 1871/72 eingeführt und entwickelte sich schnell zu einer Attraktion. Rugby verlor durch den Pokal in Lancashire an Boden. Denn die konservative Rugby Union sah sich in dieser Grafschaft nicht in der Lage, einen attraktiven Pokalwettbewerb einzuführen. Dem Rugby mangelte es also an spannenden, die Spieler motivierenden und die Zuschauer mobilisierenden Wettspielen.

Erst 1883 gewann zum ersten Mal ein Arbeiterverein den FA-Cup. Der Sieger kam mit Blackburn Olympic aus einer Industriestadt nördlich von Manchester. Olympic bezwang die Old Etonians aus dem etwa 25 Kilometer westlich von London gelegenen Eton mit 2:1 und beendete damit die Dominanz der Universitäts- und Public-School-Teams aus dem Süden Englands. Die siegreiche Elf bestand aus vier Textilarbeitern, drei Metallarbeitern, einem Angestellten, einem Klempnermeister, einem Schankwirt und einem Zahnarzt. Die Fußball-Aristokraten aus Eton oder Oxford waren schockiert und zogen sich aus der zu diesem Zeitpunkt prestigeträchtigsten Konkurrenz im englischen Fußball zurück. Viele der Public Schools verabschiedeten sich komplett vom Fußball und widmeten sich den Gentlemen angemesseneren Disziplinen, in denen sie Kontakt und ein Kräftemessen mit den proletarischen Massen vermeiden konnten.

Liverpool entwickelte sich nun binnen einer Dekade von einer Stadt ohne Association Football zu einer Hochburg dieses Spiels. Die Zahl der Spiele und Vereine stieg sprunghaftan: 1878 gab es in Liverpool erst zwei Klubs, 1886 waren es bereits 151. Das ehemalige Rugby-Mekka war zum Fußball übergelaufen.

Profifußball und Football League

Als im Januar 1884 das nordenglische Team Preston North End im FA-Cup auf den Londoner Klub Upton Park traf, eskalierte der bereits seit Jahren schwelende Konflikt zwischen den Befürwortern des Professionalismus und den Anhängern des Amateursports. Upton Park beschwerte sich bei der FA, weil der Gegner mit schottischen Akteuren angetreten sei, deren Spielberechtigung angezweifelt wurde. Prestons Spieler waren in der Tat Profis. Der Klubsekretär, Fabrikmanager Major William Sudell, machte keinen Hehl daraus, dass man Spieler importiert und diese mit Arbeitsplätzen versorgt hatte. Auf der Suche nach Verstärkungen war der umtriebige Sudell vor allem in Schottland fündig geworden, wo er u. a. den Torjäger Jimmy Ross rekrutierte.

Sudell war ein entschiedener Befürworter des Professionalismus und behauptete, er habe zum Wohle des Spiels gehandelt. Denn ohne die Verstärkung mit „Gastarbeitern“ wäre es seinem Klub nicht möglich gewesen, mit den mächtigen Blackburn Rovers zu konkurrieren. Preston North End wurde disqualifiziert und für ein Jahr vom FA-Cup ausgeschlossen. Zwei weiteren „proletarischen“ Klubs – Burnley und Great Lever aus Bolton – erging es ebenso.

Im Oktober 1884 trafen sich in Manchester die Vertreter von 31 Vereinen, darunter die meisten Topadressen Lancashires sowie Aston Villa, Walsall Swifts und Sunderland. Als Befürworter des Profitums drohten sie mit dem Auszug aus der FA und der Gründung einer eigenen British Football Association. Neun Monate später lenkte der Verband ein und gestattete das Berufsspielertum, wenngleich zunächst nur in restriktiver Form. Wenn man die Entwicklung des professionellen Fußballs schon nicht verhindern konnte, so wollte man sie wenigstens kontrollieren. Also verordnete die FA eine Gehaltsobergrenze für Profis.

Am 2. März 1888 lud der Geschäftsmann William McGregor die Klubs Bolton Wanderers, Blackburn Rovers, Preston North End, West Bromwich Albion und Aston Villa ins Anderton’s Hotel in der Londoner Fleet Street ein. Am Vorabend des FA-Cup-Endspiels wollte McGregor über die Gründung einer nationalen Fußball-Liga diskutieren. Denn allein auf Basis des FA-Cups und weiterer regionaler Pokalwettbewerbe ließ sich eine Saison nicht finanziell planen. Bei frühzeitigem Ausscheiden war das Pflichtspielprogramm schnell beendet. Was noch blieb, waren Freundschaftsspiele, die aber bisweilen den Pokalverpflichtungen eines der Teams zum Opfer fielen. Freundschaftsspiele litten ohnehin unter ihrer Unverbindlichkeit, und so wurden Begegnungen schon mal wegen schlechten Wetters, Transportproblemen oder einfach, weil der eine oder andere Leistungsträger verletzt war, abgeblasen. Manchmal trafen die Absagen so kurzfristig ein, dass die fußballinteressierte Öffentlichkeit erst im Stadion davon erfuhr.

Die nach London eingeladenen Klubs wurden von McGregor gebeten, sich über die Zukunft einer solchen Liga Gedanken zu machen. Er wollte, „dass sich zehn oder zwölf der prominentesten Vereine in England zusammenfinden, um in jeder Saison Heim- und Auswärtsspiele gegeneinander auszutragen“. Die anvisierte Vereinigung sollte Association Football Union heißen.

McGregor und seine Mitstreiter wurden durch die Entwicklung in den USA ermutigt, wo die Professionalisierung des Sports früher begonnen hatte. Die USA waren gewissermaßen das Geburtsland des Profisports, der sich dort nicht mit dem ideologischen Ballast einer aristokratischen Sporttradition herumschlagen musste. Im Winter 1876 wurde die National League of Professional Baseball Clubs ins Leben gerufen, die weltweit erste Profiliga und das erste Sportunternehmen der Welt. Anders als bei der späteren englischen Football League ging es bei der Baseball-Liga nicht nur um die Organisation und Finanzierung eines professionellen Spielbetriebs, sondern – wie bei sonstigen Unternehmen des Wirtschaftslebens – um das Erwirtschaften von Gewinnen.

Da die Klubs im Süden Englands an McGregors Projekt kein Interesse zeigten, musste ein zweites Treffen her, das nun in Manchester stattfand. Am 17. April 1888 wurde im Royal Hotel in Manchester die weltweit erste nationale und professionelle Fußballliga aus der Taufe gehoben.

McGregors Namensvorschlag „Association Football Union“ wurde allerdings verworfen, denn eine „Football Union“ gab es bereits beim konkurrierenden Rugby, wo sich 1871 die Rugby Football Union gegründet hatte. Stattdessen einigte man sich auf den Namen „The Football League“. McGregor wollte zunächst auch schottische und walisische Vereine einbeziehen, weshalb man auf die Länderbezeichnung „English“ verzichtete.

Die Legalisierung des Professionalismus und die Gründung der Liga veränderte die englische Fußballlandkarte nachhaltig. Die zwölf Gründungsmitglieder kamen mit Preston North End, Aston Villa, Wolverhampton Wanderers, Blackburn Rovers, Bolton Wanderers, West Bromwich Albion, Accrington3, Burnley, Derby County, Notts County, Stoke (ab 1926 Stoke City) und dem Liverpooler Klub FC Everton ausnahmslos aus den Arbeiter- und Industriestädten des Nordens und der Midlands, die durch die Eisenbahn miteinander verbunden waren.

EINWURF

Lancashire und der Profifußball

Mit der Verkürzung der Arbeitszeit, der Einführung des freien Samstags und der Erhöhung der Löhne begann die Eroberung des Fußballs durch die Industriearbeiterschaft, schon bald triumphierten „Arbeiterteams“ in den Wettbewerben und zogen große Zuschauermassen an. Die Grafschaft Lancashire entwickelte sich zur Wiege des Professionalismus, und noch heute hat der Nordwesten Englands die höchste Konzentration an Profiklubs in Europa. In der Saison 2018/19 spielten in den vier englischen Profiligen:

•Premier League (5):

FC Liverpool, FC Everton, Manchester United, Manchester City, FC Burnley.

•Football League Championship (3):

Blackburn Rovers, Bolton Wanderers, Wigan Athletic.

•Football League One (3):

FC Blackpool, Accrington Stanley, AFC Rochdale.

•Football League Two (3):

Macclesffteld Town, FC Bury, Tranmere Rovers.

Von den bislang 120 englischen Fußballmeisterschaften wurden 57 von Klubs aus Lancashire gewonnen: Manchester United (20), FC Liverpool (18), FC Everton (9), Manchester City (6), Blackburn Rovers (2), FC Burnley (2).

Die soziale Entwicklung Englands hatte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts relativ friedlich vollzogen – dank der privilegierten Stellung im Welthandel und in der Weltindustrie. Um 1850 arbeitete die große Masse der Fabrikarbeiter noch täglich zwischen 15 und 16 Stunden. Um 1870 betrug die Arbeitszeit in der Textilindustrie 10,5 Stunden am Tag und 60 Stunden wöchentlich bei freiem Samstagnachmittag. Die Löhne der Facharbeiter, die um 1870 etwa 30 Prozent der Industriearbeiterschaft ausmachten, stiegen zwischen 1850 und 1865 real um etwa 15 Prozent. Anschließend kam es zu einem allgemeinen Anwachsen der Reallöhne um ein Drittel. Im Zeitraum 1850 bis 1914 verdoppelten sie sich sogar annähernd.

Diese Verbesserung der Lebensbedingungen – mehr freie Zeit und höhere Einkommen – gab der Arbeiterschaftdie Gelegenheit, sich dem Fußball zuzuwenden. Sie betrat damit ein Spielfeld, das bis dahin von ganz anderen sozialen Kreisen exklusiv besetzt wurde. Denn auch in seinem „Mutterland“ waren die Anfänge des Fußballs zunächst bürgerlich-elitär. Beim FC Sheffield, gegründet am 24. Oktober 1857 und heute der älteste noch existierende Fußballverein der Welt, waren 1858 elf der 29 Vereinsmitglieder Fabrikanten. Bis Ende der 1860er Jahre rekrutierten sich englische Fußballklubs fast ausschließlich aus ehemaligen Public-School-Teams, also aus Zöglingen exklusiver Privatschulen. Entsprechend war eine große Zahl der frühen Klubs im Südosten des Landes beheimatet, während im englischen Norden die Vereinsdichte deutlich geringer ausfiel.

Das änderte sich nun grundlegend. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Fußball in England die hauptsächliche Freizeitbeschäftigung der Arbeiter, deren Anteil an der beschäftigten Bevölkerung auf 80 Prozent gewachsen war.

FC Everton

Die Wiege des FC Everton war die 1865 gegründete Kirchengemeinde St. Domingo Methodist Church, was keineswegs ungewöhnlich war. 1885 unterhielten 25 der 112 Liverpooler Fußballklubs Verbindungen zu kirchlichen Einrichtungen, in Birmingham waren es 83 von 344.

1877 wurde Ben Swift Chambers (1845–1901) Pfarrer in der St. Domingo Methodist New Connexion Chapel in der Breckfield Road North. Chambers war ein Aktivist der „Band of Hope“-Bewegung, einer Temperenzler-Organisation für Jugendliche aus der Arbeiterschaft, und ein Anhänger von „Muscular Christianity“, einer philosophischen Bewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in England ihren Ursprung hatte und sich durch den Glauben an die patriotische Pflicht, die moralische und physische Schönheit von Sportlichkeit, Disziplin, Selbstaufopferung und Männlichkeit auszeichnete. Im viktorianischen Zeitalter war „Muscular Christianity“ eine Methode zur Charakterbildung von Schülern an den Public Schools.

Chambers rief für die Jugendgemeinde einen Cricket-Klub ins Leben. Allerdings war Cricket ein reines Sommerspiel, und um die Jugendlichen auch außerhalb der Cricket-Zeit sportlich zu beschäftigen, wurde deshalb 1878 der St. Domingo Football Club gegründet.

Kirchenleute wie Chambers wollten mittels des Fußballs die „modernen Krankheiten“ der modernen Massen- und Industriegesellschaftbekämpfen: die epidemische Trunk- und Wettsucht, den schwindenden Einfluss der Religion in der Arbeiterschaft und deren Hinwendung zu sozialradikalen Ideen. In Liverpool war der Alkohol das größte Problem, 1874 gab es hier 2.587 Verkaufsstellen für Bier, Wein und Schnaps. Nicht nur erwachsene Männer, auch Kinder im Alter von acht oder neun Jahren torkelten besoffen durch die Straßen. Außerhalb der Pubs lungerten die Männer rum und pumpten vorübereilende Passanten um Geld für Bier an – sie gingen als „cornermen“ in die Stadtgeschichte ein.

Erste Spielstätte des St. Domingo Football Club war eine Wiese im Südosten des Stanley Parks im Stadtteil Everton, der heute die Stadien des FC Everton und des FC Liverpool trennt. Der 1870 eröffnete Park ist noch immer der bedeutsamste in Liverpool.

Hier trug der Klub 1879 auch sein erstes Spiel aus, bei dem der Everton Church Club mit 1:0 bezwungen wurde. Das St.-Domingo-Team war nur eines von vielen, die im Stanley Park kickten. Aber es war das beste, weshalb es auch Spieler außerhalb der Kirchengemeinde und deren Einzugsgebiet anzog. Im November 1879 votierte deshalb eine Versammlung im Queen’s Head Hotel für die Umbenennung des St. Domingo Football Club in Everton Fooball Club.

