Читать книгу Engel der Stille - Ditte Birkemose - Страница 5

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»Detektivin... das ist eigentlich ein seltsamer Beruf.« Ein Klient, dem ich eben den entscheidenden Beweis dafür geliefert hatte, daß seine Frau ihn betrog, beugte sich über den Schreibtisch und musterte mich aufmerksam. Er hatte abgeknabberte Nägel.

»Tja«, ich zuckte mit den Schultern.

»Ist es nicht schwer, dabei zu überleben... ich meine, rein finanziell?«

»Es geht schon.«

»Aber so viele Klienten wenden sich doch sicher nicht an Sie?«

»Ach, das ist ganz unterschiedlich.« Ich knüllte die leere Zigarettenschachtel zusammen, warf sie in den Papierkorb und blickte den Mann an. Vermutlich wollte er die Aufmerksamkeit von den peinlichen Gegebenheiten in seinem eigenen Leben ablenken. Diese Situation war mir nicht unbekannt. Manche der Menschen, die mich aufsuchten, gaben mir einen Einblick in ihr Privatleben, das sie im Grunde doch lieber nicht mit einer Außenstehenden teilen wollten.

»Sind Sie verheiratet?«

»Finanziell gesehen komme ich schon zurecht... wenn Sie das meinen sollten.«

»Aber...«, er rutschte in seinem Sessel hin und her. »Was haben Sie früher gemacht, ehe Sie Detektivin geworden sind?«

»Theologie studiert«, antwortete ich.

»Theologie«, dieses Wort ließ er sich auf der Zunge zergehen.

Es fiel ihm offenbar schwer, es herunterzuschlucken. »Muß man denn dann nicht Pastor werden?«

»Manche werden das ja.«

»Ich glaube weder an Gott noch an den Teufel«, er stieß ein kurzes Lachen aus und fügte dann hinzu, »unser Gemeindepastor hat sich kürzlich zum zweiten Mal scheiden lassen...«

»Ach«, ich nickte. Der Geruch seines Rasierwassers kitzelte mich in der Nase, und ich hatte das Gefühl, gleich niesen zu müssen.

»Ich meine nur«, er machte eine Handbewegung, schaute mich an, »wenn nicht einmal der Pastor das schafft, wer soll denn dann...«

Dazu sagte ich nichts, ich senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen.

Ich finde es wirklich erstaunlich, daß viele, die sich von Kirche und Christentum abgewandt haben, zugleich äußerst konservative Vorstellungen mit beidem verbinden. Vielleicht entspringt diese Haltung im Grunde der bürgerlichen Moral.

Ich rechnete mit dem Klienten den Auftrag ab, schloß hinter ihm die Tür und atmete tief durch.

Inzwischen machte ich mir schon seit einer ganzen Weile keine Gedanken mehr darüber, was aus meinen Klienten wurde, nachdem sie mein Büro einmal verlassen hatten.

Ich parkte in der Nansensgade, vor dem Haus, in dem Jannes Freundin wohnte. Ich hoffte, daß jemand zu Hause sein würde, es war bereits mein dritter Versuch.

Die Freundin machte auf. Als sie mich erkannte, wollte sie die Tür wieder zuschlagen, aber ich schob schnell einen Fuß dazwischen.

»Ich muß mit Janne sprechen«, erklärte ich energisch.

»Sie ist nicht da.«

»Wann kommt sie zurück?«

»Woher soll ich das wissen? Ich bin doch nicht ihr Kindermädchen. Und ansonsten...« Sie kniff die Augen zusammen. »Was geht dich das überhaupt an?«

»Ich weiß, daß sie hier wohnt, und ich werde wiederkommen.«

»Warum kannst du sie nicht einfach in Ruhe lassen?«

»Weil ich mit ihr sprechen muß. Und wenn das nicht möglich ist, dann muß ich ihren Eltern die Adresse verraten.«

Ihre Augen schauten mich unsicher an. »Das tust du nicht!« sagte sie. »Ihr Vater hat doch einen Sockenschuß.«

»Ich habe ihnen nicht gesagt, daß sie hier wohnt«, sagte ich.

»Aber ich kann es auf Dauer nicht verheimlichen. Janne muß mir erzählen, was passiert ist.«

»Er ist ein blödes Schwein.«

»Wer?« Ich musterte sie scharf. »Jannes Vater?«

»Wer denn sonst?«

»Warum?«

»Das muß sie dir schon selber erzählen.«

Ich seufzte, dachte an die blauen Flecken an Jannes Oberarm und fragte: »Also, wann kommt sie?«

»Echt«, sie machte sich an dem roten Stein zu schaffen, der ihren einen Nasenflügel zierte, »ich habe keine Ahnung... ganz ehrlich.«

»Was ist hier los?« Ein junger Mann mit bloßem Oberkörper, halblangen fettigen Haaren und Mittelscheitel tauchte hinter ihr auf.

»Gar nichts«, antwortete sie eilig.

»Line, zum Henker,... ich bin total fertig«, sagte er und packte sie am Arm. »Komm jetzt.«

Ich warf einen Blick auf seine Augen. Sie waren rot und blank.

»Geh schon mal rein«, Line schüttelte seine Hand ab und versetzte ihm einen Stoß. »Ich komm’ gleich nach.«

Aber er blieb stehen. »Wer bist du?« fragte er und schwankte vor mir hin und her.

Ich schwieg.

