Читать книгу Sophienlust Bestseller Box 4 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 6

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Martina Reichel war in der Küche mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt. Gerade als sie die letzte Kartoffel geschält hatte, sah sie durch das Fenster den Postboten mit seinem beladenen Fahrrad die Straße entlangkommen. Sie nahm die Kartoffeln, wusch sie, tat sie in den Kochtopf und gab Wasser hinzu. Dann stellte sie den Topf auf den Elektroherd und schaltete die entsprechende Platte ein. Schnell trocknete sie noch ihre Hände ab und eilte nach draußen.

Als sie den breiten Weg zu dem an dem Gartentor befestigten Briefkasten entlanglief, war der Briefträger schon beim nächsten Haus angelangt.

Die heutige Post bestand aus einigen Werbesendungen und ein paar Briefen. Noch unterwegs zur Haustür sah sie die Absender durch. Sie waren durchwegs von Freunden, nur bei einem einzigen war ihr die Absenderin unbekannt.

In der Küche angelangt, hörte sie ein leises Zischen, die Kartoffeln kochten über. Sie warf die Post auf den Tisch, eilte zum Herd und stellte den Regler auf eine niedrigere Stufe. Dabei fiel ihr ein, daß sie beim Aufsetzen vergessen hatte, Salz in den Topf zu tun. Eilig holte sie das nach, dann lief sie zum Tisch zurück.

Stirnrunzelnd betrachtete sie den Brief. Annegret Markus, Heilbronn. Nein, sie kannte keine Frau dieses Namens. Doch plötzlich zuckte sie zusammen. Wohnte nicht in Heilbronn ihre Schwester? Eine Tante hatte ihr einmal geschrieben, daß Ingrid geheiratet hätte und zu ihrem Mann nach Heilbronn gezogen wäre.

Martina lachte bitter auf. Vielleicht war Ingrid wieder einmal durch ihren Leichtsinn in Not geraten, und diese Annegret Markus sollte die Vermittlerin spielen. Wütend riß sie den Umschlag auf. Doch schon beim Lesen der ersten Zeilen weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Nachdem sie sich etwas gefaßt hatte, las sie das Schreiben noch einmal leise durch.

Sehr geehrte Frau Reichel! Sie werden erstaunt sein, den Brief einer Ihnen Unbekannten zu erhalten, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen den Tod Ihrer Schwester mitzuteilen, auch wenn Sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr hatten, wie mir Frau Sannwald einmal sagte, als ich sie nach Verwandten fragte.

Ich lernte Ingrid kennen, als sie vor vier Jahren mit ihrem Mann in die Nachbarwohnung einzog. Bald darauf bekam sie ihre Zwillinge. Ich weiß nicht, ob Sie darüber informiert sind, aber um die Kinder geht es mir. Ich kenne die Zwillinge sehr gut, da die Eltern, die sehr lebenslustig und mehr außer Haus, als im Haus waren, mich oft gebeten hatten, bei ihrer Abwesenheit den Babysitter zu spielen.

Diesmal wollten sie für längere Zeit nach England, aber die Reise konnte ich nicht machen, denn schließlich bin ich schon vierundsechzig und die Zwillinge sind sehr lebhafte Kinder. Ich gab den Eltern den Rat, die Kinder in das Kinderheim Sophienlust, das liegt bei Wildmoos­/Württemberg, zu bringen, was sie auch taten. Dort befinden sich die Kinder noch immer.

Um es kurz zu machen. Die Eltern sind aus England nicht mehr zurückgekehrt. Sie sollen dort irgendwo – ich kann mir nun einmal keine ausländischen Namen merken – vom Weg abgekommen und eine Steilküste hinunter ins Meer gestürzt sein. Als die Todesnachricht hier eintraf, fielen alle aus den Wolken, zumal sich bald darauf herausstellte, daß die auf so großem Fuß lebenden Sannwalds verschuldet waren. Alles kam unter den Hammer, für die Kinder blieb nichts.

Die Verwalterin des Kinderheims Sophienlust kam auch, um die persönlichen Sachen der Kinder abzuholen, und ihr erzählte ich von Ihnen und sagte, daß ich Ihnen schreiben würde. Über das Augsburger Einwohnermeldeamt erhielt ich Ihre Anschrift. Ich bitte Sie nun, mir mitzuteilen, was aus den Kindern werden soll. Es sind so allerliebste Kinder. Wenn auch das Sophienluster Heim überall als vorbildlich bekannt ist, so brauchen Kinder doch eine Familie. Wenn Sie auch mit Ihrer Schwester verfeindet waren – nachdem ich sozusagen Seite an Seite mit ihr wohnte, vermute ich, daß sie die Hauptschuld daran trug –, so frage ich Sie, was können die armen Kinder dafür?

Ich bitte um baldmöglichste Antwort. Mit den besten Grüßen

Annegret Markus.

Martina merkte nicht, wie ihr der Brief aus den Händen fiel. Nachdenklich schaute sie zum Fenster hinaus. Sie hatte von der Existenz der Kinder nichts gewußt. Seit dem Tod ihres Vaters war ihre Schwester für sie nicht mehr vorhanden gewesen.

Sie sah Ingrid vor sich, wie sie damals zur Beerdigung des Vaters erschien, in Schwarz von oben bis unten, tränenüberströmt.

Doch schon am nächsten Tag hatte sie auf ihn geschimpft und ihn geizig genannt, weil er sich zuletzt geweigert hatte, ihre Geldforderungen zu erfüllen.

Nach der Bestattung des Vaters, der Bezahlung der Kosten und der Begleichung verschiedener Verbindlichkeiten aus den letzten Monaten des schwerkranken Mannes wurde den beiden Töchtern vom Notar der Rest der Erbschaft ausgezahlt. Es waren für jede zirka zehntausend Mark.

Martina hatte ihren Anteil in ihre Kommode eingeschlossen, weil sie ihn auf das mit ihrem Mann gemeinsame Konto einzahlen wollte. Doch am nächsten Tag, als sie von Bekannten zurückkehrte, war die Kommode aufgebrochen und das Geld zusammen mit der Schwester verschwunden gewesen, genauso wie damals beim Tode der Mutter deren gesamter Schmuck.

Ihr Mann hatte gemeint, sie solle Ingrid anzeigen, aber das widerstrebte ihr, denn schließlich war sie ihre Schwester und selbst auf das Geld nicht angewiesen. Aber sie hatte alle Brücken zu ihr abgebrochen.

Als wenn Ingrid darauf angewiesen gewesen wäre, zu stehlen, dachte Martina Reichel bitter. Die um zwei Jahre jüngere Schwester war viel hübscher als sie und hatte eine aufreizende Figur. Sie hatte als gefragtes Mannequin sehr viel verdient. Aber das Geld war ihr immer wie Wasser durch die Hände geronnen.

Die Küchentür wurde aufgerissen. Schnelle Kinderschritte näherten sich der Frau am Küchentisch, die nichts zu sehen und zu hören schien. Erst die helle Kinderstimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf: »Mutti, was ist, du weinst ja?«

Durch die Worte ihres Sohnes merkte Martina, daß ihr tatsächlich Tränen über die Wangen liefen. Hastig wischte sie sie mit ihrem Handrücken ab, dann nahm sie noch ihr Taschentuch zu Hilfe.

Erst jetzt bemerkte sie, daß die blauen Augen ihres blondhaarigen Sohnes sie maßlos erstaunt anblickten. Er hatte seine Mutter bisher noch nie weinen sehen.

Martina atmete tief durch, dann sagte sie: »Ich habe eben eine traurige Nachricht erhalten. Meine Schwester ist mit ihrem Mann tödlich verunglückt.«

»Ist es dieser Brief?« fragte der elf­jährige Kersten und hob das Schreiben vom Boden auf. »Darf ich ihn lesen?«

Die Mutter nickte und beobachtete Kersten, der sich an den Tisch gesetzt hatte und den Brief las. Doch kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, es zeigte keine Anteilnahme.

»Was sagst du dazu?« fragte sie. Vom Herd kam ein brandiger Geruch. »Die Kartoffeln!« schrie die Frau, sprang auf und eilte zur Kochstelle.

»Was soll ich sagen?« fragte Kersten mürrisch. »Ich kenne sie doch eigentlich gar nicht.«

»Die Kartoffeln sind angebrannt«, jammerte Martina und hantierte mit den Töpfen herum.

