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2 | Die Ohrwürmer des Internet

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Weil es eben auch um diese Freude gehen soll, die Meme vermitteln, erlaube ich mir, hier nicht chronologisch und auch nicht streng wissenschaftlich zu beginnen. Wer sich für Meme interessiert, wird schon einmal gehört haben, dass der Biologe Richard Dawkins 1976 den Begriff »Mem« vorschlug, aus dem sich die Memetik entwickelte.8 Dieser Zusammenhang mit einer wissenschaftlichen Debatte lässt sich in Limor Shifmans Buch Meme – Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter nachlesen,9 ich setze im Folgenden bei ihrem Fazit an: »Während große Teile der akademischen Welt über ihn im Streit liegen, wurde der Memebegriff von Internetnutzern begeistert aufgegriffen.«10

Diese Begeisterung speist sich aus einem Zauber, den man vielleicht am besten mit einem Vergleich einfangen kann: Meme sind die Ohrwürmer des Internet. Sie sind die optische Entsprechung einer Melodie, die nachhaltig im Kopf bleibt. Ohrwürmer und Internet-Meme haben mindestens vier grundlegende Gemeinsamkeiten:

Erstens genießen Meme wie Ohrwürmer häufig große Popularität – und dies, ohne dass der jeweils offizielle Titel unbedingt bekannt ist. Bei einem Ohrwurm ist es manchmal nur eine Melodie-Sequenz, eine Songzeile und nicht einmal der Refrain des Songs, und bei Memen sind es manchmal nur Teile des Referenzsystems, die bekannt sind.

Das Wiedererkennen führt aber zweitens bei Memen wie bei Ohrwürmern zu einem Moment der Erkenntnis, der wörtlich zu nehmen ist. Den Originaltitel einer Melodie zu erfahren, die im Kopf klebt, ist genau wie das Auflösen einer vorher unbekannten Referenz eines Internet-Memes ein Erkenntnismoment, der Zugehörigkeit stiften kann. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Wer ein Meme oder einen Ohrwurm (wieder-)erkennt, fühlt sich verstanden und heimisch. In der biblischen Schöpfungsgeschichte wird das Erkennen (»Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain«) als schöpferischer Akt beschrieben. Semantisch liegt dies daran, dass die Wörter »erkennen« und »miteinander schlafen« im Hebräischen den gleichen Wortstamm haben, aber voneinander unterschieden werden. Es ist deshalb vielleicht etwas zu weit gegriffen, deutet aber an, welche Bedeutung im tatsächlichen Erkennen zum Beispiel eines Witzes liegen kann. Daher gibt es auch Menschen, die zur Beschreibung von Internet-Memen nicht auf Ohrwürmer, sondern auf die Ostfriesenwitze aus den achtziger und neunziger Jahren zurückgreifen, die damals äußerst populär waren und ohne zentrale Verbreitungsstelle in der Bevölkerung weitererzählt und adaptiert wurden. Im Rückblick wurde zwar dem Komiker Otto Waalkes diese Rolle als Zentralorgan zugeschrieben, weil er Ostfriesenwitze öffentlichkeitswirksam in TV-Sendungen und Kinofilmen aufgriff und weiter populär machte. Aber ohne die bereits laufende memetische Verbreitung des Typus »Ostfriesenwitze« wäre ihm dies sicher nicht gelungen. Vergleichbar sind Witz-Wellen zu nennen, im Zuge derer die Blondinen-, Manta- oder Polen-Witze jeweils für einen gewissen Zeitraum und in gewissen Zielgruppen populär werden. Auch Trinkspiele, besondere Begrüßungsrituale oder Insiderwitze wie das laute »Schulz«-Ausrufen, wenn jemand rülpst, basieren auf dem gleichen Prinzip: Sie sind nicht im Sinne eines Regelwerks aufgeschrieben und werden nicht (wie in der vordigitalen Zeit Musik) zentral verbreitet, erfreuen sich in bestimmten Kreisen dennoch einer gewissen Beliebtheit.