»Jeppe, zum Teufel«, sie versetzte ihm noch einen Stoß. »Verpiß dich!«

Er blieb immer noch stehen und starrte mich an. »Meine Güte«, sagte er dann, breitete die Arme aus und verschwand.

»Ich versuche, sie zu einem Gespräch mit dir zu überreden«, sie zögerte. »Aber dann darfst du ihren Eltern auf keinen Fall meine Adresse geben.«

»Abgemacht«, antwortete ich.

Als ich die Bürotür öffnete, schellte das Telefon.

»Kit, du mußt kommen«, rief Kamma aufgeregt. »Ich bin bei Simone... du weißt schon, Simone Berthelsen.«

»Was ist passiert?«

»Jemand war im Haus«, antwortete Kamma. »Und ich habe wirklich Angst, daß Simone kurz vor einem Zusammenbruch steht.«

»Ich kann in zehn Minuten bei euch sein.«

Kamma machte mir auf.

Ich betrat eine geräumige Diele mit schwarzen und weißen Marmorfliesen auf dem Boden und leicht rosa Wänden. Unter der Decke funkelte ein riesiger Kristall-Lüster. An der einen Wand, neben einer glänzenden und wunderschön geschnitzten Tür, hing ein goldgerahmter Spiegel, und auf einem Mahagonitisch unter dem Spiegel stand eine chinesische Vase mit weißen Lilien.

»Wie gut, daß du kommen konntest«, Kamma sah wirklich besorgt aus. »Wir sitzen in der Küche.«

»Was ist mit ihrem Mann?« fragte ich. »Ist er...?«

»Hans Ulrik ist in Brüssel, er ist erst heute abend wieder da.«

Simone Berthelsen saß am Küchentisch. Bei meinem Anblick erhob sie sich.

»Es tut mir leid, Sie bemühen zu müssen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Aber Kamma meinte...« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Schultern zitterten, und die Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Ja, aber Liebste«, Kamma legte den Arm um sie.

Simone Berthelsen war hochgewachsen, hatte eine dunkle Pagenfrisur, die ihre mit Perlen geschmückten Ohren freiließ. Unter dem lockeren blauen, weißgetupften Hemd war ihre Schwangerschaft schwach zu ahnen.

»Ich glaube, du brauchst ein Glas Cognac, oder...« Ich warf einen Blick auf den Tisch, auf dem eine Thermoskanne und zwei Tassen standen. »Irgend etwas zur Stärkung jedenfalls. Habt ihr...?«

»Im Barschrank steht eine Flasche Cognac«, sie schaute mich aus tränennassen Augen an.

»Also dann«, Kamma drehte sich auf dem Absatz um und verschwand aus der Küche.

Simone setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter, sagte aber nichts.

Die Küche war groß und gemütlich, viele alte Glasschränke und Tellerhalter hingen an den Wänden. Alles war weiß, mit Ausnahme der Stühle um den ellipsenförmigen Tisch mitten im Zimmer, die in klarem Blau gehalten waren. Vor den Fenstern hingen grüne Pflanzen.

Kamma nahm ein Glas aus dem Schrank und goß ein. »Trink«, sie nickte Simone zu.

Simone riß sich zusammen, hob das Glas und leerte es auf einen Zug. Sie schnitt eine Grimasse.

»Noch eins«, sagte ich.

Wir schwiegen.

Simone wurde ruhiger. Sie stellte das leere Glas weg, holte tief Luft und ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken.

»Erzähl mir, was passiert ist«, ich sah sie an.

Lange schwieg sie, dann antwortete sie: »Jemand war im Haus... das habe ich gehört...«

»Wo?« fragte ich.

»Im Keller.«

»Was hast du gehört?«

Sie zitterte am ganzen Körper. »Ein Kind...«

»Ein Kind?« Ich beugte mich vor. Ich mußte sofort an ihre Schwangerschaft denken.

»Ja«, sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ein Kind hat geweint.«

»Und wo warst du?« fragte ich.

»Hier in der Küche«, sie machte eine entsprechende Handbewegung, »beim Abwasch.«

»Aha.« Ich stand auf und ging dann zur Tür neben dem Herd.

»Führt diese Tür in den Keller?«

»Ja«, sie nickte und fügte hinzu: »Sie war angelehnt... wegen der Katze...«

Ich öffnete die Tür, horchte. Ich konnte nichts hören. »Wäre es nicht möglich, daß draußen auf der Straße ein Kind vorbeigekommen ist?« schlug ich zaghaft vor.

»Nein, nein... es war im Keller... ich bin ganz sicher«, antwortete sie tonlos. »Ich weiß ja selber, daß es verrückt klingt, aber es war so... es war im Keller... wirklich, ein Kind hat geweint.«

»Aber Liebste«, Kamma legte ihre Hand auf Simones. »Natürlich war das so.«

»Hast du das auch gehört?« Ich schaute Kamma an.

Sie schüttelte einfach nur den Kopf.

»Habt ihr unten im Keller nachgesehen?« fragte ich.

»Nein«, antwortete Kamma. »Wir wollten auf dich warten.«

»Soll ich nicht mitgehen?« fragte Kamma, als ich schon halb die Treppe hinunter war.

»Bleib du besser bei Simone«, antwortete ich und ging weiter.

Ich drehte im Keller eine Runde, fand aber nichts von Bedeutung.

