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Willkommen auf dem Friedhof der Konzepte
ОглавлениеMögest du in jeder Wendung deines Lebens
die zärtliche Hand Gottes erkennen,
die dein Herz weiter macht
und dir Gelegenheit gibt, dich auf ganz neue Weise
in die Welt zu verlieben.
Die Geschichte unseres Glaubens ist selten eine Geschichte des permanenten Vertrauens, das uns erfüllt und uns niemals wanken lässt. Es gibt Momente, in denen uns eine gewisse Sicherheit trägt, dann aber auch wieder Momente, in denen wir glauben wollen, aber nicht können, in denen uns alle Glaubensinhalte nur wie reine Selbstkonditionierung vorkommen. Mir persönlich schien es oft, als hätten in mir ein hingebungsvoller Johannes und ein zweifelnder Thomas eine WG gegründet, in der sie nächtelang am Küchentisch diskutierten. So lange, bis ich von ihrem Gerede so genervt war, dass ich vom ganzen Thema Spiritualität nichts mehr wissen wollte. Hinzu kam, dass mein innerer Johannes sich leider als ein sehr stilles und in sich gekehrtes Bürschchen herausstellte, während mein innerer Thomas nie um ein gutes Argument verlegen war und jedes zarte Gefühl, das Johannes zeigen mochte, als bloßen Kitsch oder Bedürftigkeit identifizierte und somit alles wie eine Abrissbirne des Zweifels zerstörte.
Dabei hatte Jesus mich schon immer fasziniert: Seine Lehren, seine lebensnahen Gleichnisse, sein revolutionärer Blick auf die Welt, sein Reden über ein neues Reich der Gerechtigkeit, das wir selbst erschaffen könnten, und ebenso seine Wirkung auf Menschen wie Martin Luther King jr. oder Mahatma Gandhi waren für mich Eckpfeiler meiner Weltsicht.
Die Institution, die sich angeblich seiner Lehren angenommen hatte, beeindruckte mich dagegen weit weniger. Ihre Macht, die sie stets für sich genutzt hatte, auch wenn sie dafür jede Lehre Jesu verdrehen musste, ihre unrühmliche Rolle bei so vielen Gelegenheiten in der Geschichte, die religiös verbrämte Legitimation von Ungerechtigkeiten und Verbrechen, die Unterstützung, die sie Despoten zukommen ließ, wenn sie darauf hoffte, dadurch ihren eigenen Einflussbereich sichern zu können … all das schreckte mich eher ab. Wenn die Kirche Menschen im Namen dessen verurteilte, der nie einen Menschen verurteilt hatte, dann war das für mich an Schizophrenie kaum noch zu überbieten.
Und selbst wenn ich versuchte, darüber hinwegzublicken und mich auf die wirklich großartigen Einzelpersonen innerhalb dieser Institution zu konzentrieren, fühlte ich mich doch nie zu Hause. Wenn ich mal einen Gottesdienst besuchte und auf einer Kirchenbank neben drei winzigen Omis mit blau schimmernden Dauerwellen saß, die mit brüchigen Stimmen Kirchenlieder trällerten, während die Orgel etwas ganz anderes spielte, dann fand ich das in gewissem Sinne niedlich, aber dabei berührte mich innerlich einfach gar nichts. Wenn ich dann noch auf die Texte achtete wie „O ich armer Sünder“ oder „O Haupt voll Blut und Wunden“, wurde mir immer recht schnell bewusst, dass ich mich am falschen Ort befand.
Ich muss gestehen, dass ich irgendwann den gängigen Fehler beging, Glauben und Institution zu verwechseln, und als ich diejenigen, die ständig von Gott schwafelten, aus meinem Leben schmiss, auch gleich Gott selbst mit hinauswarf.
Eine unbestimmte Sehnsucht jedoch blieb. Eine Sehnsucht nach Mehr, nach Sinn und nach Tiefe, die mich eines Tages zu einem Buch des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber mit dem schönen Titel „Gottesfinsternis“ führte, in dem mich ein Satz förmlich ansprang: „Wir können das Wort ‚Gott‘ nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganz machen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.“2
Dieser Satz erschien mir, als sei er nur für mich geschrieben worden. In meiner Welt war das Wort „Gott“ entheiligt worden und ich hatte es nicht mehr ertragen, davon zu reden, obwohl ich doch instinktiv wusste, dass ich mir selbst etwas raubte (oder rauben ließ), wenn ich völlig auf die Verwendung und somit auch auf den Inhalt verzichtete. Mir wurde die Leerstelle bewusst, die dabei entstand, die Traurigkeit, die mich hinunterzog und mir den Blick für alles Gute verstellte.