Der neue Klub weckte das Interesse von John Houlding, Gründer der Brauerei Tynemouth Street Brewery („Houlding’s Sparkling“) und Besitzer des heute noch existierenden Hotels und Pubs „The Sandon“ an der Oakfield Road, nur wenige Fußminuten von Anfield entfernt, dessen Villa sich in Nachbarschaft zum Spielfeld des FC Everton im Stanley Park befand. Der wohlhabende Bierbrauer war Freimaurer, Vorsitzender der Everton Conservative Association und ein Hardline-Unionist. Ein charismatischer Selfmademan ohne nennenswerte akademische Ausbildung, aber ein begnadeter Autodidakt. In Everton geboren, sprach er die Sprache der einfachen Leute und betätigte sich als Philanthrop. Houlding kümmerte sich insbesondere um Jugendliche aus armen Verhältnissen und ältere Menschen, man nannte ihn auch „Honest John“ und „King John of Everton“. Als der konservative Unterhausabgeordnete für den Wahlkreis Everton starb, erschien Houlding als dessen logischer Nachfolger, den nationalen Parteigrößen der Konservativen aber war dessen Popularität bei den Liverpooler Arbeitern suspekt, weshalb sie Einspruch erhoben. Auch bei den Liverpooler Tories war Houlding umstritten. Um eine Spaltung der Partei zu vermeiden, zog Houlding seine Kandidatur zwar zurück, 1897 wurde er dann aber zum Oberbürgermeister der Stadt am Mersey gewählt.

Der Unternehmer und Politiker erkannte schon früh das Potenzial des Fußballs für die Getränke-Industrie und natürlich auch für seine politischen Ambitionen. Und so wurde John Houlding 1881 Präsident des FC Everton. Sein engster Mitstreiter im Klub war John McKenna, ein ehemaliger Rugby-Aktivist. Der protestantische Ire, wie Houlding Tory, Freimaurer und Mitglied des Oranier-Ordens, stammte aus der Gemeinde Donagh in der irischen Grafschaft Monaghan und war Anfang der 1870er im Alter von 17 nach Liverpool ausgewandert. In Liverpool ging McKenna auf Distanz zur Brutalität und dem elitären Charakter des Rugbys und wurde ein Fan von Association Football. Er sah aber auch, dass der die Zuschauer in großen Massen mobilisierende Association Football das größere Potenzial besaß. McKenna war stark beeindruckt, als 1880 ein Derby zwischen den beiden East-Lancashire-Klubs Blackburn Rovers und Darwen 10.000 Interessierte mobilisierte.

Als die Zuschauerzahlen im Stanley Park vierstellig wurden, sah sich Houlding nach einer neuen Spielstätte um. Er fand diese südlich des Stanley Parks zwischen Anfield Road und Walton Breck Road. Das Gelände gehörte John Orrell, einem Bierbrauer und Freund Houldings, der es nun an den FC Everton verpachtete. Am 28. September 1884 lief Everton erstmals in Anfield auf und schlug das Team von Earlestown mit 5:0. Es wurden Tribünen für gut 8.000 Zuschauer errichtet, aber das Stadion konnte um die 20.000 aufnehmen. Am 2. März 1889 war Anfield erstmals Schauplatz eines Länderspiels, als England im Rahmen der British Home Championship Irland mit 6:1 besiegte.

Am 8. September 1888 bestritt Everton sein erstes League-Spiel in Anfield. Vor 10.000 Zuschauern wurde Accrington mit 2:1 geschlagen. Erster Meister der Football League wurde Preston North End – ungeschlagen, weshalb das Team, das auch noch den Pokal gewann, „The Invincibles“ getauft wurde. (In der Liga gelang dies seither nur noch einem Team: Arsenal in der Saison 2003/04.) Everton wurde nur Achter. Auch in der folgenden Saison 1889/90 gewann Preston die Meisterschaft. Everton verbesserte sich aber deutlich und wurde mit zwei Punkten Abstand Vizemeister. 1890/91 durfte Everton dann als erster Liverpooler Klub die englische Meisterschaft feiern.

Eins teilt sich in zwei

Zwischenzeitlich hatte John Houlding Anfield gekauft. Der FC Everton musste ihm nun jährlich eine Pacht von 100 Pfund bezahlen. Zur Saison 1889/90 erhöhte Houlding diese um 150 Pfund auf 250 – mit Verweis auf die gestiegenen Zuschauereinnahmen. Außerdem forderte der Bierbrauer ein Monopol für den Getränkeverkauf im Stadion.

Der folgende Disput zwischen Houlding und den Everton-Direktoren drehte sich nicht nur um die Pacht, vermutlich nicht einmal vorrangig. Mindestens genauso bedeutend waren unterschiedliche politische Auffassungen und die Rolle der Methodisten im Klub. Im Everton-Vorstand saßen sowohl konservative als auch liberale Parteiaktivisten. Größter und stärkster Widersacher Houldings war der liberale Politiker George Mahon, mit dem er schon während der Kommunalwahlen aneinandergeraten war. Mahon, dessen Eltern aus Irland (Dublin) nach Liverpool emigriert waren, war Mitglied der Walton Liberal Association und engagierte sich mit der Liberal Party für „Irish Home Rule“, also für eine Selbstverwaltung der noch unter Londons Herrschaftstehenden irischen Insel. Konservative Protestanten und Unionisten wie Houlding und McKenna waren hingegen erbitterte Gegner von „Home Rule“.

Außerdem kollidierte Houldings Alkohol-Business mit der methodistischen Gesinnung einiger Everton-Direktoren, die sich die Bekämpfung des Alkoholkonsums auf die Fahnen geschrieben hatten. Den methodistischen „Evertonians“ behagte nicht, dass sich die Spieler in Houldings „The Sandon“ umzogen, von wo aus sie zum Stadion marschierten. Im „Sandon“ war auch die Geschäftsstelle des Klubs untergebracht, und die enge Verbindung zwischen Mannschaft und Pub garantierte Houlding an Spieltagen viel Kundschaft. Evertons Methodisten wurden von der Football League unterstützt, deren Boss William McGregor ebenfalls Methodist war. Der aus Schottland stammende Tuchhändler gehörte dem Vorstand von Aston Villa aus Birmingham an, das 1874 von Mitgliedern der Villa Cross Wesleyan Chapel gegründet worden war und somit ähnliche Wurzeln wie der FC Everton hatte. Laut Houlding war das „fanatische Abstinenzlertum“ seiner klubinternen Gegner der entscheidende Grund für die spätere Spaltung des Klubs.

Einigen Klubdirektoren und Mitgliedern war Houlding zu mächtig geworden. Sie kritisierten seinen autokratischen Führungsstil und warfen ihm vor, dass er den Klub nur als ein weiteres Business betrachten würde.

Am 15. September 1891 fand in der Royal Street Hall eine Generalversammlung des FC Everton statt, auf der Houlding die Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung vorschlug. Dieses Unternehmen sollte Anfield und benachbartes Land, das noch John Orrell gehörte, für 9.237 Pfund erwerben. Die von Houlding vorgeschlagene Form einer GmbH war damals noch sehr ungewöhnlich. George Mahon unterstütze Houldings Idee einer Umwandlung des Vereins in eine Aktiengesellschaft, aber die beiden Männer hatten unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Gestaltung des Aktienbesitzes. Houlding wollte 12.000 Anteilscheine ausgeben. Die überwiegende Mehrheit davon sollte in den Händen der Klubführung bleiben. Mahon hingegen wollte nur 500 ausgeben, von denen kein Mitglied mehr als zehn und kein Vorstandsmitglied mehr als sieben oder acht Aktien besitzen durften. Als am 25. Januar 1892 im Liverpool College in der Shaw Street eine außerordentliche Hauptversammlung tagte, wurde Houldings Plan abgelehnt.

Am 15. März 1892 beschloss der FC Everton auf einer Versammlung in der Presbyterian School in der Royal Street den Ausschluss Houldings und den Auszug aus dem Stadion an der Anfield Road, in dem man seit 1884 gespielt hatte. Der FC Everton bezog nun eine neue Heimat auf der nördlichen Seite des Stanley Parks, nur wenige Hundert Meter Luftlinie von Anfield entfernt. Die Spielstätte an der Goodison Road wurde bereits am 24. August 1892 eingeweiht.

EINWURF

Fußball und Bier

Der Fußball und das Bier – das ist die älteste kommerzielle Verbindung in diesem Sport. Den FC Liverpool würde es ohne Bier möglicherweise gar nicht geben. Denn der Klub wurde auch gegründet, um die kommerziellen Interessen eines Bierbrauers zu befriedigen. Die Aufstiege des FC Liverpool, von Manchester United und Celtic aus Glasgow waren zumindest auch das Werk von Bierbrauern und Gastwirten, die im Fußball einen großen Absatzmarkt erblickten. Aber auch bei anderen britischen Klubs hatten Bierbrauer, Getränkehändler und Gastwirte schon früh großen Einfluss.

Bei Aston Villa saßen in den 1890ern eine Reihe von Hoteliers und Gastwirten im Vorstand, Sitzungen und Feiern wurden häufig in Gasthäusern veranstaltet. In England waren in diesen Jahren mindestens 15 % der Anteilseigner bei den Profiklubs Leute, die ihr Geld mit dem Verkauf alkoholischer Getränke verdienten. In Schottland kontrollierten die Gastwirte 1916 sogar 31,2 % der Anteilsscheine von 23 Klubs. In Nordirland waren 1921 beim Belfast Celtic and Athletic Club die 74 Spirituosenhändler die mit Abstand größte Gruppe der Anteilseigner.

In den 1890ern und nach der Jahrhundertwende hatte das Engagement der Brauereien und Wirtshausbesitzer im Profifußball deutlich zugenommen. Das Spiel hatte sich landesweit als Zuschauersport etabliert, da sich die Industriearbeiterschaft seiner annahm. Bierbrauer und Wirtshausbesitzer entdecken im Profiklub eine Brücke zu ihrem wichtigsten Markt – der trinkenden Industriearbeiterschaft.

Um begehrte Spieler zur Unterschrift zu bewegen oder sie langfristig an den Verein zu binden, bot man ihnen die Übernahme von Gasthäusern an. So konnte man die Gehaltsobergrenze für Profis unterlaufen. In den frühen 1880ern waren mindestens sechs Spieler der Blackburn Rovers zugleich Gastwirte, beim FC Sunderland soll in den 1890ern das halbe Team hinterm Tresen gestanden haben. Und nicht nur die Fußballer profitierten, ein prominenter Name als Gastwirt versprach den beliefernden Brauereien höhere Absätze.

Den Profifußball begleitete schon früh der Vorwurf, er fördere den Genuss von Alkohol und somit auch ein ungebührliches Verhalten seiner Akteure. Der frühe Profi wurde in der Presse regelmäßig als Trunkenbold porträtiert. 1896 bemängelte John J. Bentley, von 1894 bis 1910 Präsident der Football League, viele Menschen würden den Profials „Vagabunden“ betrachten, „der das Gros seiner Zeit im Pub verbringt – abgesehen von eineinhalb Stunden, in denen er seinen Lohn verdienen muss“. Die Presse neigte zu drastischen Übertreibungen, die einiges über die sozialen Vorurteile gegenüber Profis verrieten. Der Profifußball wurde von jungen Männern aus dem Milieu der Industriearbeiterschaft gespielt, aber die Berichterstattung über das Spiel lag in den Händen von Leuten, die zur Mittelschicht gehörten.

Alkohol spielte im Fußball eine zwiespältige Rolle. Unter den ersten Funktionären der Football League und des Professionalismus in Lancashire und den Midlands findet man eine Reihe methodistischer Abstinenzler, die mithilfe des Sports die in der Arbeiterschaft verbreitete „Seuche“ Alkohol bekämpfen wollten. So William McGregor, der Vater der Football League, oder Charles Suitcliff, der erste Sekretär in der Geschichte der Liga und Sonntagsschulprediger, sowie Charles Clegg aus Sheffield und Walter Hart aus Birmingham, beide in der Abstinenzbewegung aktiv. In Sunderland verkündete 1896 der Geschäftsführer der lokalen Church of England Temperance Society, er wolle Aktien des Fußballklubs erwerben, da sich der Fußball in der Stadt als wirkungsvolle Waffe gegen den Alkoholkonsum erwiesen habe. Ähnlich sah dies 1898 Liverpools Chief Constable. Die Popularität des FC Liverpool und des FC Everton hätten zur Verringerung des Alkoholkonsums in der Stadt beigetragen. Die Männer würden nun nach Arbeitsschluss am Samstag nicht mehr in den nächsten Pub eilen, sondern ins Stadion. Die Sportbegeisterung mache Fußball und Radfahren zu machtvollen Konkurrenten des Besäufnisses, das bis dahin als einzige Abwechslung für die Arbeiter galt.

