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Stress

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Eine Frage muss hier mal gestellt werden: Wie behandelt die Menschheit eigentlich das Kostbarste, das sie besitzt...nach dem Gold natürlich, nämlich die Kakaotasse meines achtjährigen Sohnes Tim? Die Antwort muss hier auch mal gegeben werden: Miserabel! Unbarmherzig!


Die Geschichte, die mein Urteil begründet, fing eigentlich ganz undramatisch an:

Meine Frau und ich tauschten abends wie üblich die Erfahrungen unseres Arbeitstages aus, schimpften auf Vorgesetzte, auf Kollegen und Arbeitszeiten; dabei mag auch beiläufig das Wörtchen „Stress“ gefallen sein, bei Gott nichts Dramatisches und nichts Unübliches in dieser Welt. Und doch löste dieses Wort ein Verhängnis aus, an dessen Ende...nun, ich will hier nicht vorgreifen.


„Stress, Stress“, rief mein Sohn Tim abends dazwischen, „ihr kümmert euch immer nur um euren eigenen Stresse. Wer aber denkt an meine Kakaotasse? Die hat auch Stress!“

Ich war geneigt, dies als den mittlerweile üblichen Weltschmerz meines Sohnes vorsichtig zu überspielen, als dieser unnachgiebig und für die Abendstunde etwas unsensibel nachhakte.

Er wies auf einen Zeitungsartikel hin, in dem vom Stress des Geschirrs in der Spülmaschine zu lesen gewesen war.

Ich weiß nun nicht, ob es ein sinnvolles Ergebnis des deutschen Bildungssystems ist, dass Achtjährige bereits Zeitung lesen können; angesichts der Folgen, die ich nun zu berichten genötigt bin, rechne ich mich eher zu den Verfechtern eines gesunden Nichtwissens, das auf Lese- und Schreibuntüchtigkeit beruht.

Meine ältere Tochter Katharina unterstützte ihren kleinen Bruder: “Es geht ums Prinzip!“

Meine Frau Veronika beteuerte, diesen Artikel ebenfalls gelesen zu haben: Der Junge hat Recht! Das Geschirr leidet!“

In diesem Augenblick umarmte Tim seine Kakaotasse, führte sie an die Wange und begann mit ihr zu sprechen, indem er nach dem Befinden fragte.

Der Tasse ging es offensichtlich hundsmiserabel, denn sie verweigerte jede Antwort.

Mitfühlend, wie ich nun einmal bin, rückte ich an seine Seite und fragte behutsam, wie er das denn meine mit dem Stress.

„Kannst du dir vorstellen“, begann er, womit er gelegentlich seine Zweifel an meiner Vorstellungskraft überhaupt auszudrücken beliebt, „kannst du dir vorstellen, dass du bei 50 Grad im Schatten im Urwald bist?“

„Gott behüte!“

„Stell dir nun weiter vor, dass du von Kannibalen gefangen worden bist!“

Hier nun wollte ich den schärfer werdenden Dialog mit der Frage abbrechen, wo denn zu lesen sei, dass es Kannibalen gebe, doch Tim konterte gnadenlos:“ Robinson Crusoe!“

„Du liest Robinson Crusoe, Tim?“ frage ich aufmerksam.

„Nein, aber Großvater hat erzählt...!“

Mit meinem Vater wollte ich demnächst mal über Kindererziehung reden.

„Also gut. Ich stell mir vor, ich sei bei den Kannibalen im Urwald bei 50 Grad im Schatten. Was dann?“

„Und dann wirst du mit kochendem Wasser geduscht!“

Ich zitterte, riss mir die Krawatte auf, öffnete den Hemdkragen, krempelte die Hemdsärmel auf und spürte, dass mich mein Deo verließ.

„...und das eine Stunde lang!“ setzte Tim nach.

Ich stand auf und riss alle nahen Fenster auf.