Als ich wieder nach oben ging, stutzte ich. Mein Blick war auf etwas gefallen, das mit einigen Sekunden Verspätung meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ich machte kehrt, ging zurück und bückte mich. Der Stecker der Tiefkühltruhe war aus dem Verlängerungskabel gezogen und lag auf dem Boden.

Ich öffnete den Deckel und betastete die Lebensmittel. Sie waren noch nicht einmal angetaut.

Gedankenverloren steckte ich den Stecker wieder in die Dose und ging in die Küche nach oben.

»Was meinst du, Kit«, fragte Kamma gespannt, »hast du etwas entdeckt?«

»Ich würde den Fall gern übernehmen«, ich setzte mich Simone gegenüber.

»Aber... ich muß wirklich erst mit Hans Ulrik sprechen«, sagte sie hastig.

»Wann kommt er denn nach Hause?« Ich öffnete meine Tasche und zog eine Visitenkarte heraus.

»Heute abend«, sie schüttelte den Kopf. »Um sieben... glaube ich.«

»Wir gehen zu mir rüber«, schlug Kamma vor. »Dann kannst du da warten, bis Hans Ulrik kommt.«

»Er darf nicht wissen, daß du hier warst.« Simone sah mich an.

Ich hob die Augenbrauen. »Warum nicht?«

»Ach, weil...«, sie verstummte.

»Ja?« Ich wartete ab.

»Er... weil...«, sie biß sich auf die Lippe. »Wir müssen zuerst darüber sprechen, sonst...«, sie schlug die Augen nieder. »Er glaubt, es liegt an mir«, sagte sie dann. »Weil ich geistesgestört oder irgendwas in der Richtung bin...«

»Was für ein Blödsinn«, erklärte Kamma. »Natürlich bist du das nicht!« Als sie das sagte, schaute sie mich an.

»Ruf mich an, wenn du mit ihm gesprochen hast«, ich reichte ihr meine Karte, nahm meine Tasche und stand auf.

Der Nachtfrost kroch über das Land. Die Stromleitungen im Wilkensvej spannten sich in der Kälte an und sangen wie die Grillen über der Straße.

Obwohl der Heizkörper kochte, lag ich in meine Decken gewikkelt in meinem Bett, fror und machte mir so meine Gedanken. In meinem Inneren fand ein Marathonlauf von deprimierenden Zahlen statt.

Auf meiner neuen Steuerkarte, die ich vor einiger Zeit von der Gemeinde Frederiksberg erhalten hatte, war noch eine alte Steuerschuld eingetragen. Und damit hatte ich meinen Freibetrag verloren.

Ich drehte mich mit einem Seufzer auf die andere Seite. Meine Detektei warf wirklich nur bescheidene Summen ab. Während der letzten Monate hatte ich zwei gute Fälle angenommen und einen abgewiesen, es war dabei um ein Arbeitsverhältnis gegangen.

Auf einem Seminar für Detektive, bei dem ich kurz nach Eröffnung meines Büros gewesen war, hatte ich erfahren, daß ich auch mit allerlei Anfragen von Arbeitgebern rechnen könnte, die aus irgendeinem Grund einen Mitarbeiter loswerden wollten. Und die meine Hilfe brauchten, um dafür den passenden Vorwand zu finden.

Und einen solchen Auftrag wollte ich auf keinen Fall annehmen.

Aus der Wohnung über meiner erklang Musik. John Mogensens heisere Stimme kam durch die Decke: »Aber du bist wie ein rollender Stein, hast nie genug mit mir allein...«

Ina, die vor kurzem von ihrem Liebsten verlassen worden war, suchte offenbar Trost in der Musik.

Gereizt drehte ich mich noch einmal um und zog mir die Decke über den Kopf. Nach einigen weiteren Versuchen ließ ich das Einschlafen dann aber sein und stand auf.

Am Küchenfenster blühten Eisblumen.

Ich gähnte und setzte Teewasser auf. Vor knapp einem Monat hatte die Hausversammlung beschlossen, alle Fenster im Haus auswechseln zu lassen. Das mußte sein, würde aber zu einer ziemlichen und nicht zuletzt dauerhaften Mietsteigerung führen.

Ich hatte damals mein Reihenhaus in Galgebkken mit einer Zweizimmerwohnung im Wilkensvej vertauscht, weil mein Sohn Benjamin von zu Hause ausgezogen war, aber auch die billige Miete hatte mich gelockt. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher...

Ich lächelte säuerlich, dachte an die Vögel und die Lilien auf dem Felde, daran, daß nicht einmal Salomon in all seiner Pracht so schön angezogen war wie sie, und versuchte, meine Sorgen abzuschütteln.

Ich stand eine Weile am Fenster und schaute in den Hof hinunter. Der Mond schien, die weißen Bretter des Fahrradschuppens schimmerten bläulich.

Dann suchte ich meine dicken Skisocken heraus, zog sie an, trank eine Tasse Tee, aß ein Brot mit Leberwurst und machte noch einen Einschlafversuch. Diesmal glückte er.

Die Streukolonnen waren schon früh am Werk gewesen, den Bürgersteig vor dem Haus hatten sie schon erledigt. Hier und da lag gefrorener Hundekot.

Ich stand vor dem Wagen, kratzte Eis von den Scheiben und winkte meinem Nachbarn Herrn Wesselø zu, der gerade die Straße heraufkam. Er hütete offenbar Picasso, den Hund seines Enkelkindes, Picasso sprang vor ihm her.

