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Der Sagasvej bildete den Rahmen um meine früheste Kindheit. Ich war blaß, schmächtig und die Kleinste in der Straße. Die großen Mädchen steckten mich oft in einen Puppenwagen und fuhren mich im Park Frederiksberg Have spazieren. Manchmal gingen wir auch ins Rathaus und drehten eine Runde mit dem Paternoster. Dabei hatte ich immer schreckliche Angst, weil man mitten in der Fahrt abspringen mußte.

Mit sechs Jahren verliebte ich mich in einen Jungen, der Nils hieß. Es gab nur eins, was mir an ihm nicht gefiel: daß er mit den Pferdeäpfeln spielte, die die Pferde des Müllkutschers auf der Straße verloren. Deshalb schickte ich ihn vor dem Händchenhalten immer zuerst zum Waschen. Nils liebte zwei Dinge auf dieser Welt: die Pferde des Müllkutschers und mich.

Damals war es mein größter Ehrgeiz, tüchtig im Krabbenpulen zu werden. So tüchtig wie eine von den Großen und ihre Mutter. Schon in ihrem Treppenhaus konnte man die Krabben riechen. Jeden Nachmittag ging ich mit ihnen zum Fischhändler im Gammel Kongevej, wo sie zwei große Tüten mit gepulten Krabben ablieferten.

Ich vergaß Nils, und ich vergaß auch meinen Traum vom Krabbenpulen.

Es nieselt, der Himmel ist fast wie selbstverständlich oder unwiderruflich blaßgrau. Ich trete einen Schritt zurück, betrachte das Schild: Kit Sorél, Privatdetektivin. Mein Name steht in Weiß auf der schwarzen Platte.

Ich bin jetzt in dem Alter, in dem eine vernünftige Frau ihre Träume in die Tat umsetzt. Ich bin fünfundvierzig und habe soeben meinen ersten großen Fall abgeschlossen.

Auf der Straße, vor meinem Büro, steht ein leuchtendroter Renault. Das ist mein Wagen, und er trägt zur Hälfte die Schuld daran, daß ich hier sitze. Ich habe ihn vor etwas über einem Jahr bei einem Waschmittelpreisausschreiben gewonnen. Das Problem war nur, daß ich keinen Führerschein besaß. Deshalb wollte ich das rote Wunder eigentlich verkaufen. Aber als ich dann in dem duftenden neuen Auto hinter dem Lenkrad saß, war ich verloren. Ich erkannte, daß ich schon längst davon geträumt hatte, fahren zu lernen, und nun bot sich mir die Gelegenheit. Nach kurzem Überlegen rief ich bei einer Fahrschule an, machte einen Termin ab und wäre angesichts der Preise fast in Ohnmacht gefallen. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen, und um die Fahrstunden zu finanzieren, vermietete ich den Wagen an den Wochenenden.

Als ich endlich den Führerschein hatte und den Fuß auf mein eigenes Gaspedal stellen konnte, tauchte in mir ein neuer Traum auf: Ich wollte eine Detektei aufmachen.

Als drei Jahre zuvor mein Sohn Benjamin von zu Hause ausgezogen war, hatte ich mein Reihenhaus in Galgebakken gegen eine kleine Zweizimmerwohnung im Wilkensvej in Frederiksberg eingetauscht. Ich hatte das erste Examen in Theologie abgelegt und brauchte nun eine Pause, was Griechisch und Hebräisch betraf.

Ich bin ausgebildete Krankenschwester, außerdem halbe Theologin, und aus irgendeinem Grund fand ich es nur natürlich, nun als Privatdetektivin mein Glück zu versuchen. Die Wege des Schicksals sind nun einmal unergründlich...

Meine schönen Pläne wurden dann aber durch einen Krankenhausaufenthalt durchkreuzt. Miriam, meine Ärztin, hatte in meinem Unterleib einen Knoten von der Größe einer Avocado festgestellt. Nach einer längeren Diskussion mit dem Oberarzt, der mir riet, die Gebärmutter entfernen zu lassen, ließ ich mich einweisen. Allerdings unter der Bedingung, daß sie die Finger von meiner Gebärmutter ließen, so lange das noch zu verantworten war, und so geschah es dann auch.

Im Krankenhaus kam ich ins Gespräch mit einer Schwester, die einige Jahre in Tansania gearbeitet hatte. Sie hatte ihren jetzigen Job satt und sehnte sich zurück nach Afrika. Halb aus Jux weihte ich sie in meinen Plan ein, eine Detektei aufzumachen.

»Du solltest dir ein Beispiel an meiner Schwester nehmen«, sagte sie. »Und Starthilfe beantragen. Sie hat ein Sonnenstudio aufgemacht, und das läuft wie geschmiert.«

»Was ist denn Starthilfe?« fragte ich, und sie erklärte mir alles.

»Aber du mußt seit mindestens fünf Monaten arbeitslos sein«, sagte sie schließlich und schlug meine Decke beiseite.

Das ist doch geradezu perfekt, dachte ich und spürte einen Stich im Oberschenkel. Als ich mich von der Universität beurlauben ließ, hatte ich mich bei der Studiendarlehenskasse gemeldet. Zwischendurch hatte ich zwar Konfirmationsunterricht gegeben, aber wenn ich das richtig verstand, war ich trotzdem seit mindestens fünf Monaten arbeitslos.

Hin und weg von meinen Plänen und reichlich benebelt von der Beruhigungsspritze wurde ich zum OP gefahren. Mein letzter Gedanke, ehe ich in die Narkose entschwebte, galt der Telefonnummer der Darlehenskasse.

Als ich erwachte, stand mein Bett in einem Sechs-Personen-Zimmer mit blauen Wänden und weißen Vorhängen. In diesem Zimmer lernte ich Kamma kennen, eine Person, die für mich noch sehr wichtig werden sollte.

Kamma ist eine ausgesprochen wohlhabende Frau von zweiundsiebzig, die – zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes – »nun endlich ihre Lebensfreude gefunden hat«, wie sie das ausdrückt.

Da sie jeden Monat dreißigtausend Kronen Steuern bezahlt, wollte sie partout nicht in einer Privatklinik behandelt werden. »Für meine Steuern will ich schließlich was haben«, wie sie sehr vernünftig sagte.

Kamma war die Gebärmutter entfernt worden, und der Arzt hatte ihr davon abgeraten, Hormonpräparaten einzunehmen.

»Kann das Auswirkungen auf mein Sexualleben haben? Verliere ich dann vielleicht alle Lust?« fragte sie bei der Visite.

»Kann schon sein«, sagte der Arzt und rückte seine Brille gerade.

»Ja, ja«, seufzte Kamma, ihr Liebhaber ist fünfzig und Philosoph. »Dann muß ich mich wohl mit der Philosophie begnügen.« Kammas guter Freund Carl, der ehemalige Chauffeur ihres Mannes, besuchte sie oft und brachte dann fast immer Wein mit. Deshalb wurde abends auf unserem Zimmer ausgiebig gefeiert. Wir saßen in scheußlichen Morgenrökken da und berauschten uns an Konfekt, Zoten und Wein.