Ob es wirklich so war, ist umstritten. 1900 schrieb der Edel-Amateur N.L. Jackson, ein entschiedener Gegner des Professionalismus: „Die häufig strapazierte Behauptung, der professionelle Fußball hielte die Männer vom Gasthaus fern, wird durch die Tatsachen nicht gestützt. Erst kürzlich hat sich ein alter schottischer Internationaler über den wachsenden Einfluss von Gastwirten im Fußballmanagement beklagt.“ Und John Cameron, einst Sekretär der Old Players Union, konstatierte 1906 in „Spalding’s Football Guide“: „Die größte Versuchung, mit der der junge Profikonfrontiert wird, ist der Alkohol. Wenn du ein populärer Spieler geworden bist, denken deine Bewunderer, dass sie ihre Verehrung am besten dadurch zeigen können, dass sie dir ein Bier oder einen Scotch mit Soda spendieren.“

Aston Villa engagierte 1900 sogar einen Privatdetektiv, um das Privatleben seiner Spieler auszuspionieren. Vom schottischen Nationalspieler Jimmy Cowan hieß es, er sei zwei- bis dreimal in der Woche betrunken gewesen.

Das Trinkverhalten vieler Profis korrespondierte mit ihrer sozialen Herkunft. Die Mehrheit der englischen, schottischen und irischen Profis entstammte dem Industriearbeitermilieu und betrachtete den Bierkonsum als natürlichen Bestandteil der Arbeiterkultur. Der Alkohol galt als Geißel der Industriearbeiterschaft, weshalb vielerorts christliche Abstinenzler-Gruppen aus dem Boden schossen. Mitte der 1870er soll der englische Mann im Schnitt jährlich 103 Galonen Bier geschluckt haben (entspricht etwa 390 Litern). Ein zeitgenössischer Beobachter behauptete, dass der Arbeiter in der Schwerindustrie täglich sogar zwischen dreieinhalb und sieben Pints Bier (= ca. 1,7 bis ca. 4 Liter) in seinen Körper schütte. 1899 ermittelte ein Komitee des britischen Unterhauses, dass 15 % der Nahrungsaufnahme eines englischen Mannes aus Bier bestehe. Ein geradezu demonstrativer Bierkonsum sollte auch in den folgenden Jahrzehnten ein bedeutendes Merkmal von Working-class-Kultur bleiben.

Das Trinkverhalten von Fußballprofis aus dem Arbeitermilieu wurde zusätzlich dadurch befördert, dass sie im Vergleich zum gewöhnlichen Industriearbeiter über mehr Zeit und mehr Geld verfügten. Gewöhnlich wurde an vier Tagen in der Woche jeweils einmal trainiert. Gegen Mittag war der Arbeitstag des Profis beendet. Dann rief der Pub.

„Team of the Macs“

John Houlding besaß nun zwar ein Stadion mit einem Fassungsvermögen von 18.000 bis 20.000, aber keine Mannschaft, die dieses mit Abnehmern seines Bieres füllen konnte. So rief er am 2. Juni 1892 den FC Liverpool ins Leben. Auch wenn dies sein eigenes Kind war: Dem Klub drückte er für die Benutzung von Anfield eine Pacht von 100 Pfund auf, also die Summe, die Everton ursprünglich bezahlt hatte. Allerdings legte Houlding dem LFC ein Startgeld von über 500 Pfund in die Kasse.

Die Besitzstruktur des neuen Klubs unterschied sich fundamental von der des FC Everton. Letzterer war ein Mitgliederklub. 36 % der Anteile befanden sich in den Händen von Arbeitern. Beim FC Liverpool waren dies nur 5 %. Das Gros der Anteile konzentrierte sich auf wenige Personen, nämlich auf Houlding und seine Geschäftsfreunde.

Nun musste noch eine Mannschafther. Das erste Team des neuen Klubs wurde in Schottland rekrutiert und firmiert deshalb in den Klub-Annalen als „Team of the Macs“ – bei acht Spielern startete der Familienname mit einem „Mc“: Duncan McLean, James McBride, Malcolm McVean, Hugh McQueen, Matt McQueen, John McCartney, Bill McOwen und Joe McQue. Keiner der Spieler kam aus Liverpool oder auch nur England. Kapitän der Mannschaft war Andrew Hannah, kein „Mac“, aber nichtsdestotrotz Schotte. Hannah stammte aus Renton in der schottischen GrafschaftDunbartonshire. Der Verteidiger hatte bereits zuvor in England gespielt: 1888 für West Bromwich und von 1889 bis 1891 für Everton. Anschließend war er nach Renton zurückgekehrt. Architekt der Mannschaft war John McKenna, der erste Manager des LFC.

In seiner ersten Saison 1892/93 zahlte der junge Klub diesem „gekauften Team“ insgesamt 12.000 bis 15.000 Pfund an Gehältern und Prämien. Der LFC löste damit eine Lohn-Debatte aus. Die Zeitung Liverpool Review beklagte, dass Fußballspieler besser als Bankdirektoren bezahlt würden – in einer Stadt, wo einer von 24 Bürgern von extremer Armut betroffen sei (gegenüber einem Bürger von 60 im County Lancashire und einem von 41 in ganz England und Wales).

Da ein Antrag auf Aufnahme in die Football League scheiterte, musste der FC Liverpool in der Lancashire League starten. Diese war 1889 von Klubs ins Leben gerufen worden, die bei der Gründung der Football League nicht berücksichtigt wurden. Das Gros der Klubs kam aus der Grafschaft Lancashire, aber die Liga akzeptierte auch einige aus der benachbarten Grafschaft Cheshire.

Am 1. September 1892, einem Donnerstag, lief die eilig zusammengestellte Mannschaft des FC Liverpool erstmals in Anfield auf, in blau-weißen Trikots mit weißer Hose. Die „Reds“ waren anfangs keine „Reds“. Erst 1894 wechselte man zu roten Trikots, komplett rot wurde das Dress aber erst 1964 unter dem Manager Bill Shankly.

Die Premiere war ein Freundschaftsspiel gegen Rotherham Town, Meister der Midlands League, der mit 7:1 überfahren wurde. Nur eine Handvoll Interessierter schaute zu. Zeitgleich sahen wenige Hundert Meter Luftlinie entfernt über 10.000 ein Freundschaftsspiel des FC Everton gegen die Bolton Wanderers, die erste Begegnung im Goodison Park überhaupt. Zwei Tage später bestritt der LFC sein erstes Spiel in der Lancashire League. Diesmal waren es etwa 200, die einem 8:0-Sieg ihres Teams über Higher Walton beiwohnten.

Am 10. September, also nur neun Tage nach der Premiere, kamen bereits 3.000 Zuschauer ins Stadion, wo Liverpool mit einem Sieg über Stockton die Tabellenführung eroberte. Der LFC wurde Meister der Lancashire League, dank der gegenüber Blackpool besseren Tordifferenz.

Am Ende der Saison 1892/93 hatten im Schnitt 5.217 Fußballbegeisterte die Heimspiele des LFC besucht. Auswärts kamen schon mal 8.000 zu den Auftritten der „Reds“ – die schottische Akteure waren eine Attraktion. Lokalrivale Everton, der zwei Klassen höher in der First Division der League spielte, mobilisierte in dieser Spielzeit daheim 13.230 Zuschauer. Die Spaltung hatte bei Everton nicht für einen Zuschauerverlust gesorgt, ganz im Gegenteil kamen anschließend sogar einige Hundert mehr zu den Spielen im Goodison Park. Liverpools Anhängerschaft bestand aus Menschen, die erst jetzt den Weg ins Fußballstadion fanden oder zuvor andere (kleinere) lokale Klubs unterstützt hatten.

EINWURF

Der FC Liverpool und seine Schotten

Dass das erste Team des FC Liverpool 1892 komplett aus Schotten bestand, befeuerte die Debatte über schottische Profis im englischen Fußball, deren Zahl in den nächsten Jahren weiter stieg. Kicker aus dem hohen Norden Großbritanniens wurden von den englischen Klubs schon deshalb geschätzt, weil man dort oben besseren Fußball spielte. Die Schotten waren Pioniere des Flachpassspiels, das sich vom englischen Kick-and-rush unterschied und sich auch auf dem Kontinent durchsetzen sollte. Das schottische „passing game“ war die erste Form „wissenschaftlichen Fußballs“, und in England tätige Spieler und Trainer wurden bald „Scotch professors“ genannt. Fußball avancierte zur „Wissenschaft der Arbeiter“.

Obwohl die schottischen Legionäre die Qualität des englischen Spiels verbesserten, wurden sie nicht nur mit Begeisterung empfangen. So schrieb ein Kommentator: „Der kleine Strom (von Schotten, Anm. d. A.) ist zu einem mächtigen rauschenden Fluss angeschwollen, der das Land überflutet und dem englischen Fußball eine unkalkulierbare Verletzung zufügt.“ N. Lane Jackson, Gründer des legendären Amateurteams FC Corinthian (1882 bis 1939), behauptete, dass das lokale Interesse an solchen Teams fast vollständig der Vergangenheit angehöre. Als bei den Topklubs mehr und mehr Schotten spielten, auf Kosten der einheimischen Kräfte, fürchtete man auch um das Wohl der Nationalmannschaft. So hatte England seine erste Ausländerdiskussion bereits ein gutes Jahrhundert, bevor der Europäische Gerichtshof das Bosman-Urteil fällte.

Die Kicker aus Schottland waren die ersten und beinahe einzigen Legionäre im englischen Fußball, sie wurden bereits vor der Legalisierung des Professionalismus 1885 rekrutiert. Kurz danach berichtete die Scottish Football Association (SFA) von 58 Landsleuten, die südlich des Hadrianswalls als Profis kickten. Fünf Jahre später waren in England bereits 230 schottische Profis registriert. Angriffe gegen Fußballprofis waren deshalb häufig auch Angriffe gegen „Scotsmen“.

Häufig war das Angebot eines englischen Klubs mit der Vermittlung eines Jobs verbunden, den ein lokaler Industrieller zur Verfügung stellte. In Zeitungen erschienen Inserate, in denen Facharbeiter gesucht wurden, die auch über fußballerische Fähigkeiten verfügten.

Nach und nach nahm der Anteil schottischer Spieler ab, aber noch 1910 waren 168 der 870 Football-League-Akteure (also 19,3 %) schottischer Herkunft. Hingegen zählte man nur 19 Waliser und zehn Iren.

1925 bevölkerten 302 Schotten die nunmehr vier Divisionen der Football League, also 15,5 % aller Spieler. Die Zahl der Waliser und Iren war auf 90 bzw. 38 gestiegen. Ihren Höhepunkt erreichte die Präsenz der Schotten 1929 mit 362 Spielern. Die schottischen Legionäre konzentrierten sich übrigens im Nordwesten und Nordosten Englands: Regionen, die nicht nur in geografischer Nähe zu ihren Herkunftsgebieten lagen, sondern diesen auch in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ähnlich waren. Viele englische Profiklubs waren de facto „britisch“.

Der erste Kapitän des FC Liverpool war Andrew Hannah. Hannah trug die Binde von 1892 bis 1895. Auch seine ersten beiden Nachfolger, Jimmy Ross (1895–97) und John McCartney (1897–98), waren Schotten. Erst 1898 führte mit Harry Storer ein Engländer die „Reds“ aufs Feld. Bei den ersten sieben Meisterschaften waren Schotten Kapitäne: Alex Raisbeck 1901 und 1906, Donald McKinlay (andere Schreibweisen: Mackinlay, MacKinlay, Anm. d. A.) 1922 und 1923, Willie Fagan 1947 sowie Ron Yeats 1964 und 1966. Erst beim achten Titelgewinn 1973 nahm mit Tommy Smith ein Engländer die Trophäe in Empfang. Bis heute trugen 15 Spieler schottischer Herkunft 51 Jahre die Kapitänsbinde des FC Liverpool. Der letzte von ihnen war in der Saison 1990/91 Steve Nicol.

Weitere prominente Schotten im Trikot der „Reds“ waren Billy Liddell, der erste Nachkriegsstar des FC Liverpool, Graeme Souness, Kenny Dalglish und Alan Hansen. Auch Liverpools berühmtester Trainer war ein Schotte: Bill Shankly, der die Mannschaft von 1959 bis 1974, also 15 Jahre betreute.

In Folge des Bosman-Urteils vom 15. Dezember 1995 wurden die Ausländerbeschränkungen für Spieler aus EU-Staaten aufgehoben. Die Zahl der Ausländer im LFC-Kader nahm zu. Die Iren, Schotten und Waliser, die im englischen Fußball nicht als Ausländer galten, wohl aber bei europäischen Begegnungen, verloren ihre privilegierte Position und mussten nun deutlich stärker um Arbeitsplätze konkurrieren.

Als Liverpool 1989/90 Meister wurde, waren unter den 26 Spielern vier Schotten, vier Iren (davon ein Nordire) und ein Waliser. Schotten, Iren und Waliser stellten somit fast 35 Prozent des Kaders. 2018/19 befanden sich unter den 29 Spielen nur jeweils ein Ire, Schotte und Waliser – das waren 11,5 % des Kaders.

