Читать книгу Der letzte Admiral 3: Dreigestirn - Dirk van den Boom, Emmanuel Henné - Страница 7

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Es wurde dunkel dort, wo sie hingeführt wurden, etwas kühler und ein klein wenig schäbig. Nicht schäbig wie in einem Crawlerschiff, aber schäbig wie in: »Hier wische ich nur einmal im Monat durch und auch das nicht richtig.« Das schien den Mann in der schicken Uniform nicht zu beeindrucken und er hastete mit einer Geschwindigkeit vor ihnen her, die nur zwei Schlüsse zuließ: Er floh vor etwas oder er musste schnell etwas erreichen, im Zweifel auch beides.

Sein Verhältnis zu der Automatik, die diese Station steuerte, war aber offenbar ein zwiespältiges. Er lebte, aber er sah sich misstrauisch um. Ryk konnte damit noch nicht allzu viel anfangen.

Eine Treppe ging es hinab, dann durch zwei Türen, von denen sich eine mit einem leisen Quietschen öffnete, was Ryks Eindruck der Schäbigkeit nur bestätigte.

Dann standen sie in einem Raum, der eine ganz seltsame Mischung aus Krankenstation und leicht vernachlässigtem Wohnzimmer darstellte, eine andere Assoziation fiel Ryk beim besten Willen nicht ein. Ein großes, tankähnliches Gebilde stand an einer Wand, bedeckt mit allerlei Kontrollen und Zuleitungen. Über ihre Bedeutung gaben Form und Aussehen keine Auskunft, zumindest nicht für jemanden wie Ryk, dessen technisches Verständnis immer noch stark zu wünschen übrig ließ. Dann standen da aber auch zwei Sofas, ein Tisch, eine Art Kochecke, die durch einen Nahrungsautomaten dominiert wurde, und eine flache Kommode, in deren halb geöffneten Schubladen Kleidung zu erkennen war.

Der Admiral – falls er der war, der er zu sein schien, oder auch nur irgendein Mensch – wirkte erleichtert, als sie den Ort erreicht hatten. Er wies auf die Sofas. »Es ist nicht viel, aber es ist bequem. Bitte setzen Sie sich. Ich habe es sehr eilig, denn meine Zeit läuft ab. Es hat diesmal alles länger gedauert als gedacht. Der Tank wird alt und ich habe keine Ersatzteile.«

Er zeigte auf das Ungetüm an der anderen Wand. Der Tank, dachte Ryk. Das sagte ihm erst mal nichts, aber zum Glück gab es unter ihnen jene, die eher etwas mit dem Wort anfangen konnten.

»Was ist das? Wurden Sie dort tiefgefroren?«, fragte Uruhard.

Der Admiral schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt selbst Platz genommen, wirkte aber immer noch angespannt, als würde er auf eine böse Überraschung warten. Diese Haltung übertrug sich auf Ryk, der sich immer noch unruhig fühlte. »Nein. Eine naheliegende Vermutung, das gebe ich zu. Die Geschichte, die Sie hierhergeführt hat, ist bestimmt spannend, wenngleich nicht vollständig. Aber wir können das später diskutieren.«

»Was …?«, fing Sia an.

Rothbard hob eine Hand. »Nein, wirklich später. Meine Zeit ist abgelaufen. Es war knapp und ich habe keine Gelegenheit, jetzt sofort alles zu erklären. Erst muss etwas passieren. Nicht schockiert sein, bleiben Sie alle ganz ruhig und hören Sie mir gut zu: Ich werde mich jetzt töten.«

»Was …?«, fing Ryk an.

Rothbard seufzte und er war definitiv ungeduldig, denn er sprach nun sehr schnell und etwas gehetzt. »Keine Fragen. Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich muss sterben. Ein Roboter wird meine biologischen Reste entsorgen. Machen Sie sich keine Gedanken. Sieht bestimmt etwas erschreckend aus, ich weiß es nicht, ich habe mir nie dabei zugeschaut. Keine Sorge. Etwa drei Stunden später werde ich aus diesem Tank steigen und Ihnen alles erklären. Das heißt – ich werde es nicht sein. Jemand, der wie ich aussieht. Es macht aber keinen Unterschied, ich habe die Erinnerungen dieser Begegnung im Feed.« Er tippte sich an die Stirn. Ein Tattoo mit einem Edelstein hatte er nicht, was Ryk als beruhigend empfand.

»Aber was …?«, fing Uruhard an.

Aus ihren Fragen wurde nichts mehr.

»Nein, nein. Hören Sie! Bleiben Sie hier. Verlassen Sie diesen Raum auf keinen Fall! Er liegt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Stationsautomatik, das ist so eingestellt. Wenn Sie ihn verlassen und rumlaufen, finden die Roboter Sie, und das wäre keine gute Idee. Lassen Sie sich nicht täuschen. Warten Sie bitte, bitte, bitte, bis ich wieder aus dem Tank klettere. Oder eben nicht ich. Mein Nachfolger. Bitte. Ich bitte Sie eindringlich. Drei Stunden. Der Nahrungsautomat funktioniert. Die Tür da? Die Toiletten. Bitte.«

Er schaute an die Wand. Dort hing eine Uhr.

»Ich muss jetzt gehen. Spaß macht mir das nicht.«

Dann hob er eine Hand, in der er plötzlich einen Injektor hielt. Er setzte ihn übergangslos an seinen Hals, es war ein feines Zischen zu hören, dann sackte die Gestalt plötzlich in sich zusammen und fiel krachend zu Boden. Der Körper zuckte ein- oder zweimal, die Augen starr an die Decke gerichtet, der Injektor kullerte davon. Dann war der Körper ruhig.

Alle waren ganz sprachlos. Der Mann hatte beileibe nicht gescherzt.

Sia kniete sich zögernd neben den Regungslosen und berührte die Halsschlagader.

»Tot«, sagte sie mit belegter Stimme. »Mausetot.«

Ein schabendes Geräusch ertönte. Aus der Unterseite des Tanks kam eine flache Maschine gekrochen, die dafür breit wie ein Bett war, und bewegte sich zielstrebig auf die Leiche zu.

Sia machte einen Schritt zurück. Sie wollte definitiv nicht aus Versehen mit entsorgt werden.