Die Sonne schien von einem blauen Himmel, die Luft war schneidend kalt, und die kleinen Haare in der Nase erstarrten vor Frost.

»Das ist doch wirklich unmöglich«, Herr Wesselø zeigte auf die Hinterlassenschaften, mit dem des Menschen bester Freund den Bürgersteig versehen hatte. »Und dabei hat die Gemeinde doch sogar überall Tüten aufgehängt...«

Ich nickte zustimmend, bückte mich und streichelte Picasso.

Aus dem Flaschencontainer an der Ecke, wo eine junge Frau gerade eine Tüte leerte, ertönte ein lautes Klirren.

»Außerdem müssen wir mit dem Hausmeister sprechen«, Herr Wesselø schnaufte, »mit der Haustür stimmt etwas nicht... sie schließt nicht richtig.«

Ein kleines Mädchen mit gelber, tief in die Stirn gezogener Pudelmütze zog mit einem Schlitten los.

»Hör mal, du bist noch ein bißchen früh dran«, Herr Wesselø lächelte. »Willst du wirklich nicht auf den ersten Schnee warten?«

Ich fuhr auf den Dalgas Boulevard hinaus und bog in den Finsensvej ab.

An der Haltestelle vor dem Lindevangspark traten mindestens zehn frierende Menschen von einem Fuß auf den anderen. Sicher hat der Bus Verspätung, dachte ich, und kniff im scharfen Licht die Augen zusammen. Die Zweige der Bäume im Park waren weiß bereift.

Der Parkplatz hinter dem Rathaus von Frederiksberg war ziemlich voll, aber ich konnte doch noch einen Platz finden.

Am Bordstein, in der Nähe meines Büros in der Smallegade, stand ein schwarzer Citroën. Als ich die Haustür aufschloß, fühlte ich mich beobachtet. Ich schaute mich um. Der Fahrer saß hinter dem Lenkrad und blickte interessiert in meine Richtung. Ich ließ mich davon nicht stören, sondern öffnete die Tür und ging in mein Büro. – Vielleicht wartet er auf Kundschaft aus dem Laden, dachte ich optimistisch.

Als ich eine Viertelstunde später aus dem Fenster schaute, war der schwarze Citroën verschwunden.

Gegen Mittag wurde vorsichtig an die Tür geklopft. Draußen stand eine junge Frau mit klaren grauen Augen und brauner Pagenfrisur. Sie trug eine lange rote Daunenjacke, blaue Handschuhe und praktische braune Schnürstiefel.

»Ja, Entschuldigung... aber du bist doch die Detektivin?« fragte sie ein wenig verlegen und schaute mir ins Gesicht.

Ich nickte, trat einen Schritt beiseite und bat sie herein.

Sie setzte sich vor meinen Schreibtisch, zog die Handschuhe aus und öffnete den Reißverschluß ihrer Daunenjacke.

»Es ist kalt geworden«, sagte ich.

Sie nickte, zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase.

»Für heute nacht sind achtzehn Grad minus angesagt.«

Noch eine Nacht mit Skisocken, dachte ich. Ich ließ meinen Blick über ihr Gesicht gleiten. Ich schätzte sie auf Ende Zwanzig. »Was führt dich zu mir?« fragte ich.

»Mein Mann«, antwortete sie fast tonlos. »Ich glaube, er hat eine andere.«

Ich holte tief Luft. »Ach«, öffnete die Schreibtischschublade und nahm den Notizblock heraus. »Wie heißt du eigentlich?«

»Anne«, antwortete sie und fügte hinzu, »Knudsen.«

»Und worauf beruht dein Verdacht?« fragte ich ein wenig müde. Beim Großteil meiner Fälle ging es um Untreue und Betrug.

»Was?« Sie blickte mich verwirrt an.

»Wieso glaubst du, daß er eine andere hat?«

Anne Knudsen rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her.

»Also... er ist nie zu Hause... und auch... auch wenn er sagt, daß die Bank... weil da so viel zu tun ist, also in der Bank, aber ich glaube ihm nicht.« Ihre Worte purzelten durcheinander. Sie schwieg eine Weile und machte den Reißverschluß ihrer Jacke auf und zu. »So ist das sonst nicht«, sie schob das Kinn vor.

»Hm«, ich nickte. »Und er arbeitet also in einer Bank?«

»Ja.«

»Dann kannst du doch sicher verhältnismäßig leicht überprüfen, ob er bei der Arbeit ist?«

Sie machte ein hilfloses Gesicht. »Da geht doch nach Feierabend niemand ans Telefon, und außerdem«, sie schniefte, »er soll auf keinen Fall denken, ich wäre eifersüchtig.«

Ich wandte meinen Blick von ihr ab, unterdrückte ein Lächeln und fragte: »Und was machst du selber?«

»Ich bin Krankenpflegerin und arbeite in einem Pflegeheim. Jede zweite Woche habe ich Nachtwache.«

»Und wenn du Nachtwache hast, ist er nicht zu Hause?«

»Ja«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich rufe ihn immer wieder an, auch spät, aber niemand geht ans Telefon«, sie biß sich in die Lippe. »Ich kann mich überhaupt nicht auf meine Arbeit konzentrieren, ich denke die ganze Zeit nur an ihn, und dann muß ich wieder anrufen. Aber das bringt doch nichts... gestern habe ich mich krankgemeldet...« Sie schlug die Hände vors Gesicht.

