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Morgenempfang

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Mühsam quälte sich an diesem Morgen eine zähe, trübe und gleichsam erblasste Sonne aus ihrem Nachtlager hinter dem Horizont hervor. Ihr morgendlicher Blick lastete zunächst schwer auf den Rabatten, in denen Gladiolen, Krokusse, Freesien und viele weitere Schwertliliengewächse, ebenso wie die Hyazinthen, Rittersporn und nicht zuletzt auch Amarant dem aufstrebenden Morgen eher skeptisch gegenüber zu stehen schienen. Denn obgleich hier in prächtigen Blütenständen und Hochblättern alle nur erdenklichen Farben, von dunklem Blau, über zartem Rosa, sattem Purpur, leuchtendem Orange und Gelb bis hin zu intensivem Rot sich ausbreiteten, so sprachen doch die gesenkten Köpfe der floralen Schönheiten eine andere Sprache. Und die Tautropfen zwischen den Gräsern des präsidialen Gartens wirkten heute wie stumpfe Glasscherben, wo sie ansonsten funkelnde Diamanten waren.

Auch in den verschiedenen Baumgruppen der weitläufigen, annähernd parkähnlichen Gartenanlage des Präsidentenpalastes hatte an diesem Morgen offensichtlich der Missmut Einzug gehalten. Die uralten Eichen, Buchen und Erlen blickten denkbar verdrießlich, müde und düster in das ausgedehnte Rund.

Doch nicht allein in dem botanischen Umfeld äußerte sich diese bedrückende Empfindung. Selbst der morgendliche Gesang des gesamten Vogelvolkes schien gehemmt und gewissermaßen mit lediglich halber Kraft vorgetragen zu sein. Die Triller wirkten längst nicht so brillierend, die Flötentöne bei weitem nicht so klangvoll wie noch Tags zuvor, als die morgendliche Sonne im strahlenden Glanz eines herrlichen Frühlingstages wohl mit dem rechten Bein zuerst aufgestanden war.

Heute dagegen schien das linke am Zug gewesen zu sein.

Und wie merkwürdig, selbst der präsidiale Vergnügungspark schien an diesem Morgen aller seiner Erheiterung versprechenden Glanzstücke überdrüssig geworden zu sein. Zumindest schauten die gruseligen Gestalten der Geisterbahn, in welcher gegenwärtige politische Widersacher des jetzigen Präsidenten sich neben historisch unumstrittenen Schauergestalten vom Schlage eines Hitler, Mussolini oder Goldfinger in den Gespenstertrupp einreihten, griesgrämiger denn je aus der Wäsche.

Den Rummel hatte der augenblickliche Hausherr – dem eigenen Bekunden und einer offiziellen Presseerklärung nach sowohl sich selbst als auch seiner Palastbevölkerung – vor etwa zwei Jahren dort für einige hunderttausend Taler errichten lassen. Peinlich berührt zeigte sich allerdings erst letztens das Referat für Öffentlichkeitsarbeit als bekannt wurde, dass es noch niemandem aus dem Umfeld der dienstbaren guten Geister des Präsidentenpalastes vergönnt gewesen war, mit einem Fuß oder einem anderen Körperteil dieses Terrain betreten zu dürfen...

Bislang wurde allerhöchstens einmal im halben Jahr ein Reinigungstrupp unter strenger Beaufsichtigung durch die besagte Geisterbahn, um die niedliche Achterbahn mit immerhin einem ordentlichen Looping, zwischen der Wildwasserbahn und an der Schießbude vorbei bugsiert. Näher als mit einem sehnsüchtigen Blick hatte dabei noch kein Bediensteter die Attraktionen in Anspruch nehmen dürfen.

Keine Spur von Munterkeit war ringsumher auszumachen, als der Hausherr zerzaust, stoppelig und noch in seinen Pyjama gekleidet an diesem Morgen das rote Empfangszimmer im Südflügel des Präsidentenpalastes betrat. Mit eingekniffenen Augen über seiner breiten Boxernase, so dass kaum die Farbe der Pupillen auszumachen war (ein Blick in seinen Pass belehrt darüber, dass der Präsident eisblaue Augen hatte) blieb er zunächst auf der Schwelle stehen, um sich ein Bild von der Ausgangssituation zu machen.

