Читать книгу Überschätzte Unterforderungen - Dirk Bathen - Страница 4
ОглавлениеBasislage (I)
Ein Rauschen. Das ist das erste, was ich höre. Noch bevor ich die Augen aufmache. Das Rascheln der Blätter, die im Wind gegeneinander schlagen. Dann kommt der Schmerz. Er drückt mich zu Boden. Neben dem Blätterrauschen ein zweiter Ton, kaum vom ersten zu unterscheiden. Etwas gedämpfter. Fast wie am Meer. Ich spüre den warmen Sand unter mir, das Wasser, das meine Füße umspült. Für einen Moment fühle ich mich wohl. Ich spüre die Vibration der Äderchen in meinen Schläfen. Blut pocht, rauscht an meiner Ohrmuschel vorbei. Wenigstens lebe ich noch.
Der warme Sand verschwindet, die Feuchtigkeit bleibt. Es riecht nach Erde, nach Moos und Morast. Und nach Urin. Über mir ziehen ein paar Haufenwolken mit schimmernden Kuppeln durch den Himmel, treiben als bizarre Gebilde in der Luft. Dazwischen das Grün der Blätter.
Ein Tropfen rollt über meine Stirn und verkantet sich in den Augenlidern, dringt nach innen. Ich suche meine Hand, damit die Finger das Salz aus den Augen reiben können. Finde sie nicht. Spüre sie nicht. Suche erfolglos nach den anderen Gliedmaßen. Keine Regung. Da ist nur der Kopf. Aber der lässt sich nicht bewegen.
Mit langsamen Drehungen der Pupillen suche ich die Umgebung ab. Das Salz brennt, trübt den Blick. Alles grau, mal dunkler, mal heller, mal dicker, mal dünner. Grau. Zwischen den Steinen schwarze Schatten, hin und wieder etwas Grün, das Braun der Baumstämme. Kleingetier macht das Stillleben lebendig. Langsam, ganz langsam spült das Blut den Ernst der Lage durch den Körper, begleitet von einer Welle der Unsicherheit, ob wirklich jedes Körperteil noch an seinem Platz ist. Meine Hose klebt nass an den Oberschenkeln. Zumindest glaube ich, dass ich das fühle.
Durch einen Spalt zwischen den Felsbrocken sehe ich einen kleinen weißen Fleck auf mich zukommen. Mein Nacken tut weh. Ich richte die Pupillen wieder geradeaus, nach oben, auf die windig-weißen Geister: ein Drache ohne Flügel, ein Adler mit aufgerissenem Schnabel, ein Schildkrötenelefant. Ungreifbar und leise fliegen sie vorbei, verändern ihre Form. Vögel zwitschern. Blätter rascheln. Mein Blut rauscht. Der Himmel ist blau wie die Hoffnung. Ich höre Schritte, dumpf und knirschend. Ein Schatten legt sich über mein Gesicht.
„Endlich, Mann.“
Simons Haare hängen herunter, sein Gesicht ist ein dunkles Loch. In seiner Stimme liegen Hektik und Entsetzen. Sein T-Shirt ist gar nicht so weiß, wie es von weitem aussah, eher grau, verschwitzt und dreckig. Aber in dieser Umgebung blendet es trotzdem. Er kniet sich nieder, wischt sich die schwarzen Haare aus der Stirn, klemmt sie hinters Ohr. Wenn ich nur halb so schlimm aussehe wie es sein Gesichtsausdruck vermuten lässt, ist die Lage ziemlich beschissen.
Seine Arme sind zerkratzt, ein paar blutige Striemen. „Gut, dass du wach bist, Alter“, sagt Simon. Mehr sagt er nicht. Er streicht mir mit der Hand über den Kopf, zittrig. Was ist passiert, will ich ihn fragen. Meine Lippen sind trocken, kleben aneinander. Ich versuche zu sprechen, aber es kommt nur heiße Luft.