Schottische Kapitäne beim FC Liverpool

Andrew Hannah (1892–1895)

Jimmy Ross (1895–1897)

John McCartney (1897–1898)

Alex Raisbeck (1898–1909)

Donald McKinlay (1919–1920, 1921–1928)

James Jackson (1929–1930)

Thomas Bradshaw (1931–1934)

Matt Busby (1939–1940)

Willie Fagan (1945–1947)

Billy Liddell (1955–1958)

Ron Yeats (1961–1970)

Graeme Souness (1982–1984)

Alan Hansen (1985–1988, 1989–1990)

Steve Nicol (1990–1991)

Schottische Trainer beim FC Liverpool

Matt McQueen (1923–1928)

Bill Shankly (1959–1974)

Graeme Souness (1991–1994)

Kenny Dalglish (1985–1991, 2011–2012)

Bilanz der schottischen Trainer: 7 Meisterschaften, 5 FA-Cup-Siege, 1 UEFA-Cup-Sieg.

Durchmarsch ins Oberhaus

Mit der Saison 1892/93 führte die Football League eine zweite Spielklasse ein und teilte sich nun in First und Second Division. Zur Saison 1893/94 bewarb sich der LFC für das neue Unterhaus. Dort war durch den Rückzug des FC Accrington ein Platz frei geworden. Wenig später verließ auch der FC Bootle die Liga. Bootle liegt unmittelbar nördlich der heutigen Stadt Liverpool an der Mündung des Rivers Mersey. Anfang des 19. Jahrhunderts avancierte Bootle zum Badeort der Bürger Liverpools. 1868 erhielt man den Status eines eigenen Stadtbezirks. Bis Ende der 1890er war der FC Bootle, der aufgrund seiner Spielweise auch „Brutal Bootle“ genannt wurde, Evertons wichtigster Lokalrivale. Die Rivalität wurde auch dadurch befeuert, dass Everton bei der Gründung der Football League den Vorzug gegenüber Bootle erhalten hatte. Den größten Erfolg feierte der FC Bootle in der Saison 1889/90, als man das Viertelfinale des FA-Cups erreichte. Aber nun übernahm der neue LFC die Rolle des Everton-Rivalen.

Liverpools Antrag auf Aufnahme in die Second Division wurde positiv beschieden. Am 2. September 1893 bestritt der LFC sein erstes Spiel in der Football League, das er gegen Middlesbrough Ironopolis mit 2:0 gewann. Das erste League-Tor erzielte mit Malcolm McVean einer der Schotten, die McKenna nach der Klubgründung geholt hatte. Liverpool gewann 22 seiner 28 Spiele und wurde ungeschlagen Erster – mit 50 von 56 möglichen Punkten. Aufgestiegen war der Klub damit aber noch nicht. Der Meister der Second Division musste sich zunächst noch mit dem Tabellenletzten der First Division messen, auf Liverpool wartete also eine Begegnung mit Newton Heath, dem Vorläufer von Manchester United. Im Ewood Park, dem Stadion der Blackburn Rovers, schlug Liverpool die „Heathens“ mit 2:0.

Mittlerweile herrschte eine harte Rivalität zwischen den Städten Liverpool und Manchester. Auslöser war der 1894 eröffnete Manchester Ship Canal, der Manchester einen direkten Zugang zur irischen See eröffnete. Auf dem 58 Kilometer langen Kanal, der dem Verlauf der Flüsse Mersey und Irwell folgt, konnten nun die Ozeanriesen vom Mersey-Delta bis zu den Docks in Manchester und Salford fahren. So umging Manchester die hohen Gebühren der Liverpooler Hafenverwaltung. Logisch also, dass die Stadt Liverpool erbitterten Widerstand gegen das Bauwerk leistete und den notwendigen Parlamentsbeschluss um drei Jahre verzögerte. Letztendlich allerdings umsonst: Obwohl 64 Kilometer vom offenen Meer entfernt, stieg Manchester Anfang des 20. Jahrhunderts zum drittgrößten Hafen Großbritanniens auf.

Nach Liverpools Aufstieg in die First Division kam es am 13. Oktober 1894 erstmals zu einem Derby mit Everton. 44.000 Zuschauer pilgerten in den Goodison Park, darunter der Oberbürgermeister und weitere lokale Prominenz. Ein einwöchiges Trainingslager konnte nicht verhindern, dass Liverpool mit 0:4 unter die Räder kam. Das Rückspiel endete vor 30.000 Zuschauern an der Anfield Road immerhin 2:2. Am Ende der Saison 1884/95 war der LFC nach nur sieben Siegen in 30 Spielen und mit lediglich 22 Punkten auf dem Konto Letzter der Tabelle. Nach einer 0:1-Niederlage gegen den Champion der Second Division, den FC Bury, stieg Liverpool nach nur einer Spielzeit im Oberhaus wieder ab. Und das, obwohl der Gegner den Großteil des entscheidenden Spiels mit zehn Mann auskommen musste, nachdem der Torhüter vom Platz gestellt worden war.

Ein „Meistermacher“ kommt

McKenna versprach den schnellen Wiederaufstieg und rekrutierte für dieses Vorhaben weitere Schotten. So u. a. den kräftigen Mittelstürmer George Allan von Leith Athletic, der zwar nur 1,73 Meter groß war, aber dafür 86 Kilo auf die Waage brachte. Nur ein Jahr nach dem Abstieg war der LFC im Sommer 1896 tatsächlich zurück in der First Division. Auf dem Weg dorthin wurde der Ball 106-mal im gegnerischen Tor versenkt. Neuzugang Allan traf 25-mal, obwohl ihn der schottische Verband für die ersten acht Spiele gesperrt hatte. Denn Allan hatte nicht nur in Liverpool unterschrieben, sondern auch beim FC St. Bernard’s aus Edinburgh.

Nach dem Wiederaufstieg übergab McKenna die Mannschaft an Tom Watson, einen erfahrenen Manager und „Meistermacher“, womit der Klub seine Ambitionen unterstrich. Zuvor hatte der aus Newcastle stammende Watson den als „the team of all talents“ getauften FC Sunderland zur englischen Meisterschaft geführt (1891/92, 1892/93, 1894/95). Er ist bis heute der erfolgreichste Manager in der Geschichte dieses Klubs. Beim FC Liverpool wurde er mit einem Jahresgehalt von 300 Pfund zum bestbezahlten im englischen Fußball.

Unter dem neuen Manager wurde das Spiel der „Reds“ defensiver und kontrollierter, was nicht jedem Fan gefiel. 1896/97, die erste Saison unter seiner Regentschaft, schloss die Mannschaft als Fünfter ab und lag damit erstmals vor Everton. Erstmals kam nun auch ein Akteur des LFC in der englischen Nationalelf zum Einsatz: Harry Bradshaw, ein echter Liverpooler, war dabei, als England Irland am 20. Februar 1897 in Nottingham mit 6:0 besiegte. Es blieb Bradshaws einziges Länderspiel. Am ersten Weihnachtstag des Jahres 1899 starb er nur 26-jährig. Im Sommer 1898 hatte der Stürmer Liverpool verlassen und anschließend für Tottenham Hotspur und Thames Ironworks (Vorläufer von West Ham United) die Stiefel geschnürt. Während seiner Zeit bei Thames Ironwork wurde er im Spiel von einem Gegner mit einem Tritt so heftig am Kopf getroffen, dass er fortan unter Kopfschmerzen litt. Bei Kopfbällen dämpfte er die Schmerzen, indem er sich die Ohren zuhielt. Bis Bradshaw schließlich einer Gehirnblutung erlag.

Einige Wochen nach Bradshaws Debüt für England, am 3. April 1897, schaffte es ein weiterer Spieler der „Reds“ in den Rang eines Nationalspielers: George Allan lief an diesem Tag für Schottland gegen England auf. Die Schotten gewannen in London mit 2:1. Die Parallelen zwischen dem ersten englischen und dem ersten schottischen Nationalspieler des FC Liverpool sind frappierend: Beide bestritten nur ein Länderspiel, und beide starben jung – Allan am 17. Oktober 1899 im Alter von nur 24 Jahren an Tuberkulose. Nach einer Saison in Glasgow bei Celtic war er im Sommer 1898 nach Liverpool zurückgekehrt. Beim folgenden Meisterschaftsspiel trugen Liverpools Spieler ihm zu Ehren schwarze Armbänder. Allan schoss in 98 Spielen 55 Tore für den LFC.

Zur Saison 1898/99 verpflichtete Liverpool den schottischen Mittelfeldspieler Alexander Galloway „Alex“ Raisbeck, der zuvor für die Hibs aus Edinburgh und Stoke City gespielt hatte. Raisbeck, der großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, avancierte zum ersten Star in der Klubgeschichte. Eine weitere Neuerwerbung war der nur 1,65 Meter große und 57 Kilo schwere Rabbi Howell von Sheffield United. Als England Irland im April 1895 mit 9:0 schlug, war Howell der erste Rom gewesen, der das Trikot der Three Lions trug. In Liverpool geriet Howell wiederholt mit den strengen Kluboberen aneinander, die auf perfektes Benehmen – auch außerhalb des Spielfelds – größten Wert legten.

Dank der Verstärkungen flirtete der FC Liverpool 1898/99 erstmals mit einem nationalen Titel. Sogar das „Double“ aus Meisterschaft und Pokal schien möglich. In der First Division lieferte man sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Aston Villa. Aber am letzten Spieltag fegten die „Villans“ die „Reds“ mit 5:0 aus dem Villa Park und verwiesen Liverpool auf Platz zwei. Im Hinspiel hatte der LFC noch mit 3:0 die Oberhand behalten. Im FA-Cup erreichten die „Reds“ das Halbfinale, wo sie auf Sheffield United trafen. Um den Finalisten zu ermitteln, bedurfte es vier Begegnungen. Zunächst wurde in Bolton gespielt, wo die Partie mit einem 2:2-Remis endete. Auch die Wiederholung in Nottingham brachte keine Entscheidung. Erneut trennten sich die Teams unentschieden (4:4). Die dritte Auflage wurde im Fallowfield-Stadion von Manchester angepfiffen, das sich für diesen Anlass als viel zu klein erwies. 30.000 Zuschauer waren gekommen, die von den überfüllten Rängen immer wieder auf das Spielfeld strömten. Die erste Halbzeit dauerte 105 Minuten. Anschließend brach der Schiedsrichter die Partie ab. Liverpool führte zu diesem Zeitpunkt durch ein Tor von George Allan mit 1:0. Die vierte Begegnung in Derby gewann Sheffield mit 1:0. Das Tor des Tages fiel erst fünf Minuten vor dem Abpfiff.

Zwei Meisterschaften und ein „Kop“

In der Saison 1900/01 wurde der LFC erstmals Meister. Lange sah es nicht so aus, als würde man eine erfolgreiche Saison spielen. Im Februar 1901 gestaltete sich die Bilanz noch sehr bescheiden: 22 Spiele, zehn Siege, acht Niederlagen, vier Unentschieden. Doch ein fulminanter Endspurt katapultierte die „Reds“ noch an die Tabellenspitze. Die Mannschaftum Kapitän Alex Raisbeck gewann neun der verbliebenen zwölf Spiele, drei endeten unentschieden. Liverpools Topscorer war in dieser und den folgenden Spielzeiten Sam Raybould, der im Sommer 1900 vom örtlichen Klub New Brighton Tower gekommen war. Raybould traf in der Meistersaison 17-mal. 1902/03 war seine erfolgreichste Spielzeit, als er in der Liga 31 Tore schoss. Ein Rekord, der beim FC Liverpool erst 1931 von Gordon Hodgson gebrochen wurde.

Im April 1901 führte die Football League eine Gehaltsobergrenze ein. Das Gehalt des Profis durfte fortan wöchentlich vier Pfund nicht übersteigen. Der FC Liverpool gehörte zu den Vereinen, die ihren Spielern mehr gezahlt hatten, und sah sich deshalb zu einigen Umstellungen gezwungen. Damit der Klub seinen Spielern mehr als vier Pfund zahlen konnte, bekamen diese Arbeitsplätze im Klub und somit ein zusätzliches Gehalt. So wurde Kapitän Alex Raisbeck als Rechnungsprüfer angestellt.

Klubgründer John Houlding starb 1902 im südfranzösischen Cimiez (heute ein Stadtteil von Nizza) nach langer Krankheit. Sein Nachfolger als Klubvorsitzender wurde John McKenna, der von 1917 bis 1936 auch noch Präsident der Football League war. 1905 wurde der Besitz des Klubs umstrukturiert. Von den 3.000 LFC-Anteilsscheinen befanden sich 2.000 in den Händen der Familie Houlding. Der LFC hatte bei den Houldings Verbindlichkeiten von 10.000 Pfund, für einen Kredit über weitere 5.000 Pfund bürgte die Familie. Also bot sie an, dem Klub die 2.000 Anteilsscheine zu übergeben und die Verbindlichkeiten zu löschen, im Gegenzug sollte der Klub sie von der Bankbürgschaft befreien. Der Vorstand stimmte zu, und 1906 wurde eine neue Aktienausgabe gestartet: 15.000 Aktien konnten zum Stückpreis von einem Pfund erworben werden. Nach der Aktienausgabe wurde McKenna Vorsitzender des Klubs.

1904 stieg der LFC zum zweiten Mal aus der First Division ab, aber die Rückkehr ins Oberhaus dauerte erneut nur ein Jahr. In der Saison 1905/06 wurde der Wiederaufsteiger zum zweiten Mal Meister. Der LFC war damit der erste Klub, der direkt nacheinander die Meisterschaftin der Second und First Division gewann. Diese Spielzeit stand aber noch für ein weiteres Novum: Erstmals kamen Meister und Pokalsieger aus einer Stadt, denn Everton gewann durch einen 1:0-Sieg über Newcastle United den FA-Cup. Im Halbfinale hatte man den Nachbarn von der Anfield Road mit 2:0 besiegt.