Es war wie jeden Morgen die gleiche: er wurde bereits erwartet. Ein junger, derzeit eher bleicher Mann mit glatten, wächsernen Wangen und energisch-spitzem Kinn harrte seines Staatsoberhauptes. Benjamin Wolffsohn, der als Berater, Vertrauter und bisweilen auch Freundesersatz dem Präsidenten zur Seite stand, war schon früh auf den Beinen gewesen um höchstpersönlich die Frühstücksbereitung für seinen Brotherrn überwachen zu können. Nachdem er dem Präsidenten die Morgenzeitung auf dem Frühstückstisch an der üblichen Stelle bereitgelegt hatte – der Präsident selbst las ausschließlich den `Tilt´; über die wichtigsten Inhalte aller übrigen Presseorgane ließ er sich in vereinfachter, verdichteter Ausführung von seinen Mitarbeitern unterrichten... Nachdem Benjamin dies etwa fünf Minuten zuvor erledigt hatte, überblickte der Präsidentenvertraute bei der Gelegenheit nochmals den angerichteten Frühstückstisch und nickte sich selbst zufrieden zu.

Eigentlich fühlte sich Benjamin Wolffsohn nicht für die Überwachung der Frühstücksbereitung zuständig. Doch wofür war er zuständig? Die genaue Bestimmung, eine angemessene Amtsbezeichnung des aufstrebenden, juristischen Jungakademikers war zweifellos nicht jedermann im Staat, ja nicht einmal im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten einwandfrei entschlüsselt, die wenigsten hätten etwas zu seinem ungefähren Werdegang, zu seiner Herkunft, seinem persönlichen Umfeld, geschweige denn zu seinen Ambitionen zu sagen gewusst. Nur soviel war jedem, der ihn einmal kennen lernte, klar: der Mann besaß viele Talente!

Demnach wäre die trefflichste Amtsbezeichnung für Benjamin Wolffsohn wohl die einer `grauen Eminenz´ gewesen...

So manchem schien er zwar lediglich nach Art einer eifersüchtigen Gouvernante um einen verzogenen Bengel zu glucken - als persönliches Kindermädchen quasi... Doch wurde diese Einschätzung selbstverständlich nur abseits großer Gesellschaften und hinter vorgehaltener Hand in dunklen Ecken unter Freunden kund getan... - Indessen hätte man sicherlich dem jungen Mann hiermit bei weitem zu wenig Ehre erwiesen!

Denn er war der Mann im Hintergrund; er war der, der die Fäden zog; der, der die Richtung bestimmte, wenn der Präsident wieder einmal zwischen mehreren Stühlen saß...

Doch davon wusste, wie schon erwähnt, kaum jemand...

Nun stand er mit seinen Einsfünfundachtzig fertig gebügelt und gestriegelt, adrett und nett und strahlte seinem Herrn und Meister das gewinnende Lächeln entgegen, welches dieser so sehr an ihm schätzte. Der Präsident hatte das bislang zwar noch nicht in der Form geäußert, doch Benjamin Wolffsohn besaß ein beinahe untrügliches Gespür für die Wirkungen, die er bei anderen Menschen erzielte...

Und er wusste das sehr geschickt einzusetzen!

Wie gesagt: der Mann hatte viele Talente...

„Guten Morgen, Herr Präsident. Wünsche wohl geruht zu haben.“

Benjamin erlaubte sich eine vornehme, lediglich angedeutete Verbeugung.

„Guten Morgen, mein lieber Wolffsohn... Sie sind schon so munter? Ich denke, ich muss Ihnen ein umfangreicheres Quantum an Arbeit zuschanzen, was meinen Sie? Ansonsten sind Sie mir zu ausgeruht...“

Der Präsident war nun seinerseits vollends wach und kicherte, ob des ihm geglückt scheinenden Scherzes vergnügt, während er zugleich nach dem `Tilt´ griff und sich auf dem Diwan gegenüber des Kamins niederließ.