Eines Abends erzählte ich Kamma von meinen Plänen, und sie war sofort Feuer und Flamme. »Ich habe ein Haus in der Smallegade«, sagte sie. »Da wird nächsten Monat ein kleines Büro frei. Das kannst du mieten.«

Vorsichtig erkundigte ich mich nach dem Preis, aber davon wollte Kamma nichts hören. »Da werden wir uns schon einig«, sagte sie. »Wenn du mir alles über deine spannenden Fälle erzählst, dann kriegst du’s billig.« Und dabei blieb es.

Einen Monat nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war ich vollauf damit beschäftigt, mein neues Büro in der Smallegade 52 b einzurichten.

Es bestand aus einem Zimmer von zwanzig Quadratmetern, einer besenkammergroßen Kochnische und einer Toilette im Treppenhaus.

Die Wände strich ich weiß an, die Möbel, ein großer alter Schreibtisch, einige Regale und zwei Stühle, wurden blau. Als einziges Dekorationsstück hängte ich ein großes Kandinsky-Plakat an eine Wand.

Es war ganz schön viel Arbeit. Ich hatte mich noch nicht so recht von der Operation erholt, und deshalb fiel ich abends ins Bett, sowie ich wieder in meiner Wohnung im Wilkensvej angekommen war. Und ich pries mich glücklich, weil ich nur für mich selber sorgen mußte.

Was das andere Geschlecht angeht, so lege ich gerade eine Pause ein. Dabei habe ich gar nichts gegen Männer. Wenn ich eine Beziehung habe, geht mir nicht der Mann auf die Nerven, sondern ich. Wenn ich einen Freund habe, besetzt er sofort achtzig Prozent meiner gedanklichen Tätigkeit, und ich habe den Eindruck, daß ich nicht die einzige Frau bin, die diesen Fehler macht.

Nach meiner Scheidung von Benjamins Vater Paul hatte ich das, was ich meine internationale Periode nenne.

Ich war mit einem niederländischen Journalisten zusammen, mit Jaap aus Utrecht. Während Benjamin mit Paul auf Bornholm Ferien machte, verbrachten Jaap und ich zwei Monate in Portugal. Es war die Zeit der Nelkenrevolution, und Jaap interviewte Bauern aus den verschiedenen Agrarkommunen und Offiziere aus der Armee. Durch die portugiesischen Kolonialkriege hatten etliche Söhne des Proletariats zu Offiziersrängen aufsteigen können. Und diese Söhne führten nun die Revolution an. Abends tranken wir über einer Gasflamme temperierten Portwein und diskutierten Marx, Engels und Nietzsche.

Als Jaap seine Interviews erledigt hatte, fuhren wir in eine kleine Stadt, Valença, die dicht vor der spanischen Grenze lag. Wir wohnten in einem großen alten, ein wenig abseits gelegenen Hotel, wo die Kellner lautlos in weißen Jacken und weißen Hemden umherliefen und aussahen, als ob sie vornehme Gäste erwarteten. Die Atmosphäre dort war wie ein Hauch aus einer verschwundenen Zeit.

Zusammen mit drei Schwarzen waren wir die einzigen Gäste im Hotel. Einer der Schwarzen saß jeden Morgen auf der im Flur gelegenen Toilette und blies Rauchwolken durch das Schlüsselloch. Den tieferen Sinn dieser Aktion konnten wir nie in Erfahrung bringen, auf jeden Fall roch das Treppenhaus nach jedem seiner Toilettenbesuche nach verbranntem Papier.

Eines Abends spät fuhren zwei Rolls-Royce vor dem Hotel vor. Die Privatchauffeure öffneten die Türen, und lauter elegant gekleidete ältere Menschen, die meisten waren mindestens achtzig, quollen heraus und setzten sich an die Tische auf der Terrasse. Die Kellner servierten Krebse und Champagner, und das Festmahl dauerte bis in den frühen Morgen.

In diesem Hotel mit Kronleuchtern und goldgerahmten Spiegeln machte Jaap mir am Tag vor unserer Weiterfahrt nach Lissabon einen Heiratsantrag.

Wir waren einige Jahre zusammen, aber wir haben nie geheiratet. Ich fand es kompliziert, einen Freund zu haben, der in den Niederlanden wohnte.

Danach lernte ich Giannis kennen, einen griechischen Kapitän von Volos. Neun Monate pro Jahr fuhr er Korn von Brasilien in die Sowjetunion, mit einem griechischen Schiff, das in Panama registriert war. Während der drei Sommermonate segelte er dann mit seinem eigenen Schiff durch die Ägäis, manchmal waren auch ich und Benjamin dabei.

Ich erinnere mich an Sommerabende in einer Taverne, an Zikaden, Ouzo und Benjamin, der am Strand spielt.

Giannis war Mitglied der Pasok, er war fortschrittlich eingestellt, aber er war nun einmal ein Grieche. Eines Tages kam er vom Einkaufen zurück und feuerte wutschnaubend sein Einkaufsnetz in die Ecke. Die Frauen im Laden hatten sich über ihn lustig gemacht, weil er einkaufte und nicht ich. Von nun an übernahm ich den täglichen Einkauf. Ich hatte ein wenig Griechisch für den Hausgebrauch gelernt. Lange Zeit bat ich beim Metzger um »schlafendes Rindfleisch«. »Gehackt« und »schlafend« hören sich auf Griechisch ziemlich ähnlich an.

Damals gab es bei den Griechen den Begriff »rent a boy«. Es ging dabei um Griechen, vor allem um Kellner, die ein Verhältnis mit einer Ausländerin hatten. Angeblich ließen diese Männer sich für ihre Dienste bezahlen. Giannis und mir wurde deshalb, vor allem auf den kleineren Inseln, oft Verachtung entgegengebracht. Das quälte Giannis, und als wir uns einige Jahren kannten, verlangte er von mir, daß ich nach Griechenland übersiedelte. Vermutlich war das ein verzweifelter Versuch, unsere Beziehung legitim zu machen. Ich dagegen wollte nicht neun Monate im Jahr neben seinen Eltern auf Volos leben. Und um nichts in der Welt sollte Benjamin in Griechenland als »uneheliches Kind« aufwachsen.

Mein nächster Freund war Flip aus Belgien. Ein Jazzmusiker, der außerdem zusammen mit seinem Vater und seinem Onkel ein Reisebüro betrieb. Er wohnte in einem großen Haus in Löwen, und es war sein Ehrgeiz, aus mir eine gute Tennisspielerin zu machen. Unmittelbar vor unserer Abreise nach Bangkok, wo wir verschiedene Restaurants testen sollten, gerieten wir aneinander. Flip hatte soeben die Verträge mit zwei Hotels in Österreich gekündigt, weil dort auch Behinderte aufgenommen wurden. Das führte zu einem heftigen Streit zwischen uns, und wir einigten uns dahingehend, daß wir doch zu unterschiedlich seien.