»Macht nichts«, erwiderte der Junge, »dann essen wir sie eben als Bratkartoffeln.«

Martina mußte lachen. »Die obere Lage ist noch brauchbar«, meinte sie. Sie schlug noch schnell ein paar Spiegeleier in die Pfanne, dann trug sie die gefüllten Teller zum Tisch. Mittags, wenn ihr Sohn aus der Schule kam, gab es immer nur ein Schnellgericht, da erst abends richtig gekocht wurde, weil ihr Mann erst dann aus seiner Spielzeugfabrik kam. »Wir essen gleich in der Küche«, schlug sie vor.

»Ist auch viel gemütlicher«, meinte Kersten.

»Vater ist da anderer Meinung.«

»Vati ist gegen manches«, sagte der Junge grinsend. »Er wollte auch nicht, daß ich Fahrrad fahre.«

»Weil er Angst um dich hat«, sagte die Mutter in strengem Ton.

»Och, andere sind viel jünger und durften schon früher als ich fahren. Ich kann prima mit dem Rad umgehen, mir kann nichts passieren.«

»Das haben deine Tante Ingrid und ihr Mann wahrscheinlich auch geglaubt, und jetzt?«

»Ich fahr’ doch schließlich nicht Auto«, meinte Kersten mit vollem Munde. Er schluckte den Bissen herunter, dann fuhr er fort: »Aber ’ne tolle Kiste möchte ich gern mal fahren.«

»Eine Kiste?« fragte Martina verständnislos.

»Na ’n Motorrad«, erwiderte ihr Sprößling. »Axel fährt ein ganz tolles Ding.«

»Der ist ja auch schon achtzehn und so wie er fährt, bricht er sich eines Tages das Genick«, meinte die Mutter.

»Tante Ingrid ist mit dem Auto gefahren und hat sich auch das Genick gebrochen«, erwiderte Kersten ungerührt.

»Das kann ein unglücklicher Zufall gewesen sein«, erwiderte Martina.

»Eben. Bei Axel doch dann auch oder?«

Gegen soviel Logik kam Martina nicht an. Um abzulenken, fragte sie: »Tut dir denn deine Tante nicht leid?«

Kersten schob den leergegessenen Teller beiseite und erwiderte protestierend: »Warum? Sie war nur einmal hier, da war ich noch klein. Ich erinnere mich nur, daß ich ihr überall im Wege war. Ich konnte sie deshalb nicht leiden.«

Martina Reichel mußte unwillkürlich lächeln. »Du hast ein gutes Gedächtnis«, lobte sie. »Du warst bei ihrem Besuch etwa fünf Jahre alt. Sie hatte so elegante Kleider an und Angst, daß du sie schmutzig machen könntest, daher schob sie dich immer weg, wenn du zutraulich zu ihr gehen wolltest.« Sie nahm die schmutzigen Teller und legte sie in das Abwaschbecken.

»Na siehst du«, meinte Kersten zufrieden. »Wo ist denn Frau Winkler?« fragte er, als er sah, daß sich seine Mutter an den Abwasch machte.

»Sie hat sich heute Urlaub genommen«, erwiderte Martina.

»Hm! Soll ich dir helfen?« fragte er in der Hoffnung, daß die Mutter seine Hilfe ablehnen würde.

»Das bißchen Abwasch schaffe ich schon allein«, erwiderte sie auch prompt. »Aber ich möchte dich noch etwas fragen. Tante Ingrid hat zwei Kinder hinterlassen, Zwillinge. Seit ich den Brief gelesen habe, frage ich mich die ganze Zeit, ob wir die Waisen nicht zu uns nehmen sollen. Unser Haus ist dazu groß genug und auch unser Garten. Was meinst du?«

Die Frau hatte das abgewaschene Geschirr zum Abtropfen in den Ständer getan, nun drehte sie sich zu ihrem Sohn um, weil er nicht geantwortet hatte.

Kersten starrte sie mit offenem Mund an. »Doch nicht womöglich in meinem Zimmer?« brachte er endlich hervor.

»Nein, natürlich nicht. Dein Zimmer behältst du, wir haben ja schließlich noch andere Räume.«

»Hm!« Er dachte angestrengt nach. Wenn es Jungens waren und in seinem Alter, dann ließ sich mit ihnen allerhand anstellen, vielleicht Wettrennen mit den Fahrrädern und so. So übel war die Sache also nicht. »Sind es Jungens in meinem Alter?« fragte er deshalb interessiert.

Die Mutter runzelte die Stirn. »Da fragst du mich zuviel«, erwiderte sie. »Ich weiß nicht einmal ihre Namen, nur soviel, daß es sich um Zwillinge handelt. Du weißt doch, wir haben uns mit Tante Ingrid zerstritten. Aber in deinem Alter sind sie auf keinen Fall, älter als drei werden sie kaum sein.«

»Was soll ich mit Babys?« rief Kersten empört. »Etwa Babysitter spielen? Mit denen kann ich doch nichts anfangen. Sie werden meine Sachen schmutzig und kaputtmachen. Es fehlte dann nur noch, daß beide Mädchen sind. Nee, danke, die in dem Heim sollen sie ruhig behalten.«

»Aber Kersten! Hast du dich nicht erst vorhin beschwert, daß du Tante Ingrid nicht anfassen und schmutzig machen durftest?« erinnerte Martina aufgebracht.

»Och, Tante Ingrid! Die hätte auch wegbleiben können, wenn sie davor Angst gehabt hat«, meinte Kersten. »Die mochte ich sowieso nicht. Und auch ihre Babys nicht«, schloß er trotzig.

»Du kennst sie doch gar nicht«, entgegnete Martina. »Frau Markus schreibt, es wären ganz reizende Kinder.«

»Alte Damen übertreiben gern«, meinte Kersten altklug. »Die finden alle Babys niedlich. Darf ich jetzt raus?«

»Na, geh schon.« Martina machte sich daran, die Küche aufzuräumen. Sie hörte, wie draußen Kersten über den Nachbarzaun nach seinem Freund rief. Schließlich geht es nicht nach Kersten, dachte sie. Günther wird mir schon beipflichten, daß die verwaisten Kinder eine feste Heimat brauchen.

*

Noch am selben Abend nach dem Essen sprach Martina mit ihrem Mann über die Kinder. Kersten war in sein Zimmer hinaufgegangen. Es war die Zeit, die Martina so sehr liebte, wenn sie mit Günther abends allein im Wohnzimmer bei einem Glas Wein saß, er ihr aus der Spielzeugfabrik erzählte und sie ihm von den Dingen, die sie interessierten. Gab es einen guten Fernsehfilm, sahen sie sich auch den gemeinsam an. Sie lebten in einem Vorort Augsburgs in einer stillen Seitenstraße, wo kein Straßenlärm auf sie eindrang. Nur am Samstag gingen sie gewöhnlich aus, ins Theater, in eine Oper oder zu einer Party.

Sie hatte ihm erst nach dem Abendessen den Brief zu lesen gegeben. Aber sein Kommentar lautete nur: »Sie war für dich doch schon vorher gestorben.«

»Für dich etwa nicht?« erwiderte sie etwas gereizt auf seine Feststellung. »Aber wenn so etwas passiert, dann fragt man sich, ob man nicht selbst auch etwas falsch gemacht hat. Der Tod ist etwas Endgültiges, und man kann nichts mehr gutmachen.«

»Auch sie nicht«, erwiderte er trocken, »denn sie hat dich doch begaunert, wo sie nur konnte.«

»Aber ich habe trotzdem ganz gut gelebt, während sie ein Fiasko nach dem anderen durchgemacht hat.«

»Durch ihre eigene Schuld«, meinte ihr Mann.