Und indem mir die Leerstelle bewusst wurde, verwandelte sie sich in einen Sog, der nach Buber – der mir noch ein aufmunterndes „Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen andern“3 mit auf den Weg gab – alles an mystischer Literatur in mich hineinspülte, dessen ich habhaft werden konnte.
Es war erhellend und bewegend, Meister Eckhart, Angelus Silesius oder Bernhard von Clairvaux zu lesen, mich mit Hazrat Inayat Khan oder Rumi auseinanderzusetzen und in die Gedankenwelt Hildegards von Bingen abzutauchen, aber ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht konnte ich mit diesen Menschen leider nicht mehr führen.
Solch ein Gespräch ergab sich erst später, als ich im Internet auf ein Video stieß, in dem Ken Wilber einen reichlich schrägen irischen Priester interviewte, der in Kalifornien eine Gemeinde leitete. Ich recherchierte, sah, dass dieser Priester auch ein Buch geschrieben hatte, las es begeistert und entschied mich, dieses Werk in deutscher Übersetzung in dem Verlag herauszugeben, in dem ich damals arbeitete und in dem ich jede Freiheit genoss. Mit unserem ersten Telefonat begann dann ein Gespräch, das bis heute nicht abgerissen ist … Ich wählte die Nummer in den USA, nachdem ich mich auf Vertragsverhandlungen vorbereitet und alle Zahlen parat hatte, die ausländische Autoren am meisten interessieren: Vorschusshöhe, Honorarstaffelung, Erscheinungsdatum, Höhe der Erstauflage. Doch Seán am anderen Ende der Leitung interessierte das alles nicht die Bohne. Er fragte mich nur eine Sache: „Warum? Warum möchtest du so ein Buch herausbringen?“
Ich muss gestehen, dass ich ob dieser Frage völlig perplex war und eine Weile herumstammelte, bis ich mich dazu entschloss, ihm einfach die Wahrheit zu sagen: dass ich selbst diese Leerstelle in meinem Herzen fühlte und dass ich die großartige Möglichkeit besaß, meiner eigenen Suche auch beruflich zu folgen, und Bücher herausbringen konnte, von denen ich mir versprach, dass sie mir auf meinem Weg halfen und unter Umständen auch anderen Menschen dienlich wären. Seán hörte ruhig zu und ich hatte das Gefühl, ihm alles sagen zu können, nichts zurückhalten, nichts zensieren zu müssen. Ich erzählte ihm von meinen Zweifeln und von meiner Überzeugung, dass ich wohl nie das werden würde, was man gemeinhin unter einem echten Christen verstand. Ganz lapidar meinte er nur: „Muss das irgendjemand sein?“
Ein halbes Jahr später erschien das Buch, Seán kam nach Deutschland geflogen und wir gingen das erste Mal gemeinsam auf Tour, verstanden uns von Anfang an prächtig und hielten in unseren Gesprächen stets eine gesunde Balance zwischen spirituellem Tiefsinn und gut gelauntem Blödsinn.
Seán war in der Tat der ungewöhnlichste katholische Priester, den ich jemals kennengelernt hatte. Ganz abgesehen von seinem leicht hippieartigen Äußeren, das viele Menschen überraschte, waren es vor allem seine Ansichten und die Konsequenzen, die er daraus zog, die mich beeindruckten. Als junger Priester war er nach Afrika geschickt worden, um dort zu missionieren, war aber eher selbst missioniert worden, wie er immer sagte. Die Erde, das Land und die Menschen zu lieben, war für ihn gleichbedeutend mit einem Gottesdienst. Zusammen zu feiern und zu tanzen, war für ihn das beste Gebet. Einen Menschen zu umarmen, ihm zuzuhören und ihn wirklich zu sehen, war für ihn Kontakt zum Mysterium selbst.