Benjamin, der sich auf Bangkok gefreut hatte, war mit einer Angel und Campingferien in Schweden ebenso zufrieden. Ich war in diesem Urlaub vor allem damit beschäftigt, mich mit Mückencreme einzuschmieren und mich zu fragen, warum ich mir immer Freunde suchte, die so weit weg von mir wohnten wie möglich.

Zwei Jahr später gingen wir nach Tansania, dort arbeitete ich in Arusha als Krankenschwester. Benjamin lernte fließend Swahili und freundete sich innig mit unserem Wärter Jumapili an, der jeden Abend mit seinem Speer vor unserer Veranda saß. Er war ein Sonntagskind, und darauf war er stolz. Jumapili bedeutet Sonntag.

Jumapili war ein alter zahnloser, aber dennoch respekteinflößender Massai. Er nannte Benjamin »Kijani«, das bedeutet Jugendlicher. Und wir lernten, daß »jani« die Farbe des frischen Grases bezeichnet. »Majani« ist neues Gras, und deshalb heißen Jugendliche »Kijani«.

Wir verbrachten zwei unvergeßliche Jahre in Afrika.

Zur Zeit ist Benjamin der einzige Mann in meinem Leben. Er ist jetzt dreiundzwanzig, studiert Literaturwissenschaft und wohnt in Kongedybet.

Als Kind habe ich »Försters Pucki« gelesen, und viele Jahre lang träumte ich davon, später einen Oberförster zu heiraten. Mit fünfundzwanzig setzte ich einen Teil dieses Traumes in die Tat um: Ich heiratete, im Laufe der Zeit sogar zweimal. Ein Oberförster war leider nicht unter meinen Ehemännern.

Zwei Tage bevor ich mit der Einrichtung meines Büros fertig war, kam ein Brief vom DDV. Nach schriftlichem Antrag und persönlichem Gespräch war ich in den Dänischen Detektivverband aufgenommen worden.

Danach gab ich in verschiedenen Tageszeitungen eine Anzeige auf: Kit Sorél, vom DDV anerkannte Privatdetektivin. Korrekte und solide Ermittlungen jeder Art.

Am ersten Tag herrschte strahlender Sonnenschein. Der Himmel hatte die gleiche Farbe wie die kleinen Blüten des Bitterwurz, den ich auf die Fensterbank gestellt hatte. Wochenlang hatten wir nur Regen und Schneematsch gesehen, deshalb erschien der Sonnenschein mir als gutes Omen.

Ich saß hinter meinem frischgestrichenen Schreibtisch, schaute das Telefon an und wartete.

Um halb zwölf schaltete ich den Anrufbeantworter ein, hängte ein Schild vor die Tür, ging ins Café Sokkelund und genehmigte mir ein Chili con carne.

Das Café war nicht sonderlich gut besucht. Eine junge Frau in engsitzenden schwarzen Leggings und brauner Lederjacke stand vor dem Tresen, rauchte eine Zigarette und plauderte mit dem Barmann. Ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, daß sie sich für ihn interessierte. Seine Miene dagegen war recht professionell.

Ich setzte mich an einen Fenstertisch, schaute hinaus und war ein bißchen niedergeschlagen. Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, daß das Telefon heißlaufen würde, aber einen oder zwei Anrufe hatte ich schon erwartet.

Sich selbständig zu machen, bedeutet, ins kalte Wasser zu springen, man weiß nicht, was der nächste Tag bringen wird. Ich habe eine Bekannte, Karen, die Analytikerin ist. In ihrem ersten Berufsjahr hatte sie vergessen, daß die Leute während der Sommerferien in ferne Gegenden reisen. Deshalb saß sie mit einem leeren Terminkalender und mieser Finanzlage da und machte während der Sommerferien unfreiwillig Urlaub. Aber sie hat es ja schließlich auch mit heiler Haut überlebt, dachte ich, kratzte meinen Teller leer, ließ mich im Sessel zurücksinken und schaute mich im Café um. Ich hatte Aussicht auf ein großes Gauguin-Plakat. Vier Frauen, eine mit Strohhut, hielten auf einer Veranda Siesta. Die frohen Farben und die heitere Gelassenheit in ihren Gesichtern zeigten mir, wie sehr diese Frauen in sich ruhten, und das erweckte in mir plötzlich einen ziemlichen Optimismus. Vielleicht wußte das außer mir noch niemand, und meine potentiellen Klienten schon gar nicht, aber ich war auf dem richtigen Weg. Ich erhob mich, erfüllt von den besten Erwartungen.

Der junge Blonde hinter dem Tresen nickte und lächelte.

»Bis bald«, sagte er.

»Ja«, antwortete ich und stieß die Tür auf. »Bis bald.«

Im vergangenen Monat hatte ich fast täglich im Sokkelund eine warme Mahlzeit zu mir genommen. Es kostet nicht allzu viel, und während ich mein Büro einrichtete, war das eine praktische Lösung.

Auf der Straße entdeckte ich sie dann. Ihre knallrosa Baskenmütze belebte das Straßenbild. Sie trug einen grauen Herrenmantel mit hochgeklapptem Kragen und einem Ledergürtel. Sie stand tatsächlich vor meiner Bürotür und wartete auf mich.

Ich ging schneller und konnte sie noch erreichen, ehe sie sich die Sache anders überlegte.

»Warten Sie vielleicht auf mich?« fragte ich, während ich in meiner Tasche nach den Schlüsseln wühlte. Sie nickte und blickte mich leicht verlegen an.

Ich streckte die Hand aus und stellte mich vor. »Kit Sorél.«

Dann öffnete ich die Tür und bat sie hinein.

»Setzen Sie sich«, sagte ich und zog einen Stuhl heran. »Ich bin gleich wieder da. »Eilig hängte ich meinen Mantel in den Schrank und holte die immer noch recht volle Thermoskanne aus der Kochnische.

»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Ich sah sie an. Sie saß auf der Stuhlkante und umklammerte ihre Handtasche.

»Ja«, antwortete sie und fügte dann hinzu: »Gern.«

»Nehmen Sie Milch und Zucker?«

»Nur Milch.«

Ihre Stimme war so leise, es war fast schon ein Flüstern.

Als ich Milch und Tassen holte, fragte ich mich, was sie wohl in mein Büro geführt haben mochte. Ich tippte auf einen Mann. Sie wirkte unausgeglichen, vielleicht sogar unglücklich. Die Tatsache, daß sie sich nicht vorgestellt hatte, bedeutete natürlich, daß sie noch nicht entschieden hatte, ob ihr Kommen richtig gewesen war.