»Das können wir nicht beurteilen«, erwiderte Martina. »Vielleicht war ihr Mann ein Trinker oder ein Spieler, wir kannten ihn ja nicht.«

»Dafür aber deine Schwester, die schon vorher nicht mit dem Geld umgehen konnte. Solche Leute sollten keine Kinder in die Welt setzen.«

»Du hast in gewisser Hinsicht schon recht«, mußte Martina zugeben, »aber die Kinder können nun einmal nichts dafür. Sie tun mir furchtbar leid. Uns geht es doch nicht schlecht, im Gegenteil, sehr gut. Ich habe mir gedacht, da wir doch die nächsten Verwandten der Kinder sind, daß wir sie zu uns nehmen sollten.«

Günther, der gerade zu trinken angesetzt hatte, verschluckte sich. Er stellte das Glas so hart auf den Tisch zurück, daß der Inhalt überschwappte, und starrte sie entgeistert an. »Das ist doch nicht dein Ernst?« stieß er hervor.

Automatisch griff Martina nach einer Serviette und wischte die Tropfen von dem blankpolierten Tisch. Dann sagte sie: »Ist das denn so abwegig?«

»Und wie«, erwiderte er heftig. »Die Kinder sind doch bestimmt noch klein. Dann ist es mit unserer Ruhe aus. Jeden Tag freue ich mich auf unseren gemütlichen Abend. Damit dürfte dann Schluß sein. Statt ein gemeinsames Gespräch oder einen netten Fernsehabend gibt es doppeltes Kindergeschrei.«

»Um diese Zeit liegen die Kinder doch schon längst im Bett«, erwiderte Martina.

»Weißt du denn, ob sie sich nachts ruhig verhalten?« fragte er.

»Das ist Erziehungssache«, meinte die junge Frau.

»Daß die gut erzogen sind, bezweifle ich«, erwiderte Günther. »Diese Frau Markus schreibt doch, daß die Kinder meist fremden Leuten überlassen wurden.«

»Ach, Günther, du suchst nur nach Ausreden, statt an die armen Waisen zu denken. Du bist immerhin durch unsere Heirat ihr Onkel und daher meiner Meinung nach verpflichtet, ihnen zu helfen.«

»Ich habe nichts dagegen, wenn wir ihnen finanziell hin und wieder unter die Arme greifen, oder sie auch mal besuchen. Aber ich bin nicht verpflichtet, sie bei uns aufzunehmen. Ich habe mehrere Neffen und Nichten. Stell dir mal vor, wenn ich die alle aufnehmen würde, dann wäre unser Haus mit einem Kindergarten vergleichbar.«

»Deine anderen Neffen und Nichten sind schließlich gut versorgt!« Martina wurde langsam ärgerlich. »Du kommst mit den Kindern kaum in Berührung, da du tagsüber außer Haus bist. Die Arbeit mit ihnen habe letzten Endes ich, und mir würde das nichts ausmachen.«

»Das glaubst du jetzt. Wenn ich dann abends nach Hause komme, bist du bestimmt von der zusätzlichen Arbeit so geschafft, daß du zu nichts mehr zu gebrauchen bist«, argumentierte Günther. »Und wie steht es mit unseren Wochenenden? Dann können wir nicht mal mehr ausgehen. Nein, schlag dir das aus dem Kopf, da mache ich nicht mit.«

»Wir können uns für diese Zeit einen Babysitter nehmen«, schlug Martina vor.

»Die laufen schließlich nicht zu Hunderten herum, genauso knapp sind auch Hausangestellte. Die Mehrarbeit bleibt bei unserer Frau Winkler hängen, und die wird sich bestimmt dafür bedanken.«

»Du siehst immer gleich schwarz. Sie mag Kinder, sie verträgt sich prima mit unserem Kersten und…«

»Der ist auch schon elf und sehr selbständig«, unterbrach sie ihr Mann.

»Du hättest mich aussprechen lassen sollen«, erwiderte Martina vorwurfsvoll. »Für die Extraarbeit bekommt Frau Winkler mehr Lohn. Ich glaube kaum, daß sie dann kündigen wird.«

»Hast du überhaupt schon mit Kersten darüber gesprochen? Schließlich ist er ja davon ebenso betroffen und hat daher Mitspracherecht.«

»Kersten befürchtet nur, daß er sein Zimmer teilen und Babysitter spielen muß. Im Charakter schlägt er ganz dir nach.«

»Ach nee, und was hast du an unserem Charakter auszusetzen?« fragte Günther und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ihr seid beide krasse Egoisten und denkt nur an eure Bequemlichkeit, und daran, daß euch ja niemand etwas davon raubt. Bei einem Kind, das bis jetzt die rauhen Seiten des Lebens noch nicht kennengelernt hat, ist das nicht allzu verwunderlich, aber von dir hätte ich einen so großen Egoismus hilflosen Kindern gegenüber nicht erwartet. Ich dachte immer, als Spielzeugfabrikant hättest du Kinder besonders in dein Herz geschlossen, aber anscheinend ist das nicht der Fall. Du tust es vielmehr nur des Verdienstes wegen.«

Günther lachte amüsiert auf. »Von dem du aber auch ganz schön lebst«, sagte er. »Außerdem habe ich die Fabrik von meinem Vater geerbt. Und ob dieser die Fabrik nur der Kinder wegen aufgebaut hat, bezweifle ich stark. Spielzeugfabrikant ist ein Beruf wie jeder andere auch. Trotzdem bin ich ein großer Kinderfreund, fühle mich aber für fremde Kinder nicht verantwortlich. Weißt du denn, was für Charaktereigenschaften die beiden haben, bei solchen Eltern? Wir werden mit den Zwillingen nur Ärger haben. Und nun laß uns bitte von was anderem reden.« Versöhnlich wollte er ihren Arm tätscheln, aber sie entzog sich ihm und stand abrupt auf.

»Verzeihung, aber ich kann jetzt nicht an anderes denken, und erst recht nicht über andere Dinge reden. Wenn du dich schon nicht der Kinder annehmen willst, dann werde ich sie wenigstens morgen in Sophienlust besuchen. Ich werde sehr früh aufbrechen. Deshalb möchte ich jetzt gleich zu Bett gehen. Gute Nacht!«

»Aber Marty. Bitte bleib.« Günther erreichte sie gerade noch, als sie zur Tür hinauswollte. Er hielt sie fest, drehte sie zu sich herum und zog sie an sich, spürte aber ihren Widerstand. »Marty, wir haben uns doch die ganzen Jahre noch nie ernsthaft gestritten, warum tun wir das jetzt fremder Kinder wegen?«

»Es sind die Kinder meiner Schwester«, erwiderte Martina trotzig.

»Die beiden sind in einem Kinderheim, das sehr gut sein soll. Meine Schwägerin hat es nicht ein einziges Mal für nötig gehalten, uns von ihrer Verheiratung zu schreiben, geschweige denn davon, daß sie Zwillinge bekommen hat. Hätte dir diese Frau Markus das nicht mitgeteilt, hättest du überhaupt nichts davon gewußt. Also bitte, laß die Finger von diesem Experiment. Haben wir drei bisher nicht glücklich zusammengelebt?«

Das ist alles gut und schön, aber ich halte es für meine Pflicht, wenigstens nach den Kindern zu sehen. Ich kann es Ingrid nicht übelnehmen, daß sie nichts von sich hören ließ, da ich ihr damals gesagt habe, daß ich mit ihr nichts mehr zu tun haben will.«

»Du weißt, daß wir morgen zu einer Geburtstagsparty bei Lambrechts eingeladen sind.«

»Bis dahin werde ich sicherlich zurück sein, und wenn nicht, kannst du ruhig allein hingehen. Du wirst dich auch ohne mich amüsieren.«

»Martina, was ist bloß in dich gefahren?« fragte er empört, doch sie riß sich von ihm los, ohne ihm zu antworten. Krachend fiel hinter ihr die Tür ins Schloß.

»Na, dann eben nicht.« Wütend ging Günther zur Bar, um sich mit einem Cognac zu beruhigen.

*

Als um sieben Uhr früh der Wecker klingelte, fuhr Martina erschreckt hoch. Sie hatte bis Mitternacht auf ihren Mann gewartet, und als er endlich gekommen war, sich schlafend gestellt, obwohl er sich über sie gebeugt und leise gefragt hatte: »Marty, schläfst du schon?« Danach mußte sie dann doch unversehens fest eingeschlafen sein.

Sie wandte ihren Blick dem Nebenbett zu, es war zwar benutzt worden, aber jetzt leer. Samstags stand ihr Mann sonst eigentlich erst um acht Uhr auf.