„...und dann musst du vielleicht noch eine Stunde im heißen Dampf der Duschkabine warten, bis dich jemand raus lässt...!“

Ich entblößte mich, floh aus dem Haus und irrte nackend durchs Viertel auf der Suche nach einem Eisberg. Doch schrill verfolgten mich Tims Worte, dass ich mir so oder so ähnlich das Gefühl seiner Kakaotasse in der Spülmaschine vorstellen müsse.


Stunden später fand ich Tim friedlich im Bett schlafend mit seiner Kakaotasse im Arm.

Meine Frau glaubte mich kurz vor dem Schlafengehen mit dem Hinweis beruhigen zu können, dass wir das Thema gelegentlich noch einmal aufgreifen müssten.

Ich war nicht zu beruhigen.

„Veronika“, redete ich erregt auf meine Frau ein, „ich habe Tim immer zum Mitgefühl gegenüber der gequälten Kreatur angehalten aber nicht gegenüber dem gequälten Eierbecher!“

„Beruhige dich doch, Schatz!“

Ich war nicht mehr zu beruhigen. „Ich habe Tim immer zur solidarischen Hilfe für Arme und Schwache angehalten, aber nicht für meinen Müsliteller!“

„Schatz!“

Ich war nicht mehr zu beruhigen. Demnächst darf ich unser Auto nicht mehr durch die Waschstraße fahren, weil es womöglich eine Lungenentzündung bekommen könnte!“

Dass mein Frau mittlerweile in ihr Arbeitszimmer umgezogen war, hatte ich schemenhaft wahrgenommen, doch unerschütterlich fuhr ich fort, dass demnächst wohl unsere Schmutzwäsche nach dem letzten Waschgang unter einem Schleudertrauma mit anschließenden Depressionen leiden werde. Ich lachte kurz hysterisch auf.

In der Nacht träumte ich schlecht: Ich hörte Kuchenteller nach einem Kälteschock klappern, Gabeln und Messer weinten und liefen fahl an, Weingläser plusterten sich bauchig auf und zersprangen klirrend in eine teilnahmslose Welt. Der Höhepunkt bestand darin, dass ich stundenlang vergeblich an einer verriegelten Duschkabine rüttelte. Nahezu verdampft wachte ich auf.


Vor kurzem noch hatte ich gelesen, dass der stressgeplagte Manager in der Familie seinen Ausgleich von der Arbeit finde, sie sei seine stete Kraftquelle.


Am Frühstückstisch bestrich ich zärtlich die Tasse, wusste ich doch nun, wie sie leiden würde angesichts des heißen Kaffees und der anschließenden ebenso heißen Spülung, das Glas Orangensaft umfasste ich sorgsam wie den zerbrechlichen Oberarm meiner Tochter, den Eierbecher würdigte ich nur eines scheuen Blickes, ich wollte ihn nicht nutzen, um ihn nicht unnötigen Qualen auszusetzen. Dann stürzte ich mich unausgeschlafen in die Arbeit.

Einen Kollegen wies ich darauf hin, dass er etwas roh mit seiner Kaffeetasse umging, eine andere Kollegin bat ich im Raucherzimmer händeringend, den Aschenbecher vor unnötiger Hitzeeinwirkung zu verschonen, was sie fälschlicherweise als Aufforderung verstand, das Rauchen aufzugeben.

Abends dachte ich mir zunächst nichts Böses, als meine Frau ein Krisengespräch für angebracht hielt. Ich war bereit dazu, hielt ich Kindererziehung doch für eine wichtige Aufgabe, die man nicht dem Zufall überlassen sollte, aber es ging nicht um Kindererziehung sondern um die Spülmaschine. Die Spülmaschine! Die Spülmaschine sei eigentlich überflüssig.

Freundlich noch und mit einem gewissen Gefühl der Überlegenheit ging ich auf die Diskussion ein, wähnte ich mich doch im Besitz der besseren Argumente.