Als ich ihr Kaffee eingeschenkt hatte, ließ ich mich im Sessel zurücksinken, lächelte sie an und fragte: »Und was führt Sie zu mir?«

Sie seufzte. »Stört es Sie, wenn ich rauche?« fragte sie und öffnete ihre Tasche.

»Kein bißchen«, ich schob ihr den Aschenbecher hin. »Ich rauche selber.«

»Ja dann...«, sie zog eine Packung Prince aus der Tasche und hielt sie mir hin. »Möchten Sie eine?«

»Nein, danke«, ich hob abwehrend die Hand. »Ich rauche nur Zigarren oder Mentholzigaretten.« Der Schatten eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. »Das ist ja eine witzige Kombination.«

Ich nickte.

Sie zündete ihre Zigarette an, wir schwiegen beide. Ihre Hände zitterten leicht. Sie schien sich nicht zu fürchten, aber offensichtlich stand sie unter psychischem Druck. Ich betrachtete sie abwartend. Sie sah ein wenig künstlerisch aus. Große Ohrringe, blonde Locken, Augen-Make-up, aber kein Lippenstift. Ich fand sie sympathisch.

»Ich muß Sie leider nach Ihrem Namen fragen«, sagte ich schließlich und griff zu Block und Bleistift.

»Ja, natürlich«, sie räusperte sich. »Tine Juul.«

»Mit h?«

»Nein, mit zwei u.«

Ich notierte ihren Namen, legte dann den Bleistift weg und beugte mich vor. »Ja?«

»Brauchen Sie auch meine Adresse?« fragte sie.

»Das hat Zeit«, antwortete ich. »Im Moment möchte ich vor allem wissen, was ich für Sie tun kann.«

Sie nickte und holte tief Luft. »Ich habe einen Freund in Århus«, fing sie an.

»Mm«, ich bedachte sie mit einem aufmunternden Blick.

»Er möchte, daß ich zu ihm ziehe, aber ich weiß nicht so recht...«

»Wo liegt das Problem?«

»Ich habe eine Tochter, und wenn ich umziehe, muß sie doch die Schule wechseln...«

Ich blickte sie leicht verständnislos an und fragte: »Aber was hat das alles mit mir zu tun?«

»Er setzt mich unter Druck«, antwortete sie. »Ruft mich nachts an und so...«

»Gibt es einen besonderen Grund, aus dem Sie nicht umziehen wollen – abgesehen von Ihrer Tochter, meine ich.«

»Ich weiß nicht«, sie rutschte unruhig hin und her. »Es ist schwer zu erklären, aber... ich habe nicht genug Vertrauen zu ihm.«

»Warum nicht?«

»Das kann ich gar nicht klar sagen, das ist ja gerade das Problem. Ich habe so ein seltsames Gefühl...«

»Haben Sie ihn bei einer Lüge erwischt?« machte ich den Anfang.

»Vielleicht...«, sie biß sich auf die Lippe. »Er ist schrecklich eifersüchtig«, sagte sie dann. »Er ruft mich mitten in der Nacht an, nur um zu kontrollieren, ob ich zu Hause bin.«

»Aber Sie glauben, daß er lügt?« Ich öffnete die Schreibtischschublade, nahm eine Zigarre heraus und steckte sie an.

»Wenn ich ihn abends anrufe, ist oft besetzt.«

Den ganzen Abend?«

Sie nickte.

»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«

»Ja, aber er behauptet, er habe ein Interview gemacht.« Sie legte eine Pause ein. »Er ist Journalist«, fügte sie dann hinzu.

»Haben Sie den Verdacht, daß er den Telefonhörer daneben gelegt hat?«

»Ja.«

»Das läßt sich doch überprüfen«, sagte ich. »Sie können bei der Telefongesellschaft anrufen und sich erkundigen, ob von seinem Anschluß aus ein Gespräch geführt wird.«

»Das habe ich getan«, antwortete sie leise. »Und es wurde kein Gespräch geführt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Haben Sie ihn denn damit konfrontiert?«

»Ja, aber nun behauptet er, daß mit seinem Telefon etwas nicht in Ordnung ist... oder daß der Hörer nicht richtig aufgelegt war.«

»Aha.« Ich schwieg eine Weile und betrachtete den Rauch meiner Zigarre. Ich konnte mir schon vorstellen, worauf das alles hinauslief. Vermutlich wollte sie mich nach Århus schicken, damit ich ihren Verdacht be- oder entkräftete.

Meiner Ansicht nach bestanden zwei Möglichkeiten: Sie war entweder tief neurotisch, oder sie war an einen Hallodri geraten. Ehe ich mich engagierte, mußte ich das genauer wissen.

»Sie haben gesagt, Sie hätten ihn bei einer Lüge ertappt?« Ich blickte sie abwartend an.

»Einmal hat er gesagt, er müßte den ganzen Abend in der Redaktion arbeiten«, sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte ihn am nächsten Tag besuchen, mußte aber absagen, weil meine Tochter krank geworden war. Da habe ich in der Redaktion angerufen...« nervös machte sie es sich an ihrem Ledergürtel zu schaffen. »Aber er war nicht da. Also habe ich es bei ihm zu Hause versucht...«

»Ja?«

»Aber da war er auch nicht.«

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Ich habe ihn nicht darauf angesprochen. Ihn nur gefragt, ob er in der Redaktion viel zu tun gehabt hätte«, sie starrte vor sich hin.

»Und das hatte er?«

»Ja.«

»Ist die Sache damit nicht entschieden?«

Vielleicht...«, wieder umklammerte sie ihre Tasche.

Bei mir war das jedenfalls so. Die Frau war keine Neurotikerin, sie war an einen Hallodri geraten. Eine Neurotikerin hätte sich immer neue Probleme ausgedacht, Tine Juul dagegen weigerte sich, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Während ich noch überlegte, wie ich mich verhalten sollte, klingelte das Telefon.

»Spreche ich mit der Detektei?« fragte eine sinnliche Frauenstimme. Ich sagte ja, und es entstand eine kurze Pause.

Dann stellte die Anruferin sich vor. »Hier spricht Lykke. Ich würde gern einen Termin machen.«

»Ja«, ich griff zu meinem Terminkalender. »Wann paßt es Ihnen denn?«

»Könnte ich vielleicht morgen kommen?«

»Mal sehen«, ich versuchte, professionell zu klingen. »Um elf ist noch etwas frei, geht das?«

»Das geht sehr gut.«

»Wie war noch gleich der Name?«

»Lykke.« Der Nachname sollte offenbar ein Geheimnis bleiben.

»Kann ich dich irgendwo anrufen, wenn mir etwas dazwischen kommt?«

»Ja, aber... ich bin selten zu Hause. Ich gebe dir lieber die Nummer von meiner Arbeit. Ich bin Kosmetikerin beim Fernsehen – frag einfach nach Lykke.«

»Alles klar«, sagte ich, notierte die Nummer und legte auf.