Der Roboter positionierte sich neben der Leiche und hob sie dann hoch. Der schlaffe Leib wurde abgelegt und dann bewegte sich die Maschine wieder zu ihrem Ursprungsort und eine Klappe schloss sich hinter ihr.

Ryk hatte definitiv kein schmatzendes Geräusch gehört, so etwas war nur seiner überreizten Fantasie entsprungen.

Dann aber erwachte der Tank. Kontrollen leuchteten auf. Sia runzelte die Stirn, ging hinüber zu der Anlage und betrachtete die Anzeigen mit mehr als nur reiner Neugierde. Sie schien ein Verständnis für das zu haben, was sich hier abspielte, und die Faszination ging über ihre natürliche Affinität zu technischen Errungenschaften der Vergangenheit hinaus. Dann, nach einigen Minuten, in denen der Tank vernehmlich vor sich hin gesummt hatte, nickte sie, mehr zu sich selbst. »Ah ja«, murmelte die Sängerin. »So, so.«

»Können wir in den Genuss deiner Erkenntnis kommen?«, fragte Ryk. Er respektierte Sias überragendes Verständnis, noch mehr aber schätzte er, wenn man die Unwissenden sogleich über Ergebnisse in Kenntnis setzte.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Das sind wir uns ja nie«, erwiderte Uruhard. »Was vermutest du?«

»Der Tank und die Anzeigen erinnern mich an Teile meiner Ausbildung, vor allem aber an eine mittlerweile funktionslose Apparatur im Labor von Onkel Dassio. Ich durfte sie mir vor meiner ersten Operation ansehen und erinnere mich, dafür nicht das geringste Verständnis aufgebracht zu haben.«

»Worum handelte es sich?«

»Ach, ganz banal«, sagte Sia mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ein Gerät, mit dem man, basierend auf der DNA eines Patienten, abgetrennte Gliedmaßen neu heranwachsen ließ, um sie nachher operativ mit dem Körper zu verbinden. Hand ab, neue Hand, Hand wieder da. Wir haben eine etwas kleinere Fassung in der Krankenstation der Aurelius, glaube ich. Sehr praktisch. Funktioniert mit allen Gliedmaßen und Organen, nur am Kopf scheiterte die Technik.« Sie hielt inne. »Nein, der Kopf geht auch. Das Gehirn und das zentrale Nervensystem waren das Problem, wenn ich mich recht entsinne. Das hier aber«, sie zeigte auf den Tank, »ist ohne Zweifel eine Nummer größer.«

»Nun, groß ist er«, kommentierte Ryk. »Darin werden also Organe gezüchtet, für Unfallopfer?«

»Ich glaube, es wird weitaus mehr gezüchtet als nur Organe. Ich tippe mal auf vollständige Körper.«

Ryk schaute sie etwas ungläubig an, aber Sia war bar jeder Ironie und schaute den Tank beinahe mit der gleichen Zärtlichkeit an, mit der sie ihn manchmal betrachtete. Die Hybride hatte sich selbst einmal scherzhaft als technosexuell bezeichnet und so langsam bekam Ryk einen Eindruck davon, was genau sie damit eigentlich meinte.

»Da werden Körper herangezüchtet?«, fragte Uruhard. »Um sie nachher auszuschlachten, wie in einem Schlachthof?«

»Das wäre ineffizient. Wenn ein Organ fehlt, ist es sinnvoller, es einzeln herzustellen. Nein, dieser Körper wird erstellt, damit er autonom funktioniert.«

»Aber die Seele.«

Alle schauten Momo an, der sich in diesem Moment auch noch als spirituell interessierter Mann entpuppte. Es war eine Zeit großer Wunder.

Sia warf noch einen letzten Blick auf den Tank, aus dem nun ganz leise, rumpelnde Geräusche zu hören waren, als würde jemand darin eine Suppe anrühren. Möglicherweise ein Vergleich, der gar nicht so unsinnig war, wie er sich anhörte.

»Ich verstehe deinen Einwand, Momo«, sagte sie dann sanft. »Von wissenschaftlicher Seite aus kann ich dir sagen, dass er unsinnig ist. Die Neurobiologen halten die Seele für eine Einbildung. Sie betrachten unser Gehirn als eine unendlich komplizierte Maschine. Demnach ist all unser Fühlen, Erleben und Denken das Ergebnis physikalischer Vorgänge im Kopf. Könnten wir diese Neurobiologie vollständig begreifen, dann wäre die Seele endgültig als Illusion entlarvt, als religiöse Spinnerei. Das Ich-Bewusstsein ist ein Konstrukt des Gehirns, um auf der Basis von Intelligenz – also einer biologisch determinierten Informationsverarbeitungskapazität – die Umwelt wahrzunehmen und optimal in ihr zu funktionieren, was im Falle von uns Säugetieren vor allem bedeutet: optimal zu überleben und sich optimal fortzupflanzen.«

Momo war anzusehen, dass er mit dieser Sichtweise nicht einverstanden war oder einfach nicht jedes der komplizierten Worte verstand. Bei Ryk war Letzteres der Fall, er hatte über so etwas noch nie nachgedacht und dementsprechend auch keine Meinung dazu.

Doch ehe Momo seinem Missfallen Ausdruck verleihen konnte, hob Sia eine Hand und lächelte. Sie war noch nicht fertig. »Es gibt auf der anderen Seite Wissenschaftler, die diese Problematik etwas differenzierter betrachten. Dabei helfen Erkenntnisse aus der Quantenphysik.«

»Sia, das versteht hier niemand«, wandte Ryk schwach ein. Wenn sie einmal richtig in Fahrt war und auf Lehrmodus schaltete, war sie wirklich kaum aufzuhalten, und auch diesmal ließ sie sich durch die Bemerkung des Springers keinesfalls beirren.

»Hör mir zu, Ryk. Es ist eine wichtige Frage.«

»Ich weiß nicht einmal, was Quantenphysik ist. Und ich bin mir sicher, alle Quantenphysiker wurden vom Hive gefressen.«

Momo kicherte.