Ich nahm mir einen Zigarillo, wartete ab und schaute aus dem Fenster.

»Das ist noch kein Beweis«, sagte ich dann leise. »Vielleicht trifft dein Verdacht nicht zu.«

»Meinst du?« Sie schaute mich aus tränennassen Augen an und wischte sich die Nase am Handrücken ab.

»Es kann so viele Gründe geben«, ich spitzte den Mund. »Vielleicht müssen sie in der Bank wirklich Überstunden machen, man weiß ja nie. Aber vielleicht...«, ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare, »vielleicht hast du recht, und er hat wirklich eine andere.«

»Aber hilfst du mir, das herauszufinden?« In ihrer Stimme lag Hoffnung.

»Ja«, ich schrieb ihren Namen ganz oben auf den Block. Anne Knudsen. »Und deine Adresse?«

»Ich wohne in Østerbro. Collinsgade 9, im Erdgeschoß.«

»Hast du ein Foto von deinem Mann?«

»Nein – ist das nötig?«

»Ich muß doch wissen, wie er aussieht.«

»Ach so«, ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Natürlich.« Sie dachte kurz nach. »Bist du heute nachmittag im Büro?« fragte sie dann.

»Ja, bis drei Uhr«, antwortete ich und widmete meinem halbleeren Terminkalender einige besorgte Blicke.

Sie schaute auf die Uhr, zog eine Busfahrkarte aus der Tasche und musterte sie ausgiebig. »Paßt es, wenn ich in zwei Stunden vorbeikomme?«

»Aber sicher«, ich lächelte. »Kein Problem.«

»Also dann«, sie stand auf und schloß den Reißverschluß ihrer roten Jacke.

Ich überlegte mir, daß diese Jacke immerhin warm aussah.

Sie blieb mitten im Zimmer stehen.

»Ja, entschuldige, aber... was machst du eigentlich?« fragte sie dann.

»Wie meinst du das?«

»Na ja«, sie zog einen Ärmel weiter nach unten. »Wie stellst du fest, ob er eine andere hat?«

»Ach, das«, ich schlug die Beine übereinander. »Das ist eigentlich ziemlich einfach. Als erstes rufst du bei deiner Arbeit an und sagst, daß du wieder gesund bist«, ich schaute ihr tief in die Augen. »Das ist wichtig«, betonte ich. »Und dann werde ich die Bank im Auge behalten.«

»Vielleicht geht er zuerst nach Hause«, wandte sie ängstlich ein.

»Kann schon sein«, ich fuhr mit der Hand über den Block. »Aber dann werde ich ihm bis zur Collingsgade folgen und da warten, bis...«

»Zur Collingsgade?« Sie kniff die Augen zusammen.

»Ja, wie du doch schon gesagt hast, vielleicht will er zuerst nach Hause...«

»Aber da wohnt er doch nicht«, rief sie.

Ich hob erstaunt die Augenbrauen. »Was?!«

»Er wohnt in Amager«, erklärte sie. »Ålandsgade 22.«

»Sag mal«, ich legte den Kugelschreiber hin, »wohnt ihr denn nicht zusammen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber... seid ihr gar nicht verheiratet?«

»Wir haben uns vor einem guten halben Jahr getrennt«, ihre Lippen zitterten, und ihr traten die Tränen in die Augen. »Gerade deshalb will ich doch...«

»Aber...«, ich wußte nicht mehr richtig weiter. »Setz dich doch noch einen Moment«, bat ich dann.

»Soll ich denn nicht das Foto holen?« Sie runzelte die Stirn.

»Das hat Zeit«, ich stützte mein Kinn in die Hand und betrachtete mein Gegenüber.

Sie rutschte an die Stuhlkante und blickte mich verwirrt an.

»Also, hör zu«, ich räusperte mich. »Ich weiß ja nicht so recht, ob es wirklich eine gute Idee ist, mich auf diesen Fall anzusetzen. Ich meine...«

»Warum nicht?« fiel sie mir überrascht ins Wort.

Ihr Gesichtsausdruck erinnerte mich an meinen Sohn, als er mit sieben Jahren erfuhr, daß er nicht mit seinem Kumpel allein zum Camping nach Spanien fahren dürfte. »Wieso nicht?«

»Ihr habt euch doch sicher nicht ohne Grund getrennt«, sagte ich vorsichtig.

»Aber... das wollte er ja unbedingt«, sie griff zu ihrem Taschentuch und putzte sich die Nase. »Ich begreife einfach nicht, warum...«, und dann verstummte sie.

Ach, Herzchen, dachte ich und fragte erbarmungslos: »Und was hast du vor, wenn ich feststelle, daß er eine andere hat?«

Sie dachte kurz nach.

»Das weiß ich nicht«, jetzt flossen die Tränen stärker.

Ich zögerte. Draußen auf der Straße lärmte eine Autohupe.

»Ich weiß, es ist schwer«, sagte ich dann, »aber vielleicht wäre es besser, wenn du versuchst, nicht soviel an ihn zu denken...«

»Ich kann nicht ohne ihn leben«, schluchzte sie, »nachts... ich habe Angst und kann nicht einschlafen...«

»Wie lange geht das schon so?«

»Die ganze Zeit... seit er ausgezogen ist«, die Tränen kullerten nur so über ihre Wangen. »Und jetzt ist auch noch bei den Nachbarn eingebrochen worden«, sie sah mich an, »ich wohne doch im Erdgeschoß...«

»Vielleicht solltest du dir eine andere Wohnung suchen«, regte ich vorsichtig an.