„Ihr wollte einen Hort des Fortschritts in Frage stellen, die Spülmaschine? Immerhin verbrauchen wir sehr viel weniger Wasser als im üblichen Handabwasch!“

„Du Krämerseele“, wurde mir entgegengehalten, „vergiss mal deine ökonomische Rationalität, den Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie kriegen wir auch anders in den Griff und überhaupt, versetz dich mal in eine sensible Kinderseele!“ dozierte Katharina.

„Aha!“ frohlockte ich, „es geht also doch um unser Kind und nicht um die verbrühte Seele der Eierpfanne!“

„Um beides!“ riefen nun alle drei gleichzeitig.

Immer noch freundlich und zu einem konstruktiven Gespräch bereit, setzte ich neu an:

„In der Zeit, wo die Spülmaschine läuft, kann jeder von euch seinen Hobbys nachgehen. Du Tim, kannst mit deinem Kaninchen spielen, du, Katharina, kannst mit deinen Freundinnen telefonieren, du, Veronika, kannst mal in Ruhe ein Buch lesen. Es fügt sich doch bestens dank der Spülmaschine!“

Nachdem Tim mir wortlos mit seiner geknechteten Kakaotasse gedroht hatte, kam die große Stunde meiner Tochter. Sie trieb mich in die Enge:

„Du versteht es nicht! Es geht hier nicht darum, dass jeder irgendwo für sich rumhängt, sondern um Kommunikation und Zusammenhalt in der Familie!“ Die Spülmaschine würde die Familie zersplittern.

Peng! Das saß. Meine Frau gab mir den Rest: “Schatz, du bist so selten zu Hause! Der gemeinsame Handabwasch führt unsere Familie durch Gespräche wieder enger zusammen. Wir schaffen die Maschine ab!“

Ich äußerte noch zaghaft einige Vorbehalte und man sollte nichts überstürzen.


In dieser Nacht fiel der gesamte Küchenschrank über mich her: Die Gabeln kratzten mir die Augen aus, die Knoblauchpresse folterte mein empfindsames Knie, die Messer amputierten, was noch dran war, nachdem eine tonnenschwere Nudelrolle über mich hinweggerollt war und der Fleischklopfer die Gelenke zertrümmert hatte.


In den nächsten Tagen verzichtete ich auf das Kantinenessen im Betrieb, weil mir die Bestecke diese Welt in verständlicher Solidarität schrill klimpernd drohten. Ich mied Restaurants, weil Massen von Tellern vor Spülmaschinen auf ihre seelische Vernichtung warteten und mich als den Übeltäter ansahen.


Zuhause wurde ich als schwächstes Glied der Familie noch geduldet und genoss die Almosen, die mir ohne Teller und Besteck zugeschoben wurden.

Irgendwann machte ich noch listig den Vorschlag, Restlaufzeiten für die Spülmaschine vorzusehen, weil sonst – und dabei entwickelte ich den Anflug eines letzten diabolischen Grinsens – würde ich eine Schadensersatzforderung erheben, es sei im Übrigen alles eine Frage des Preises.

Irritiertes Schweigen ging mich an.

Ich wies auf die Errungenschaften einer Küchen-App hin und prognostizierte einen Küchen-Roboter für die nahe Zukunft.

„Das macht uns doch fremd!“ jammerte Tim und bedeckte mich und den Lehnstuhl, in dem ich autistisch kauerte, liebevoll mit einer wärmenden Decke. Veronika tätschelte mir die eingefallenen Wangen und Katharina massierte mir die kalten Finger zur besseren Durchblutung, nicht ohne den belehrenden Hinweis zu vergessen, dass man ein ASP, ein Anti-Stress-Programm, für das Geschirr entwickelt habe, mit schonender Handspülung und so weiter. Die Kommunikation in der Familie mache Fortschritte, indem man zum jeweiligen Abwasch ein aktuelles Thema diskutiere. Und ansonsten hoffe man, mich dereinst mal wieder dabeihaben zu können, und dabei schnurrte wohlig die erlöste Kakaotasse.

Lachen macht Hoffnung

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