„Sie sind allerdings bisher immer sehr gütig zu mir gewesen, Herr Präsident.“

Benjamin Wolffsohn erlaubte sich eine erneute halbe Verbeugung mit der vollendeten Grazie eines englischen Butlers.

„Ach Wolffsohn, nennen Sie mich doch bitte ab heute einfach `durchlauchtigste Hoheit´!“ meinte der erste Mann im Staat eher beiläufig, während er zunächst den Sportteil des `Tilt´ aufschlug.

Er hielt es nicht für angebracht, dem Untergebenen im Zuge der Äußerung dieses merkwürdigen Wunsches in die Augen zu schauen. Statt dessen vergewisserte er sich lieber, dass sein geliebter FC Bleiern den gestrigen Gegner im laufenden Pokalwettbewerb nach allen Regeln der Fußballkunst in Grund und Boden gespielt hatte. Dass die Hinterfragung der Unparteilichkeit des Schiedsrichtergespannes allgemein als Relativierung der sportlichen Leistung des Rekordmeisters aufgefasst wurde, störte ihn dabei nicht weiter. Er war bloß rückwirkend ärgerlich, dass solch ein lästiger Empfang zu Ehren des Besuches eines Staatschefs ihn von der Verfolgung der Live-Berichterstattung der Partie entbunden hatte! Aus welchem dunkelamfrikasischen Land, von dem kein Europästralier nach seinem Dafürhalten auch nur das Geringste überhaupt wissen müsste, kam der Knilch von gestern noch einmal? Der Präsident hatte es längst vergessen. Überhaupt war der Abendempfang von ausgesprochen dürftigem Gehalt gewesen und insgesamt ermüdend verlaufen... Ja, das stimmte ihn auch nun nochmals ein wenig ärgerlich... Ein wenig ärgerlich - und das war lediglich von kurzer Dauer; der Präsident schien überhaupt seine Gefühlsempfindungen regelmäßig auf recht überschaubare Zeiteinheiten angelegt zu haben, bevor sie durch andere, bisweilen gar gerade entgegengesetzte Gefühlsempfindungen abgelöst wurden; und jene wiederum durch andere...

Diese Sprunghaftigkeit erleichterte dem Betreuer des Präsidenten nicht eben die Arbeit. Mitunter glaubte jener gar in dem Präsidenten erste zarte Ansätze einer multiplen Persönlichkeitsstörung entdecken zu können!

Doch diesen Verdacht – nein, das war allzu streng gesprochen – diese vage Möglichkeit ließ Wolffsohn wohlweislich vorerst in seinem Innersten verschlossen. Er getraute sich kaum einmal diesem erschütternden Gedanken in sich selbst Auskeimung zu gewähren!

Das wäre ihm viel zu riskant erschienen...

So stand Benjamin einigermaßen verdattert inmitten des Raumes und wusste nicht, was dass nun wieder sollte.

„Aber Herr Präsident, ich verstehe nicht recht...“, tastete er sich vorsichtig in unbekanntes Gelände hinein.

Der Präsident geriet erneut ins Schmunzeln.

„Schon gut, schon gut, mein Lieber. Das war natürlich nur ein dummer kleiner Scherz von mir, mein lieber Wolffsohn... Entschuldigen Sie schon. Sie wissen doch, ich habe bisweilen des Morgens den Schalk im Nacken hocken...“

Der so Beschwichtigte schaute skeptisch dem Präsidenten geradewegs in die Augen.

„Ach so... Ich verstehe... und ich dachte bereits -“ Er wurde leiser und leiser, bis er sich zuletzt unterbrach, da der strenge Blick des Herrn Erwusch die Oberhand behielt - und mit dem Absenken des Erwuschen´ Blickes sank rhythmisch vereinbar die Stimme Benjamins.