Simon schaut sich um, reibt sich mit beiden Händen durchs Gesicht, sieht mich an. Seine Augen sind rot, verheult. Ich spüre einen großen Druck auf meiner Brust. Den kannte ich bisher nur von innen. Der ist immer da, wenn Anja in meiner Nähe ist und ich kein Wort rausbekomme. Oder wenn ich vor versammelter Klasse wegen irgendeiner Belanglosigkeit runtergeputzt werde. Meistens von Frau Lange, Physik und Mathe. Naturwissenschaften sind nicht so meins. Aber dieser Druck ist neu, der kommt von außen, von etwas Schwerem. Ich versuche an mir herunter zu schauen, mein Blick bleibt an den Steinen hängen, die auf meiner Brust liegen, ineinander verkeilt.
Simons Anblick macht mir Angst. Ich werde kurzatmiger. Hol Hilfe, will ich ihm sagen, nimm die Dinger weg, mach irgendwas. Ich kann nicht. In meinem Kopf schreie ich ihn an, aber ich liege nur da und kann mich nicht bewegen, nicht sprechen. Simon steht neben mir, rauft sich die Haare, reibt seine Hände wieder und wieder im Gesicht herum, als wäre danach alles viel klarer. Er wischt sich die Haare aus der Stirn und klemmt sie hinters Ohr. Er schaut nach links, nach rechts nach hinten, dann wieder zu mir. Er blickt sich um wie jemand, dem gerade sein kleines Kind weggelaufen ist. So hat die Frau neulich auch geguckt, auf dem Spielplatz, als wir vom Fußball nach Hause gegangen sind. Sie lief hektisch umher und hat ständig „Leon, Leon“ gebrüllt. Dieses glückliche Gesicht, als sie ihn friedlich spielend in einem kleinen Holzhäuschen fand. Dieses Gesicht, aus dem die Angst weicht und Platz macht für große Erleichterung, würde ich mir jetzt auch von Simon wünschen. Es kommt nicht. Sein Gesicht bleibt ein unruhiger Krater.
Langsam wird mir kalt. Die Nässe an meinen Hüften kriecht nach oben und nach unten. Mach was, denke ich, hör auf zu jammern und dir wie blöde durchs Gesicht zu wischen. Mach endlich was.
Ein strahlend weißer Pudel mit ausgefranstem Schwanz fliegt vorüber. Dann ist für einen Moment keine einzige Wolke am Himmel, die Baumwipfel wedeln vor makellosem Blau. Eine große Ruhe gießt sich über mir aus und ein Bausch Watte, so groß wie etwas Unvorstellbares, legt sich auf mich. Ich schließe die Augen.
„Bleib wach, Paul“, schreit Simon, „bleib jetzt bloß wach, die müssen jeden Moment hier sein.“ Ich spüre seine Hand an meiner Schulter. Ein Rütteln. Meine Augen verschlossen.
Eigentlich sollten wir schon längst am Meer sein. Eigentlich sollte ich mit Anja am Strand sitzen, den Wellen zuhören und sehen wie der Wind durch ihr Haar fegt. Wie er ihr das Haar ins Gesicht weht. Ich weiß, dass sie mich geküsst hätte, ich weiß es. Warum hätte sie uns sonst eingeladen? Wer weiß, ob ich sie jemals wiedersehe, wenn sie im Herbst für ein Jahr nach Amerika geht. Und danach? Vielleicht bleibt sie da? Vielleicht waren diese Ferien meine letzte Chance. Eigentlich sollten wir schon längst am Meer sein. Ich sollte ein Kribbeln im Bauch haben, während die Sonne unsere Haut streichelt. Stattdessen liege ich mit vollgepinkelter Hose unter einem Steinhaufen mitten im Wald und kriege kaum noch Luft.
Von Ferne höre ich ein leises „Hallo“, wahrscheinlich sehr laut gerufen. Simon lässt meine Schulter los und springt auf. „Hier, hier sind wir“, schreit er, „hier.“. Einmal noch bekomme ich die Augen für einen Moment auf, sehe Menschen in orangefarbenen Jacken den Hang herunter laufen. Hölzer brechen unter ihren schweren Schuhen. Das Klackern einiger Steine ist das letzte, das ich wahrnehme, bevor ich wieder das Bewusstsein verliere.