Tine Juul nahm sich eine neue Zigarette. Mir fiel auf, daß ihr Zeigefingernagel vom Nikotin gelb verfärbt war.

»Verzeihung«, sagte ich und blickte sie voller Bedauern an. »Jetzt schalte ich den Anrufbeantworter ein.« Ich drückte Däumchen, daß niemand anrief.

»Macht doch nichts«, sie lächelte, und zum ersten Mal sah ihr Gesicht einigermaßen entspannt aus.

»Also, hören Sie«, ich fuhr mit der Hand über meinen Notizblock. »Eigentlich haben Sie doch selber schon ziemlich viel herausgefunden. Ich weiß wirklich nicht, ob Sie mich überhaupt brauchen. Ich nehme dreihundert Kronen pro Stunde...«

»Ich möchte, daß sie hinfahren«, sie blickte mich ganz entschieden an. »Der Preis ist nicht so wichtig«, sie zog heftig an ihrer Zigarette. »Er will mit mir zusammen ein Haus bei Brabrand kaufen... meine Mutter soll für das Darlehen bürgen.«

»Ach was«, ich hob die Augenbrauen. »Ist er finanziell nicht abgesichert?«

»Vielleicht nicht.«

»Hat er Sie schon häufiger angepumpt?«

»Ich bin Grundschullehrerin, ich schwimme also nicht gerade im Geld...«

»Also hat er Sie angepumpt?«

Ihre Wangen liefen blutrot an. Sie nickte beschämt.

Vor meinem inneren Auge zeichnete sich ein Bild von ihm ab. Ein ungeheuer charmanter cholerischer Kleinpsychopath.

»Sie haben gesagt, er sei sehr eifersüchtig?« fragte ich.

»Entsetzlich«, sie runzelte die Stirn. »Ein Elternabend in der Schule reicht schon aus... dann hält er mich die ganze Nacht hindurch wach.« Sie schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie noch, was wir als Kinder gesagt haben?« Ich beugte mich vor, sah sie an und sagte langsam: »Was man anderen in die Schuhe schiebt, hat man selber getan.« Ich setzte mich wieder aufrecht hin. »Vielleicht ist er deshalb so eifersüchtig.«

»Ja«, flüsterte sie, ihre Augen wurden feucht, und ihr rechter Mundwinkel fing ganz leicht an zu zittern.

»Kommt es oft vor, daß er Sie nachts weckt?« fragte ich und registrierte, daß sie nun ganz blaß war.

»Fast jede Nacht.«

»Es ist nicht gesund, aus dem Schlaf gerissen zu werden«, ich wurde langsam wütend. »Das würde doch wirklich alle mißtrauisch machen.«

»Ich weiß nicht mehr weiter«, sagte sie. »Ab und zu wünschte ich, ich könnte einfach alles hinschmeißen...«

Sie sagte das sehr ernst, und ich dachte, es sei sicher höchste Zeit, daß sie zu mir gekommen war.

»Das ist wie beim Karussellfahren«, sagte ich leise. »Alles bewegt sich die ganze Zeit.«

»Ja«, sie blickte mich leicht verwundert an. »Genau so ist es.«

Dann schwiegen wir wieder eine Weile. »Sie könnten noch eins machen«, regte ich dann an. »Wenn bei ihm besetzt ist, dann rufen Sie einen Kurierdienst an und lassen ihm eine wichtige Nachricht übermitteln: Er soll Sie sofort anrufen. Wenn Sie nichts von ihm hören, dann rufen Sie den Kurierdienst noch einmal an und fragen, ob der Kurier ihm Ihre Nachricht persönlich überreicht oder sie einfach vor die Tür gelegt hat.«

»Geht das denn?« fragte sie.

»Ja, sicher. Das kostet zwar einiges, aber es ist doch viel billiger, als mich nach Århus zu schicken.«

Sie überlegte sich meinen Vorschlag eine Weile. Dann schüttelte sie den Kopf. »Mir wäre es lieber, wenn Sie hinfahren«, sagte sie.

»Gut«, ich öffnete die Schublade und nahm meinen Rechnungsblock heraus.

Geld stellt schließlich auch eine gewisse Energiemenge dar. Ich sah das so: Sie wollte ihre Energie lieber in eine endgültige Klärung und eine Trennung investieren, als sich von verwirrenden Überlegungen erschöpfen zu lassen. Auch das war ein Ausweg aus ihrer mißlichen Lage.

»Wenn ich ihn in Århus überwachen soll, dann müssen Sie mir einen Vorschuß von fünftausend Kronen zahlen. Den Rest, Spesen und Mehrwertsteuer, können wir später abrechnen, wenn klar ist, wie lange ich für den Fall brauche. Und es kostet dreihundert Kronen pro Stunde.« Ich blickte sie fragend an.

»Das geht in Ordnung«, sie war nicht im geringsten überrascht. »Wollen Sie das Geld sofort?«

»Das wäre eine gute Idee«, antwortete ich. »Aber Sie sollten sich vielleicht noch überlegen, wann ich am besten hinfahre.« Ich lächelte und fügte hinzu: »Wir wollen ja schließlich ein Ergebnis unserer Bemühungen sehen.«

Sie nickte.

»Vielleicht wollen Sie noch warten?« schlug ich vor. »Sie können mir doch morgen noch Bescheid geben.«

»Nein«, sie räusperte sich und setzte sich gerade. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Ich möchte, daß Sie am Sonntag nach Århus fahren.«

»Am kommenden Sonntag?«

»Ja, ich habe so ein Gefühl... in der Regel passiert es sonntags«, sie senkte ihre Stimme und blickte mich unsicher an. »Läßt sich das wohl machen?«

»Aber sicher«, antwortete ich und schminkte mir mein gewohntes Sonntagsessen mit Benjamin ab. »Dann werde ich heute noch den Flug buchen.«

»Aber...«, sie öffnete ihre Tasche.

Ich hatte einen Scheck erwartet, und deshalb blickte ich sie überrascht an, als sie ein Bündel Banknoten aus ihrer Tasche zog. Sie zählte das Geld, reichte es mir und sagte in nüchternem Tonfall: »Das müßten fünftausend sein.«

Als ich ihr eine Quittung ausgestellt hatte, sah sie mich mit ganz anderem Gesichtsausdruck an.

»Das war eine gute Entscheidung«, sie spielte kurz mit der Quittung. »Sie haben ja keine Ahnung, wie erleichtert ich bin.« Dann faltete sie die Quittung sorgfältig zusammen und steckte sie in ihr Portemonnaie.

»Doch, ich glaube schon«, antwortete ich lächelnd. »Aber jetzt geben Sie mir seine Adresse. Und ich brauche auch ein Foto, falls Sie eins haben.«

Tine Juul war auf alles vorbereitet, sie zog nicht weniger als drei Bilder aus der Tasche und reichte sie mir.