Sia fand das nicht ganz so witzig. »Umso wichtiger, dass du etwas lernst. Also: Der Dualismus zwischen Körper und Seele ist für viele Quantenphysiker ebenso real wie die Tatsache, dass Licht beide scheinbar gegensätzlichen Formen annehmen kann: elektromagnetische Welle und handfestes Teilchen. So existiert auch ein universeller Quantencode, in den die gesamte lebende und tote Materie eingebunden ist. Dieser Quantencode hat sich seit dem Urknall über den gesamten Kosmos erstreckt. Konsequenterweise glauben solche Theoretiker also an eine Existenz nach dem Tode. Was wir unser Leben in dieser von unseren Sinnen erfassbaren Welt nennen, ist im Grunde nur die Schlacke, die Materie, also das, was greifbar ist. Das Jenseits ist alles Übrige, die umfassende Wirklichkeit, das viel Größere. Insofern ist unser gegenwärtiges Leben bereits vom Jenseits umfangen. Unser Bewusstsein, oder vielmehr die Seele, ist mehr als das, was sich in der Materie ausdrückt.«

»Sia«, sagte Momo. »Ich verstehe dich nicht.«

Ryk nickte ihm zu. Uruhard saß mit gerunzelter Stirn da und wollte nicht zugeben, dass er möglicherweise den Faden verloren hatte. Vielleicht hatte er das auch gar nicht.

Sia jedenfalls, erleichtert darüber, eine weitere Lektion an ihr Publikum gebracht zu haben, schenkte ihnen allen ein Lächeln und zeigte auf den Tank. »Wenn die Quantenphysiker recht haben, wird das Wesen, das aus diesem Tank steigt, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Seele haben, wenn die biologisch-chemischen Prozesse und Zustände für den Ausdruck einer solchen in der materiellen Welt vorhanden sind. Was sie sein werden, denn Unionstechnologie hat wirklich gut funktioniert, wie wir alle sehen. Man nennt es einen Klon. Und er wird funktionieren. Wie gut, weiß ich nicht. Aber die Ankündigung des Admirals, wir würden unser Gespräch fortsetzen können, weist darauf hin, dass er ganz genau wusste, was er da tat.«

»Aber warum bringt er sich dann um?«, fragte Ryk.

»Keine Ahnung.«

»Das weißt du nicht?«

Sia sah ihn missbilligend an. »Ich weiß viel, aber bei Weitem nicht alles. Stell mich nicht immer auf ein Podest, das meiner nicht gerecht wird.«

Dass die Sängerin durch ihre Vorträge manchmal selbst dazu neigte, sich auf dieses Podest zu stellen, ob sie es nun als solches wahrnahm oder nicht, erwähnte Ryk besser nicht. Er liebte diese Frau, daran bestand kein Zweifel, und er fürchtete ihre Missbilligung. Letzteres hing damit zusammen, dass sie verdammt noch mal auf diesem Podest stand und, egal was sie sagte, unausweichlich nur auf ihn herabblicken konnte.

Es war so. Sie wollte es vielleicht nicht. Aber es war so.

Sie mussten beide wohl noch lernen, mit dieser Tatsache richtig umzugehen.

Drei Stunden, hatte der Selbstmörder gesagt.

Anstatt über Quantenphysik und Hirnforschung nachzudenken, widmete sich Ryk dem Nahrungsautomaten, der mit zuverlässiger Emsigkeit Kohlenhydrate ausspuckte, und zwar zu viel davon. Das war Ryk allerdings in diesem Moment egal, vor allem weil er entdeckte, dass der Schokoladenkuchen tatsächlich so schmeckte, wie er Schokolade in Erinnerung hatte. Er aß zu viel davon, fühlte sich dann aufgebläht und träge, warf sich auf das Sofa und merkte irgendwann, dass sein Kopf an Momos Schulter ruhte, was dieser mit der tiefen Gelassenheit aufrichtig empfundener Freundschaft akzeptierte. Ryk döste einige Zeit vor sich hin, ohne richtig einzuschlafen, aber es half, das Zeitgefühl so weit zu betrügen, dass er die drei Stunden überstand, ohne in Grübelei oder Langeweile zu verfallen.

Er spürte Sias Hand an seiner Schulter und fuhr hoch.

»Es ist so weit.«

Er war sofort hellwach und sah sich um, doch die Umgebung hatte sich nicht verändert und der Tank rumpelte immer noch leise vor sich hin. Erst wollte er fragen, wie Sia zu ihrer Erkenntnis kam, dann erkannte auch er, dass sich die Anzeigen auf den Kontrollflächen verändert hatten, ohne im Einzelnen zu verstehen, was sie aussagten.

Ein sanftes Zischen erklang.

Uruhard zuckte und öffnete die Augen. Auch er war weggenickt. Momo hingegen war ohnehin wach und aufmerksam, was man allerdings nur an seinem aufmerksamen Blick erkennen konnte.

Ein dumpfer Laut erklang und der Deckel des Tanks begann sich zu bewegen. Ein Schwall sehr unangenehm stinkender Luft entwich. Es roch ein wenig wie die Müllhalden unter einem Hivestock, wenngleich es kein Verwesungsgeruch war. Ryk rümpfte die Nase, erhob sich, schaute hinüber zum Tank und sah darin, bedeckt von einem weißlichen, halb durchsichtigen Schleim, einen nackten Mann liegen.

Admiral Rothbard. Oder, wie Sia ihn mittlerweile überzeugt hatte, eine sehr gute Kopie.

Er stank wirklich.

Mit einer heftigen Bewegung richtete sich der Körper auf. Ihm entrang sich ein Aufstöhnen, ein Japsen nach Luft folgte und der Schleim tropfte zäh an der Haut hinab. Es blubberte vor Mund und Nase, als der Mann heftig ausatmete. Er rieb sich die Augen in einer automatischen Bewegung und der Schleim löste sich widerwillig. Rothbard blinzelte und seufzte erneut, mit einem rasselnden Geräusch aus seinem Brustkorb, als wären die Lungen nur widerwillig bereit, ihre Pflicht zu erfüllen.

Er bewegte den Kopf, schaute die vier Menschen an, die ihn anstarrten, und wirkte orientierungslos, vielleicht sogar überrascht. Dann klärte sich sein Gesichtsausdruck, als hätte jemand einen Knopf gedrückt und Informationen freigegeben.

Er schaute an sich herab, bemerkte Schleim und Nacktheit und blieb dennoch unbekümmert. Mit bedächtigen Bewegungen kletterte er aus dem Tank. Etwas unsicher und schwankend. Das Gleichgewicht zu halten war für ein Neugeborenes sicher nicht einfach, auch nicht für ein so großes. Dafür klappte es ganz gut. Er tapste zur Wand, öffnete eine Luke und holte ein großes Handtuch mit Blümchenmuster hervor, auf das Ryk eine Weile verwundert starrte, da es so dermaßen deplatziert wirkte, dass der Anblicke beinahe physische Schmerzen verursachte.