Georg Joachim Erwusch schien auf genau diese unbestimmte Aussage gelauert, ja spekuliert zu haben. Das Einhaken in diese Äußerung jedenfalls ging mit harpunenartiger Geschwindigkeit vor sich. „Was dachten Sie sich schon?“ Und mit festsitzendem Widerhaken wurde der Fang eingeholt. „Sie dachten, dass ein `Euer Gnaden´ mir bereits entgegen käme? Nun ja, da stottern Sie gar nicht einmal allzu knapp am Ziel vorbei, mein lieber Wolffsohn. Die Anrede `Euer Gnaden´ ist mir tatsächlich auch recht angenehm. Das können wir noch gelten lassen! Dafür erhalten Sie neunundneunzig Gummipunkte und einen Kasten Lebertran von mir... Das war ganz große Klasse. Ich gratuliere zum Hauptgewinn!“ Und begeistert stürzte der Präsident auf seinen jugendlichen Betreuer zu, um diesem die Hand zu quetschen.

Während er noch seine Finger sortierte, kehrte die Verblüffung in die Gesichtszüge des Jungakademikers zurück. Doch außer eines uninspirierten „Äh ...“ wusste der aufstrebende Jüngling sich keiner angemessenen Äußerung zu bedienen.

Noch mehr allerdings irritierte ihn, dass der Präsident dieses „Äh...“ ohne mit der Wimper zu zucken auf beinahe kindliche Weise nachäffte und sich schier ausschütten wollte vor Lachen! Es kam selten vor, dass der Mann hinter den Kulissen das Gefühl hatte, eine falsche Strippe gezogen zu haben... Diesmal aber war er sich sicher: der Präsident hatte ihm eine Stolperfalle gestellt. Jedoch warum?

Noch ehe Benjamin Wolffsohn mit sich selbst über eine mögliche Antwort ins Reine gelangt war, wurde seine Aufmerksamkeit bereits wieder in Anspruch genommen.

Präsident Erwusch hatte sich wohl soeben die letzten Schlafensreste aus den Augen und dem Gemüt gerieben, dabei zugleich eine Frage an Benjamin gerichtet, die dieser allerdings nicht erfasst hatte...

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Präsident, ich - “

„Euer Gnaden!“

„Wie bitte?“

„Hatte ich Ihnen nicht eben erst, vor gerade einmal zwei Minuten, erklärt, dass ich ab heute als `Euer Gnaden´ tituliert zu werden wünsche? Also bitte, richten Sie sich gefälligst danach... Ansonsten müsste ich mir noch eine weitaus vertracktere Titelsammlung zulegen. Wie wäre es dann zum Beispiel mit: `Eure Heiligkeit´? Oder was hielten Sie von `Durchlauchtigste Seligkeit´? `Sohn des Himmels und der Erde´ würde sich auch nicht schlecht machen, nicht wahr? Klingt allerdings allzu asifrimatisch, was meinen Sie? Man müsste sich hierfür freilich Schmalaugen zulegen, oder? Ansonsten wirkt der Titel wohl nicht. Nein, das ist mir dann doch allzu fragwürdig. Da sieht man gewiss nur die Hälfte von allem, mit solchen Schmalaugen... Aber, im Kino zum Beispiel, muss man dennoch den vollen Preis bezahlen, nicht wahr?“

Erneut schüttete der Herr Erwusch sich aus vor Lachen.

„Eindeutig geeigneter wäre ja doch ein Titel wie der einer europästralischen `kaiserlichen Unfehlbarkeit´! - `Eure kaiserliche Unfehlbarkeit´! Das ist doch einmal ein Titel, was? - Den hat nicht jeder aufzubieten! Da kommt man nicht so leicht daran, an solch einen Titel! Nur ein ganz ausgewählter Kreis menschlicher Erdenbürger hätte ein Anrecht und überhaupt das notwendige Empfinden, von charakterlicher Größe ganz zu schweigen, solch einen oder einen ähnlichen Titel tragen zu dürfen!“

Der Adjutant schien noch immer nicht begriffen zu haben, worauf der Präsident hinauswollte. Das Unverständnis stand ihm nur allzu deutlich ins Antlitz geschrieben.