Meme und Ohrwürmer versetzen die Nutzer*innen drittens in einen Zustand der Aktivität, der sich beispielsweise in einer Adaption durch Nachsingen oder Nachmachen ausdrücken kann. Das schließt übrigens Abwandlungen durchaus mit ein. Bei Ohrwürmern kann man das in den Büchern von Axel Hacke nachlesen, der missverstandene Liedtexte gesammelt hat. Diese »Verhör-Bücher« beantworten Fragen wie »Warum hat Herbert Grönemeyer ›Fruchtzwerge‹ im Bauch?« (statt der Flugzeuge aus dem Song).11 (# 4)

Die vierte Gemeinsamkeit von Memen und Ohrwürmern lautet: Sie sind schwer bis gar nicht planbar – weshalb sie etwas »rätselhaft-ungreifbar Schönes« sind, wie Eleonore Büning formuliert, die Ohrwürmer als »sich selbst fortzeugende Musik« beschreibt. Eine Beschreibung, die analog auch für Meme (»sich selbst fortzeugende Ideen«) äußerst treffend ist: »Wie ein Ohrwurm entsteht, weiß niemand. Wie er funktioniert, wenn er nun mal da ist, das ist seit etwa zehn Jahren ein Lieblingsthema der Hirn- und der Musikforscher.«12

# 4 1984 hatten Musik-Singles noch eigene Cover. Hier das zu Herbert Grönemeyers »Flugzeuge im Bauch« – oder doch »Fruchtzwerge«?

Die Entstehung von bestimmten Internet-Memen liegt ebenfalls häufig genug im Dunkeln. Und wie sie funktionieren, wenn sie nun mal da sind, ist seit etwa zehn Jahren das Lieblingsthema von Marketing-Berater*innen und Medienwissenschaftler*innen. Denn Internet-Meme sind – wir kommen noch dazu – unglaublich mächtige Aufmerksamkeitsmaschinen, die aber auf einem sehr banalen Prinzip beruhen, das ich mit dem Zitat oben selbst vorgeführt habe: Sie kopieren, adaptieren und referenzieren. So wie der Ohrwurm sich quasi ins Gehirn klebt und dort ohne echte Musik weiterspielt, verbreiten sich auch Internet-Meme mithilfe der Kopie immer weiter.

Der Autor Kevin Kelly bezeichnet das Internet als Kopiermaschine,13 weil Reproduktion, Rekombination und Referenz sozusagen die Grundbedingungen des digitalen Ökosystems sind. Meme finden deshalb im Internet optimale Überlebensbedingungen vor. Für dieses Buch folge ich dabei der Definition Limor Shifmans. Sie beschreibt Internet-Meme als »kreative Ausdrucksformen mit vielen Beteiligten, durch die kulturelle und politische Identitäten kommuniziert und verhandelt werden«. Charakteristisch sind dabei drei Eigenschaften von Internet- Memen, die wir a) als »eine Gruppe digitaler Inhaltseinheiten [verstehen], die gemeinsame Eigenschaften im Inhalt, in der Form und/oder der Haltung aufweisen«. Diese Einheiten werden b) »in bewusster Auseinandersetzung mit anderen Memen erzeugt« und werden c) »von vielen Usern über das Internet verbreitet, imitiert und/oder transformiert«.14

Dieser letzte Punkt ist zentral für den Unterschied zwischen einem Internet-Meme und einem viralen Hit. Denn der Aspekt der Imitation und Transformation ist notwendig, um von einem Internet-Meme zu sprechen. Das bloße Teilen oder Weiterverbreiten eines Inhalts allein definiert lediglich die Viralität – für ein Internet-Meme braucht es darüber hinaus alle drei Aspekte: Reproduktion, Rekombination und Referenz.15

Jene Netzphänomene, die einzig auf die Reproduktion durch Teilen setzen, beschreibt Shifman als Phänomene memetischer Verbreitung. Dabei wird häufig das Bild des Virus genutzt, über den die Autoren erlehmann/plomlompom schreiben: »›Viral‹ verbreitet sich jeder Inhalt, der seine Empfänger zu seinen Sendern macht. Unter der Ausstrahlung dieser Sender entstehen weitere Empfänger, die ebenfalls zu Sendern werden – und so weiter. Mit anhaltender Viralität kann die Verbreitung eines Inhalts exponentiell wachsen – so wie eine Epidemie.«16 Die Grenze zwischen viralen Phänomenen memetischer Verbreitung und Internet-Memen im Sinne Limor Shifmans ist fließend und am Ende auch nicht entscheidend, sie deutet jedoch an, weshalb die relativ junge Netzkultur mehr ist als ein bloßes Klicken von »Gefällt mir«-oder »Teilen«-Buttons.

