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Der Alte im Scirocco und der trostlose Anhalter
ОглавлениеDer Himmel verhöhnte ihn mal wieder. Kaum erreichte er die Hauptstraße, an der er sich in Position bringen wollte, da ließ der Himmel fröhlich Regen niederträufeln. Auf sein Haupt und seine Kleider, und auf seinen in die Höhe gestreckten Daumen.
Warum musste er immer noch per Anhalter fahren? Viele seiner Freunde hatten bereits ein eigenes Auto, oder zumindest ein Moped. Nur er war bisher leer ausgegangen. Er dachte an seinen Onkel. Ein reicher Fettsack, der groß Karriere gemacht hat, bei irgend so einem Automobil-Zulieferer. Ein schmieriger Kerl, der ihm zum Geburtstag immer irgendeinen winzigen Betrag in kleinstmöglichen Scheinen schickte. Reich und geizig, die übliche Kombination. Der könnte ihm locker ein Auto kaufen. Aus der Portokasse könnte der das bezahlen. Aber der Onkel war ein Arschloch. Da war nichts zu machen. Sein Vater verteidigte seinen aufgeschwemmten Stiefbruder zwar verbissen, doch er tat es nur, weil sich das so gehörte. Brüder müssen zusammen halten. Warum auch immer.
Geräuschvoll fuhren die Autos an ihm vorüber. Man ließ ihn im Regen stehen. In den Blicken der Fahrer erkannte er den kleinen Kampf zwischen Scham und Angst. Um sich über ihn lustig zu machen, wechselte der Himmel die Farbe. Er legte sich ein graublaues Gewand an, das nach Sommer aussah, und pinkelte derweil weiter auf ihn herunter.
Er spürte den Schmerz, der durch die Verpflichtung zur Existenz entsteht. Er hasste jede Art von Verpflichtung. Und er hasste fast jede Art von Schmerz. Warum wurde er dazu gezwungen, zu existieren? Und vor allem: von wem? Warum gab sich der unsichtbare Bastard nicht wenigstens zu erkennen?
Ein silberblauer, ziemlich alter VW Scirocco brauste heran. Scharf wurde der Wagen abgebremst, so dass er wenige Meter vor ihm zum Stehen kam. Wie er sie liebte, die kleinen Wunder des Lebens. Schnell öffnete er die Beifahrertür und kletterte in das trockene, warme Innere des Wagens.
„
Danke, dass Sie angehalten haben.“
„
Wie viele von den Arschlöchern sind schon an Dir vorbeigefahren?“
„
Vielleicht zwanzig, dreißig.“
„
Zigarette?“
„
Gerne. Vielen Dank.“
Am Steuer saß ein kleiner, älterer Herr. Siebzig Jahre mochte er schon hinter sich gebracht haben. Rauchend, kopfschüttelnd, schimpfend und mit alles durchdringender Güte. Ein feiner, grauer Haarkranz umrandete seine Glatze, in Falten lag das Gesicht. Eine dicke Brille saß schief auf der roten Nase. Mit der linken Hand steuerte er den Wagen, die rechte Hand nutzte er, um nachdrücklich zu rauchen. Seine Liebe zur Zigarette hatte ihn zu einem Schaltfaulen Fahrer gemacht. Hochtourig peitschte der Alte durch den faserigen Regen.
„
Kann ich noch eine Zigarette haben?“
„
Es gefällt mir, wie beharrlich Du rauchst.“
„
Eigentlich will ich es mir schon lange abgewöhnen.“
„
Bist Du verrückt? Gewöhn Dir niemals ab, was Dich glücklich macht. Das käme Selbstmord gleich. Scheibchenweise, Stück für Stück beraubst Du Dich des Lebens. Lang, zäh und voller Pein wird er dann sein, der Weg.“
Der Rauch in der Fahrgastzelle war inzwischen so dick, als arbeitete auf der Rücksitzbank eine Nebelmaschine.