Obwohl an diesem Tag in seiner Fabrik nicht gearbeitet wurde, fuhr er gewöhnlich doch für ein paar Stunden hin, um einige dringende Dinge zu erledigen, für die er in der Woche keine Zeit fand.

Warum ist Günther früher aufgestanden als sonst, überlegte Martina, als sie sich ins Badezimmer begab, um zu duschen. Vielleicht will er ­heute doch nicht ins Büro, sondern mich begleiten, dachte sie hoffnungsvoll.

Nach dem Duschen zog sie sich in aller Eile an. Dann lief sie die Treppe hinunter. Sie trug ein mittelblaues Kostüm, das außerordentlich gut zu ihren blonden Haaren paßte.

Ihr Mann kam gerade aus der Küche mit einer vollen Kaffeekanne in der Hand. »Du siehst wie ein frischer Frühlingsmorgen aus«, sagte er bewundernd.

»Danke«, erwiderte sie strahlend, entzückt über das Kompliment. Sie küßte ihn auf die Wange. »Du kommst also mit?«

»Wieso?« fragte er erstaunt, während er mit ihr ins Eßzimmer ging.

»Warum bist du denn sonst eine Stunde früher aufgestanden?«

Auch Kersten war schon auf, er stellte gerade die Tassen auf den Tisch. »Guten Morgen, Mutti«, rief er.

»Guten Morgen, Kersten«, erwiderte Martina. »Du bist auch schon auf? Du hast doch heute keine Schule.« Sie goß den Kaffee ein.

»Ich bin deinetwegen früher aufgestanden, Marty«, sagte ihr Mann. »Ich wollte nicht, daß du ohne Frühstück wegfährst.« Er setzte sich. »Hoffentlich habe ich nichts vergessen.«

»Haben wir nichts vergessen«, korrigierte Kersten. »Ich habe dir nämlich dabei geholfen.«

»Was habe ich doch für tüchtige Männer«, scherzte Martina. Sie warf einen prüfenden Blick auf den gedeckten Tisch. »Kompliment, ihr habt an alles gedacht.« Während sie eine Scheibe Toast mit Marmelade bestrich, sagte sie bittend: »Günther, kannst du nicht doch mitkommen?«

»Aber Liebling, wie denkst du dir das? So kurzfristig kann ich meine Pläne nicht ändern. Ich habe mir noch gestern im Büro einige Sachen zurechtgelegt, die ich unbedingt erledigen muß. Es ist auch besser, du schaust dir die Kinder erst mal allein an, vielleicht hast du von der ersten Begegnung schon genug. Du kannst der Heimleiterin sagen, daß, wenn die Heimkosten nicht gedeckt sind ich dafür aufkommen würde.«

»Und ich hatte schon gehofft, du hättest deine Einstellung geändert«, sagte Martina traurig. »Ich werde meinen Fotoapparat mitnehmen. Vielleicht änderst du deine Meinung, wenn du Bilder von den Kleinen siehst.«

»Eine gute Idee«, lobte Günther, »aber trotzdem ändern auch noch so niedliche Bilder nichts daran, daß ich keine fremden Kinder hier im Hause mag.«

»Wir wollen nämlich keinen Kindergarten«, erklärte Kersten.

»Du hast doch nur Angst, daß dir dann etwas entgeht«, sagte die Mutter gereizt. »Dabei würde es dir gar nichts schaden, wenn du mal lernst, daß du nicht immer der Mittelpunkt sein kannst.«

»Vater meint auch, daß…«

»Kersten, was dein Vater sagt, steht auf einem anderen Blatt«, unterbrach ihn Martina. »Deine Sache ist es jedenfalls nicht, darüber zu entscheiden, was wir tun sollen.«

»Dann kann ich ja gehen«, erwiderte Kersten widerspenstig und sprang von seinem Stuhl auf.

»Setz dich und frühstücke zu Ende«, befahl der Vater. »In einem solchen Ton spricht man nicht mit seiner Mutter.« Er wandte sich an seine Frau: »Bitte denke nicht, daß ich es grundsätzlich ablehne, die Kinder deiner Schwester kennenzulernen, aber heute geht es wirklich nicht. Ein andermal gern, denn wie ich dich kenne, wirst du sie öfter besuchen wollen.« Er stellte seine leergetrunkene Tasse auf den Tisch zurück. »So, jetzt muß ich aber gehen. Du kannst ja nachher an der Fabrik vorbeifahren und dir ein paar Spielsachen für die Kinder aussuchen.« Er drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und ging zur Tür.

Plötzlich kam er wieder an den Tisch zurück. »Weißt du was«, sagte er, »nimm doch Kersten mit, wenn du keine Lust hast, allein zu fahren.« Er strich sanft über ihr Haar. »Tschüs, Liebling.« Dann verließ er endgültig das Zimmer.

Seufzend wandte sich Martina an ihren Sohn: »Du hast gehört, was Vater gesagt hat. Die lange Fahrt ist allein wirklich langweilig, und du ­fährst für dein Leben gern Auto?«

»Aber Mutti, das geht doch nicht«, protestierte Kersten. »Ich bin mit Gerd verabredet, wir wollten zum Sportplatz.«

»Du kannst ruhig mal mit deiner Mutter etwas unternehmen«, erwiderte Martina scharf, »du treibst dich schon genug draußen herum. Es schadet dir auch bestimmt nicht, mal ein Heim kennenzulernen, damit du ­siehst, wie gut du es hast. Also hilf mir abräumen, damit wir endlich aufbrechen können.«

Nachdem sie das Geschirr in die Küche gebracht hatten, sagte Kersten mürrisch: »Ich geh nach oben, meine Jacke holen.«

Martina, die sich bereits Vorwürfe gemacht hatte, so unwirsch zu ihrem Sohn gewesen zu sein, sagte versöhnlich: »Gut, ich spendiere dir auch was ganz Schönes unterwegs. Ich schreibe nur noch eine kurze Notiz für Frau Winkler.«

Frau Winkler schlief zwar außer Haus, besaß aber einen eigenen Schlüssel, so daß sie jederzeit das Haus betreten konnte.

Martina setzte sich an den Küchentisch und schrieb auf einen Notizblock, daß sie und Kersten erst gegen Abend zurückkommen würden, und sie nur für ihren Mann zu kochen brauchte.

Danach stand sie auf und ging in den Flur hinaus. Sie wunderte sich, daß Kersten noch nicht unten war. »Kersten!« rief sie in das obere Geschoß hinauf. Keine Antwort erfolgte. Was macht denn der Junge so lange da oben, dachte sie und lief die Stufen hoch. Die Tür seines Zimmers stand weit offen. Der Raum war leer!

Von böser Ahnung erfüllt, eilte sie zum Fenster. Sie sah gerade noch, wie Kersten mit seinem Fahrrad hinter einer Ecke verschwand. Erschüttert setzte sie sich auf sein ungemachtes Bett. Plötzlich kam ihr die Erkenntnis, daß ihr Sohn begann, sich ihren schützenden Mutterarmen zu entziehen, um seine eigenen Wege zu gehen. Sie hatte zwar schon von anderen Müttern Klagen darüber gehört, daß die Söhne sich nicht mehr gern mit ihnen sehen ließen, aber Kersten war doch erst elf! Das durfte sie ihm nicht durchgehen lassen. Seufzend stand sie auf. Na gut, dachte sie, dann fahr ich eben allein.

*

Trotz zügiger Fahrt kam Martina Reichel erst nachmittags in Wildmoos an. Sie hatte sich noch nicht einmal die Zeit genommen, irgendwo zu Mittag zu essen. Bis jetzt hatte sie sich gut nach ihrer Straßenkarte orientieren können, aber nun wußte sie nicht mehr weiter. Als sie langsam durch den Ort fuhr, entdeckte sie den Gasthof »Zum grünen Krug« und beschloß, hier haltzumachen, um etwas zu essen und sich nach dem Weg zu erkundigen.

Eine Stunde später verließ sie den Gasthof und stieg wieder in ihren Wagen. Ihr Ärger war längst verflogen, was wohl an dem guten Essen, an dem wundervollen Maientag und der idyllischen Landschaft lag.