Als er Afrika verließ, konnte er nicht nur fließend Suaheli sprechen, sondern nahm von dort auch eine innere Freiheit mit, die er in jungen Jahren nicht gehabt hatte und die er nun niemals mehr missen wollte. Er ging nicht zurück nach Irland, sondern arbeitete in einer Gemeinde in Kalifornien, wo es aber nach einigen Jahren zu Problemen kam, da nicht allen Menschen (vor allem den Vorgesetzten) seine Art gefiel. Seán hatte keine Hemmungen, schon in den 1990er-Jahren schwule und lesbische Paare zu verheiraten, und fragte auch gar nicht lange, bevor er dies tat. „Liebe ist Liebe“, sagte er immer, „und Gott liebt die Liebe. Warum sollte ich mich also gegen irgendeine Liebe stellen, wo ich doch angeblich ein Diener Gottes bin?“
Nicht jeder Diener Gottes verstand seinen Dienst aber in dieser Weise, und so musste Seán die Gemeinde letztlich verlassen. Was dann geschah, hatten die Kirchenoberen aber in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorausgesehen: Etwa 500 Gemeindemitglieder entschlossen sich kurzerhand, Seán zu begleiten, ihre Ursprungsgemeinde ebenfalls zu verlassen und gemeinsam eine neue Gemeinschaft zu gründen: die Companions On The Journey, die Gefährten auf dem Weg. Hier blühte Seán richtig auf, feierte Gottesdienste mit Katholiken, Protestanten, Hindus, Moslems, Juden und Buddhisten, teilte das Abendmahl mit homosexuellen, transsexuellen, atheistischen und geschiedenen Menschen. Er lud also auch all diejenigen an den großen Tisch Gottes, die an anderen Orten der Kirche nicht gern gesehen waren.
Einmal im Jahr besuchte er seine Familie in Irland, flog für vier Wochen herüber und verbrachte Zeit mit seinen Eltern und Geschwistern, seinen zahlreichen Nichten und Neffen … und mit mir. Wir trafen uns öfter auf der grünen Insel, gingen am Atlantik spazieren, unterhielten uns über Gott und die Welt. Wir liebten beide Hunde, die Berge und das Meer, und hatten ebenso eine gemeinsame Abneigung gegen Hierarchien, Ignoranz und Brokkoli. Mit anderen Worten: Wir verstanden uns blind.
Bei all diesen Gelegenheiten festigte sich nicht nur unsere Freundschaft immer mehr, ich begegnete in Irland auch einer fast vergessenen Tradition, die mir half, wieder Vertrauen in das Christentum zu fassen und Jesus ganz jenseits von der Institution Kirche wieder zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens werden zu lassen.
Meist holte Seán mich am kleinen Flughafen in Cork ab. Ich stand vor der Abfertigungshalle und wartete auf den „besten katholischen Shuttle-Service der Welt“, wie Seán sich angekündigt hatte. An solchen Orten die Menschen zu beobachten, kann ein unterhaltsamer Zeitvertreib sein, allerdings wird man manchmal auch auf unliebsame Weise mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert.
Ich bemühe mich zwar stets, nicht allzu oberflächlich zu sein, doch als ich dort stand und ein tiefergelegtes Mercedes-Cabrio mit Breitreifen und lila-türkis-changierender Sonderlackierung angerollt kam, war mein erster Gedanke: „Ach, guck mal, der örtliche Drogenverticker kommt auch schon …“ Und ich schaute mich sogleich um, ob ich nicht irgendwo seine Freundin im Leoparden-Minikleid entdecken konnte, die er hier abholte. Doch als diese Blech-Scheußlichkeit vor mir anhielt und ich das grinsende Gesicht von Seán und sein aufforderndes Winken sah – und mir bewusst wurde, dass ich die Freundin im Leoparden-Kleid war – zerbröckelte diese Geschichte in meinem Geist. Ich warf meine Tasche in den Kofferraum und ließ mich auf die weißen Ledersitze plumpsen.
Seán brachte es gleich auf den Punkt: „Na, was anderes erwartet?“
Das war das Schöne an ihm: Man konnte mit ihm stundenlang über Theologie, die christliche Mystik oder das rätselhafte Wellen- bzw. Teilchenverhalten von Licht diskutieren, aber die wirklich wichtigen Dinge brachte er einem ganz beiläufig mit einem dahingeworfenen Satz bei. Er war kein Freund von Erwartungen und anderen verfestigten Geisteshaltungen, ließ sich immer auf alles ein und zeigte an allem ein offenes Interesse. Er hatte wirklich in Bezug auf rein gar nichts eine Theorie, wie es sein sollte, sondern schaute immer einfach darauf, was sich zeigte. Und er durchbrach gern die Vorstellungen, die andere sich von der Wirklichkeit machten. Ich hätte es ihm also wirklich zugetraut, dass er sich extra für diesen Abholdienst am Flughafen diese Zuhälter-Kutsche besorgt hatte, doch er klärte mich sogleich auf und erzählte mir, dass sein Bruder mit Gebrauchtwagen handelte und ihm immer für seinen Besuch in Irland irgendeinen Wagen zur Verfügung stellte, mit dem Seán dann herumbrausen konnte. Als ich Seamus und seinen Sinn für Humor später kennenlernte, fragte ich mich allerdings sofort, ob der Wagen vielleicht eine späte Rache für einen erduldeten Kindheits-Streich war.