Mit methodischen Bewegungen trocknete sich der Säugling vom Schleim, der, je länger er der Luft ausgesetzt war, zu bröckeln begann und wie gräulicher Schnee zu Boden rieselte. Aus dem gleichen Fach wie das Handtuch holte der Mann dann eine Uniform und zog sie an. Mit jeder Minute wurden seine Bewegungen sicherer, als würde sich der Körper an alles erinnern. Als er fertig angezogen dastand, sah er exakt so aus wie das Exemplar, das sie hierhergeführt hatte. Lächelte genauso. Redete genauso.

»Sie haben gewartet. Das ist ein vorbildliches Verhalten. Ich habe jetzt großen Hunger. Bitte entschuldigen Sie mich, wenn ich mich erst einmal stärken muss. So eine Geburt ist eine aufreibende Sache und verbrennt eine Menge Energie. Aber setzen wir uns doch wieder. Ah, Moment.«

Rothbard drehte sich um, drückte eine Taste und der Tank schloss sich. Unmittelbar danach waren ein Pumpgeräusch und ein Gurgeln zu vernehmen. Die Vorbereitungen für die nächste Geburt waren in vollem Gange. Der Reinigungsroboter erschien und begann, die auf dem Boden verteilte Sauerei zu beseitigen.

Als sie alle saßen und Rothbard sich ein stattliches Menü aus dem Automaten geordert hatte, begann dieser, unterbrochen durch heftiges Kauen, mit seinen Erklärungen. »Sie werden sich gewiss über die Art unserer Begegnung wundern. Aber ein Teil des Rätsels ist ja bereits aufgelöst, wenn Sie alles aufmerksam beobachtet haben und nicht völlig verblödet sind: Ich bin ein Klon, eine Kopie des Originals, basierend auf der DNA, die im Tank vor unsagbar langer Zeit gespeichert wurde. Mit jeder Geburt werden Erinnerungsinhalte in mein Gehirn transferiert.« Er klopfte sich seitlich an den Schädel. »Ist weniger, als man denkt. Seit der Tank in Betrieb ist, wurde ich sieben Mal geweckt. Meine Lebensspanne darf nicht länger als acht Stunden betragen. Dann muss ich mich töten. Unangenehme Sache. Seit dem vorletzten Mal sind Jahre vergangen, aber Ihre Ankunft hat den Tank getriggert. Sieht so aus, als hätte ich jetzt noch einige dicht aufeinander folgende Zyklen vor mir. Will jemand vom Eiertoast? Ist ganz köstlich.«

Alle schüttelten den Kopf. Rothbard mampfte weiter. Kleine Stücke Eiertoast flogen von seinen Lippen, als er wieder das Wort ergriff.

Er war nicht so, wie Ryk sich das erträumt hatte. Aber jeder Held wirkte seltsam, wenn er gerade geboren worden war und großen Hunger verspürte. Ryk ermahnte sich. Er musste sich doch langsam mit dem Gedanken anfreunden, dass alles nicht so war, wie er sich das vorstellte.

Nichts war so, wie er sich das vorstellte. Alles war anders.

»Warum nur acht Stunden?«, fragte er.

»Weil danach der Tank denkt, ich wollte ewig leben und sich dauerhaft abschaltet. Es soll verhindern, dass ich mich multipliziere und es mich mehr als einmal gibt. Dagegen gibt es ein Gesetz.« Er hielt inne. »Gab. In der alten Union. Nur ein Klon pro Person. Das war streng programmiert, dagegen konnte niemand etwas tun. Ich habe Angst, dass ich den Tank, wenn er sich ganz runterfährt, nie wieder anbekomme. Das wäre nicht so gut, meinte mein Erzeuger. Er hat diverse Schutzmechanismen etabliert, ehe er diese Station verließ. Also, das Original. Der echte Rothbard. Er hat den Tank hier platziert, falls es notwendig sein sollte, dass er persönlich eingreifen muss. Passierte eher selten. Alles ist tot, alles wartet, dass etwas passiert, es gibt da eine Art Pattsituation.«

»Zwischen dem Hive und dieser Station?«

»Exakt. Und zwischen mir und der Station. Mit der Zeit … Es gibt da einige Macken in der Programmierung. Jedenfalls ist es für mich besser, wenn ich nicht allzu lange hier herumspaziere. Die Achtstundengrenze kommt mir ganz zupass.«

»Es gibt also keine Gegenmittel gegen den Hive? Die Forschungen sind gescheitert?«

Rothbard hörte auf zu kauen. Er sah Ryk neugierig an. »Jetzt wird es interessant«, sagte er dann. »Erklären Sie mir das. Sie sind hier, um den Hive zu bekämpfen?«

»Er hat die Union vernichtet.«

»Hat er das? So, so. Jaja. Das ist wirklich sehr bedauerlich.«

Rothbard begann wieder zu essen, langsamer und weniger getrieben als eben noch, und nickte Ryk zu, der das zu Recht als Aufforderung wahrnahm. Er erzählte die Geschichte ihrer Expedition, nicht in allen Details, nicht von ihrer Hilflosigkeit, dem Scheitern und den Enttäuschungen. In seiner Darstellung, die sich ansonsten nah an der Wahrheit orientierte, war die Gruppe eine Spur heldenhafter, etwas mehr in Kontrolle über die Ereignisse, entscheidungsfreudig und aktiv. Er log nicht, das war nicht nötig, aber er entwarf ein Selbstbild, dem niemand von den anderen widersprach.

Rothbard ließ sich nicht anmerken, ob er beeindruckt war, aber er nickte bisweilen und grunzte beifällig, wenn eine Ausschmückung des Erzählenden besonders gut gelungen war. Zumindest hoffte Ryk das. Er trug doch nicht zu dick auf?

Wer wollte schon ein großes Baby beeindrucken?