Bis Ende der 1890er war Everton der Zuschauerkrösus im englischen Fußball gewesen, doch mit dem Gewinn der ersten Meisterschaft mobilisierte Liverpool ähnliche Massen wie der Lokalrivale – die Rufe nach größeren Tribünen wurden immer lauter. Und nach der Meisterschaft von 1906 wurde schließlich eine neue Tribüne auf der an die Walton Breck Road grenzende Seite des Spielfelds errichtet, das Fassungsvermögen der Hintertortribüne betrug zunächst 20.000.

Der LFC spielte erstmals am 1. September 1906 im ausgebauten Stadion – auf den Tag genau 14 Jahre nach seiner Premiere gegen Rotherham. 32.000 Zuschauer sahen die Partie gegen Stoke City. Im Vorfeld des Derbys gegen den FC Everton am 29. September taufte der Liverpooler Journalist Ernest Edwards den Haufen an der Walton Breck Road „Spion Kop“ – nach einem berühmten Hügel in Südafrika, der im Burenkrieg von strategischer Bedeutung war. Im Januar 1900 hatte ein Regiment aus Soldaten, die aus Lancashire stammten, viele von ihnen aus Liverpool, im Kampf um den Hügel schwere Verluste erlitten. Mehr als 300 Männer waren gestorben. Der erste Klub, der seine Hintertortribüne „Spion Kop“ nannte, war 1904 Arsenal gewesen, aber Liverpools „Kop“ erregte mehr Aufmerksamkeit und mobilisierte Nachahmer. 1928 wurde der „Kop“ überdacht und sogar auf 28.000 Plätze ausgebaut.

In den der Meisterschaft von 1906 folgenden Spielzeiten bis zum Ersten Weltkrieg war der LFC in der First Division nur Mittelmaß – die Saison 1909/10 ausgenommen, als der Klub hinter Aston Villa Zweiter wurde. Trotzdem erreichte man 1913/14 erstmals das FA-Cup-Finale. Gegner war Burnley, womit das Finale ein Lancashire-Derby war. Die Liga hatten Liverpool und Burnley nur auf den Plätzen 16 bzw. zwölf abgeschlossen, weshalb das Interesse außerhalb der Grafschaft Lancashire gering war. 1913 waren noch 121.913 Fans zum Finale Aston Villa gegen Sunderland gepilgert. Ein Jahr später kamen nur 72.778 Zuschauer in den Crystal Palace in London. Das Spiel ging trotzdem in die Annalen des FA-Cups ein, denn erstmals ließ sich auch der amtierende Monarch im Stadion blicken.

Lancashire war allerdings auf den Beinen. Insgesamt 17 Sonderzüge brachten die Fans in die Hauptstadt, zwölf von ihnen verließen Liverpool. Für die Fans der „Reds“ endete das Finale mit einer herben Enttäuschung, denn Burnley behielt mit 1:0 die Oberhand.

Der erste Skandal

Der erste große Skandal in der Geschichte der „Reds“ ereignete sich in der Saison 1914/15: Liverpool war Teil einer Spielmanipulation. Bereits 1911 und 1913, nach Spielen gegen Newcastle bzw. Chelsea, standen Kicker des LFC im Verdacht, Ergebnisse manipuliert zu haben, nachgewiesen werden konnte es ihnen jedoch nicht. Anders im Jahr 1915: Am Karfreitag 1915 musste Liverpool beim abstiegsbedrohten Manchester United antreten. Zunächst lief alles ganz normal ab, der Reporter des Manchester Chronicle hatte eine gute erste Halbzeit gesehen, aber nach Uniteds 2:0-Führung hätten plötzlich beide Mannschaften das Fußballspielen eingestellt: „Keines der beiden Teams unternahm mehr irgendwelche Anstrengungen. (…) Der Fußball in der Schlussphase war der armseligste, den man in diesem Stadion in dieser Saison gesehen hat.“ Liverpool verschoss einen Elfmeter, und als Mittelstürmer Fred Pagnam die Torlatte traf, ermahnten ihn seine Mitspieler zur Mäßigung. Am Ende blieb es beim 2:0-Erfolg für die „Red Devils“.

Buchmacher registrierten, dass auffällig viele Wetten und hohe Summen auf einen 2:0-Sieg für United abgeschlossen worden waren. Eine Wette, die allein schon aufgrund ihrer Form ungewöhnlich war, denn in der Regel setzten die Wetter schlicht auf Sieg, Niederlage oder Unentschieden. Die Buchmacher verweigerten deshalb die Auszahlung der Gewinne.

Die Football League startete eine Untersuchung, zumal Liverpool bereits in den Jahren zuvor der Spielmanipulation verdächtigt worden war. 1915 kam die Wahrheit ans Tageslicht: Bei den Befragungen sagte Fred Pagnam, der sich einem dreisten Komplott verweigert hatte, gegen die eigenen Teamkameraden aus. Spieler beider Teams hatten sich in einem Pub in Manchester getroffen, das Spielergebnis ausgehandelt und anschließend im ganzen Land Wetten darauf platziert. Ihr Anführer war der Liverpooler Linksaußen Jackie Sheldon, der 1911 noch zu Uniteds Meisterteam gehört hatte.

Gegen acht Spieler, je vier aus Liverpool (außer Sheldon noch Tom Fairfoul, Tom Miller, Bob Pursell) und Manchester, wurde eine lebenslange Sperre verhängt, die sogar den Besuch eines Fußballstadions einschloss. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Delinquenten allerdings begnadigt, da sie den „Dienst fürs Vaterland“ geleistet hatten. Nur Uniteds James West, der weiterhin seine Unschuld beteuerte, blieb bis 1945 gesperrt, zu diesem Zeitpunkt war er 59. Manchester United verurteilte die Spielmanipulation, obwohl der Klub am Ende deren einziger Nutznießer war. Unter normalen Umständen wäre die Partie gegen Liverpool wohl verloren gegangen und United sang- und klanglos in die Second Division abgestiegen.

Dass die Städte Liverpool und Manchester im Zentrum des ersten großen Wettskandals standen, war kein Zufall. Lancashire war nicht nur die Wiege des professionellen Fußballs, sondern auch der Fußballwette. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg existierte ein inoffizielles Wettsystem. 1921 begann sich die Fußballwette dann Schritt für Schritt als populärste Art der Sportwetten zu etablieren, und 1923 gründete John Moores mit Colin Askham (geboren als Colin Littlewood) und Bill Hughes (die drei hatten sich während ihrer Zeit als Boten im Postamt von Manchester kennengelernt) ein Unternehmen für Fußballwetten: „Littlewood Football Pool“. Das Trio eröffnete in Liverpools Church Street sein erstes kleines Büro. Das Unternehmen schuf in Liverpool Tausende von Arbeitsplätzen für weibliche Arbeitskräfte. Und die Fußballwetten führten dazu, dass sich nun auch Frauen dafür interessierten, wie es am Wochenende um die Chancen des FC Liverpool oder von Manchester United bestellt war. In den 1930ern kam eine Schätzung zu dem Ergebnis, dass sich 16-mal mehr Menschen an den Wetten beteiligen, als die Fußballstadien betreten würden. 1932 baute Moores mit seinen Gewinnen den Versandhandel Littlewoods Mail Order Store auf, 1937 eröffnete schließlich die erste Filiale der Littlewoods-Kaufhauskette. Die Moores stiegen zu einer der reichsten Familien Englands auf. 1960 übergab John Moores die Leitung seines Wettunternehmens an seinen Bruder Cecil, um Vorsitzender des FC Everton zu werden. John Moores, als junger Mann wie sein Vater Fan von Manchester United und regelmäßiger Besucher im Old Trafford, führte den Klub von Juni 1960 bis Juli 1965 und von August 1968 bis August 1973. Moores, nach dem eine der Liverpooler Universitäten benannt wurde, hatte aber auch beim FC Liverpool seine Finger im Spiel, denn er wollte zwei erfolgreiche Klubs in seiner Stadt. Doch dazu später in diesem Buch.

EINWURF

Liverpool und Walther Bensemann

von Bernd Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling

Bensemann, der beim Vorläufer des FC Bayern, der 1897 gegründeten Fußballabteilung des Münchener Männer-Turn-Vereins von 1879 (MTV 1879) mit von der Partie war, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin, Vater Berthold war Bankier. Der Sohn wuchs in einer weltoffenen, intellektuell wie kulturell anregenden Atmosphäre auf; seine Mutter soll Musikabende im heimischen Salon organisiert haben, und die verwandtschaftlichen Kontakte der Familie reichten bis nach Schottland. Walther Bensemann wurde im Alter von zehn Jahren auf eine englische Schule in Montreux geschickt, wo ihn die englischen Mitschüler mit dem Spiel infizierten. Am Genfer See entwickelte Bensemann eine Begeisterung für alles, was er für typisch englisch hielt: das Ideal des Fair Play, die vorurteilsfreie Offenheit eines Weltbürgers, die Selbstdisziplin und die Philanthropie des Gentleman, die Erziehung zum „sportsman“.

1887 gründete Bensemann gemeinsam mit englischen Schülern seinen ersten Verein, den Montreux Football Club, als dessen „Sekretär“ sich der 14-Jährige stolz bezeichnete. Zurück in Deutschland, gab sich der angehende Student anglophil. In Karlsruhe, wo er nun besonders intensiv für den Fußball wirkte, firmierte er ob seines sportlichen Outfits als „der Engländer in Narrentracht“. 1899 organisierte Bensemann – im heftigen Widerstreit mit den meisten der damaligen Regionalverbände – die „Urländerspiele“ gegen ein englisches Auswahlteam, nachdem er die Football Association zur ersten kontinentalen Tournee ihrer Geschichte überredet hatte. Zwei Jahre später ging er nach Großbritannien, wo er von 1910 oder 1911 bis 1914 an der Birkenhead School in Birkenhead unterrichtete. Birkenhead, Heimat des Profiklubs Tranmere Rovers, liegt am Ufer des Mersey gegenüber von Liverpool auf der Halbinsel Wirral. Von hier fahren die Fähren nach Belfast.

An der Birkenhead School unterrichtete Bensemann hauptsächlich Französisch und Sport. Offenbar sah er viel Rugby. Er fuhr mit seinen Klassen mehrfach nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz. 1919 schrieb Bensemann, er habe 70- bis 80-mal den Kanal überquert. Der Sportverkehr, der sich um die Jahrhundertwende zwischen England und Frankreich entwickelt hatte, trug nach Bensemanns Ansicht wesentlich zu einem Verständigungsabkommen zwischen den beiden Staaten bei. Bensemann schrieb 1910 von England aus für das DFB-Jahrbuch: „Die Entente Cordiale ist nicht so sehr das Werk König Edwards VII. gewesen als vielmehr die Folge von vielen Hundert internationalen Wettspielen, die Vorurteile beseitigt und achtungsvolles Einvernehmen begründet haben.“

1912 und 1913 habe seine oberste Klasse „den Preis des Präsidenten der französischen Republik für die besten Leistungen einer englischen Mittelschule in französischer Sprache und Literatur erhalten“. Ein 17-jähriger Schüler von ihm habe „für seine Grafschaft und Nordengland Fußball gespielt“. Bensemann war gut bekannt mit dem geschäftsführenden Direktor des in Birkenhead beheimateten Schiffsbauunternehmens Cammell, Laird & Company, dessen beiden Söhne zu seinen Schülern zählten. In der 1903 gegründeten Werft, die aus den Birkenhead Iron Works hervorging, lief 1920 mit der „Fullagar“ das weltweit erste vollständig geschweißte Seeschiff vom Stapel.

Über Bensemanns Tätigkeit in der Birkenhead School berichtet W.E. Woodhouse in seiner Abhandlung über die Geschichte dieser Lehranstalt (One in Heart. Reminiscences of Birkenhead School 1860–1960, Liverpool 1967). Offenbar hatte Bensemann in Birkenhead einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. „Es war in jenen Tagen, dass die Ankunft von Herrn Bensemann den Modern Studies eine völlig neue Bedeutung gab. Dieser man-mountain wurde über Nacht eine Berühmtheit. Er schien mithilfe von Magie zu arbeiten – nach allgemeiner Ansicht mithilfe von schwarzer Magie.“ (Gemeint ist: Er half seinen Schülern ein wenig illegal bei Prüfungen …) Bensemann sei dann plötzlich verschwunden und habe „eine Wolke von Gerüchten“ hinterlassen. „Deren harmlosestes war, dass das Adelphi habe schließen müssen. Seine verschwenderischen Dinner-Partys verursachten im Nachhinein wilde Spekulationen.“ Der Anglist und Bensemann-Forscher Heiner Gillmeister schrieb über das Adelphi: „Das Adelphi, ein Hotel in der Liverpooler Innenstadt, war 1914 berühmt für seine französische Küche. Es war das weithin bekannte Stammlokal begüterter Amerikaner, die dort während des ‚Grand National‘ in Aintree abstiegen.“ Der Hafen von Liverpool war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiger An- und Abfahrtsort für Transatlantik-Reisende. Das Adelphi war bei reichen Passagieren sehr beliebt. Hier verbrachte man die letzte Nacht, bevor man nach Nordamerika aufbrach. Zu den Gästen des Hotels gehörten berühmte Politiker und Staatsmänner wie Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill. Auch Künstler nächtigten im Adelphi – so Frank Sinatra, Stan Laurel und Oliver Hardy, Judy Garland, Bob Dylan und Roy Rogers.