„
Wo fahren Sie eigentlich hin?“
„
In das Bordell an der Autobahnausfahrt.“
„
In die Arme einer liebevollen Frau?“
„
Nein, nein. Liebevolle Frauen findest Du dort nicht. Liebestolle vielleicht, oder verrückte Hühner. Meine Bordellbesuche sehen vollkommen anders aus, als Du denkst. Ich bin dort ehrenamtlich tätig und unterrichte die jungen Frauen in Philosophie.“
„
Sie machen sich über mich lustig.“
„
Dafür ist jemand anderes zuständig. Ich sage Dir lediglich, was ich tue. Du hast mich gefragt, und ich habe es Dir gesagt. Ganz einfach.“
„
Warum sollen Nutten etwas über Philosophie wissen?“
„
Warum sprichst Du Ihnen das Recht ab, über den Sinn des Lebens nachzudenken? Ich dachte wirklich, dass Du ein netter Kerl bist. Und ein guter Raucher. Warum sprichst Du so abschätzig und hochnäsig über andere Menschen. Über junge, schöne Frauen! Ich sollte Dich echt rauswerfen. Zurück in den Regen.“
„
Es tut mir leid. Es tut mir leid!“
„
Ist schon gut.“
„
Seit wann unterrichten Sie denn im Bordell?“
„
Seit ich zu alt für die anderen Sachen bin. Die Gesellschaft junger Frauen kann sehr erbaulich sein, weißt Du. Selbst wenn Du sie nicht mehr beglücken kannst, so beglücken sie doch Dich. Früher war ich manchmal ganze Wochenenden mit sündhaft teuren Escort-Damen unterwegs. In schönen Orten, am Meer. Dort bin ich mit den zwei schönsten Mädchen der Stadt am Strand entlang spaziert. Voller Abschau schauten mich die anderen Touristen an. Vorwurfsvoll und wütend starrten sie auch auf die weiblichen Rundungen. Die Sünden, die sie sich nicht zu begehen trauen, prangern sie bei anderen an! In ihren Augen sah ich den Neid funkeln, den ihre zur Schau gestellte Verachtung nicht verdecken konnte. So sind sie, die meisten Menschen. Sie hassen Prostituierte, nur weil sie sich nicht trauen, bei Ihnen Erleichterung zu suchen. Sie würden sie am liebsten am Galgen baumeln sehen. So viel Hass gegenüber so zarten Geschöpfen. So edlen Gemütern. Wenn es edel ist, für andere Menschen da zu sein, andere Menschen glücklich zu machen, dann zählen Prostituierte zu den edelsten Geschöpfen. Verstehst Du jetzt, warum ich Dich vorhin eigentlich hätte rauswerfen müssen? Noch eine Zigarette?“
„
Sie freuen sich ganz schön auf den Unterricht, kann das sein?“
„
Wenn in der Zukunft etwas auf Dich wartet, auf das es sich zu freuen lohnt, wird alles entschleunigt. Die Zeit vergeht dann langsamer. So hast Du mehr davon, mehr vom Leben. Mehr Lebenszeit. Deshalb ist es so wichtig, immer dafür zu sorgen, dass in der Zukunft etwas Schönes liegt. Etwas Bereicherndes, Berauschendes. Etwas, das mit Freundschaft zu tun hat. Von Freundschaft erzählt. Und mit Liebe getränkt ist. Die Zeit verlangsamt durch Vorfreude, so muss es eingerichtet sein. Dann kann die Zeit genossen werden, in vollen Zügen. Ich gehöre nicht zu den Zeit-Vertreibern. Ich zähle mich zu den Liebhabern der Zeit.“
„
Und was ist mit der verdreckten Sackgasse, und dem herbeigesehnten Ende?“
„
Das war vorhin. Da hab ich wohl kurz vergessen, wo ich hinfahre.“
„
Sie machen sich ja doch über mich lustig.“
„
Was anderes fällt Dir nicht ein? Warum sollte ich mich über Dich lustig machen?
Wenn ich mich über Dich lustig machen hätte wollen, so wäre ich vorhin knapp an Dir vorbeigefahren und hätte Dir die Zunge heraus gestreckt. Aber ich habe angehalten, Dich mitgenommen und Dir Zigaretten gegeben. Warum kannst Du nicht wenigstens versuchen, ans Gute zu glauben?“
Inzwischen hatten sie die Stadt erreicht, und die vielen roten Ampeln nahmen der Fahrt den Rhythmus.