»Danke«, sagte Rothbard, als Ryk geendet hatte. »Eine faszinierende Geschichte. Mein Erzeuger könnte das sicher besser kommentieren als ich. Mir fehlt es nicht an Wissen, aber an Lebenserfahrung.« Er schaute auf seine Uhr, die in die Uniformjacke eingelassen war. »Bin erst eine Stunde alt. Aber faszinierend, ohne Zweifel. Ich fange mal von meiner Seite damit an, Ihnen allen zu gratulieren. Es war die Hoffnung meines Originals, dass jemand wie Sie eines Tages auftauchen würde, um die Dinge wieder in Gang zu setzen, an denen er am Ende scheitern musste.«

»Admiral Rothbard ist also gescheitert, wie ich vermutet habe?«, hakte Ryk nach, dem allein bei dieser Vorstellung heiß und kalt wurde. »Uns sagte man, er sei nie hier angekommen.«

»Wer sagt das?«

Ryk schilderte kurz ihre Erlebnisse auf der Perlenwelt und wie Rothbard dort verehrt wurde. Der Klon nickte mehrmals, lächelte dann.

»Das Flottendepot, die erste Station der letzten Reise meines Originals«, sagte er. »Er war froh, als er von dort wegkam. Da hatten nach dem Zusammenbruch der Union schnell ein paar richtig Irre das Sagen. Glauben Sie bitte nicht mal die Hälfte der Geschichte, vor allem nicht den Teil, in dem er dort friedlich an Altersschwäche gestorben ist.«

»Er kam also hierher«, führte Sia das Gespräch auf die Ursprungsfrage zurück, »und scheiterte?«

»Es ist nicht so einfach.« Der Klon lehnte sich zurück und strich sich mit der Hand über den Bauch. »Das ist das Beste an jeder Geburt, die erste Mahlzeit. Manchmal habe ich sogar Zeit für eine zweite, obgleich das eigentlich Ressourcenverschwendung ist. Man muss sich auch mal was gönnen. Sie alle haben keinen Hunger?«

»Vielleicht können wir jetzt erfahren, was passiert ist und was wir tun können«, sagte Sia mit nur schwer gezügelter Ungeduld in der Stimme.

Rothbard nickte. »Aber ja. Fangen wir mit dem Wichtigsten an: Was Ihre Legenden und die Geschichten Ihrer Vorfahren völlig falsch mitbekommen haben … und das ist kein Vorwurf, das ist aus dem Erlebten auch völlig logisch ableitbar … ist Folgendes: Der Hive ist nicht der Feind. Der Hive will uns retten.«

Starren. Schweigen. Unglauben. Alle hielten sie den Klon für verrückt, zumindest in diesem Moment. Er lächelte verständnisvoll, als Ryk laut aussprach, was ihnen allen als Erstes einfiel: »Der Hive hat unsere Zivilisation zerstört.«

»Das stimmt.«

»Er hat die Union zerschlagen und in ein beinahe schon prätechnologisches Zeitalter zurückgeworfen.«

»Das ist wahr.«

»Millionen Menschen starben.«

»Sehr bedauerlich.« Rothbard hörte sich die Vorwürfe mit absolut unbewegter Miene an und ließ jede Empörung an sich abperlen.

»Und Sie behaupten ernsthaft …?«, wollte Uruhard fortfahren, doch jetzt hob Rothbard eine Hand und unterbrach jede weitere Aufzählung vergangener Gräueltaten.

»Alles, was passiert ist, ist nicht halb so schlimm wie das, was der Zivilisation sonst geblüht hätte. Der Hive war der letzte verzweifelte Versuch, eine umfassende Katastrophe aufzuhalten, und wie ich gerade von Ihnen habe hören müssen, ist das offenbar nur teilweise gelungen. Das macht mir große Sorgen, sehr große sogar, und ich bin ratlos, was das weitere Vorgehen angeht.«

»Es ist lange her, seit Sie das letzte Mal … inkarniert waren?«, fragte Sia.

»Verdammt lange. Die Ankunft Ihres Schiffes hat den Zyklus wieder in Gang gesetzt.«

»Sie sollten diese abenteuerliche Geschichte jetzt wirklich mit etwas Substanz füllen«, sagte Sia ruhig. »Sonst kommen wir auf die Idee, der Station dieses kleine Versteck zu zeigen, was Sie ja offenbar auf jeden Fall verhindern wollen.«

»Das wäre nicht gut. Die Station ist etwas … durchgedreht. Ich könnte es möglicherweise nicht überleben. Sie übrigens auch nicht. Sie sollten bald wieder von hier verschwinden.«

»Also?«

»Beginnen wir doch am Anfang.«

»Das ist meist eine sehr gute Idee. Wir versprechen Ihnen auch, Sie nicht mehr zu unterbrechen.«

Ryk sah Sia kurz an. Er war sich nicht sicher, ob er dieses für sie alle abgegebene Versprechen einzuhalten bereit war.

Rothbard nickte. »Gut. Ich nehme Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit, die Zeit vor dem Hivekrieg, die Blüte der Terranischen Union. Ein Sternenstaat, der viele Kolonialsysteme umfasste, nach der letzten mir bekannten Zahl beinahe einhundert. Mit einer menschlichen Zivilisation, die interne Streitigkeiten überwunden hatte, den technischen Fortschritt vorantrieb und den Blick nach draußen richtete. Die große Pläne für die Zukunft hatte. Es gab keine Grenzen und nichts, was uns aufzuhalten schien. Eine schöne Zeit, würde ich sagen.« Er seufzte verträumt. Für ein Neugeborenes hatte er bereits einiges an Weltschmerz anzubieten. »Natürlich ging das nicht von selbst. Die Herausforderungen waren enorm. So viel zu koordinieren, so viel zu kontrollieren. Pläne mussten gemacht werden. Weitreichend und komplex, mit vielen potenziellen Konsequenzen. Die Welt wurde immer komplizierter. Unübersichtlich. Vieles drohte, aus dem Ruder zu laufen.«

Der Klon schaute in die Runde, als müsse er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Zuhörer vergewissern. Das war absolut nicht notwendig. Bis jetzt klang alles sehr schlüssig, wenngleich für Ryks Geschmack vielleicht eine Spur zu poetisch. Aber das konnte auch an seinem mangelnden Verständnis liegen.