»Nein!« Sie starrte vor sich hin. »Ich will, daß er zurückkommt«, sagte sie dann. »Das muß er ganz einfach!«

Ich sagte erst einmal gar nichts, und ich bemerkte, daß sie ihre Fingernägel ganz abgeknabbert hatte. Dann beugte ich mich über den Schreibtisch und fragte mit ruhiger Stimme: »Hast du schon mal überlegt, ob du mit einer Psychologin sprechen solltest?«

Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich hab’s versucht«, sie knüllte ihr Taschentuch zusammen, »meine Freundin kennt eine...«

»Ja?« Ich blickte sie voller Interesse an.

»Das war so eine Zeichentherapie«, sie biß sich auf die Lippe, »aber... es war zu teuer, deshalb habe ich aufgehört...«, sie wurde immer leiser.

»Ich bin auch nicht billig«, deutete ich an.

»Was nimmst du denn?«

»Dreihundertfünfzig Kronen die Stunde.«

Sie machte große Augen. »Das hat die Psychologin auch genommen.«

»Ja, da siehst du’s«, ich streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus. »Vielleicht solltest du dir überlegen, ob du nicht doch besser wieder zur Therapie gehst.«

»Aber... wie viele Stunden brauchst du denn, um so etwas herauszufinden?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen.«

»Aber so ungefähr?«

»Das kann leicht zwei Wochen dauern – mindestens.«

»Ach!« Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, steckte die Hände in die Taschen und schüttelte sich. »Vielleicht sollte ich wirklich...«, sie unterbrach sich. »Das darfst du jetzt nicht falsch verstehen«, sie schüttelte den Kopf. »Ganz ehrlich... ich bin sicher, daß du es schaffen würdest, aber vielleicht sollte ich doch diese Psychologin anrufen...«

»Ja, überleg es dir«, ich nickte aufmunternd.

Mit nachdenklicher Miene sagte sie langsam: »Ich würde eigentlich sehr gern zeichnen lernen.«

Ich wandte meinen Blick ab.

Eine knappe Viertelstunde später verabschiedete ich mich von ihr und von diesem Honorar. »Du blöde Nuß«, flüsterte eine nicht ganz sanfte Stimme in meinem Inneren.

Als ich gerade beschlossen hatte, noch einmal zu Janne in die Nansensgade zu fahren, rief Randi Nielsen an, ihre Mutter.

»Also«, sie holte tief Atem. »Wie sieht es aus, haben Sie mit Janne sprechen können?« Ihre Stimme klang angespannt.

»Noch nicht«, antwortete ich. »Aber ich rufe an, sowie...«

»Ich würde mich gern mit Ihnen treffen«, fiel sie mir ins Wort.

»Es gibt etwas, das Sie wissen müssen.«

»Und darüber möchten Sie jetzt sprechen?«

»Nein«, antwortete sie ganz schnell und räusperte sich. »Es ist besser, wenn...« Sie verstummte.

»Dann sollten wir uns verabreden«, ich streckte die Hand nach meinem Terminkalender aus.

»Aber«, sie zögerte, »um ganz ehrlich zu sein... mein Mann darf das nicht wissen.«

»Dem werde ich nichts verraten«, sagte ich, und wir machten einen Termin aus.

»Ingrid!« Ich öffnete die Tür und blickte sie erstaunt an. »Das ist aber eine Überraschung.«

Wir hatten seit dem Tag, an dem ich sie auf dem Falknerhof besucht hatte, keinen Kontakt mehr gehabt.

»Störe ich?« Sie wirkte ein wenig verlegen.

»Nein, nein«, ich schüttelte den Kopf. »Gar nicht«, fügte ich hinzu und bat sie herein.

»Ich bin mit einer Freundin zum Theater verabredet«, sie schaute kurz auf die Uhr, »aber ich bin eine halbe Stunde zu früh.«

Ich hob die Augenbrauen.

»Wann fängt denn die Vorstellung an?«

Ein Lächeln glitt über ihre roten Lippen. »Um zwanzig Uhr, aber wir haben einen Tisch im Bjørnekelderen bestellt«, erklärte sie.

»Ach so«, ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare.

Draußen bahnte ein Krankenwagen sich heulend einen Weg durch den Verkehr.

Ingrid legte mir die Hand auf den Arm. »Ich war neugierig... und dann dachte ich, wo ich ohnehin schon in der Gegend bin...«Ihr Blick glitt über die Wand und blieb an Dürers Holzschnitt von Adam und Eva nach dem Sündenfall hängen. »Ich habe die Legende von Lilith immer interessanter gefunden«, sie blickte mich vielsagend an, sagte aber nicht mehr.

Ich nickte lächelnd. »Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?« fragte ich dann. »Tee oder Kaffee?«

»Nein, mach dir keine Umstände. Ich muß in einer Viertelstunde weiter, aber vielen Dank.« Sie knöpfte ihren Mantel auf.

Sie trug ein engsitzendes anthrazitgraues Kleid mit Gürtel. Ihre weizenblonden Haare hingen ihr locker über die Schultern, um ihren Hals lag eine auffällige Silberkette.