Jung an dieser Form der Netzkultur ist vor allem, dass sie im Unterschied zu den bisher führenden Massenmedien aktive Teilhabe ermöglicht. »Die Massenmedien des 20. Jahrhunderts funktionierten stark über die […] vertikale Verbreitung von Inhalten: durch einzelne Zeitungen, Radio- und Fernsehsender hinunter zu einem großen, aber passiven Publikum«, schreiben erlehmann/plomlompom und kontrastieren: »In den Internet-Massenmedien dagegen gewinnt die horizontale Kommunikation der Vielen mit den Vielen an Kraft: Jeder Netzteilnehmer kann Mails an tausend andere schicken. Jeder kann ein Blog eröffnen und so mit etwas Glück Hunderttausende von Lesern erreichen.«17

Auch wenn über die Aufmerksamkeitsmaschinen von Sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Instagram oder auch von Messengern wie WhatsApp, die diese Form der horizontalen Kommunikation weiter beschleunigt haben, häufig vor allem aus einer problematisierenden Perspektive gesprochen wird, lohnt es sich festzuhalten: Die Demokratisierung der Publikationsmittel hat in erster Linie denen eine Stimme gegeben, die sich im 20. Jahrhundert nie (und die in den Jahrhunderten zuvor erst recht nicht) auf diese Weise äußern konnten.

Der Numa-Numa-Guy als Ur-Vater von TikTok

Dieses Meme ist ein Video-Clip: Ein junger Mann filmt sich mit der Webcam dabei, wie er ein für ihn unbekanntes Lied in einer fremden Sprache lippensynchron nachsingt. Er lädt den kurzen Clip ins Netz und wird weltbekannt. Der Mann heißt Gary Brolsma, das Lied heißt »Dragostea din tei« und stammt von der moldawischen Boyband O-Zone, die damit Anfang der 2000er in vielen Ländern Europas, aber auch in Japan an der Spitze der Musikcharts rangierte. Da kaum jemand den Text verstand (der Titel heißt übersetzt »Liebe unter dem Lindenbaum«), erlangte der Song als »Numa-Numa-Song« Bekanntheit, was auf eine Zeile aus dem Refrain anspielt. Der Song fand seinen Weg nach New Jersey, wo Gary Brolsma ihn in einer Form nachsang, die Jahre später zur Grundlage für den Erfolg der App TikTok werden sollte, in der Menschen zu Musik und Sounds lippensynchron tanzen und performen. Brolsma stellte den Clip im Jahr 2005 ins Netz, also zu einer Zeit, in der es weder YouTube gab noch Soziale Medien in der heutigen Form. (# 5) Er wurde ein großer Erfolg, weil er den Anlass für zahlreiche Adaptionen lieferte. Douglas Wolk schrieb im US-Magazin The Believer: »Das ist ein Film von jemandem, der eine wunderbare Zeit hat, der diese Freude mit jedermann teilen möchte und sich dabei überhaupt nicht darum kümmert, was andere über ihn denken könnten. Jeder wollte der Numa-Numa-Typ sein. Jeder wollte die gehemmte und doch selbstvergessene Freude spüren, die er dabei hatte, in seinem Stuhl zu flegeln und einen dämlichen Pop-Song in einer Sprache nachzusingen, die er nicht versteht.«18

# 5 Ur-Vater der TikTok-Generation: Gary Brolsma als Playback singender »Numa-Numa-Guy«

Brolsma wurde als »Numa-Numa-Guy« zu einem Vorreiter für eine Art von Internet-Prominenten, die heute als Influencer oder YouTuber bezeichnet werden. Im Rückblick kann sein Playback-Vortrag als Verbindung zwischen dem privaten Karaoke-Singen mit Bürste vor dem Badezimmerspiegel und dem Erfolg der App TikTok gelesen werden. Das Beispiel zeigt, dass einige Treiber hinter dem Phänomen Internet-Meme größer sind als die Plattformen, die sie nutzen. Sein Clip wurde im Dezember 2004 auf Newgrounds.com hochgeladen, einer Seite, die heute niemand mehr kennt, ähnlich wie Brolsmas Nutzernamen »Gman250«. Der Clip wurde dennoch und ohne die Empfehlungs-Algorithmen von YouTube und TikTok web-bekannt. Diese und vergleichbare Plattformen nutzen lediglich das Bedürfnis, nach- oder mitzusingen, das zur Beliebtheit solcher Clips führt. Dass Popularität auch ohne die Empfehlungsmechanismen der klassischen sozialen Netzwerke möglich ist, zeigt die Offenheit des Web: Menschen können auch über E-Mails oder in Foren gleiche Interessen und damit verbundene Links und Hinweise teilen.

Musik ist ein zentraler Treiber für die eigene öffentliche Wahrnehmung und Darstellung. Das lippensynchrone Nachsingen wird zum Ausdruck einer bestimmten Haltung, man schreibt sich damit in eine Gruppe von Menschen ein, die die gleiche Musik mögen oder referenzieren. Dies ist durchaus auch im ironisierten Bruch möglich. Wichtig ist die Referenz und der Bezug auf die eigenen Identitätsvorstellungen – was sich aktuell auch am Erfolg der Plattform TikTok beobachten lässt.19

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