Wie ich vermutet hatte, handelte es sich um einen wirklich attraktiven Mann. Um einen, der die Wünsche vieler Frauen erfüllen kann, und in dessen Umarmung wir uns zwar geborgen fühlen, aber doch nie wirklich geborgen sind. Er war kräftig und natürlich groß, hatte dunkle Locken, braune Augen und ein Grübchen im Kinn.

»Wie groß ist er?« fragte ich.

»Ach... einsfünfundachtzig, nehme ich an... vielleicht etwas größer.«

»Groß also«, sagte ich und notierte das auf meinem Block.

»Ja«, sie schloß einige Sekunden lang die Augen. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare und lehnte sich zurück.

»Jetzt denken Sie gut nach, ehe Sie antworten. Gibt es irgendwelche Frauen, die wir als legal betrachten können, und mit denen er sich häufiger trifft? Familienmitglieder, vielleicht eine Schwester oder eine erwachsene Tochter?«

»Nein, er hat keine Kinder, und seine Verwandtschaft wohnt in Holbæk.«

»Aha.«

Wir machten einen neuen Termin aus und verabschiedeten uns. Als sie mir die Hand reichte, merkte ich, wie heiß und weich ihre war. Bei ihrem Eintreffen war das einwandfrei nicht der Fall gewesen.«

Nachdem sie gegangen war, starrte ich einige Minuten lang das Geld an, das noch immer vor mir auf dem Tisch lag. Fünftausend gute dänische Kronen.

Ich nahm mir eine Zigarre und ließ mich zufrieden im Sessel zurücksinken. Dann rief ich zuerst bei der SAS an, um einen Flug nach Tistrup zu buchen, danach bestellte ich bei Hertz einen Wagen. Nach kurzem Überlegen entschloß ich mich für ein Zimmer in Jørgensens Hotel. Das ist billig und einigermaßen zentral gelegen.

Es ärgerte mich zwar, daß ich auf mein Sonntagsessen mit Benjamin verzichten mußte, aber ich freute mich doch auf meinen Einsatz in Århus. Mein Blick blieb am Gesicht von Tine Juuls Liebhaber haften. Søren Gregersen. Ich steckte die drei Fotos zusammen mit meinen Notizen in einen Ordner.

Es war inzwischen fünf Uhr nachmittags, es hatte niemand mehr angerufen, und Kit Soréls Detektei machte Feierabend.

Auf dem Heimweg wollte ich einkaufen, und ich beschloß, mir zur Feier des Tages eine Flasche Wein, Käse und italienisches Brot zu gönnen. Deshalb stellte ich meinen roten Renault vor dem Supermarkt Irma im Finsensvej ab.

Zu den wunderbaren Vorteilen von Autobesitzern gehört, daß sie keine schweren Einkaufstüten mehr schleppen brauchen. Als Benjamin noch klein war, kam es täglich vor, daß der Bus uns vor der Nase davonfuhr, wenn wir keuchend und hoffnungsvoll bei der Haltestelle ankamen. Ich mit Benjamin an der einen und drei Einkaufstüten in der anderen Hand.

Der Laden war halbleer. Ich blieb vor dem Gemüseregal stehen, erlag der Versuchung und legte eine Pakkung Sternfrüchte in meinen Korb. Es gab Wein im Angebot. Drei Flaschen Siglo für hundert Kronen.

Ich muß beim Einkaufen wirklich nicht die ganz großen Erlebnisse haben. Ich gehe nicht nach der Ladeneinrichtung, sondern nach den Preisen, deshalb kaufe ich oft in den billigsten Supermärkten ein. Auf diese Weise spare ich pro Jahr an die zweitausend Kronen, und die investiere ich in eine Reise nach Rom. Vielleicht höre ich mich jetzt an wie ein Geizkragen, aber um meine Träume zu erfüllen, soweit das überhaupt möglich ist, habe ich in den letzten Jahren etwas eingeführt, was ich als alternative Ökonomie bezeichne.

Die Spätnachmittagssonne tauchte die roten Ziegelhäuser des Wilkensvej in ihr goldenes Licht. Es war Ende März, und ich spürte den Frühling in der Luft. Im Lindevangspark war allerhand los. Hunde und Kinder wurden ausgeführt, und vor dem Parkeingang, nicht weit von Kaufmann Astrup entfernt, hatte eine Gruppe von Leuten sich um eine Bank und einen Kasten Bier versammelt.

Zu Hause erwartete mich ein Brief vom Dänischen Detektivverband. Er enthielt meinen Mitgliedsausweis und eine Einladung zu einem Seminar mit anschließendem geselligen Beisammensein, das am folgenden Samstag in der Kildeskovshalle in Gentofte stattfinden sollte. Im Begleitschreiben wurde ich um Entschuldigung für die späte Benachrichtigung gebeten, aber ich war schließlich gerade erst als Mitglied aufgenommen worden.

Ich hielt es für wichtig, dieses Seminar zu besuchen, auch wenn es mit meinem Auftrag in Århus kollidierte. Das Seminar war kein Problem, es sollte von dreizehn bis siebzehn Uhr dauern, Seminarleiter war Tim Hansen von der technischen Abteilung der städtischen Polizei. Allerdings würde ich das Fest recht früh verlassen müssen, wenn ich am Sonntag frisch und ausgeruht an meine Arbeit gehen wollte. Und das wollte ich.

Ich sah die restliche Post des Tages durch, die hauptsächlich aus Reklame und der Zeitung bestand, dann rief ich Benjamin an, um das Sonntagsessen abzusagen und um ihm zu erzählen, wie mein erster Tag im neuen Beruf verlaufen war.

Er war zu Hause, doch ehe ich meinen Spruch aufsagen konnte, hörte ich seiner Stimme an, daß etwas nicht stimmte.

»Ist irgend etwas passiert?« fragte ich.

Er druckste herum.

»Sag es lieber gleich«, drängelte ich. »Ich lasse ja doch nicht locker.«

Er hüstelte. »Laura ist schwanger.«

»Was?!« Laura und Benjamin waren seit höchstens vier Monaten zusammen.

»Du hast sehr gut verstanden, was ich gesagt habe«, antwortete er kurz angebunden.

»Du meine Güte!« Ich holte tief Atem. »Du mußt mit ihr darüber sprechen«, sagte ich und versuchte, ganz ruhig zu klingen. »Es muß doch möglich sein, eine vernünftige...« Ich wurde von der Türklingel seiner Wohnung unterbrochen.

»Es hat geklingelt... einen Moment«, er legte den Hörer hin.