„The Britannia Adelphi“ überlebte Bensemanns Abgang. Es existiert auch heute noch am Ranelagh Place im Herzen Liverpools und galt lange Zeit als das größte, traditionsreichste und vornehmste Hotel der Stadt. Auch der FC Liverpool feierte hier wiederholt. Heute macht es einen eher ranzigen und abgewohnten Eindruck. Bei booking.com reicht es nur zu 6,5 von zehn möglichen Punkten. Hingegen zählt die Birkenhead School noch heute zu den besseren Adressen unter den englischen Privatschulen.

Zu Beginn der Sommerferien, am 28. Juni 1914, reiste Bensemann nach Deutschland. Am gleichen Tag kam es zum Attentat in Sarajevo, und der Weltkrieg begann. Nach seiner Abreise erschien in Birkenhead ein Vertreter der Geheimpolizei von Cheshire, um zu überprüfen, ob es sich bei Bensemann eventuell um einen deutschen Spion gehandelt habe. Der Schuldirektor erklärte ihm, dass man wohl kaum Kurzsichtige mit solchen Missionen beauftrage.

Bensemann hätte sich möglicherweise dauerhaft in England niedergelassen, wäre nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen. Nach dem Krieg gründete er in Konstanz jene heute noch existierende Fußballzeitung, der er zum Entsetzen seiner Mitstreiter einen bewusst englisch klingenden Namen verpasste: den Kicker. Bensemann sah sich durch den Ersten Weltkrieg in seiner internationalistischen und pazifistischen Idee vom Sport bestätigt. Den Krieg habe er „doppelt empfunden“. Es seien „Jahre der Trauer“ gewesen, „um meine eigenen Landsleute, deren Pyrrhussieg mir das Ende nicht verschleiern konnte; Jahre der Trauer um liebe Kollegen, liebe Schüler aus meiner (…) Tätigkeit in England.“ Engstirniges Nationaldenken war dem polyglotten Fußballpionier nun mehr denn je zuwider: „Auf den Geburtsort des Menschen kommt es so wenig an wie auf den Punkt, von wo er in den Hades fährt.“ Seinen Kicker betrachtete Bensemann als „Symbol der Völker-Verständigung durch den Sport“. 1921 schrieb der unermüdliche Optimist: „Wenn man die Unmenge der internationalen Spiele betrachtet, möchte man fast doch daran glauben, dass wir endlich wieder in unserem zerfleischten Europa einen wirklichen Frieden haben; nicht mehr den, der nur ein verdeckter Krieg ist, sondern einen wirklichen, wahrhaftigen Frieden. Unser Fußballsport hat den Frieden gemacht – das ist einmal gewiss.“

Richard Kirn war zu Bensemanns Zeiten ein freier Mitarbeiter des Kicker und avancierte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der bekanntesten deutschen Sportjournalisten. Im Juli 1930 schrieb der junge Journalist anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Kicker: „Der Kicker entstand in schlimmer Zeit. Ist die jetzige besser? Man darf es bezweifeln. Wesentlich scheint mir: Die geistige Haltung des Kicker, und das will heißen: Walther Bensemanns, ist immer die gleiche geblieben. Wo andere in trüber Zeit auf ein armselig-schlappmäuliges Nationalistentum spekulierten, waltete über dieser Fußballwochenzeitschrift der wohltuende Geist eines anständigen Menschentums, eines Humanismus, der auch durch Enttäuschungen nicht zu Grunde ging, eines hoffnungsvollen ‚guten Europäertums‘. Darum ist es, dass wir diese Zeitung lieben.“

Das war zeitlos passend formuliert. Wie zeitlos passend, beweisen aktuelle Entwicklungen in Europa: Nationalismus und Rassismus sind wieder en vogue, auch im „Mutterland“ von Demokratie und Fußball, wie die Pro-Brexit-Kampagne dokumentiert, deren Protagonisten einen britischen Alleingang propagieren und von einer zweiten Auflage des Empires träumen – ungeachtet dessen, dass die britische Jugend europäisch denkt und auch Schotten, Nordiren sowie Liverpudlians dabei nicht mitmachen wollen. Im Zuge der Pro-Brexit-Kampagne haben rassistische Attacken gegen Migranten stark zugenommen.

Liverpool-Coach Jürgen Klopp ist ein entschiedener Gegner des Brexits und ein überzeugter Europäer. „Ich bin 51 Jahre alt, also habe ich noch nie einen Krieg erlebt. Wir sind in unserer Generation wirklich gesegnet, aber die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass Europa, solange starke Partner zusammen sind, ein viel sichererer Ort ist. Mir gefällt es nicht, dass es wieder geteilt wird. Wir leben unter wunderbaren Umständen. Ja, wir haben Probleme. Aber die sind lösbar. Ich hoffe immer noch, dass jemand am Ende seinen gesunden Menschenverstand einsetzt.“ Der Brexit habe seiner Meinung nach „massive Auswirkungen auf die Jugendlichen und die Städte“. Er habe „kein Verständnis für Politiker, die Lösungen anbieten sollen und stattdessen Stimmungen und Ängste verstärken. Viele Menschen, die für den Austritt gestimmt haben, sind im fortgeschrittenen Alter. Das Referendum war für mich ein Missverständnis von Demokratie. Da ging es um eine existenzielle Zukunftsfrage.“

PS: Walther Bensemann emigrierte 1933 nach Montreux in die Schweiz, wo am 12. November 1934 im Hause des Freundes und späteren IOC-Mitglieds Albert Mayer starb.

„Lish“ und „Dixie“

In den Spielzeiten 1921/22 und 1922/23 gewann der FC Liverpool die Meistertitel drei und vier. Für den im Mai 1915 im Alter von 56 Jahren verstorbenen Erfolgscoach Tom Watson hatte nach dem Krieg zunächst David Ashworth die Mannschaft übernommen. Der vierte Meistertitel wurde aber unter dem ehemaligen Liverpool-Spieler Matt McQueen errungen, der Ashworth Anfang 1923 nach dessen Wechsel zu Oldham Athletic abgelöst hatte.

Star des Teams war ein Torwart aus Belfast: Elisha „Lish“ Scott. Der irische Protestant hütete 1913 bis 1915 sowie 1919 bis 1934 das Tor der „Reds“. Die Jahre dazwischen, 1916 bis 1919, verbrachte er bei Belfast Celtic, dem Fußballklub des katholischen/irisch-nationalistischen Westens der nordirischen Industriemetropole. Ein Journalist attestierte ihm „das Auge eines Adlers und die Bewegungen eines Panthers“. Dabei war Scott mit einer Körpergröße von nur 1,75 Metern alles andere als ein Hüne. Scott war das erste Idol in der Geschichte des Kops – vielleicht auch, weil viele der Arbeiter auf der Stehtribüne irische Wurzeln hatten. Seine Duelle mit Evertons Star William Ralph „Dixie“ Dean, einem der berühmtesten Mittelstürmer der englischen Fußballgeschichte, waren ein Highlight in jedem Derby. „Dixie“ wurde Dean wegen seiner dunklen Gesichtsfarbe und seinem gekräuselten Haar genannt, weshalb er mit Afroamerikanern aus den Südstaaten der USA verglichen wurde. Er selber mochte den Spitznamen nicht und wollte „Bill“ genannt werden.

Für Dean, der in 433 Spielen für Everton 383-mal traf, war Scott noch viele Jahre später der „größte Torwart, den ich jemals gesehen habe. Auch wenn ich Frank Swift, Bert Trautmann oder Gordon Banks im Tor haben könnte – ich würde Elisha nehmen.“

Dean schickte seinem Kontrahenten vor jedem Aufeinandertreffen eine Packung Aspirin und eine schriftliche Warnung. Die beiden Idole des Liverpooler Fußballs maßen sich in acht Derbys, in denen Dean Scott neunmal überwinden konnte. Am 19. September 1931 gelang ihm innerhalb von neun Minuten ein Hattrick in Anfield. Anschließend verbeugte er sich dreimal vor dem „Kop“, während Schmähungen auf ihn niederprasselten. Nach den Derbys suchten Scott und Dean gemeinsam die Lisbon Bar in der Victoria Street auf. Dean starb am 1. März 1980 während eines Derbys im Goodison Park an einem Herzinfarkt.

Scott war auch irischer Nationaltorhüter und hütete 31-mal den Kasten der Auswahl der Irish Football Association (IFA), für die „Reds“ bestritt er insgesamt 468 Pflichtspiele. Erstmalig stand er am 1. Januar 1913 zwischen deren Pfosten, letztmals am 21. Februar 1934 gegen Chelsea. Da war er schon 40. Bis heute hat kein Liverpool-Akteur länger für den Klub gespielt als Scott. Als 1939 unter den Liverpool-Fans eine Umfrage nach dem größten Spieler aller Zeiten durchgeführt wurde, nannten die meisten von ihnen Elisha Scott.

Einige Monate nach seinem letzten Auftritt für die „Reds“ war Scott zurück in Belfast, wo er noch zwei Jahre für Belfast Celtic spielte, das letzte als Spielertrainer. Mit Scott als Trainer begann die erfolgreichste Zeit des Klubs, er führte ihn von 1935 bis 1949 zu sechs Meistertiteln (davon fünf in Folge) und sechs Pokalsiegen. Während seiner Amtszeit gewann Belfast Celtic insgesamt 31 bedeutende Trophäen. Was Jock Stein später für den großen CFC aus Glasgow wurde, war Scott für Belfast Celtic – in beiden Fällen war der erfolgreichste und verehrteste Trainer eines „katholischen“ Klubs ein Protestant.

Elisha Scott, der am 16. Mai 1959 in Belfast starb, liegt auf dem City Cemetery in Belfast begraben, einem vornehmlich protestantischen Friedhof an der katholischen/republikanischen Falls Road. (Der obere Teil des Friedhofs ist katholisch und wird durch eine unterirdische Mauer vom protestantischen Teil getrennt.) Nach dem Ausbruch der nordirischen „Troubles“ Ende der 1960er blieben Protestanten dem Friedhof fern, der daraufhin vergammelte und auch immer wieder verwüstet wurde. Dies änderte sich nach dem Karfreitagsabkommen von 1998. Zu den seither „renovierten“ Gräbern gehört auch das von Elisha Scott.

Hilfe aus Südafrika

Scotts Nachfolger im Tor war der Südafrikaner Arthur Riley. 1924 war eine ausschließlich aus Weißen bestehende südafrikanische Auswahl unterwegs auf Tournee durch Europa. Die erste Partie fand am 30. August in Dublin statt, anschließend bestritt man einige Begegnungen in London. Am 1. Oktober gaben die südafrikanischen Amateure ihre Visitenkarte in Anfield ab und schlugen ein LFC-Team, bei dem einige Spieler aus der Reserve mitwirkten, mit 5:2. Die Liverpooler Bosse und die Presse waren von zwei Spielern besonders beeindruckt: Keeper Arthur Riley und Stürmer Gordon Hodgson. Nach dem Stopp an der Anfield Road spielten die Südafrikaner noch in Wales, Schottland, den Niederlanden und in Belgien. Vor der Rückreise in die Heimat schaute man ein weiteres Mal in Liverpool vorbei, wo am 5. Dezember 1924 auch noch der FC Everton mit 3:1 besiegt wurde. Es war der 15. Sieg im 25. Spiel der dreimonatigen Tournee.

Zur Saison 1925/26 wurden Riley und Hodgson vom FC Liverpool verpflichtet. Riley lieferte sich nun mit Scott einen Kampf um die Nummer eins. Dabei hatte der Südafrikaner zeitweise die Nase vorn – ansonsten wäre Scott wohl auf über 500 Pflichtspiele für die „Reds“ gekommen. Riley war größer als Scott, sehr fangsicher und antizipierte exzellent. Als er seine Karriere nach der Saison 1938/39 und im Alter von gut 35 Jahren beendete, hatte er 338 Pflichtspiele für die „Reds“ absolviert.

Auch Gordon Hodgson schlug in Liverpool voll ein. Der Sohn englischer Eltern aus Johannesburg war Liverpools Antwort auf Evertons „Dixie“ Dean und avancierte zu einem der bedeutendsten LFC-Akteure der Zwischenkriegszeit. In der Saison 1930/31 erzielte Hodgson 36 Tore und brach damit den Rekord von Sam Raybould aus der Saison 1902/03. Hodgsons Rekord wiederum wurde erst 1960/61 gebrochen, als mit Roger Hunt ein Liverpool-Spieler noch häufiger traf. Die 17 Dreierpacks von Hodgson im Trikot der „Reds“ hingegen sind bis heute unerreicht. In sieben Spielzeiten war er Liverpools erfolgreichster Torschütze. Er absolvierte in allen Wettbewerben 377 Spiele für den Klub, in denen er 241 Tore erzielte.

Bevor Hodgson in Liverpool anheuerte, hatte er zwei Länderspiele für Südafrika bestritten. Da seine Eltern aus England stammten, war er auch für die englische Nationalelf spielberechtigt, für die er zwischen 1930 und 1934 dreimal auflief und ein Tor erzielte.