„Ich sage Ihnen, mein lieber Wolffsohn, eines Tages“, fuhr Georg Joachim Erwusch fort und ein beängstigender Anflug von Ernsthaftigkeit erzitterte nun in den präsidialen Stimmbändern, „eines Tages, da werde ich auch diesen Titel, ich kann zwar nicht sagen von wem, aber ich werde diesen Titel eines Tages verliehen bekommen und werde ihn tragen dürfen... Und zwar mit Stolz und in Ehren, denn ich werde ihn zurecht und verdient tragen, das prophezeie ich Ihnen heute bereits, hier und jetzt gebe ich Ihnen dieses Versprechen in die Hand! Merken Sie sich meine Worte, Wolffsohn... Um was wollen wir wetten? Wie wäre es mit einem Fuffi? Ist das in Ordnung?“

Der Vertraute war allem Anschein nach diesem Wettangebot nicht recht zugeneigt. „Also, ich weiß nicht...“

„Ach was, Wolffsohn, diese gesamte künstliche Ziererei unterlassen wir nun einmal. Ich bin jetzt Ihr Freund, Ihr Buddy gewissermaßen, Ihr Kumpel... Verstehen Sie? Das ist doch nur eine kleine Wette zwischen uns, eine Wette unter guten Freunden... Der Einsatz ist Ihnen zu gering? Nun gut, von mir aus können wir den Einsatz erhöhen... Aber über die tausend Talergrenze sollten wir nicht gehen, da wird es unanständig... Also los, kommen Sie, schlagen Sie schon ein...“ Und er reichte dem Jüngling die Rechte hin.

Dieser stand benebelt und glaubte sich inmitten einer reichlich merkwürdigen Phantasmagorie.

Als Präsident Georg Joachim Erwusch jedoch ohne weitere Vorwarnung die Hand des Untergebenen ergriff und sie wie zum Spaß und zum Beweis seiner Manneskraft erneut ausführlichst drückte, presste, ja quetschte, da wurde Benjamin Wolffsohn sogleich schmerzhaft bewusst, dass er sich nicht in den Tiefen einer Zauberwelt befand. Er war durchaus wach und bei klarem Verstand. Ob er dies von seinem Gegenüber auch behaupten könne, schien ihm zu diesem Zeitpunkt dagegen nicht wirklich sicher. Er war zwar von seinem Präsidenten bereits einiges gewohnt, doch dies hier, das war in der Tat mehr als merkwürdig. Gleichwohl erinnerte er sich nun, da er es recht überdachte, an verschiedene andere, wahnwitzige kleinere Begebenheiten der letzten Tage...

Wie war das doch erst gestern gewesen?

Ja, richtig, Präsident Erwusch hatte während des Studiums des `Tilt´ nach einer Schere verlangt und – nachdem er das Werkzeug erhalten hatte – das Foto des sich räkelnden, leichtbekleideten Mädchens von Seite eins ungeniert ausgeschnitten und in seiner Bademanteltasche verschwinden lassen... Gestern noch hatte Benjamin diesem Vorfall keine allzu tiefe Bedeutung beigemessen, doch heute nun, nach dem gerade eben erfahrenen verbalen Irrsinn, da übermannten ihn doch ernsthafte Sorgen.

„Wolffsohn!“

Der Präsident zerrte ihn aus seinen Gedanken.