Ich schnitt eine Grimasse und wartete ungeduldig. Nach einiger Zeit war er wieder da. »Laura ist eben gekommen«, er schien außer Atem zu sein. »Kann ich dich später wieder anrufen?«

»Ja... aber wann paßt es dir?«

»Ich ruf dich morgen an.«

»Hm. Ich bin von zehn bis fünf im Büro... aber ich habe um elf einen Termin, du rufst also besser nachmittags an.«

»Dann ist das abgemacht.«

»Benjamin...?«

»Ja?«

Ich zögerte, wußte nicht, wie ich mich ausdrücken sollte. »Du kannst auf mich zählen«, sagte ich dann.

Ich aß ein wenig Brot und Käse, legte mich aufs Sofa, genoß den Wein und hörte mir Nathalie Stutzmanns Version von Mahlers Kindertotenliedern an.

So ungern ich das auch zugeben mochte, ich war sauer auf Laura. Natürlich hat jede Frau das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbricht oder nicht. Ich bin wirklich die letzte, die das abstreiten würde, aber gerade deshalb könnte sie nun ein wenig Rücksicht walten lassen. Benjamin ist erst dreiundzwanzig und noch mitten im Studium, es wäre unklug, ihn auf diese Weise zu binden. Finanziell wäre es die pure Katastrophe, wie sollen zwei, die noch studieren, denn ein Kind ernähren? Bei dieser Vorstellung brach mir der Schweiß auf der Stirn aus. Vielleicht würde Benjamin sein Studium aufgeben und sich Arbeit suchen müssen – als was, wüßte ich wirklich nicht –, um Laura und das Kind ernähren zu können. Und dann kam mir ein Gedanke. Wie vom Blitz getroffen fuhr ich hoch. Laura studierte seit sechs Semestern Anthropologie, vielleicht hatte sie Probleme mit dem Studium? Vielleicht war sie so raffiniert und wurde schwanger, nur, um nicht weiterstudieren zu müssen?

Ich griff nach der Weinflasche und steckte mir eine Mentholzigarette an. Jetzt hieß es, kaltes Blut bewahren. Man soll sich nicht in das Leben seiner Kinder einmischen, diese Meinung habe ich immer schon vertreten, man soll ihnen aber auch helfen, wenn das möglich ist. Ich warf einen Blick auf die Uhr, es war fast elf. Ich hatte Benjamin nur angerufen, weil ich unser Sonntagsessen absagen wollte, aber das hatte ich dann nicht mehr geschafft... Eigentlich war es doch besser, wenn er es rechtzeitig erfuhr und vielleicht andere Verabredungen treffen konnte... Ich schielte zum Telefon hinüber. Ob Laura wohl noch immer...? Dann entschied ich mich ganz schnell, nahm den Hörer von der Gabel und wählte Benjamins Nummer.

»Ja?«

Er hörte sich verschlafen an.

»Hier ist Kit... hast du schon geschlafen?«

»Nein, ich habe gelesen.« Ich konnte ihn gähnen hören.

»Ist Laura noch bei dir?«

»Nein.«

Wir schwiegen ein Weilchen.

»Ich rufe eigentlich nur an, um unser Essen am Sonntag abzusagen«, teilte ich dann ganz schnell mit.

»Hast du etwas anderes vor?«

»Ich habe einen Auftrag in Århus«, antwortete ich und hatte im Moment nicht die geringste Lust, ihn in meine Arbeit einzuweihen. Aber nun war seine Neugier geweckt.

»Was ist das denn für ein Auftrag?« fragte er.

»Ach«, ich seufzte in gespielter Müdigkeit. »Das kann ich dir immer noch erzählen. Aber sag mal... hast du mit Laura gesprochen?«

»Was glaubst du denn?« Jetzt klang seine Stimme gereizt. »Deshalb war sie vorhin doch hier.«

»Ach so«, ich lachte nervös. »Natürlich. Aber sie konnte es doch sicher verstehen?«

»Was denn verstehen?«

»Ja, also...«, ich wickelte mir die Telefonschnur um den Zeigefinger. »Daß es keine gute Idee wäre, jetzt ein Kind zu bekommen.«

»Was willst du mir eigentlich sagen?«

»Ich meine, was ich sage«, ich streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus. »Es wäre wirklich nicht so genial, wenn ihr gerade jetzt ein Kind bekämt. Ihr studiert beide noch, das muß sie doch wohl begreifen.«

»Du scheinst da etwas mißverstanden zu haben«, sagte Benjamin langsam. »Ich will das Kind, nicht Laura, sie will eine Abtreibung.«

Ich fand keine Worte, und wieder schwiegen wir. Dann erlangte ich meine Fassung wieder und beschloß, meine Taktik zu ändern.

»Laura hat mir ja immer schon gefallen«, sagte ich mit sanfter Stimme. »Sie ist so lieb und vernünftig.«

»Das brauchst du mir nicht zu erzählen«, meinte er trocken.

»Aber kannst du nicht einsehen, daß sie recht hat?« Ich nahm meine Ohrclips ab. »Es liegt doch auf der Hand, daß...«

»Also wirklich«, fiel er mir ins Wort. »Es ist schon spät, und ich bin müde. Wenn du mir sonst nichts Wichtiges mehr zu sagen hast...«

»Nein«, antwortete ich kleinlaut. »Das habe ich eigentlich nicht...«

Danach blieb ich noch lange sitzen und bereute diesen Anruf bitterlich. Du meine Güte – ich schüttelte den Kopf und streifte meine Schuhe ab.

Ich brauchte eine Dusche.

Unter dem heißen Strahl zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ich meinen Auftrag in Århus ausführen sollte. Ich kicherte, als ich mir vorstellte, wie ich mich mit dunkler Sonnenbrille, einem in einer Baguette versteckten Mobiltelefon und einer Kamera in der Tasche durch die Straßen schlich. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Auf eine Welt der Paranoia?

Ich putzte mir die Zähne, und obwohl ich mich dagegen wehrte, mußte ich immer wieder an Benjamin denken. Es ist schwer, die Kinder loszulassen, man weiß nie, ob die besten Absichten nicht genau das Falsche sind. Als Benjamin von zu Hause ausgezogen war, habe ich ihn ein halbes Jahr lang jeden Morgen um neun angerufen. Ich wollte nicht, daß er zu spät zu seinen Vorlesungen kam. Aber in einem lichten Moment konnte ich in die Zukunft schauen und sehen, wie ich als Fünfundsechzigjährige meinen dreiundvierzigjährigen Sohn mit Telefonterror quälte. Es hatte mir große Mühe und viel Kummer bereitet, mit diesem Muster zu brechen.

Nach der Dusche war ich schläfrig und beschloß, mit einer Tasse heißem Kakao ins Bett zu gehen. Vielleicht würde ich noch ein wenig lesen oder mein Vorgehen in Århus planen. Es war halb eins.

Ich stand am Herd und machte Milch heiß, als ich auf der Hintertreppe ein Geräusch hörte. Ich hielt den Atem an, nahm den Kochtopf von der Platte, stand lautlos da und horchte. Es war still. Doch auf einmal erstarrte ich und blickte die Tür an. Die Klinke bewegte sich, irgendwer versuchte, hereinzukommen. Jemand drückte gegen die Tür, erst vorsichtig, dann energischer. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.