Unwillkürlich mußte sie lächeln, als sie den ersten der Wegweiser sah, den ihr der Gastwirt beschrieben hatte. Bald folgten die nächsten. Sie zeigten geschnitzte lustige Figuren von Kindern und Tieren. Dann fuhr die Frau an einer dichten, hohen Hecke vorbei, bis diese von einem großen schmiedeeisernen Tor unterbrochen wurde, das einladend offenstand. Sie bog in die Auffahrt ein. Ein großes, einstöckiges Herrenhaus mit einer Freitreppe tauchte vor ihr auf. Erstaunt hielt sie davor an und stieg aus.

Sie betrachtete eingehend das Gebäude, das so gar nicht nach einem Kinderheim aussah, obwohl sie von irgendwoher Kinderstimmen hörte.

Das Haus schien alt zu sein, der Nebentrakt dagegen neueren Datums. Die Fassade war weiß, die Fenster groß mit grünen Fensterläden. Das Dach war mit grauen Schindeln bedeckt.

Martina stieg die Freitreppe hinauf. Das Portal stand etwas offen. Nachdem auf ihr Klingeln niemand kam, machte sie die Tür ganz auf und stand bald darauf in einer urgemütlichen Halle mit einem großen offenen Kamin, vor dem ein Bärenfell lag.

Unschlüssig blieb die Frau in der Mitte der Halle stehen. Sie wollte schon rufen, als sie von oben eine Stimme hörte. »Kommen Sie wegen einem Kind?«

Martina blickte die breite, teppichbespannte Treppe hinauf, die zum ersten Stock führte. Eine ältere, mütterlich wirkende Frau kam die Stufen herunter.

»Verzeihung«, sagte Martina, »daß ich hier so einfach eingedrungen bin. Ich hatte geklingelt, aber niemand scheint es gehört zu haben.«

»Ich war oben auf dem Boden«, erwiderte die Frau, »und das Personal wird wahrscheinlich draußen im Gemüsegarten sein. Ich…«

»Sicherlich bin ich auch hier falsch«, unterbrach die Besucherin verlegen. »Ich wollte zum Kinderheim Sophienlust. Ich habe mich zwar nach den Wegweisern gerichtet, aber vielleicht gibt es hier in der Nähe noch ein anderes Gebäude.«

»Sie sind schon richtig hier«, erwiderte die andere lächelnd. »Ich bin die Heimleiterin Else Rennert.«

»O nein«, sagte Martina lachend, »ich habe mir anscheinend von einem städtischen Kinderheim eine ganz falsche Vorstellung gemacht. Ich heiße Martina Reichel.«

»Bitte, nehmen Sie doch erst mal Platz«, bot Frau Rennert an. Sie reichte der Besucherin die Hand und wies auf einen Sessel. Die Heimleiterin setzte sich ihr gegenüber.

»Ich möchte Sie erst mal berichtigen«, begann sie das Gespräch. »Es handelt sich bei uns nicht um ein städtisches Unternehmen. Das Heim hier gehört Dominik von Wellentin­-Schoen­­ecker. Er hat es von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt mit der Auflage, aus dem alten Herrenhaus ein Heim für elternlose oder Geborgenheit suchende Kinder zu machen. Bis zu seiner Volljährigkeit, er ist jetzt sechzehn, wird das Heim von seiner Mutter, Denise von Schoenecker, verwaltet.« Die Heimleiterin lächelte. »Ich habe Ihnen die Geschichte des Hauses deshalb erzählt, weil Besucher, die zum ersten Mal hierherkommen, immer über unser Kinderheim erstaunt sind.«

Martina mußte erneut lächeln. »Kein Wunder, daß Sie die Geschichte des Heims so fließend erzählen können, wenn Sie ständig darüber berichten müssen. Ich war auch sehr erstaunt, als ich das Gebäude inmitten dieses herrlichen Parks sah. Wo sind denn die Kinder?«

»Bei diesem schönen Wetter natürlich draußen. Darf ich fragen, warum Sie gekommen sind? Wollten Sie hier ein Kind unterbringen?«

»Nein, ich komme eigentlich wegen der Kinder meiner Schwester. Ich muß Ihnen allerdings gestehen, daß ich weder deren Namen noch das Alter weiß. Sie können aber höchstens drei Jahre alt sein.

Die Heimleiterin sah ihn erstaunt an.

Martina wurde verlegen. »Ich verstehe, daß Sie sich wundern«, fügte sie schnell hinzu, »meine verstorbene Schwester war sozusagen das schwar­ze Schaf unserer Familie, aber man soll Toten nichts Schlechtes nachsagen. Jedenfalls haben wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie wohnte ja auch in Heilbronn, während ich mit meiner Familie in Augsburg lebe.«

»Ihre Schwester ist also tot?« fragte Frau Rennert. »Handelt es sich um Frau Sannwald?«

»Ja«, erwiderte Martina. »Ich habe leider erst gestern erfahren, daß meine Schwester mit ihrem Mann tödlich verunglückt ist. Ich habe nicht einmal gewußt, daß sie Kinder hatte. Eine ihrer Nachbarinnen schrieb es mir, auch daß die Kinder vor der Reise ihrer Eltern nach England bei Ihnen untergebracht worden seien.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte die Heimleiterin. »Es sind die dreieinhalbjährigen Zwillinge Corwin und Cora, sehr liebe Kinder.«

»Das freut mich zu hören. Frau Markus teilte mir des weiteren mit, daß die Eltern nur Schulden hinterlassen hätten. Falls irgendwelche Kosten entstanden sind dann…«

Else Rennert winkte ab. »Für Notlagen steht uns ein Fond zur Verfügung. Wir würden deswegen keine bedürftigen Kinder abweisen. Vielmehr sind wir daran interessiert, daß verwaiste Kinder wieder in eine richtige Familie kommen, und da schauen wir uns in erster Linie natürlich unter den Verwandten um. Sie lassen sich allerdings nicht immer bei ihnen unterbringen, aber die Kinder freuen sich schon, wenn sie wenigstens mal ab und zu von ihnen besucht werden, oder zu Besuch kommen können. Deshalb hätte ich gern Ihre Absichten gewußt.«

»In erster Linie wollte ich die Kinder kennenlernen«, erwiderte Martina. »Aber darüber hinaus würde ich sie später gern adoptieren.«

»Haben Sie eigene Kinder?«

»Ja, einen elfjährigen Sohn.«

»Und was sagt der dazu?«

»Oh, der hat ganz andere Interessen«, wich die Frau aus.

»Kinder können manchmal sehr eifersüchtig sein«, meinte die Heimleiterin. »Aber das Wichtigste ist natürlich, wie sich Ihr Mann dazu stellt.«

»Mit ihm habe ich schon alles besprochen«, erklärte Martina, verschwieg der Heimleiterin aber den Verlauf dieser Unterredung.

»Es würde mich für die Kinder freuen«, sagte Frau Rennert herzlich. Frau Reichel gefiel ihr, sie kam ihr nur etwas unsicher vor. »Sie leben in Augsburg, eine ziemlich weite Strecke, da können Sie heute nicht mehr zurückfahren.«

»Das hatte ich eigentlich vor«, erwiderte die Besucherin zögernd, »aber leider bin ich von daheim erst spät weggekommen. Gibt es in der Nähe eine Übernachtungsmöglichkeit?«

»Sie können bei uns übernachten, wir haben für solche Zwecke immer einige Gästezimmer bereit.«

»Sie scheinen hier auf alles vorbereitet zu sein«, sagte Martina überrascht. »Ich nehme Ihr Angebot dankend an. Ich müßte allerdings zu Hause anrufen, sonst ängstigt sich mein Mann. Geht das?«

»Selbstverständlich, Frau Reichel. Aber jetzt gehen wir erst mal zu den Kindern, ehe es dunkel wird.« Die Heimleiterin stand auf und begleitete die Besucherin in den Park hinaus.

*

Frau Rennert führte den Gast auf einem kleinen Umweg durch den Park, um ihm die Anlagen zu zeigen.

Über den beiden Frauen rauschten die Wipfel der uralten Bäume, dann tauchte vor ihnen eine Lichtung auf. Ein kleiner Weiher zog die Blicke auf sich, etwas abseits sprudelte eine Fontäne aus einem Springbrunnen. Ein Pavillon und eine Laube luden zum Ausruhen ein. Fröhliche Kinderstimmen erfüllten die Luft.