Wie auch immer: Seáns kleiner Seitenhieb auf enttäuschte Erwartungen ließ uns gleich in ein Gespräch über die christliche Mystik und Meditation eintauchen, über eine innere Verfassung, die uns loslassen hilft, die uns mit neuen Augen sehen und uns dem gegenwärtigen Geschehen vorurteilsfrei zuwenden lässt.
Seán wusste nur allzu gut von meiner allgemeinen Ernüchterung, was Glaubensangelegenheiten betraf.
„Hat vielleicht auch mit enttäuschten Erwartungen zu tun“, sagte er. „Du erwartest von der Kirche, dass sie sich den Menschen zuwendet und sie bei ihrer Suche nach Gott unterstützt, während die Kirche nur erwartet, dass sich die Leute gefälligst an das halten, was sie mühsam versucht zu bewahren. Und dabei verstellt ihr die eigene Lehre den Blick auf die Wirklichkeit.“ Er lachte, schnitt eine Kurve und bretterte viel zu schnell zwischen winzigen Häusern und niedrigen Steinmauern entlang.
„Ich glaube, eine religiöse Institution ist immer in Versuchung, alles zu beschützen, was ihr lieb und teuer ist, und befindet sich damit ständig in Rückzugskämpfen. Und dann verkommt auch Gott zu einem festgefügten Bild, das man verteidigen muss, etwas, von dem man genau zu wissen meint, wie es aussieht, wie es beschaffen ist … Na ja, und wie alle anderen es sehen sollen.“
Ich nickte, nachdenklich, aber zustimmend. „Stimmt wohl. Gott ist dann Position und nicht mehr Situation.“
Seán machte einen kleinen Freudensprung auf seinem Sitz: „Genau! So kann man das eindampfen.“
Genau wie für mich war Gott für Seán tatsächlich immer Situation, immer aktuell, immer jetzt, immer lebendig, ein Geschehen, eine Geschichte, die sich in jedem Moment verändert und die stets einen offenen Ausgang hat. Eine Position dagegen ist genau das Gegenteil. Sie ist starr, unflexibel und im Grunde genommen tot.
Hier in Irland überkam mich nicht zum ersten Mal das Gefühl, als würde irgendetwas darauf warten, die seltsame Leere, die ich spürte, mit einem tiefen und seelenvollen Gehalt zu füllen. Einem Gehalt, der eher zwischen den Zeilen, zwischen den Menschen, zwischen den Schafgattern und Pubs wie ein unterschwelliger Pulsschlag zu fühlen war, eine leise gespielte Bodhran, die Lieder und Geschichten begleitete, welche von längst vergangenen Zeiten berichteten.
Nach und nach sollte ich verstehen, dass einer der größten Unterschiede zwischen unserer modernen Weltsicht und der der alten Kelten wohl darin besteht, dass wir versuchen, die Welt in Konzepte und Theorien zu fassen, um sie zu verstehen, während die Kelten als geborene Mystiker ihre Welt in Geschichten darstellten. Letztere sind weitaus offener, interpretationsabhängiger und eher an transformativer Wahrheit als an bloßen Fakten interessiert.
Die Geschehnisse, die in Mythen verpackt überliefert wurden, die Heldengestalten und Götter, die Interaktionen mit der Anderswelt und dem Göttlichen in vielerlei Ausformungen, sind ein Raunen aus der Tiefe der Zeit. Wir spüren eine Kraft, wissen aber nicht genau, wie sie beschaffen ist oder was sie in uns bewirkt. Wir ahnen etwas, spüren etwas, aber eine genaue Definition entzieht sich unserer Kenntnis. Es sind Geschichten, die etwas in uns anrühren, aber keine Philosophie, die mit analytischen Methoden arbeitet. Es sind keine Formeln, die Antworten liefern, sondern eher die ganz großen Fragen, die von uns eine gelebte Antwort fordern. In ihnen darf die menschliche Fantasie lebendig bleiben, sich vortasten, eigene Schlüsse ziehen und von dort aus weitergehen, immer der eigenen Sehnsucht folgend.