»Wer ist da?« Meine Stimme war ganz tief vor Angst. Einen Moment lang war alles ruhig. Auf einmal wurde heftig gegen die Tür gehämmert. Ich fuhr zusammen, ging rückwärts aus der Küche ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und wählte die Nummer der Fredriksberger Polizei.

Der diensthabende Beamte beruhigte mich.

»Wir sind in fünf Minuten bei Ihnen«, sagte er.

Vorsichtig legte ich auf und schlich mich in den Flur, wo ich in sicherer Nähe der Wohnungstür stehen blieb. Und dann hörte ich Es. Ich hielt den Atem an, beugte mich vor und starrte in die Küche. Irgendwo hinter der Küchentür erscholl ein tiefes dunkles Lachen.

Ich stand wie angenagelt da und hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als bei mir geklingelt wurde.

Es war die Polizei, wie mir durch die Gegensprechanlage mitgeteilt wurde.

Der junge Beamte hörte sich meinen Bericht mit ernster Miene an.

»Es muß jemand aus dem Haus sein«, sagte ich und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. »Man braucht doch einen Schlüssel für den Durchgang zum Hof, und die Haustür ist immer abgeschlossen.«

»Ein Schlüssel ist leicht besorgt«, meinte der Beamte. »Das ist nun wirklich kein Problem.«

Ich bekam eine Gänsehaut. »Vielleicht wollte mir jemand einen Schrecken einjagen?« fragte ich und blickte ihn forschend an. Er hatte blonde, fast gelbe Haare, farblose Augenbrauen und blaue Augen.

»Vielleicht«, er runzelte die Stirn. »Auf jeden Fall ist es ein bedrohliches Verhalten. Er wollte Sie offenbar auf seine Anwesenheit aufmerksam machen...« Er dachte kurz nach, strich sich mit dem Finger über den Nasenrücken und sagte dann: »Wissen Sie, wer das gewesen sein könnte, ein ehemaliger Liebhaber oder...«

»Ganz und gar nicht«, fiel ich ihm ins Wort und mußte unwillkürlich lächeln. Die Vorstellung, daß ein Verflossener sich damit amüsierte, mitten in der Nacht an meine Küchentür zu hämmern, war einfach absurd. »Also, hören Sie«, er ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich zu mir um. »Ich sehe mir mal die Treppe an, danach drehe ich eine Runde auf dem Hof«, teilte er mit leiser Stimme mit.

Ich nickte erleichtert und schloß hinter ihm die Tür. Dann hörte ich ein leises Klatschen, so, als sei irgend etwas auf den Boden gefallen, und ich dachte, daß er sicher über die Schuhe gestolpert war, die immer unten auf dem Treppenabsatz standen. Die Haustür fiel ins Schloß.

Ich beugte mich über den Küchentisch und schaute aus dem Fenster. Er lief mit einer Taschenlampe in der Hand hin und her und leuchtete in die Büsche.

Ich nahm mir eine Mentholzigarette und wartete. Das Licht seiner Taschenlampe streifte noch zweimal über den Hof.

Nachdem ich die Zigarette geraucht hatte, schaute ich auf die Uhr. Es waren mehr als zehn Minuten vergangen.

Als ich mich aufrichtete, klingelte das Telefon. Ich stürzte hin und riß den Hörer hoch.

»Hier ist die Polizeistelle Fredriksberg«, sagte eine kühle Frauenstimme. »Wir haben einen Streifenwagen zu ihrer Adresse im Wilkensvej geschickt.«

»Ja, richtig«, antwortete ich. »Der ist auch gekommen.«

Eine kurze Pause folgte.

»Der Kollege ist auf Ihrem Hof eingeschlossen.«

»Was?«

»Der Kollege ist auf Ihrem Hof eingeschlossen«, wiederholte die Frau. »Würden Sie ihn bitte hinauslassen?«

»Himmel!« Ich knallte den Hörer auf die Gabel, stürzte die Hintertreppe hinunter und öffnete die Tür.

»Das Tor war abgeschlossen«, erklärte der Polizist mit dämlicher Miene.

»Das ist es immer«, sagte ich.

»Ich habe versucht, Ihr Fenster anzuleuchten.«

»Ja, das habe ich gesehen, aber ich konnte doch nicht ahnen...«

Er starrte mich an.

Ich schüttelte den Kopf und legte die Hand auf seinen Arm. »Sie müssen schon entschuldigen.«

Er lächelte verkrampft, zog seinen Arm zurück und konnte seine Gereiztheit nur mit Mühe verstecken.

Als er gegangen war, kochte ich Kakao und zwang mich dazu, diese unangenehme Episode zu verdrängen. Sicher waren es ein paar große Bengel gewesen, die es witzig fanden, anderen einen Schrecken einzujagen. Es war schon fast zwei Uhr, und um ganz bestimmt rechtzeitig aufzuwachen, bestellte ich einen telefonischen Weckruf.

Ich trat ans Fenster und blickte nach unten. Eine Katze lief über die Straße, sonst war alles verlassen. Ich schüttelte mich und gähnte. Hinter einem der Fenster im Haus gegenüber sah ich blauweißes Fernsehflimmern.

Ich konnte nicht einschlafen und wälzte mich von einer Seite auf die andere, während meine Gedanken hin und her flogen. Ich zerbrach mir noch immer den Kopf über diese ganze Geschichte mit Benjamin. In diesem Moment fehlte mir zwar nicht Benjamins biologischer Vater, aber dennoch ein Mann, der meinen Sohn kannte, und mit dem ich meine Sorgen teilen konnte.

Ich spielte kurz mit dem Gedanken, Benjamins Vater Paul anzurufen. Vor zwei Jahren hatte er eine Frau in Benjamins Alter geheiratet, die jedoch, was ihre geistige Entwicklung angeht, viel jünger wirkt. Ich nenne sie immer »das kleine Echo«, weil sie häufig und mit großem Enthusiasmus wiederholt, was Paul gerade gesagt hat. Aber das zahlt sich aus. Sie haben ihre Hochzeit in Slagelse groß gefeiert, und viele Gäste hielten Benjamin irrtümlicherweise für den Bruder der Braut.

Unmittelbar vor dem Einschlafen beschloß ich, Paul doch nicht anzurufen.

Ein Alptraum weckte mich eine Stunde zu früh. Ich war schweißgebadet und hörte noch immer das unheimliche Lachen aus meinem Traum. Dann stand ich auf, setzte Kaffeewasser auf und aß einen Becher Joghurt.

Ich trat einen Schritt vom Spiegel zurück, machte mir die Haare zurecht, zog den Bauch ein und strich meine Bluse glatt.

Schwarze Melodie

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