»Wenn ich die Kinder nicht sehen und hören würde«, sagte Martina begeistert, »würde ich das alles hier noch immer nicht für ein Kinderheim halten, sondern eher für ein Sanatorium.«

»Sie sehen also, daß es unseren Zöglingen hier gutgeht«, erwiderte die Heimleiterin. »Sie brauchen sich um die Kinder Ihrer Schwester keine Sorgen zu machen, falls Sie sie doch nicht aufnehmen können.« Sie waren am Springbrunnen stehengeblieben.

»Ich gebe zu«, sagte Martina, »das hier scheint für die Kinder ein Paradies zu sein. Aber Sie sagten vorhin selbst, Kinder müßten eine feste Familie haben. Bei uns wären sie gut untergebracht. Wir haben ein Haus am Rande Augsburgs mit einem großen Garten, in dem auch eine Schaukel steht. Und wir sind nicht unvermögend, mein Mann ist Inhaber einer Spielzeugfabrik.«

»Das Finanzielle ist nicht das Wichtigste«, meinte Frau Rennert. »Kinder brauchen vor allem Liebe und das Gefühl der Geborgenheit.«

»Das werden sie bestimmt bei uns finden«, versicherte Martina. »Ich hätte gern mehr Kinder gehabt, aber nach einer Operation konnte ich leider keine mehr bekommen. So blieb Kersten unser einziges Kind.«

Während sie langsam zu der Wiese weitergingen, fragte Else Rennert: »Und wie steht es mit Ihrem Mann, Ihrer Ehe?«

»Das geht schon in Ordnung«, erwiderte die junge Frau. »Unsere Ehe würde ich durchaus als glücklich bezeichnen. Abgesehen von einigen kleinen Meinungsverschiedenheiten, wie sie ja überall vorkommen, sind wir ein Herz und eine Seele.«

Nun, Frau Rennert hatte schon oft solche Beteuerungen gehört und war schon etliche Male enttäuscht worden. Sie schätzte zwar Martina Reichel als eine ordentliche, anständige Frau ein, aber ehe Kinder vermittelt wurden, mußten erst die zukünftigen Pflege-, beziehungsweise Adoptiveltern genau geprüft werden.

Sie nahm sich vor, noch am selben Abend Frau von Schoenecker anzurufen.

Inzwischen waren die Frauen dort angelangt, wo einige Kinder Wettkämpfe ausfochten. Auch ein paar Hunde tummelten sich dazwischen. Ein Spielplatz mit Sandkästen, Rutsche und Reck war ebenfalls vorhanden. Doch er war jetzt leer. Die kleineren Kinder umstanden die Schaukeln, hinter denen sich zwei größere Kinder befanden.

»Angelika!« rief ein etwa fünfjähriges Mädchen mit hellblonden Rattenschwänzchen. »Cora hat genug geschaukelt, ich möchte auch mal.«

»Und ich auch, Vicky«, meldete sich ein kleiner Junge. »Corwin ist schon länger dran.«

Lachend hielten die beiden Mädchen die Schaukeln an. »Die beiden sind doch noch so klein und haben bisher keine Schaukeln gekannt«, erwiderte Angelika Langenbach. Sie half den beiden Kindern von den wackeligen Sitzen. Die beiden Kleinen waren damit allerdings nicht einverstanden. Wie aus einem Munde schrien sie: »Noch mehr! Noch mehr!« Sie blieb demonstrativ Hand in Hand an den Schaukeln stehen.

»Ihr müßt jetzt sowieso aufhören«, sagte Frau Rennert, »sonst schimpft Magda, wenn sie mit dem Essen auf euch warten muß.« Sie wandte sich an die junge Frau. »Angelika und Vicky sind Geschwister, zwölf und zehn Jahre alt. Sie haben noch einen einundzwanzigjährigen Bruder, der in Heidelberg mit Sascha von Schoenecker, dem ältesten Sohn Alexander von Schoeneckers, studiert.«

»Und ich, Tante Ma?«

»Ja, dich darf ich natürlich nicht vergessen«, sagte Else Rennert lä­chelnd. »Das hier ist unsere Heidi.«

»Ich bin schon fünf Jahre alt«, sagte das Kind und reichte der Besucherin die Hand. »Und das ist Karl-Heinz.« Sie deutete auf den kleinen Jungen, der verschüchtert etwas abseits stand. »Er ist erst vier und noch sehr dumm.«

»Karl-Heinz ist bloß vorübergehend hier«, erklärte Frau Rennert. »Er ist Halbwaise. Seine Mutter mußte plötzlich ins Krankenhaus.«

»Ich habe jetzt ganz viel Kinder zum Spielen«, sagte Heidi. »Sonst sind sie immer viel älter als ich und gehen zur Schule. Ich möchte auch in die Schule.«

»Da mußt du aber noch ein Jahr warten, Heidi«, meinte Martina.

»Ist nicht so schlimm«, sagte Heidi, »ich habe ja auch Cora und Corwin zum Spielen.«

»Die beiden scheinen aber noch schüchterner zu sein als Karl-Heinz«, stellte Martina fest und ließ sie nicht aus den Augen.

»Ich glaube eher, sie denken immer noch, sie werden weiter geschaukelt«, sagte Vicky.

Die Heimleiterin ging auf die beiden Kinder zu. »Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte sie. »Jetzt kommt essen.«

»Nee, Tante Ma«, sagte Corwin, »wir haben keinen Hunger.

»Haben keinen Hunger«, echote Cora, »wollen wipp-wipp machen.«

»Ihr habt Besuch bekommen«, sagte Else Rennert. »Wollt ihr nicht eure Tante begrüßen?«

Erstaunt sahen die beiden Martina an, die plötzlich vor ihnen stand. »Bist du so’ne Tante wie Tante Ma?« fragte Corwin, der stets der Vorsprecher zu sein schien.

Martina Reichel war entzückt über die Kinder. Sie waren sich sehr ähnlich, beide hatten dunkelblonde Haare und braune Augen. Sie beugte sich zu ihnen hinunter, zog sie an sich und küßte erst das Mädchen, das sich gleich zutraulich an sie schmiegte, dann den Jungen, der sich aber gegen sie stemmte. »Ich bin eure richtige Tante«, sagte sie, während sie sich wieder aufrichtete. »Die Schwester eurer Mama.«

»So’ne Schwester wie Cora?« wollte Corwin wissen.

»Ja, ich bin die Schwester eurer Mama, wie Cora deine Schwester ist«, erwiderte Martina.

»Meine Mama ist im Himmel«, plapperte Cora. »Bringst du uns zu ihr, Tante?«

»Ich heiße Martina, sagt also Tante Martina oder Tante Marty«, sagte die junge Frau. Sie nahm die beiden Kinder an der Hand und folgte der Heimleiterin und den anderen Kindern, die schon vorausgegangen waren. Heidi und Karl-Heinz gingen neben einer jungen blondhaarigen Frau her, die sie bisher nicht bemerkt hatte. Die kleine Cora rüttelte ungeduldig an ihrer Hand. »Gehn wir zur Mama?« fragte sie ungeduldig.

Martina atmete tief ein. Die Kinder hatten den Tod ihrer Mutter nicht begriffen. Wie sollen sie es auch mit ihren dreieinhalb Jahren. »Schau mal zum Himmel, Cora«, sagte sie, »wie weit weg er ist, da kommen wir nicht so schnell hin.«

»Warum ist Mama so weit weg?« fragte die Kleine weinerlich.

Ehe Martina noch was erwidern konnte, sagte der Junge tröstend: »Nicht weinen, sonst weint auch Mama und der ganze Himmel, sagt Tante Ma. Mama kommt sicher bald wieder.«

»Ist das wahr, Tante…?« fragte Cora, die den Namen nicht behalten hatte.

»Tante Marty«, half Martina nach. Wie sollte sie die Frage des Kindes beantworten? »Corwin hat recht«, sagte sie daher, »wenn du weinst, wird deine Mama sicher sehr traurig sein.« Um abzulenken, fragte sie: »Wollt ihr beide nicht zu mir kommen? Wir haben auch einen Garten mit einer Schaukel.«

»Auch so groß?«

»Nicht ganz«, mußte Martina zugeben.

»Wir warten hier auf Mama«, erklärten beide Kinder wie aus einem Munde.