Fußball allein reichte Hodgson jedoch nicht: Neben seinem Job als Torjäger des FC Liverpool spielte er auch noch für die Grafschaft Lancashire First Class Cricket und kam hier auf 56 Spiele. Eine weitere Leidenschaft Hodgsons war Baseball. Im Januar 1936 wurde der nun 31-Jährige an Aston Villa verkauft, konnte Villas Abstieg aber nicht verhindern. Hodgson blieb der First Division aber erhalten, denn zur Saison 1937/38 verpflichtete ihn Leeds United. Beim Yorkshire-Klub war er in den Spielzeiten 1937/38 und 1938/39 mit insgesamt 53 Toren in 85 Pflichtspielen deren Top-Torjäger.

Riley und Hodgson blieben nicht die einzigen südafrikanischen Importe der „Reds“: In der Saison 1933/34 standen mindestens sechs Südafrikaner im Kader, darunter die im Sommer 1933 verpflichteten Flügelstürmer Lance Carr und Berry Nieuwenhuys.

Im Schatten von Everton und Arsenal

Mit Beginn der Great Depression 1929 rutschten 30 % der Liverpooler unter die Armutsgrenze, ca. 14 % lebten nur knapp darüber. In den Docks dominierte die Gelegenheitsarbeit. Jeden Morgen versammelten sich 60.000 Menschen an den 239 Stands – in der Hoffnung, Arbeit zu bekommen. Während der 1930er Jahre betrug die Arbeitslosigkeit in Liverpool über 18 % und war damit doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt.

Dies hatte Auswirkungen auf den Zuschauerzuspruch. In der Saison 1927/28 konnte Liverpool noch knapp 30.000 bei jedem Heimspiel begrüßen, obwohl die Spielzeit sportlich gesehen kein Erfolg war und man auf dem 16. Platz endete. Zu Meister Everton kamen im Schnitt 37.461 in den Goodison Park. 1930/31 sank Liverpools Zuspruch auf 26.000. Einen ähnlichen Zuschauerschnitt verzeichnete auch Everton, das in dieser Saison zum ersten Mal nur zweitklassig war, aber nach nur einem Jahr in die First Division zurückkehrte. (Der zweite – und bis heute letzte – Abstieg ereignete sich 1951. 1954 wurde Everton wieder erstklassig.) 1931/32 kamen durchschnittlich nur noch 22.742 Zuschauer zum FC Liverpool, was der niedrigste Wert seit dem Ersten Weltkrieg war. Everton wurde in dieser Spielzeit zum vierten Mal Meister und mobilisierte 35.451.

Nach der vierten Meisterschaft von 1923 griffder FC Liverpool bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nur noch zweimal in den Titelkampf ein: 1924/25 wurde man Vierter und 1928/29 Fünfter. 1933/34, 1935/36 und 1936/37 kämpfte man gegen den Abstieg. Die durchschnittliche Platzierung für die 16 Spielzeiten 1923/24 bis 1938/39: Platz elf. Ein Grund dafür war, dass die „Reds“ mit der taktischen Modernisierung des Spiels nicht mithalten konnten. Diese wurde vom FC Arsenal mit seinem visionären Manager Herbert Chapman angetrieben.

Im Juni 1925 war die Abseitsregel neu formuliert worden. Bis dahin mussten sich zwischen dem angreifenden Spieler und dem Tor mindestens noch drei gegnerische Abwehrspieler aufhalten, was normalerweise der Torwart und die beiden Verteidiger waren. Hierdurch erhielt das Spiel zwar mehr Ordnung, aber Tore wurden Mangelware. Die neue Abseitsregel sah nun nur noch den Torwart und einen Abwehrspieler vor. Die Folge war eine wahre Torflut. In der Saison 1924/25 wurde Huddersfield nach 42 Spielen mit einem Torverhältnis von 69:28 Meister. Ein Jahr später verteidigte die Mannschaft den Titel, obwohl man 60 Gegentreffer kassiert hatte. Liverpool wurde in dieser Spielzeit mit 63 Gegentoren Siebter – gut doppelt so vielen wie in der Meistersaison 1922/23.

Um die Torflut zu stoppen, entwickelte Chapman das sogenannte W-M-System. Der kühle Stratege schickte die beiden Innenstürmer ins Mittelfeld, wo sie die Verbindung zwischen Abwehr und Angriff herstellten. Zusammen mit den Außenläufern bildeten sie ein Viereck. Auch der Mittelläufer, bis dahin quasi ein zusätzlicher Stürmer, wurde zurückbeordert und ergänzte nun die Abwehr durch einen „Stopper“. So entstand eine Formation, die aussah wie ein W, auf das ein M gesetzt worden war. Chapmans W-M-System war im Vergleich zur bis dahin üblichen Spielweise stark deckungsorientiert. Sein Erfinder: „Wenn es uns gelingt, ein Tor zu verhindern, haben wir einen Punkt gewonnen. Schießen wir aber zudem noch ein Tor, dann haben wir beide Punkte.“ Taktisch war Chapmans Arsenal so überlegen, dass es häufig auch dann gewann, wenn es schlecht gespielt hatte.

Während in England viele Kritiker Chapmans W-M-System als „zu negativ“ brandmarkten, hatte der Arsenal-Stil auf dem Kontinent bald zahlreiche enthusiastische Nachahmer und prägte das kontinentaleuropäische Spiel für Jahrzehnte. Deutschland wurde mit dem System 1954 Weltmeister.

Am 17. Spieltag der Saison 1931/32 unterlagen die „Reds“ den „Gunners“ in deren Stadion Highbury mit 0:6. Am dritten Spieltag der Saison 1934/35 kam es für den FC Liverpool noch etwas härter: Arsenal siegte klar und deutlich mit 8:1.

Chapmans Politik war jedoch nicht nur in taktischer Hinsicht revolutionär. Von nun an wurde die Taktik nicht mehr vom Mannschaftskapitän vorgegeben, sondern vom Manager, was diesem eine neue Machtstellung gab. Das Spiel wurde durch das W-M-System intellektueller, komplizierter und arbeitsteiliger. Jeder Akteur hatte eine fest umrissene Aufgabe zu verrichten. Die Mannschaft wurde nun nicht mehr von den Vorstandsherren aufgestellt, sondern allein vom Manager. Mit taktischen Fragen waren die Klubbosse überfordert. Und je mehr die Taktik eine Rolle spielte, desto weniger konnten sie mitreden. Chapman erklärte die Umkleidekabine zur „verbotenen Zone“ für die Funktionäre. Nur der Manager, sein Coach, der Zeugwart und die elf nominierten Spieler hatten hier Zutritt. Selbst der Klubboss musste bei Chapman um Erlaubnis bitten.

Nicht nur Arsenal, auch Everton war in den 1930ern deutlich erfolgreicher als der FC Liverpool. In den neun Spielzeiten 1930/31 bis 1938/39 hieß der Meister fünfmal Arsenal und zweimal Everton. Beide gewannen außerdem je einmal den Pokal, Everton in der Saison 1932/33, Arsenal 1935/36.

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 wurde die Football League suspendiert. 1938/39 war die letzte vollständig gespielte Saison. Everton wurde Meister, Liverpool Elfter. In den Kriegsjahren wurden nur regionale Wettbewerbe ausgetragen. Der LFC spielte in der Football League North, wo er 1942/43 Meister wurde.

Die Stadt Liverpool sah sich in den Jahren 1940 und 1941 wiederholt heftigen Angriffen der deutschen Luftwaffe ausgesetzt. Außerhalb der Hauptstadt London war Liverpool das am schwersten bombardierte Gebiet des Landes. 2.315 Bomben gingen auf die Stadt nieder, hinzu kamen 119 Landminen und zahllose Brandbomben. Fast 4.000 Liverpooler wurden bei den Angriffen getötet, 3.500 schwer verletzt und 70.000 durch die Zerstörung ihrer Häuser obdachlos. Die Stadt besaß neben dem benachbarten Birkenhead den größten Hafen an der Westküste und war für die britischen Kriegsanstrengungen von erheblicher Bedeutung. Fast 1.300 Schiffkonvois legten hier an, einige von ihnen bestanden aus über 60 Schiffen. Doch der Hafen stellte nicht nur Ankerplätze für die Kriegsschiffe bereit. Über Liverpool wurden auch über 90 % des gesamten Kriegsmaterials abgewickelt, das aus dem Ausland nach Großbritannien gebracht wurde. Liverpool beherbergte das Kontrollzentrum für die Schlacht im Atlantik und war das östliche Ende einer transatlantischen Versorgungskette aus Nordamerika, ohne die Großbritannien den Krieg nicht hätte führen können.

EINWURF

Das Wappen des FC Liverpool

von Hardy Grüne

Die Geschichte des Liverpooler Stadtwappens ist lang und wechselvoll. Ursprünglich stand ein Adler im Zentrum, der zurückging auf den Evangelisten Johannes. Erst im Laufe der Jahrzehnte veränderte sich das Wappentier im 13. Jahrhundert zum „Liverbird“, einer Art Kormoran, der einen Zweig Seetang im Schnabel hat und eingerahmt ist vom römischen Meeresgott Neptun bzw. dessen Sohn und Herold, dem griechischen Wassergott Triton.

Genau damit begann 1892 auch die Wappengeschichte des Liverpool FC, der sich zunächst einfach des Stadtwappens bediente und es mit seinem Namen versah. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte der Liverbird dann auch auf die Trikots der Rot-Weißen, die sich 1947 zudem ein modifiziertes Emblem gaben. Zwar stellte der Vogel noch immer eine zentrale Figur dar, Neptun und Triton aber waren verschwunden bzw. durch zwei Fußbälle ersetzt worden. Auf dem Jersey trug man unterdessen einen Liverbird auf weißem Grund mit dem Kürzel „L.F.C.“ in einer Ellipse. Später standen Vogel und Buchstaben auch mal frei auf der Spielkluft.

1970 erfolgte der Wechsel zu jenem Wappen, mit dem die „Reds“ von der Anfield Road in ganz Europa bekannt wurden: ein Schildwappen mit dem Liverbird als zentralem Element und zwei Banderolen mit dem kompletten Vereinsnamen. Dabei blieb es bis ins Jahr 1992, als anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Klubslogan „You’ll never walk alone“ sowie das charakteristische Stadion-Eingangstor „Shankly Gate“ in das Emblem aufgenommen wurden. Der Liverbird wurde deutlich kleiner, zudem rückte der Vereinsname ins Wappenschild.

Nach Abschluss des Jubiläumsjahres kamen zwei Flammen zur Erinnerung an die Opfer der Stadionkatastrophe von Hillsborough hinzu, und 1999 wurden das Eingangstor sowie die Banderole mit dem Gründungsjahr schließlich in Grün gesetzt. Auf den Trikots trägt man unterdessen zumeist schlicht den Liverbird mit dem Kürzel „L.F.C.“.

2008 versuchte der Klub, das Logo mit dem Liverbird rechtlich schützen zu lassen, stieß damit aber auf Protest seitens der Stadt, die meinte: „Der Liverbird gehört allen Einwohnern Liverpools und nicht nur einer Firma oder Organisation.“ Erst im September 2010 kam es zur Einigung; seitdem sind Wappen sowie Spielertrikotemblem rechtlich geschützt.


Stadtwappen als Klubwappen: der Liverbird, bewacht von Neptun (links) und Triton (rechts)


1947: Nur der Liverbird bleibt als historischer Bestandteil


Trikotwappen: Liverbird mit Kürzel „L.F.C.“


1970: Schildwappen


Zum Jubiläum 1992 kamen das „Shankly Gate“ und der Schriftzug „You’ll never walk alone“ hinzu


Seit 1999 das offizielle Klubemblem


Es wird aber auch der Liverbird mit dem Kürzel verwendet

EINWURF

„Rote“ gegen „Blaue“ – Protestanten gegen Katholiken?

Die Städte Liverpool und Glasgow haben gemeinsam, dass sie im 19. Jahrhundert in einem sehr starken Maße von irischen Einwanderern heimgesucht wurden. Viele von ihnen waren katholischen Glaubens. Aber, und dies unterscheidet die beiden Städte von den meisten anderen englischen Städten mit irischer Einwanderung: Hier ließen sich auch Protestanten aus der irischen Provinz Ulster nieder. (Sechs der neun Grafschaften Ulsters gehören seit der irischen Teilung zu Nordirland.) Der in Ulster tobende sektiererische Konflikt wurde nach Liverpool und Glasgow exportiert.

In Liverpool und Glasgow wurde der Katholizismus zu einem „irischen Phänomen“. Um 1890 war Liverpool die größte römisch-katholische Diözese in England, hier konzentrierte sich fast ein Fünftel der katholischen Bevölkerung des Landes.

Katholiken und Protestanten wohnten und arbeiteten häufig getrennt. Irischstämmige katholische Arbeiter lebten in Liverpool vorwiegend südlich der Scotland Road, die Viertel der protestantischen Arbeiter lagen im Norden und Nordosten der Stadt, u. a. in der Gegend um die beiden Stadien, die nur wenige Hundert Meter Luft-linie trennen. Die katholischen Iren arbeiteten in den Süd-Docks, die protestantischen Engländer und Nordiren in den Nord-Docks.