„Wolffsohn, träumen Sie? Sie sollten nicht träumen! Alles, was zu Träumen verleitet ist gefährlich! Und nicht nur das: Träumen ist ungesund und führt zu Wahnvorstellungen... Wir sollten einen Warnhinweis im Impressum der Bücher zur Verpflichtung machen. Wolffsohn, setzen Sie sich doch bei nächstmöglicher Gelegenheit mit dem Gesundheitsministerium in Verbindung. - Was meinen Sie, Wolffsohn, warum ich keine Bücher lese... na? - Weil sie die Phantasie anregen und Phantasie führt zu Träumen und Träume sind gefährlich! Ich träume überhaupt nie! Das habe ich mir schon abgewöhnt, als ich noch ein kleiner Junge war. Während die anderen Jungs damals in meiner Kindheit davon träumten berühmte Fußballspieler, Formel-Eins-Piloten oder berüchtigte Piraten zu werden, da arbeitete ich daran – wohlgemerkt, ich arbeitete! – späterhin ein großer Staatsmann zu werden. Indem ich nämlich diesen Jungs im Gegenzug zu gewissen Gefälligkeiten, die sie mir erwiesen, Versprechungen machte, die ich bei Einlösefälligkeit mit anderen Versprechungen austilgte, von denen mir natürlich von Anfang an klar war... – Aber das bleibt unbedingt unter uns, das zeugt von meinem Vertrauen zu Ihnen, mein Kumpel! - Mir war natürlich von Anfang an klar, dass ich letztendlich nie und nimmer in meinem Kinderleben auch nur eine einzige Versprechung wirklich würde einlösen können! Aber die Hohlköpfe von damals haben mir alles abgekauft, sie konnten irgendwann gar nicht mehr anders, denn in einer zu schmalen Sackgasse kann man nicht unbeschadet wenden und zurück rudern ist einfach nur peinlich!

Einige dieser Hohlköpfe von damals erweisen sich übrigens auch heute noch als meine Gönner – um sie einmal wertneutral so zu benennen. Ich habe mir also schon als ganz, ganz kleiner Junge damals zu meinem persönlichen Glück das Träumen abgewöhnt, um nicht zu sagen geradezu abtrainiert! Und das war auch gut so, denn sonst wäre ich längst nicht das, was ich heute bin: der mächtigste Mann der Welt! – Also merken Sie sich Wolffsohn, wenn Sie noch etwas werden wollen, dann gewöhnen Sie sich schleunigst das Träumen ab, haben wir uns verstanden?“

„Jawohl, mein Präsident, ich habe Sie unbedingt verstanden...“

Das Pflichtbewusstsein dem Herrn und Meister gegenüber war in diesem Augenblick noch stärker als das kritische Bewusstsein und daher ließ es der Vertraute zunächst mit seinen Überlegungen bewenden und erteilte die erwartete Antwort. Zudem kehrte er sich nun dem aktuellen Tagesgeschehen zu. „Sagen Sie mir aber jetzt bitte: was steht denn heute an, mein Präsident? Damit ich mich auf den weiteren Tagesablauf einstellen kann.“

Der Präsident wurde ernsthaft. Er setzte eine tiefgreifende, eine bedeutungsschwangere und geheimnisvolle Miene auf... Dann sprach er die geradezu historisch anmutenden Worte: „Heute werden wir zur Abwechslung einmal die Welt retten!“

Der beratende Adjutant wurde bleich. Erschrockenheit sprang ihm ins Angesicht. Und furchtsam, ja ungläubig wagte er die Nachfrage: „Gleich die ganze Welt? Geht es denn nicht erst einmal um ein Weniges kleiner? Sollten wir nicht vielleicht erst einmal mit... ähm... tja, womit könnte man denn einmal anfangen, ohne sich gleich so ganz und gar auf das spiegelglatte und gefahrvolle Parkett der Weltbühne begeben zu müssen?“

Er überlegte eine ganze Weile; dann glätteten sich unvermittelt die Besorgnis aussprechenden, tiefen Denkfurchen in der jugendlichen Stirnpartie. Benjamin Wolffsohn hatte eine Idee. „Sollten wir nicht vielleicht zunächst einmal eine seltene Vogelart vor dem Aussterben bewahren? Das käme sicherlich bei der Bevölkerung gut an, wenn wir einen Hilfsfond zum Schutz der heimischen, bedrohten Vogelwelt auflegen würden... - Oder aber wie wäre es, wenn wir ein hungerndes Kind in Afrimerika oder Südostastralien oder irgendwo sonst da unten auf der Weltkugel durchfüttern würden? Nur ein Kind, zunächst zumindest einmal... Symbolisch gesehen quasi, als Zeichen unserer inneren Anteilnahme an den immensen, ungelösten Problemen der Drittel-Welt-Länder! Und doch könnte uns niemand vorwerfen, wir würden unsere Nase zu breit oder tief oder quer in Angelegenheiten stecken wollen, die uns nichts angehen. Na, was meinen Sie, Herr Präsident?“