„
Haben Sie eigentlich Philosophie studiert? Oder woher haben Sie die Kenntnisse, die Sie an die jungen Mädchen weitergeben?“ Es klang (obwohl es nicht so gemeint war) wie ein Vorwurf. Wie die Frage eines Richters, der eine Geschichte nicht glauben kann, nicht glauben will.
„
Jetzt machst Du Dich über mich lustig. Du gehörst doch nicht etwa zu denjenigen, die an unser Ausbildungssystem glauben? Oder denkst Du im Ernst, dass man nur in einer Universität etwas lernen kann? Sag mir: wie viele Bücher stehen in Deinem Regal? Hast Du schon mal in Betracht gezogen, dass Wissen in Büchern zu finden sein könnte? Bücher, die man ganz alleine lesen kann. Auf der Couch und nicht im Hörsaal. Bücher, die man in einer Buchhandlung kaufen kann, ohne seinen Studentenausweis vorzuzeigen.“
Der Anhalter schämte sich. Er glaubte sicher nicht an das Ausbildungssystem. Vor zehn Tagen hatte man ihn von der Schule geworfen. Wegen mangelnder Leistungsbereitschaft und einigen anderen Kleinigkeiten. Aber seine Geschichte wollte er hier nicht erzählen. Dafür war er viel zu interessiert am rätselhaften Ehrenamt des Alten. So fragte er ihn, wie die erste Unterrichtsstunde aussehe. Wie er in das weite Feld der Philosophie eindrang.
„
Der Anfang ist schnell gemacht. Ich gebe den Mädchen einen Zettel, mit lediglich zwei Fragen, und bitte sie darum, diese Fragen ehrlich zu beantworten. Alles andere ergibt sich aus den Antworten.“
Für einige Augenblicke schwieg der Alte. Drei oder viermal zog er in dieser Zeit an seiner rot glühenden Zigarette. Dann fuhr er fort.
„
Wovor hast Du Angst? Was erhoffst Du Dir für den morgigen Tag?“
Erneut gab es eine kurze Rauchpause.
„
Eine siebzehnjährige Polin gab mir einmal folgende Antwort: Vor jedem neuen Tag. Mehr hatte sie nicht gesagt. Dieser eine Satz schien ihr ausreichend, um ihr ganzes Dasein zu schildern, und all ihren Hoffnungen Ausdruck zu verleihen. Sie hatte keine. Sie hoffte nicht mehr.“
Der Alte schwieg und schien bedrückt. Alles Glück war aus seinen Augen verschwunden. Im Hals des Anhalters: ein Frosch. Nur Hans Söllner durchbrach mit seiner Stimme den Nebel aus Rauch und Stille.
Heut‘ Nacht gehts um dei Seele
Heut‘ Nacht gehts net um dein' Verstand
Mehr konnte er nicht verstehen, weil der Alte das Fenster aufgemacht hatte, und der Straßenlärm nun die Musik übertönte. Langsam rollte der Scirocco die letzten Meter Richtung Bahnhof. Am Taxi-Stand verabschiedeten sich die Rauchgenossen voneinander. Der Anhalter blickte dem davon fahrenden Scirocco nach. Schnell verschwand er irgendwo in der endlosen Lawine bunten Blechs.
Die Geschichte von der jungen Polin lag ihm noch bleischwer im Magen, als er sich in einer kleinen Bäckerei im riesigen Bahnhofsgebäude einen Milchkaffee kaufte.
Noch nie war er bei einer Prostituierten gewesen. Das erleichterte ihn etwas. Aber allein daran zu denken, wie oft er es sich vorgestellt hatte, machte ihn irgendwie zu einem Schuldigen. Zu einem Sünder. Seine katholische Erziehung hing immer noch an ihm wie ein schwerer Stein, den man ihm mit einem Seil ans Bein gebunden hatte. Und immer die Angst, dass ihn jemand ins Wasser schubsen könnte.