Auch in Liverpool tobten im 19. Jahrhundert gewalttätige Ausschreitungen zwischen Katholiken und Protestanten, sogar früher und schwerer als in Glasgow. Die Stadt firmierte als „Englands Belfast“ – was auch daran lag, dass die Zahl der irisch-katholischen wie der irisch-protestantischen Einwanderer in Liverpool noch größer und ihre Anwesenheit damit noch spürbarer war als in Glasgow. Außerdem befand sich die schottische Industrie zum Zeitpunkt der Einwanderungswellen auf dem Höhepunkt ihrer Expansion und war deshalb besser als Liverpool in der Lage, billige und ungelernte Arbeitskräfte zu integrieren. Liverpools letzte schwere sektiererische Unruhen datieren aus dem Jahr 1909. Schauplatz der Kämpfe war die Gegend um die Netherfields Road, wo katholische und protestantische Gebiete aneinandergrenzten. Der Fußball spielte bei diesen keine Rolle.

Die „konfessionelle“ Spaltung manifestierte sich auch im Wahlverhalten. Anders als Manchester war Liverpool lange Zeit eine Tory-Stadt, dank der Unterstützung, die die Konservativen durch große Teile der protestantischen Arbeiterschaft erfuhren. Bis in die 1950er Jahre hinein wählten solide protestantische Arbeiterbezirke wie St Domingo, Kirkdale, Netherfield oder Breckfield konservative Kandidaten. Katholische Arbeiter wählten später die Labour Party, die in Liverpool bis in die 1950er hinein eine konfessionelle Partei war. Ein Problem Labours war das Fehlen eines Fabrikproletariats, das in anderen Städten und Regionen den Kern der Labour-Wählerschaft stellte. Erst 1955 konnte Labour in der Arbeiterstadt Liverpool die konservative Mehrheit brechen. Aber der Stimmenanteil der Tories betrug da immerhin noch 49,1 Prozent. In den 1950ern und 1960ern führten die Sanierung der Slums und der Bau neuer Wohnviertel am Rande der Stadt zur Auflösung des konfessionell getrennten Lebens.

Anders als in Glasgow entstand in Liverpool kein mit Celtic vergleichbarer „irisch-katholischer“ Fußballklub. In den 1890ern existierten zwar mindestens neun irische Fußballklubs in der Stadt, die Celtic, Celtic Rovers, Liverpool Celtic, Liverpool Hibernian oder 5th Irish Club hießen. Aber Ende desselben Jahrzehnts gab es davon schon keinen mehr. Liverpools katholische Hierarchie begrüßte die Neubürger als Katholiken, aber nicht als Iren. Um im anglikanischen England als Katholik respektiert zu werden, versuchte man, den Neubürgern ihre irische Identität auszutreiben und sie zu loyalen britischen Bürgern zu erziehen. In Liverpool war die „Denationalisierung“ der irisch-katholischen Einwanderer erfolgreicher als in Glasgow. Dazu trug auch bei, dass nur 90 von 391 katholischen Priestern aus Irland kamen. Obwohl in Liverpool die demografischen Voraussetzungen für einen mächtigen „irisch-katholischen“ Klub à la Celtic sogar besser waren als in der schottischen Industriemetropole, kam es hier zu keiner vergleichbaren Initiative. Liverpools irisch-nationalistische Politiker zeigten wenig Interesse an einer „irisch-katholischen Alternative“ zum FC Liverpool und FC Everton. Stattdessen förderte man die Gaelic Games. Aber die überwiegende Mehrheit der Einwanderer zog den Fußball vor.

So blieb Liverpool ein „Fußball-Krieg“ wie in Glasgow erspart. In der Stadt am Mersey war Fußball immer schon wichtiger als Religion und Politik. Anders als in Glasgow wurde der Sport hier nicht zur Bühne einer religiösen und ethnisch-kulturellen Rivalität, im Gegenteil: Der Fußball trug zu ihrem Abbau bei. In Glasgow wird man kaum Familien finden, in denen es sowohl Celtic- wie Rangers-Fans gibt. Katholiken, die für die Rangers sind, existieren so gut wie gar nicht. Protestanten, die es mit Celtic halten, schon eher, aber auch ihre Zahl ist sehr klein. In der Regel handelt es sich dabei um liberale oder politisch linksorientierte Protestanten. In Liverpool ist das anders. Michael Owen, der beim FC Liverpool groß wurde und für diesen von 1991 bis 2004 spielte, war als Kind ein Fan des FC Everton. Sein Vater war ein- oder zweimal für Everton aufgelaufen. Dem Magazin 11 Freunde erzählte Owen: „Als ich klein war, musste ich mir einen Klub aussuchen. Meine beiden älteren Brüder hielten zu Everton, weil es der größte Verein war, für den unser Vater gespielt hatte. Also wurde ich auch Everton-Fan.“ Der Vater sei allerdings als Kind ein Fan der „Reds“ gewesen. Und Michael Owen ist mit dieser Einstellung kein Einzelfall. Auch andere LFC-Stars waren zunächst Evertonians – so u. a. Ian Rush, Robbie Fowler, Steve McManaman oder Jamie Carragher. Owen: „Die Spieler, die zu meiner Zeit aus der Jugend kamen, waren fast ausschließlich Evertonians. Eigentlich war nur Steven Gerrard echter Liverpool-Fan.“

Der FC Liverpool wurde zunächst von konservativen Protestanten und Freimaurern dominiert, deren Konstitution 1723 der presbyterianische Geistliche James Anderson geschrieben hatte. Die katholische Hierarchie bezichtigte die Freimaurer der Häresie und ächtete sie als „kirchenfeindliche“ Gruppierung, Geheimgesellschaft und „Sekte“. Von den 46 Gründern des FC Liverpool waren 17 Freimaurer, von den ersten sechs Direktoren vier. Zwischen 1892 und 1914 waren 15 der 23 Liverpool-Direktoren Freimaurer. In Nordirland, Schottland und England war die Freimaurerei militant antikatholisch. Auch viele Tory-Politiker waren Freimaurer. Katholiken, Liberale und Anhänger der Abstinenzbewegung waren in den ersten Vorständen des FC Liverpool komplett abwesend. Hinzu kam noch die Connection zum nordirischen Protestantismus. John Houlding, der Vater des FC Liverpool, gehörte dem sektiererischen Oranier-Orden an, der protestantische Vorherrschaftbeanspruchte und dessen Hochburgen in Nordirland waren. Ebenso John McKenna, der erste Manager des Klubs, ein Presbyterianer aus der irischen Grafschaft Monaghan, die zur historischen Provinz Ulster gehört. Bei Nordirlands Protestanten ist der FC Liverpool auch heute noch der nach den Rangers aus Glasgow beliebteste Klub. Nordirlands Katholiken präferieren hingegen Celtic und Manchester United. Allerdings gibt es auch in katholischen Gebieten Supporter-Klubs der „Reds“. In der „katholischen“ Republik Irland sind es sogar 33 und damit deutlich mehr, als Manchester United hier unterhält. Das protestantische Image des LFC wurde anfänglich auch durch die große Zahl schottischer Spieler geprägt, die in der Regel Protestanten waren.

Der FC Everton, ebenfalls eine protestantische Gründung, erwarb mit der Zeit das Image einer katholikenfreundlichen Adresse. Ein Grund war die liberale Ausrichtung des Klubs. Die protestantische Arbeiterschaft wählte die Tories, die katholische eher die Liberalen und später Labour. Ein weiterer Grund war die Person James Clement Baxter (1857–1928). Der Arzt war ein tiefgläubiger Katholik und von 1906 bis 1920 Abgeordneter der Liberal Party für den Wahlbezirk St Anne. Baxter widmete sich den irischen Immigranten und Waisenkindern und unterstützte finanziell den Bau von Goodison Park. Da der FC Liverpool von einem Oranier, Protestanten und Tory geführt wurde, bot Everton mit dem liberalen Katholiken Baxton gewissermaßen eine Alternative für Liverpools Katholiken. Aber anders als im Falle von Celtic und Rangers in Glasgow war in Liverpool keiner der Klubs eindeutig einer bestimmten religiösen oder kulturellen Identität zuzuordnen.

Bis in die 1950er hinein rekrutierten der FC Liverpool und der FC Everton ihre Spieler aus Jugendteams, die entweder „protestantisch“ oder „katholisch“ waren. Was aber weniger religiöse denn ganz pragmatische Gründe hatte: Auf diese Weise vermied man eine unnötige Konkurrenz um lokale Talente.

Religion und „ethnische Herkunft“ spielten also auch im Liverpooler Fußball eine Zeit lang eine gewisse Rolle, aber nur unterschwellig. Als Tommy Smith sich 1962 dem FC Liverpool anschloss, bekam er vom Leiter seiner katholischen Schule zu hören, dass dies der „falsche Klub“ sei. Als 1980 Evertons Fußballlegende Dixie Dean starb, erklärte Bill Shankly: „Heute gibt es kein Rot und Blau, kein Schwarz und kein Weiß, keine Protestanten und Katholiken – wir trauern allein um einen großen Fußballer.“ Dass Shankly es für nötig hielt, die Rivalität der beiden Konfessionen zu erwähnen, kann man als Hinweis darauf verstehen, dass diese im Liverpooler Fußball durchaus ein Thema war. Noch Ende der 1980er waren antikatholische oder antiirische Graffiti an den Mauern des Stadions an der Anfield Road nicht außergewöhnlich. Aber mit der Situation in Glasgow war dies nicht vergleichbar.

Anders als die Glasgower Rangers hat sich der „protestantische“ FC Liverpool nie gegenüber den irischstämmigen Katholiken verbarrikadiert und auch keine „no catholics“-Politik praktiziert. Als der FC Liverpool 1965 erstmals den FA-Cup gewann, standen im Team des schottischen Protestanten Bill Shankly mit Chris Lawler, Tommy Smith und Gerry Byrne drei Liverpooler Katholiken. In den 1980ern und frühen 1990ern trugen eine Reihe von Nationalspielern der „katholischen“ Republik Irland das Trikot der „Reds“: Ronnie Whelan, Mark Lawrenson, Kevin Sheedy, Jim Beglin, John Aldridge, Ray Houghton, Steve Staunton, Phil Babb, Jason McAteer. 2017 präsentierte die Seite thisisanfield.com zum irischen Nationalfeiertrag (St. Patrick’s Day) eine „all-time Irish XI“ des FC Liverpool. Zehn der elf Gewählten hatten für die Nationalelf der Republik Irland gespielt. Die Ausnahme war die aus Belfast stammende Torwartlegende Elisha Scott. Ob man zu den „Roten“ oder den „Blauen“ hält, ist keine Frage der Religion. Die Spaltung läuft nicht zwischen konfessionell getrennten Wohnvierteln, sondern manchmal quer durch Familien ein und derselben Konfession. Das Image vom protestantischen FC Liverpool wird heute nur noch in den protestantischen/loyalistischen Vierteln Belfasts spürbar gepflegt.

In Liverpool mobilisiert der LFC mindestens so viele Menschen mit einem irisch-katholischen Background wie Everton. Die Atmosphäre in Anfield wirkt sogar etwas „irischer“ als im Goodison Park. So sind auf dem Kop auch Transparente wie „Irish Blood – Scouse Heart – We are Liverpool“ zu sehen. Auf dem Kop des Stadions an der Anfield Road ist eines der populärsten Lieder „Fields of Anfield“: eine Abwandlung des in irisch-republikanischen Kreisen gern gesungenen „Fields of Athenry“. Dieses handelt von den irischen Hungerkatastrophen und wird im Original von den Celtic-Fans in Glasgow, den Fans der irischen Nationalmannschaft sowie bei Spielen der Gaelic Athletic Association (GAA) vorgetragen.

Der wesentliche Unterschied zwischen Liverpudlians und Evertonians ist heute kein religiöser oder ethnisch-kultureller. Der FC Liverpool ist eine „globale Marke“, die Fans aus aller Welt anzieht. In Anfield sind Fußballtouristen aus Irland, aus Skandinavien, vom Kontinent und aus Asien wesentlich präsenter als im Goodison Park. Evertonians betonen deshalb, dass sie stärker als der LFC ein lokaler Klub seien.

_______________

1 Die Namen englischer und anderer internationaler Klubs werden in diesem Buch an die in Deutschland übliche Schreibweise angepasst.

2 1871 wurde die Rugby Football Union gegründet. Da diese dem Amateurismus verpflichtet war bzw. die Bezahlung von Spielern strikt ablehnte, riefen 1895 einige prominente Klubs aus Lancashire die Northern Rugby Football Union ins Leben, auch Northern Union genannt. Nach der Spaltung spielten die beiden Verbände mit unterschiedlichen Regeln. Rugby Union ist traditionell ein Sport der Ober- und Mittelschicht, wird an den Public Schools gespielt und hat seine Hochburgen im Süden Englands. Hingegen war Rugby League ein Arbeitersport und ist auch heute noch fast ausschließlich im Norden bzw. in den Grafschaften Lancashire, Yorkshire und Cumbria vertreten. Bekannte Rugby-League-Profiklubs im Raum Manchester-Liverpool: Salford Red Devils, St. Helens, Leigh Centurions.

3 Der FC Accrington stellte den Spielbetrieb im Januar 1966 ein und hat nichts mit dem 1968 gegründeten Klub Accrington Stanley zu tun.

Reds

Подняться наверх