„Ach was, Wolffsohn, mein Guter, wie langweilig... Nun seien Sie man bloß nicht so bescheiden. Sie wissen doch so gut als ich, dass die Welt nach uns verlangt... Das ohne uns nichts, aber auch gar nichts läuft... Das wir diejenigen sind, die den Laden am Kacken halten. Wir sind die Heilsbringer, wir sind der Maßstab, wir sind das X und das Y und wer... wer, wenn nicht wir, soll Fußballweltmeister werden?!“

Da musste der Präsidialberater mit seinem jugendlichen, gewinnenden Lächeln nun doch ein scheinbares Verstehen nach außen kehren. Und erleichtert sprach er: „Ach so, ich begreife... Das war natürlich auch nur als Scherz von Ihnen gemeint, Herr Präsident, was die heutige Rettung der Welt betrifft...“

Er lag allerdings hier mit seiner Deutung falsch.

Georg Joachim Erwusch jedenfalls blieb ernst und streng. Und er ließ sich seine Irritation anmerken, als er nun sprach: „Aber mein guter Sohn, was ist dies? Ich bin enttäuscht... Sie glauben nicht wirklich an unser Sendungsbewußtsein? Sie zweifeln insgeheim an der höheren Aufgabe, die uns beschieden ist? Aber wieso denn jetzt das? Was fällt Ihnen denn ein?“ Der Präsident wurde geradezu störrisch und knatschig. „Das stimmt doch wohl alles, mit der Rettung, mit der Befreiung, mit der Freiheit! Das haben wir doch letztens erst wieder erlebt... in... äh... wie schimpft sich denn das Land noch einmal, wo unsere Jungs den Eingeborenen so nebenbei gezeigt haben, wo’s lang zu gehen hat auf der Welt... Na, ist ja auch egal. Auf jeden Fall zieht es sich historisch belegbar quer durch unsere Geschichte und Geschicke! Das ist nun einmal nicht weg zu leugnen, dass wir schon etwas besonderes sind! Nirgendwo sonst auf der Erdkugel haben wir schließlich so viele gut ausgebildete Landsleute, wie hier in unserem eigenen Land! Und dann ist doch eines wohl unumstößlich klar: das werden wir ständig haben, dass wir die Welt retten müssen! An unserm Tresen wird die Welt gelesen! Das ist doch längst kein wirkliches Geheimnis mehr... – Wer soll denn das ansonsten erledigen dürfen?“

„Entschuldigen Sie, Chef, aber... was genau meinen Sie bitte mit `erledigen´? Sie haben doch nicht etwa wieder eigenmächtig... Sie erinnern sich wohl hoffentlich noch an die Folgen Ihrer letztmaligen Eigenmächtigkeit?“

Bei genauem Hinhören war aus der Anfrage des präsidialen Beraters ganz entschieden ein Anflug des in ihm gärenden Ohnmachtempfindens zu verspüren! Ein Gedanke zuckte sogleich durch des Beraters stete Wachsamkeit: wo mochte die präsidiale Wortodyssee noch hinführen? Doch für den Augenblick zwang die jugendliche graue Eminenz sich selbst in den Ruhepol zurück...