Der leider viel zu früh verstorbene Philosoph und Dichter John O’Donohue sagte einmal: „Die Fantasie ist die beste Freundin der Möglichkeit. Wo die Fantasie lebendig und wach ist, verhärtet oder verschließt sich das Faktische nicht, sondern bleibt stets offen und lädt zu neuen Schwellen der Möglichkeit und Kreativität ein.“4
Ähnlich sind die Geschichten der Bibel aufgebaut, auch wenn einige Zeitgenossen es lieber sähen, wenn es fest formulierte Handlungsanweisungen wären, die immer und für alle Zeit ihre wörtliche Gültigkeit haben würden. Seán sagt immer zu mir: „Die Bibel muss man lesen wie eine richtig gute antike Zeitung. Da werden wichtige Ereignisse geschildert, aber ebenso ganz persönliche Kommentare und Meinungen abgegeben; da gibt es Gedichte und Geschichten, einen Fortsetzungsroman, eine Rätselseite, die Wirtschaftsnachrichten und die politischen Seitenhiebe; da werden Vorkommnisse gedeutet und gefragt, was sie für den jeweiligen Verfasser bedeuten; es gibt Mitteilungen, die über einen begrenzten lokalen Bezug nicht hinausreichen, und solche, die globale Bedeutung, ja kosmische Bedeutung haben. Nur einen Comicstrip habe ich bislang noch nicht entdeckt. Aber vielleicht finden sie in Nag Hammadi oder so ja noch mal was in der Richtung. Man weiß ja nie …“
Dieser weite Sinn für Geschichten ist vielleicht ein Grund, warum die Kelten dem Christentum relativ offen gegenüberstanden, während andere zuvor heidnische Völker eher schwerlich Zugang fanden: Die Gleichnisse Jesu sind ähnlich offen wie die keltischen Mythen. Sie erzählen etwas, doch die Schlussfolgerung muss man selbst treffen. Auf diese Weise bleiben religiöse Vorstellungen lebendig. Sie bewegen sich, mäandern durch die Zeit, fordern jeweils auf andere Art heraus, verlangen, dass man mit seiner ganzen Existenz Antwort auf die implizierten Fragen gibt. Diese ursprüngliche Lebendigkeit begegnete mir in einem keltisch geprägten und damit ganz anderen Christentum und wurde für mich zu einem fast taoistischen Fließen, das mich endlich wirklich erreichte und was mich so sein und so glauben ließ, wie es mir entsprach.
Was mich wirklich bewegte, fand ich hier in mannigfaltiger Ausprägung: schlichte und mitfühlende Menschlichkeit. Das Reich Gottes ist ein anderer Name für diese Menschlichkeit. Es ist nicht festgefügt, es ist kein magischer Ort, der irgendwo weit entfernt unserer Ankunft harrt, es ist kein Luftschloss, kein Ideal. Das Reich Gottes ist ein lebendiges Geschehen, gestaltet von uns Menschen, die auf eine neue Weise leben möchten, die mit all ihren menschlichen, tierischen und pflanzlichen Brüdern und Schwestern eine wahrhaftige Beziehung eingehen möchten.
Ebenso bleibt auch Gott lebendig, wenn wir ihn als Geschehen betrachten, als das, was zwischen uns geschieht, wenn wir einander auf einer wirklich tiefen Ebene begegnen.
Gott als Person ist ein Konzept, eine Vorstellung, die wir jeweils so ausgestalten, wie es gerade für uns von Vorteil ist. Das zeigt sich vor allem dann, wenn Menschen davon reden, was angeblich Gottes Wille sei. Gott will dies, Gott will das – und wie es der Zufall will, stimmt Gottes Wille mit dem überein, was mir gerade als Ziel meines Tuns vorschwebt. Und so kann ich andere Länder überfallen und Menschen unterjochen, die nicht meinen Glauben teilen (wie könnten sie auch!), ich kann Menschen mit einem anderen Lebensstil verurteilen, da Gott ja nur meine ganz persönliche Art als richtig und gut abgesegnet hat. Und so kann ich mich immer weiter in ein „Ich bin richtig, die sind falsch!“ hineindenken und mich dabei von meiner Religion gerechtfertigt betrachten.
Seáns Einstellung und – wenn ich verallgemeinern darf – auch die Haltung der frühen keltischen Christen war eine ganz andere: Hier ist Gott eher eine wirkende Kraft, ein Werden und Wachsen, ein liebendes Geschehen zwischen gleichgestellten Gegenübern. Und solch ein liebendes Geschehen kennt keine starren Grenzen, kein für immer gültiges Richtig oder Falsch, sondern ist stets von Mitgefühl und Offenheit geleitet. Es ist eine Bewegung des Herzens, das um seine eigenen Fehler weiß und daher die der anderen achtsam halten kann. W.H. Auden hat das mit seinen berühmten Zeilen aus seinem Gedicht As I Walked Out One Evening in wunderschöne Worte gefasst: „Du sollst lieben deinen krummen Nächsten mit deinem krummen Herzen.“5
Die Kelten hatten diese Aufforderung schon verinnerlicht, als das Universum noch gar nicht an W.H. Auden gedacht hat.