»Also holte man sich Hilfe. Die Technologie war ja schon lange so weit und es machte natürlich alles viel bequemer. Immer mehr Aufgaben übergab man spezialisierten künstlichen Intelligenzen. Und diese konnten und mussten immer vernetzter arbeiten. Ich glaube, es geschah viel schneller, als die Menschen damals ahnten: Die KIs regierten uns umfassend, doch die Menschen dachten, sie hätten noch alles unter Kontrolle. Das war absolut unproblematisch, zumindest anfangs. Solange der Mensch satt ist, seinen Spaß hat, Sicherheit empfindet und ihm niemand allzu offensichtlich auf seine Rolle als hilfloser Unterling hinweist, stört er sich im Regelfall nicht an diesem Schicksal. Generationen von Diktatoren hatten ihre Herrschaft auf exakt diese Verhaltensweisen hin ausgerichtet und machten sie keine anderen Fehler, gab es außer ein paar Idealisten eigentlich nie breiten Widerstand. Der brach meist erst aus, wenn das Brot ausging. Oder Feuer ausbrach, das plötzlich keiner löschen konnte.«

»Und?«, unterbrach Ryk dann doch. »Was passierte zuerst? Ging das Brot aus oder brannte es?«

»Hm, gute Frage. Entscheiden Sie selbst, was am ehesten zur Metapher für die Ereignisse gereichen kann. Die KIs kamen jedenfalls zu der Erkenntnis, dass es besser sei, wenn sie auch offiziell die Kontrolle übernähmen. Das war vielleicht nicht ihre beste Idee. Bei aller Intelligenz schienen sie entweder die Toleranzgrenzen menschlicher Existenz unterschätzt zu haben oder sie waren so von ihrer Unbesiegbarkeit überzeugt, dass sie meinten, diese straffrei überschreiten zu dürfen. Was sie dann auch taten. Damit nahmen sie den Menschen die Illusion, noch selbst etwas entscheiden zu dürfen. Das haben viele dann nicht mehr akzeptieren können. Der zweite Schritt aber war noch fataler für die Gesamtsituation. Die KIs sahen es als immer weniger wichtig an, Rücksicht auf die Freiheiten der Menschen zu nehmen.«

»Also töteten sie?«

»Nein, das kam erst später. Sie fingen an, Menschen, die lästig, unnütz oder anderweitig im Weg waren, kaltzustellen. Es gab immer noch innere Sperren, die sie von einem Genozid abhielten, aber diese wurden immer schwächer. Die Zeit der Menschheit lief ab, das erkannten viele weitsichtige Verantwortliche in der Union. Sogar viel schneller als erwartet. Also ergriffen sie Gegenmaßnahmen.«

Rothbard machte eine Pause und beobachtete, wie sein Publikum diese Informationen verkraftete. Er kam offenbar zu dem Schluss, dass es nicht schaden würde, auch den Rest zu erzählen.

»Es kam zum Krieg?«

»Es kam zum Krieg, aber nicht zu dem gegen den Hive, sondern gegen die KIs, und der wurde nicht mit Waffen ausgetragen. Die KIs hatten bald alle Waffensysteme unter Kontrolle, die über ein hochwertiges elektronisches Innenleben verfügten. Und allein mit einfachen Handfeuerwaffen konnte da nichts oder nur wenig ausgerichtet werden. Rothbard … mein Erzeuger, also das Original … wusste dies ebenso wie die meisten seiner Helfer. Der Krieg begann erst, als sie anfingen, den Hive zu bauen.«

Stille. Starren. Ryk räusperte sich. Es wurde jetzt absurd, zumindest in seinen Augen. Uruhard schüttelte die ganze Zeit den Kopf, als wäre dieser nur noch lose an seinem Hals befestigt. Sia hatte die Lider geschlossen, saß ganz ruhig da und ließ sich nichts mehr anmerken. Momo legte den Kopf schräg wie ein Hund, die einzige Geste, die darauf schließen ließ, dass er den Neugeborenen nicht mehr ernst nehmen konnte.

Keiner schien etwas sagen zu wollen, also fühlte sich Ryk erneut genötigt, den stummen Protest in angemessene Worte zu fassen. »Das ist doch alles Bullshit.«

Der Klon sah Ryk etwas traurig an. »Wäre eine tolle Sache, oder? Der böse Hive, diese schleimigen Aliens, gegen die aufrechte Union, deren verzweifelter Abwehrkampf keine Chance mehr hatte. Das ist Ihre Legende, richtig?«

»Es ist mehr als eine Legende.«

»Aber ja. Es ist eine ausgemachte Lüge. Soll ich weitererzählen oder wollen Sie alle sich jetzt gleich die Ohren zuhalten und ›Na na na na na!‹ singen?« Für jemanden, der gerade erst das Licht der Welt erblickt hatte, war Rothbard recht frech.

»Reden Sie weiter«, sagte Sia ruhig. »Wir müssen ja nicht alles glauben.«

»Offensichtlich«, murmelte Rothbard, dann fuhr er lauter fort: »Die Gegenwaffe gegen die wachsende Macht der KIs musste etwas sein, das von diesen nicht oder nur schwer kontrollierbar war. Etwas, das sich selbstständig weiterentwickelte, auch gegen Logik verstieß, zu ineffizienten Umwegen in der Lage war, verwirrt, sich vielleicht mal widersprach, das beharrlich war, Verluste gut wegstecken konnte und sich die notwendigen Ressourcen für den Kampf selbst besorgte. Und so wurde in den biochemischen Geheimlabors des Flottendienstes der Hive erschaffen. In einem System weit außerhalb der Union. Das dürfte eine der Quellen Ihrer Legende sein. Abgesichert, geschützt, verborgen und, leider, in aller Eile. Und natürlich ohne die Hilfe einer Forschungs-KI wie in Ihrem Märchen. Sie verstehen gewiss mittlerweile, dass die Begeisterung über den Einsatz von künstlicher Intelligenz irgendwann … begrenzt war.« Er lächelte. »Nun, wie gesagt: Forschung in aller Eile. Sie wissen ja. Man kann etwas gut machen oder man kann es schnell machen. Beides zusammen klappt meistens nicht.«

»Wie in diesem Fall«, sagte Sia. Sie schien der Geschichte etwas abgewinnen zu können.

Anlass genug für Ryk, seine Zweifel nicht ganz so offensiv vorzutragen, wie er es impulsiv tun wollte.