Der Präsident gab sich unbesorgt. „Aber nein, aber nicht doch mein Sohn, keine Sorge... Das habe ich längst begriffen, dass mir Ihr kluges, wohldurchdachtes Ränkespiel zumeist sehr zupass kommt! Sie behalten eben immer die Übersicht, nicht wahr? Das ist mir ja nun einmal nicht so gegeben. Ich bin da irgendwie direkter und in dieser Hinsicht ergiebiger!“

„Gestatten Sie mir ein offenes, freches Wort, mein Präsident Erwusch. Es mag sehr gut sein, dass Sie mit Ihrem netten Humor in der Kategorie `Allgemeine Belustigungen´ um einen eventuell ausgeschriebenen Publikumspreis in der vordersten Kandidatenlinie mit marschieren würden. Aber Sie wissen selbst, Herr Präsident, dass insbesondere in hochpolitischen Gefilden die humoristischen Untertöne oft und gerne in ihr Gegenteil verkehrt werden! Und das kann uns ratzfatz den Kopf kosten! Sollten wir dagegen dem Gegenspieler zuvorkommen und seine geheimen `Unterschwelligkeiten´ zu unseren Gunsten auslegen, dann kann das genau so gut ihm...“

Benjamin ließ den Satz unausgesprochen mit einer Handbewegung ausrollen, die für sich selbst sprach.

Der Präsident gab sich ahnungslos und tat höchst erstaunt. „Solche Dinge geschehen in unserem hochentwickelten Land? So etwas passiert hier?“

„Aber mein Präsident, manchmal ist es gewiss vorteilhafter, wenn Sie bestimmte Sachverhalte nicht allzu genau durchschauen. Glauben Sie mir, unser Handeln wird dann dennoch ganz von Ihrem Sinnen und Trachten bestimmt. Das könnte ich Ihnen einhundertprozentig bestätigen, allerdings erbitte ich mir das Siegel der strickt zu befolgenden Verschwiegenheit von Ihnen!“

Vertraulich winkte Georg Joachim Erwusch das linke Ohr seines Beraters in die allernächste Nähe seines Mundes und er flüsterte in die empfangsbereite Gehörmuschel. „Ich schweige wie ein Grab!“ beteuerte er.

Der jugendliche Berater reckte daraufhin sein energisch-spitzes Kinn weitestmöglich in den Raum und mit nunmehr rötlich schimmernder Gesichtsfarbe schwang er sich in den Dozentensattel. „So erlaube ich mir Ihnen nun ein Paradebeispiel aus dem Bereich der politisch motivierten Intrige darzulegen. Hören Sie mir gut zu: ich kann Ihnen das so genau auseinandersetzen, da wir selbst bei entsprechend vorliegender Notwendigkeit die nämliche Taktik anwenden... Hat sich nicht schlecht bewährt, die `Verkehrung in das Gegenteil´... Und der Witz ist: die depperte Opposition hat das bislang noch nicht einmal spitz gekriegt! So sehr sind sie damit beschäftigt die eigenen Intrigen zu spinnen, dass sie die gegen sie selbst ins Feld geführten Bataillone nicht wahrnehmen werden!“

Dem Präsidenten wurde das Thema allmählich allzu heikel. Es schien ihm offensichtlich dringend geboten, ein gewisses Maß an Entrüstung vorzuweisen. „Wolffsohn, wie sprechen Sie denn? Und was sagen Sie da? Das will ich nicht hören! So etwas machen wir? Ja, ist denn das erlaubt? Ist das denn nicht unfair und gemein? Sollten wir das nicht anzeigen? – Auf jeden Fall habe ich das nicht vernommen... Sie verstehen schon, nicht wahr?“

Georg Joachim Erwusch setzte eine verschwörerische Miene auf und ließ im Unterton eine hauchzarte, nur eben angedeutete Spur von Drohung durchschimmern.

Benjamin beeilte sich flugs zu versichern, er habe natürlich verstanden und - ehrlich gesagt - auch nichts anderes erwartet... Das soeben geführte, vertrauliche Gespräch zwischen ihnen beiden habe selbstverständlich in der Form niemals stattgefunden.

Der Präsident war es für den Augenblick zufrieden, erhob sich von dem orientalisch gemusterten Diwan und begab sich in aller Gemütsruhe an den so reichhaltig gedeckten Frühstückstisch, wo er genüsslich sein Drei-Minuten-Ei köpfte...

Der Tag des Präsidenten

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