»Die kennst du doch, nehme ich an?« Sie zog ihren Gürtel gerade.

»Was meinst du jetzt?«

»Die Legende von Lilith?«

»Natürlich«, antwortete ich leicht verwundert.

Ich führte sie in die Kochecke.

»Da hast du dir aber gute Farben ausgesucht«, sagte Ingrid.

Ich hatte die Schränke blau angestrichen, alles andere war weiß.

Sie setzte sich neben den Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. »Hier ist es wirklich gemütlich.«

»Danke«, ich lächelte und betrachtete ihre hochhackigen Schuhe. Bei unserer ersten Begegnung hatte sie Gummistiefel getragen.

»Also, sag mal«, sie rückte den Stuhl näher an den Tisch. »Was macht denn die Arbeit?«, fragte sie. »Hast du spannende Fälle?«

»Ach, ich weiß nicht so recht«, antwortete ich zögernd.

»Bist du nie nervös?«

»Nervös?« Ich dachte einen Moment lang, sie rede von meiner Finanzlage.

»Ja, du kannst doch allen möglichen Leuten begegnen. Psychopathen und so...«

»Man weiß natürlich nie...«

»Aber du hast vielleicht Ahnung von Selbstverteidigung... oder von Karate?«

»Nein«, ich lachte. »Aber ich kann sehr schnell rennen.«

Wir plauderten noch eine Weile. Sie erzählte von einem Falknerkurs, den sie gerade abgehalten hatte.

»Nicht alle sind gleichermaßen geeignet, das muß ich schon sagen«, ihre Augen funkelten. »Ich hatte eine Teilnehmerin... bei der stellte sich heraus, daß sie Angst vor Falken hatte, und das geht natürlich nicht...«

»Das kann ich mir denken. Der Falke spürt das doch sicher?«

Sie nickte. »Aber übrigens«, sie legte eine kurze Pause ein, »hättest du nicht Lust...«

»Vielleicht.«

Kurze Zeit später stand sie auf. »So«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr, »jetzt muß ich wohl...«

Auch ich stand auf.

»Willst du eigentlich dein Studium beenden?« fragte sie plötzlich, »oder was...«

»Meinst du die Theologie?« Ich blickte sie verwirrt an.

»Ja.«

»Das wird sich finden«, ich zog an meiner Bluse. »Bis auf weiteres bin ich Detektivin.«

»Hm.« Sie blickte mich besorgt an. Dann lächelte sie und lehnte sich an die Tür. »Manchmal«, sie zögerte, »manchmal wäre ich gern katholisch. Die haben die Beichte, und ich glaube, das ist gesund für die Seele.«

»Aber du kannst doch auch mit einem Pastor...«

»Das ist nicht dasselbe«, fiel sie mir ins Wort. »Es ist keine Selbstverständlichkeit. Katholiken knien einfach im Beichtstuhl nieder... sie reden und sind dann geläutert...«

Dazu konnte ich nicht viel sagen, sie mochte in gewisser Weise ja durchaus recht haben.

»Ach«, sie warf sich die Tasche über die Schulter. »Haben wir nicht alle unsere Sorgen?«

Ich stand am Fenster und sah ihr nach. Sie überquerte die Straße und ging mit schnellen Schritten weiter.

Als ich gerade mein Büro verlassen wollte, rief Kamma an. Sie wollte wissen, ob Hans Ulrik Berthelsen sich bei mir gemeldet hätte.

»Nein, nicht, daß ich wüßte«, ich steckte meine Zigarettenschachtel ein und ließ die Tasche zuschnappen, »aber ich hatte eben Besuch von Ingrid.«

»Ach, wirklich? Nein, wie nett...« Ich konnte hören, daß Kamma mit ihren Gedanken ganz woanders war. »Aber es gefällt mir nicht... ich finde es wirklich seltsam...« Kamma verstummte.

Ich stutzte. »Ist irgendwas passiert?« fragte ich.

»Nein, nein, Liebste«, antwortete sie eilig. »Aber ich habe heute morgen Simone getroffen...«

»Ja?« Ich wischte mit dem Ärmel Staub von meinem Schreibtisch.

»Sie hatte es offenbar eilig, wir haben uns also nur kurz begrüßt«, Kamma räusperte sich. »Aber ich mache mir einfach Sorgen«, sagte sie dann. »Sie schien...«, und wieder legte sie eine Pause ein.

Ich wartete.

»Simone hat immer Zeit für ein Schwätzchen«, sagte Kamma schließlich. »Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann schien sie mich heute gar nicht richtig zu sehen.«

»Vielleicht war sie mit ihren Gedanken weit weg«, regte ich vorsichtig an.