Diese Antwort versetzte Martina einen Stich ins Herz, aber dann sagte sie sich, daß die Einstellung der Zwillinge nicht sehr verwunderlich war. Für sie war sie eine vollkommen fremde Frau.

»Ich habe euch zwei große Teddybären und noch anderes mitgebracht«, sagte sie.

»Richtige Teddys?« riefen beide Kinder.

Noch vor dem gemeinsamen Abend­essen rief Martina zu Hause an. Ihr Mann meldete sich. »Fein, daß du noch zu Hause bist«, sagte sie. »Ich hab’s nicht mehr geschafft, rechtzeitig zurückzufahren. Ich übernachte im Heim und fahre dann morgen vormittag hier los. Wann gehst du zu den Lambrechts?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte Günther. »Meinst du, ich habe Lust, allein hinzugehen? Und dann ist es wohl doch nicht der richtige Zeitpunkt. Die Frau trauert um ihre verstorbene Schwester, und der Mann geht allein zu einer Tanzparty. Auch wenn ich deine Schwester nicht mochte, ich finde es unfair.«

»Du hast schon recht, aber ich wollte dir nicht davon abraten, ich befürchtete, daß du es mir übelnimmst. Was macht Kersten?«

»Er ist in seinem Zimmer und büffelt Mathe.«

»Warum muß er das nur immer abends machen?«

»Weil er tagsüber keine Zeit hat. Ich habe ihm schon die Leviten gelesen, auch weil er dich nicht begleitet hat.«

»Grüß ihn von mir, ich hab’ das schon vergessen. Übrigens ist das Heim hier einfach wundervoll, ein Herrschaftssitz inmitten eines großen Parks«, erzählte Martina überschwenglich.

»Dann ist ja alles in Ordnung und die Kinder gut untergebracht. Wir brauchen uns also deswegen weiter keine Sorgen mehr zu machen.«

Die Frau runzelte die Stirn. Am liebsten hätte sie ihm eine heftige Antwort gegeben, aber sie telefonierte von der Halle aus und dort herrschte ein lebhafter Betrieb. Es war nicht nötig, daß jemand mitbekam, daß sie in punkto der Kinder mit ihrem Mann nicht einig war. Dich krieg ich schon noch, dachte sie. »Dann mach’s gut, Günther«, sagte sie, »und noch einen schönen Abend euch beiden verlassenen Männern.«

»Komm morgen nicht so spät«, bat ihr Mann, »damit wir wenigstens noch den Sonntagabend gemeinsam verbringen können. Tschüs, Liebes!«

*

Am liebsten wäre Martina Reichel auch noch den ganzen Sonntag in Sophienlust geblieben. Noch nie hatte ihr ein Abendessen so gut geschmeckt wie im Kreise der großen Kinderschar.

Die blondhaarige Frau wurde ihr als Kinder- und Krankenschwester Regine Nielsen vorgestellt. Wie Martina später erfuhr, hatte diese Frau auch ein schweres Schicksal hinter sich. Sie hatte ihren Mann und ihr zweijähriges Töchterchen Elke schon früh verloren und ging seitdem in der Fürsorge um die Schützlinge von Sophienlust auf. Wie Martina sich überzeugen konnte, hingen die Kinder auch sehr an ihr.

Nach dem Abendessen durfte Martina ihre Nichte und ihren Neffen selbst zu Bett bringen. Sie hatten ein Zimmer neben dem von Schwester Regine bekommen, die ihre Tür nachts offenließ, damit sich die kleinen Kinder nicht fürchteten.

Corwin und Cora hatten inzwischen Zutrauen zu der neuen Tante gefaßt. Beim Ausziehen schmiegte sich Cora von allein an Martina. »Du bist lieb’, sagte sie.

Gerührt zog Martina die Kleine an sich und küßte sie auf die Stirn. Dann streifte sie ihr den Schlafanzug über. Danach wandte sie sich zu Corwin um. »Du hast dich ja schon ausgezogen«, rief sie erstaunt.

»Ich bin doch kein Baby mehr«, erwiderte der Junge, setzte sich aufs Bett und zog sich mit einiger Mühe die Schlafhose an. Zuerst wollte ihm Martina dabei helfen, aber sie erinnerte sich an die Worte ihres Mannes, der einmal in punkto seines Sohnes gesagt hatte: »Man soll die anfangende Selbständigkeit eines Kindes nicht unterdrücken.« Deshalb half sie ihm nur beim Zuknöpfen seiner Jacke.

Nun lagen die Kinder im Bett, ihren neuen Teddy im Arm. Die junge Frau konnte sich von dem Anblick nicht losreißen, die beiden sahen einfach entzückend aus. So müßte Günther sie sehen, dachte Martina, er würde sich dann auch in sie verlieben und sie sofort mitnehmen.

Sie hüllte die Kleinen in ihre Decken ein und küßte sie liebevoll auf die Stirn. »Gute Nacht, ihr Lieben«, sagte sie. Aber sie bekam keine Antwort mehr, die Zwillinge waren schon fest eingeschlafen. Auf Zehenspitzen verließ Martina das Zimmer.

*

Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen, brach Schwester Regine mit den Kindern zu einem Waldspaziergang auf, wobei Martina mitmarschierte, an jeder Hand einen der Zwillinge.

Als sie wieder zurückkamen, wurden sie von der Verwalterin des Kinderheims, Denise von Schoenecker, bereits erwartet.

»Tante Isi ist da«, jubelten die Kinder und umringten Denise freudestrahlend.

»Schon gut, schon gut«, sagte die Gutsbesitzerin lachend, »ihr erdrückt mich ja.« Dann schob sie die Kinder liebevoll beiseite. »Laßt mich wenigstens erst mal unseren Gast begrüßen.«

Denise von Schoenecker, eine schöne, elegante Frau mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, trat auf Martina Reichel zu und reichte ihr die Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Sie warf einen Blick auf Corwin und Cora, die sich beide so eng an die junge Frau drückten, als wollten sie sie nie wieder loslassen. »Wie ich sehe, haben Sie schon Freundschaft mit ihnen geschlossen.«

»Die Kinder sind einfach reizend«, erwiderte Martina. Spontan setzte sie hinzu: »Ich möchte ihnen ein neues Zuhause geben. Kann ich sie nicht schon heute mitnehmen?«

»Frau Rennert erzählte mir, daß das Ihre Absicht ist«, erwiderte Denise. »Hier läßt sich aber schlecht darüber reden, gehen wir doch ins Biedermeierzimmer. Bis zum Mittagessen haben wir noch etwas Zeit.«

»Eigentlich wollte ich schon auf der Rückreise sein«, sagte Martina.

»Sie können doch jetzt nicht mit leerem Magen abfahren«, meinte Denise, während sie mit ihrer Besucherin die Halle durchquerte. Dann öffnete sie eine Tür. »Bitte!«

Überwältigt blieb die Besucherin am Eingang stehen. »Ich habe mich schon über das Wort ›Biedermeierzimmer‹ gewundert«, gestand sie, »und nicht erwartet, daß es sich wirklich um ein solches handelt.« Bewundernd ließ sie ihre Blicke über die alten, stilechten Möbel wandern. »Bei Ihnen in Sophienlust erlebt man eine Überraschung nach der anderen.«

»Bitte nehmen Sie Platz, Frau Reichel«, bot Denise und wies auf einen der schön geschwungenen Stühle, deren Polster mit einem hell geblümten Stoff bespannt waren. Sie nahm ihr gegenüber Platz. »Es ist mein Lieblingszimmer«, gestand sie. »Ich weiß, daß es auch auf unsere Gäste anheimelnd wirkt.«

»Und wie«, erwiderte Martina. »Man möchte fast nicht mehr von hier fortgehen.«

»Das ist positiv für ein Heim«, sagte Denise. »Wir haben hier auch Dauerkinder, die sich sehr wohl fühlen. Allerdings haben sie auch schwere Schicksalsschläge hinter sich und fühlen sich hier geborgen. Pünktchen zum Beispiel…«

Das Mädchen mit den Sommersprossen?« fragte Martina.