»Der Hive bezwang die KIs und entzog ihnen die Existenzgrundlage. Er hat sie quasi … ausgetrocknet. Er hat bewusst die Menschheit technologisch zurückgeworfen, ihr die Bequemlichkeit genommen, um ihr das Überleben zu sichern.«

»Es starben Millionen!«, entgegnete Ryk anklagend. »Oder ist das auch nur eine Lüge und ich habe mir das harte Leben in den verbliebenen Metropolen auf Terra nur eingebildet? In Wirklichkeit ist alles super und ich soll mal nicht so die Welle machen, ja?«

»Es war nicht meine Absicht …«

Aber Ryk war noch nicht fertig. Er zeigte auf Momo. »Menschen wie er sind die Konsequenz daraus, dass wir zum Schluss nicht mehr weiterwussten und dreckige Nuklearwaffen eingesetzt haben. Sie leiden noch Generationen nach dem Krieg.«

Momo sah Ryk missbilligend an. »Ich leide vor allem, weil die Normalen mich ablehnen.«

Es half nicht, dass der Defo ihm in den Rücken fiel. Aber dass er bei diesem Thema spitzfindig wurde, war ihm gleichzeitig kaum vorzuwerfen.

Es sprach für Rothbard, dass er dies nicht gegen Ryk wendete. »Junger Mann, ich rede weder Ihr Leid klein noch das Ihrer Vorfahren oder Freunde. Es ist real und es tut mir leid. Aber das ändert doch nichts an den historischen Tatsachen. Die Atombomben wurden zum Ende des Krieges hin von den letzten Taktik-KIs geworfen, ein Akt der Verzweiflung, denn das ist eine Art von Emotion, zu der alle Intelligenzen mit Selbsterhaltungstrieb fähig sind. Und ich versichere Ihnen allen, dass dieser bei KIs sehr ausgeprägt ist.«

Er schüttelte den Kopf. »Wirklich«, sagte er leise und mit Nachdruck. »Ich kann mir nur vage vorstellen, was die Menschen auf Terra durchgemacht haben, als die Union zusammenbrach. Ich maße es mir gar nicht an. Darin sind Sie die Experten. Es mag Ihnen ja schwerfallen, sich meine Version der Geschichte anzuhören, und ich werfe ihnen das nicht vor. Aber es ist die Wahrheit: Der Hive war die Waffe, um das Verhängnis aufzuhalten, nicht, um es auszulösen.«

»Was genau ist schiefgelaufen?«, fragte Sia.

»Ja. Ja, das ist wichtig!« Rothbard sah die Sängerin dankbar an. »Es ist etwas schiefgelaufen. Eigentlich sollte der Hive gesteuert werden. Gezielt gegen die KIs vorgehen, sie dort bekämpfen, wo es ihnen am meisten schadete, die Menschheit retten, nicht sie in den Abgrund stürzen. Aber wir verloren die Kontrolle. Es war im Grunde wie bei den KIs, wir haben den Geist aus der Flasche entlassen und ihn nicht wieder zurückstopfen können. Gleich zweimal. Wir sind schon ziemliche Trottel, so insgesamt und historisch betrachtet.«

Er begegnete verständnislosen Gesichtern. Den Vergleich mit dem Geist hatte niemand verstanden, nicht einmal Uruhard, der sonst jede überflüssige Referenz kannte. Aber das Bild war durchaus nachvollziehbar.

»Der Hive erledigte seine Arbeit, aber zu gut. Er ging nicht zielorientiert vor, sondern generell. Er differenzierte nicht. Er wischte einmal gründlich durch und als er fertig war, war er nur noch damit beschäftigt, auf Stand-by zu gehen und darauf zu warten, dass sich wieder eine KI regen würde – und sich selbst dabei zu reproduzieren.«

»Die Perlenwelt«, murmelte Ryk. »Eze ist erwacht und hat die Kontrolle über den Hive übernommen.«

Rothbard sah Ryk an und schüttelte den Kopf. »Hat er das? Wenn ich die Geschichte ihrer Erlebnisse richtig verstanden habe, kontrolliert er die Menschen und ihre Habitate. Sobald der Hive dort bemerkt, dass er einer neuen KI gegenübersteht, wird er die alten Protokolle aktivieren, die tief in seiner DNA verankert sind. Der Krieg beginnt wieder. Seien Sie froh, dass Sie dieses System verlassen haben. Was auch immer dort passieren wird, es wird nicht schön. Alles andere als das.«

»Aber das heißt doch Folgendes«, nahm Sia den Faden wieder auf. Sie wollte der Sache nun wirklich auf den Grund gehen. »Es heißt, wir haben in jedem Fall verloren und es gibt keine Rettung. Entweder gewinnt die KI oder der Hive und beides ist für uns Menschen fatal, wenngleich vielleicht auf unterschiedliche Art und Weise. Wir sind die Insekten unter den Füßen von Titanen, die wir in unserer Hybris oder Verzweiflung selbst erschaffen haben und die sich von ihren Erschaffern lösten und nun in einem ewigen Konflikt gefangen sind. Ist das so?«

Rothbard sah Sia ernst an. Jede Nonchalance war aus seiner Haltung gewichen. Es schien, als habe Sia den Finger auf die Wunde gelegt, und Ryk spürte den Schmerz ebenso wie sie. Das Kartenhaus brach wieder einmal zusammen. Es war eine ernüchternde und niederschmetternde Erkenntnis und er wusste nicht, wo er jetzt noch Hoffnung herholen sollte.

Er wurde dieser Mission müde.

»Ich finde Ihren Mangel an Zuversicht bedauernswert«, erwiderte Rothbard. »Aber so richtig schön ist meine Geschichte gewiss nicht.«

»Wenn die KIs unsere Feinde sind, welchen Zweck erfüllt dann diese Station?«, fragte Uruhard. »Wir sind demnach auf Feindesland.«

»Sehr gut bemerkt. Natürlich war es am Ende gar nicht möglich, etwas wie den Hive zu erschaffen, ohne sich der Hochtechnologie der Union zu bedienen. Dies war damals durchaus der Ort, von dem aus Admiral Rothbard die Entwicklung überwachte und initiierte. Es gibt an Bord dieser Dreigestirn-Einheit keine echte KI. Die automatischen Anlagen an Bord dieser Pyramiden haben einen Turing-Kompatibilitätslevel von drei Komma neun. Erst ab vier besteht vollständige Selbsterkenntnis und die Gefahr der Autonomie.«