»Das ist gut möglich. Aber ich muß schon sagen, daß sie blaß und müde aussah. Nein, verstehst du, Kit, ich habe wirklich Angst, daß irgend etwas nicht stimmt.« Sie sprach immer langsamer, als ob sie das alles im Grunde gar nicht sagen wollte. »Sag mal, Liebste... was hast du denn für einen Eindruck? Bezweifelst du, daß sie die Wahrheit sagt?«

»Nein«, antwortete ich. »Das nicht.«

»Ach«, sie holte tief Luft. »Das ist eine Erleichterung. Verstehst du... als sie von dem Kinderweinen erzählt hat, hatte ich wirklich Angst, du könntest meinen, sie...«

»Wirklich nicht«, unterbrach ich sie. »Ich habe eher den Verdacht, daß jemand in ihrem Keller ein Tonbandgerät laufen hatte.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Das Kabel der Tiefkühltruhe war aus der Steckdose gerissen.«

»Wirklich? Aber... das erklärt doch alles«, sagte Kamma optimistisch. »Ich weiß natürlich nicht, wieviel du zu tun hast, aber... Liebste, könntest du nicht in nächster Zukunft versuchen, Kontakt aufzunehmen und...«

»Nein«, wehrte ich energisch ab. »Kommt gar nicht in Frage. Wenn sie etwas von mir wollen, sollen sie mich anrufen.«

»Aber Kit, du könntest dich doch einfach auf mich berufen und...«

»Kamma«, fiel ich ihr ins Wort. »Das geht einfach nicht. Sie müssen das wirklich selber wollen.«

Sie versuchte weiter, mich zu überreden.

Ich schnitt eine Grimasse und hielt den Hörer auf Armlänge von meinem Ohr weg. Nach einigem Palaver hatten wir uns einigermaßen geeinigt.

»God bless you«, Kamma legte auf. In ihrer Stimme klang Enttäuschung mit.

»Alte Hexe«, sagte ich und stand auf.

Es war zwei Tage nach Kammas Anruf. An einem Samstag. An einem klaren Vormittag Ende November.

Ich saß im Wohnzimmer, las die Zeitung und hatte gerade in ein Brötchen gebissen, als die Türklingel ging.

Seufzend sprang ich auf und schaute auf die Uhr.

Als ich die Gegensprechanlage betätigte, hörte ich, daß nicht nur bei mir geschellt worden war. »Ja?« fragte ich, und das taten mindestens drei andere, darunter war auch Ina aus der Wohnung über mir.

»Es geht um Lennart!« rief eine Kinderschar. »Der ist rausgesprungen und liegt vor dem Haus.«

»Was ist er?« brüllte Ina.

»Wo ist er rausgesprungen?« fragten Frau Rasmussen aus dem vierten Stock und ich wie aus einem Munde.

»Aus dem Fenster«, antwortete ein Junge.

Lennart und seine Mutter wohnten im dritten Stock, neben Ina.

Irgendwo fing ein Kind an zu weinen.

Ich knallte den Hörer auf die Gabel und riß das Fenster auf.

Lennart lag bewegungslos auf dem Bürgersteig.

Eine Gruppe verängstigter und weinender Kinder drängte sich um ihn herum.

Ich knallte das Fenster wieder zu, lief zum Telefon und rief einen Krankenwagen.

Als ich auflegte, wurde an meine Tür gehämmert. Es war Ina.

»Ich war gerade unten«, sagte sie atemlos, »wir müssen einen Krankenwagen holen.«

»Schon geschehen«, ich zog meinen Morgenrock fester zusammen und warf mir einen Mantel über die Schultern.

»Ach... Gott«, Ina fuhr sich mit einer zitternden Hand über die Augen. »Ich glaube, er hat sich das Genick gebrochen«, flüsterte sie.

»Wo ist seine Mutter?«

»In der Waschküche... Rubina wollte sie holen.«

Ich drehte mich um und nahm die Schlüssel aus der Schale auf der Kommode.

Als wir unten ankamen, liefen die Kinder auf uns zu.

»Er hat uns gerufen«, erklärte ein weinendes Mädchen. »Er wollte mit uns spielen...«

Ich zog sie an mich und streichelte ihre Haare.

»Ja«, stimmte ein Junge mit weitaufgerissenen Augen zu. »Er hat gerufen, daß er aus dem Fenster springt. Und dann ist er gesprungen!«

In der Ferne hörten wir den Krankenwagen. Zwei Jungen stürzten auf die Straße und hielten nach ihm Ausschau.

»Bleibt auf dem Bürgersteig«, rief Ina.

Die große eiserne Hoftür wurde aufgerissen. Bodil, Lennarts Mutter, kam herausgestürzt. Schreiend fiel sie neben der kleinen Gestalt auf die Knie.

Das Mädchen schmiegte ihr Gesicht an meinen Mantel.

Die Sanitäter hoben Lennart vorsichtig auf eine Bahre.

Langsam erhob Bodil sich. In ihren Augen lag ein Ausdruck von tiefer Trauer und schwelender Wut.

»Ist er tot?« fragte ein schmächtiger blonder Junge.

Ina und ich tauschten einen Blick.

»Das wissen wir nicht«, sagte Ina und streichelte seine Wange.

Wir schauten hinter dem Krankenwagen her.

Rubina brachte einen Eimer Wasser und spülte das Blut von der Straße.

»Wie alt ist er eigentlich?« fragte ich.

»Vier«, seufzte Ina.

»Ach, großer Gott!«

Nach der Beerdigung kehrte Bodil zu ihren Eltern nach Bornholm zurück.

»Sie hält es hier nicht mehr aus«, erzählte Ina. »Deshalb will sie ihre Wohnung kündigen.«

Einige Tage lang erlebten die Kinder beim Spielen das Unglück immer wieder aufs neue. Ein Bollerwagen war der Krankenwagen. Und auf dem Boden lag eine Puppe. Sie sangen: »Gestern noch ein feiner Knab’, heute schon im kühlen Grab.«

Am Montag meldete sich Hans Ulrik Berthelsen bei mir.

Engel der Stille

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