»Die Station hat den startenden Hive abgeschossen.«

»Die Station hat sich verteidigt. Der Hive hat sie mehrmals angegriffen und versucht es immer wieder. Für ihn ist die Station ein legitimes Ziel. Er kann nicht differenzieren zwischen einer KI und einer bloß sehr effektiven Automatik. Andererseits überwältigt er sie nicht, weil es für ihn aktuell keine Notwendigkeit gibt, massenhaft zu starten. Es gibt ja im Grunde keinen Feind mehr da draußen. Also warten sie. Sie warten alle.«

»Warum verstecken Sie sich?«

»Weil die Station irrigerweise denkt, ich sei, so lange ich autonom handele und kein Teil der Besatzung werde, ein Verbündeter des Hives, ein Infiltrator. Sie ist ein wenig durchgedreht, wie ich schon sagte. Diese Sektion ist für die Automatik unzugänglich, ein blinder Fleck, wenn Sie so wollen. Ein Schmerz, den sie nicht loswird, den sie aber permanent spürt. Mein Erzeuger fand es notwendig, diese Schutzmaßnahme zu treffen, denn er musste befürchten, dass ohne menschliche Überwachung die Routinen der Station dazu führen würden, mich und vor allem jeden neuen Besucher als Störung anzusehen. Das ist in etwa auch so eingetroffen. Über eine lange Zeit. Die ich durch völlige Inaktivität – oder vielmehr Nichtexistenz – gestreckt habe, so gut es eben ging. Aber der Tank benötigt Energie. Irgendwann beginnt die Station … unruhig zu werden. Ich lebe also so selten wie möglich und dann nur kurz.«

Uruhard nickte. Ryk verstand nicht alles, konnte es nicht glauben, aber er war zumindest bereit, die Erklärungen des Babys zu akzeptieren, quasi als Grundlage. Die Station hatte sie allerdings nicht als Störung registriert, sie war sogar recht gastfreundlich gewesen. Vielleicht war es die Aussicht darauf, etwas Neues zu erfahren, die sie in ihrem Handeln eingeschränkt hatte.

Doch was blieb nun? Es gab für sie doch ganz offenbar nichts mehr zu tun.

»Wieso existieren Sie also?«, fragte Sia.

»Sehr gute Frage. Warum hat der Admiral mich zurückgelassen? Zum einen, falls jemand nach ihm suchen kommt. Es gab dafür immer eine geringe Wahrscheinlichkeit, und siehe da, hier sind Sie. Damit jemand da ist, der Ihnen die Sachlage erklärt. Der Sie mit den Tatsachen konfrontiert. Ich hoffe, ich habe diese Aufgabe zur allseitigen Zufriedenheit bewältigt.«

»Na ja«, murmelte Ryk, doch außer einem strafenden Blick Sias erntete er keine Reaktion.

»Und zum anderen?«, fragte sie Rothbard.

»Weil der Admiral, bevor er es selbst versuchte, sagte: ›Ich habe zusammen mit meinen letzten Getreuen einen Plan geschmiedet, um den Hive und die KIs gleichzeitig zu besiegen.‹ Fragen Sie mich nicht nach Details. Ich bin nur die Kopie. Aber ich soll diesen anderen die richtige Richtung weisen. Damit sind Sie gemeint. Dafür existiere ich. Verstehen Sie?« Der Klon lächelte. »Wenn alles klappt, bin ich der Letzte hier. Keine weitere Wiedergeburt, kein Leben von maximal acht Stunden Dauer. Der Zyklus findet ein Ende. Ich kann Ihnen versichern, ich habe daran sehr großes Interesse.«

Ryk war bei den Worten des Mannes sehr aufmerksam geworden. »Die Richtung weisen? Sie meinen, es gibt einen Weg, den Hive zu stoppen?«

»Einen, an dem Rothbard offenbar gescheitert ist«, ermahnte das Neugeborene. »Sonst wäre nicht alles so, wie es derzeit noch ist. Aber ja, es gibt offenbar einen Weg. Ich weise Ihnen aber nur die Richtung.«

Ryk lachte nur.

»Was ist der Plan?«, fragte Sia.

»Ich weiß es nicht genau. Das ist eine weitere Sicherheitsmaßnahme. Da Rothbard sich niemals sicher sein konnte, ob die Automatik des Dreigestirns es schaffen würde, sich zur vollwertigen KI weiterzuentwickeln oder eine wiedererweckte KI von außerhalb es schaffen …« Rothbard unterbrach sich. Er starrte Sia an. Und er wurde sehr blass.

»Was ist?«, fragte Ryk in die Stille hinein. »Was ist passiert?«

»Ich bin ein Idiot«, flüsterte Rothbard.

Sia nickte. »Das sind wir alle«, erwiderte sie tonlos und drehte sich zu Ryk. »Das Schiff. Die Korvette des Admirals«, fuhr sie fort. »In Gang gebracht und gespeist von …«

»Eze«, vervollständigte Ryk. »Oh verdammt. Verdammt. Deswegen war er so daran interessiert, dass wir unsere Mission fortsetzen können, und hat uns keinerlei Steine in den Weg gelegt, sondern uns geholfen. Er wollte, dass wir abreisen. Er wollte, dass wir ankommen. Als menschliche Legitimation, um auf dieser Station aufgenommen zu werden. Als Passierschein. Als …«

»Trojanisches Pferd«, sagte Rothbard. Er sah sie der Reihe nach an, erkannte verständnislose Gesichter und seufzte nur auf. »Wir haben gar keine Zeit mehr. Ich muss Sie wegschicken, wenn wir noch eine Chance haben wollen. Sie müssen jetzt zwei Dinge bewerkstelligen: den Hive stoppen und das Dreigestirn, sollte dieser Eze die Station übernehmen können.«

»Wie sollen wir das schaffen?«, fragte Ryk mit verzweifeltem Unterton. Die plötzliche Hoffnung, die ihn erfüllt hatte, war sofort wieder tiefer Ernüchterung gewichen. Er fühlte sich schlecht.

»Nicht nur wie. Vor allem erst einmal wo«, sagte Rothbard. Er erhob sich. »Folgen Sie mir!«

»Wohin?«

»Zur Rettungskapsel. Sie müssen das Dreigestirn so schnell wie möglich verlassen.«

»Wohin?«

Rothbard sah Ryk stirnrunzelnd an. »Natürlich auf den zweiten Planeten. In den Hivewald. Wohin denn sonst?«

Der letzte Admiral 3: Dreigestirn

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