»Ja, sie ist jetzt dreizehn. Sie ist ein ehemaliges Zirkuskind, das ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren hat. Sie wurde von unserem Dominik ganz verstört auf der Landstraße gefunden und hierhergebracht; Fabian hat seine Eltern bei einem Zugunglück verloren und wurde von seiner Stiefgroßmutter nach Sophienlust abgeschoben; Irmelas Mutter lebt mit ihrem Stiefvater in Indien. Dann wäre noch Heidi, die auf besonders tragische Weise ihre Eltern verloren hat. Der Vater war Morphinist und erschoß seine Frau, eine Apothekerin, weil sie sich weigerte, ihm Morphium zu geben. Er selbst verunglückte auf der Flucht tödlich.«

»Die Kinder sind wirklich zu bedauern«, äußerte Martina mitfüh­lend.

»Jetzt nicht mehr«, erwiderte die Gutsbesitzerin. »Sie haben ihre schrecklichen Erlebnisse vergessen. Das heißt, in ihrem Unterbewußtsein sind noch vage Erinnerungen vorhanden, die sie davor warnen, in einer unbekannten Familie wieder neuen Gefahren ausgesetzt zu werden. Deshalb wollen sie hierbleiben.«

»Das kann ich verstehen«, sagte Martina. »Wollen Sie damit sagen, Frau von Schoenecker, daß das auch auf die Zwillinge meiner Schwester zutrifft? Sie sind doch noch zu klein, um allein über ihre Bleibe entscheiden zu können. Mag meine Schwester ihre schlechten Seiten gehabt haben, aber ich glaube nicht, daß sie schlecht zu ihren Kindern gewesen war. Das hätte mir sonst ihre Nachbarin geschrieben. Ihren Mann habe ich allerdings nie kennengelernt.«

»Ich vermute«, erwiderte Denise, »daß die Eltern zu ichbezogene Menschen waren, die nur an ihr Vergnügen gedacht haben.«

»Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Zwillinge trotz allem sehr an ihrer Mutter hängen. Sie glauben nämlich, daß sie wieder zurückkehrt. Ich verstehe das nicht, wenn sie doch immer anderen Leuten überlassen wurden.«

»Die Eltern waren die Bezugspersonen, zu denen sie immer wieder zurückkamen«, erklärte Denise. »Daher können sie nicht verstehen, daß ihre Eltern diesmal nicht mehr zurückkehren werden, und sie auf einmal einer fremden Umwelt ausgeliefert sein sollen. Durch ihre ständige Abwesenheit vom Elternhaus sehen sie auch ihr Hiersein nur als vorübergehend an und werden immer ungeduldiger, weil es diesmal so lange dauert. Ich kann mir gut vorstellen, daß die Kinder nach Rückkehr der Eltern von ihnen immer wieder maßlos verwöhnt wurden, weil sie dadurch ihr schlechtes Gewissen ihnen gegenüber beruhigen wollten. Darauf weisen die vielen Spielsachen hin, die ich in ihrem Zimmer vorfand.«

»Warum haben sich die beiden dann so über die Teddys gefreut?« fragte Martina verwundert.

»Sicherlich, weil sie bisher keine richtigen Knuddeltiere bekommen haben«, erwiderte Denise. »Ihre Spielsachen waren hauptsächlich solche, mit denen kleine Kinder noch nichts anfangen können.«

»Typisch meine Schwester«, meinte Martina bitter. »Sie mußte immer angeben, und wenn es nur mit dem Spielzeug ihrer Kinder war. Sie hat sich demnach bis zuletzt nicht geändert. Wissen Sie Näheres über ihren Tod, Frau von Schoenecker?«

»Mein Mann hat sich erkundigt. Frau Sannwalds Wagen ist in der Nähe von Portmadoc eine Steilküste hinuntergestürzt. Allem Anschein nach sind die Insassen gleich beim Aufprall getötet worden. Sie wurden auf einem Dorffriedhof beerdigt.«

»Also in England? Sie sind nicht nach Heilbronn überführt worden?«

»Herr Sannwald hatte keine Verwandten, die das hätten veranlassen können«, sagte Denise.

»Aber ich hätte es können«, erwiderte Martina bekümmert, »wenn ich davon gewußt hätte. Ich mache mir jetzt die heftigsten Vorwürfe, daß ich ihr nicht verziehen habe.« Sie wollte nicht, daß Denise schlecht von ihr dachte, und so erzählte sie, warum sie sich mit ihrer Schwester so schwer zerstritten hatte.

Die Verwalterin hörte ihr aufmerksam zu. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, Frau Reichel«, sagte sie dann herzlich, »schließlich hat Ihre Schwester den Streit selbst hervorgerufen. Allerdings sollte man auch vergessen können.«

»Ich hätte das auch getan«, gestand Martina, »aber ich erwartete, daß Ingrid den ersten Schritt tun würde.«

»Und sie hat vielleicht dasselbe von Ihnen erwartet«, meinte Denise, »denn…

Sie wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Noch ehe sie antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen. Heidi stürmte herein und rief vorwurfsvoll: »Tante Isi, das Essen wird kalt, sagt Tante Ma. Wir dürfen erst essen, wenn ihr kommt. Wir fallen bald um vor Hunger.«

»Oh, Heidi, das darf natürlich nicht geschehen.« Die Gutsbesitzerin stand lachend auf und nahm die Kleine hoch. »Dann kommen Sie, Frau Reichel, ehe die Kinder alle umkippen.«

»Einen Augenblick bitte noch, Frau von Schoenecker.« Martina zwang sich zu einem Lächeln und fahr fort: »Ich will zwar auch nicht, daß die Kinder verhungern, aber wir sind nicht auf den Kern der Sache zu sprechen kommen. Warum wollen Sie nicht, daß wir die Kinder aufnehmen?«

»Davon habe ich nichts gesagt«, erwiderte Denise, »aber wir wollen na­türlich sichergehen, daß es für die Kinder eine bleibende Heimat wird, und sie nicht gleich wieder abgeschoben werden. Gerade bei den Zwillingen Ihrer Schwester ist das so überaus wichtig. Die Kinder scheinen schon Vertrauen zu Ihnen gefaßt zu haben, weiten Sie es aus, indem Sie sie oft besuchen, am besten mit Ihrem Mann. Danach werden wir weitersehen.«

Martina atmete tief ein, dann erwiderte sie: »Ich sehe ein, daß es wenig sinnvoll wäre, die Kinder gleich mitzunehmen.«

»Das dürfen Sie auch nicht«, mischte sich Heidi ein. »Sie sollen hierbleiben.«

»Vorläufig müssen sie es wohl.« Bei diesen Worten dachte Martina an ihren Mann. Wenn sie ihn mitbrachte, würde er der Verwalterin bestimmt sagen, daß er nicht damit einverstanden war, daß die Zwillinge zu ihnen kamen. Traurig folgte sie der Gutsbesitzerin, die Heidi noch immer auf dem Arm trug, zum Speisesaal.

*

Als Martina nach Hause kam, war es schon nach zehn Uhr. Ihr Mann saß vor dem Fernseher. Er wandte sich ihr kurz zu, dann sah er wieder auf das Fernsehbild und brummte auf ihren Gruß etwas Unverständliches vor sich hin.

»Du siehst dir doch sonst diese Sendung nicht an«, meinte die Frau. Sie tat, als bemerke sie seine Verärgerung nicht und wollte ihm einen Kuß geben.

Aber Günther entzog sich ihrer Umarmung. »Vielleicht verrätst du mir einmal, was ich sonst tun soll, wenn sich meine Frau nachts herumtreibt und mich allein hier sitzen läßt«, sagte er aggressiv.

»Ich habe mich doch nicht herumgetrieben«, erwiderte Martina. »Ich bin erst nach dem Mittagessen aus Sophienlust weggekommen.«

»Du hattest mir versprochen, am Vormittag loszufahren«, erwiderte ihr Mann wütend. »Wie kann man von einem Jungen verlangen, daß er seine Versprechungen hält, wenn es seine Mutter nicht tut.«

»Aber Günther«, entgegnete Martina verblüfft, »das ist doch kein Vergleich. Ich war schließlich mit dem Auto unterwegs.«

»Warum bist du nicht früher aufgebrochen?«

»Ich bitte dich! Kaum bin ich einmal für längere Zeit von zu Hause fort, und schon ist der Teufel los«, erwiderte Martina heftig. Sie kramte in ihrer Handtasche herum und zog die farbigen Sofortaufnahmen hervor, die sie von den Zwillingen gemacht hatte. Sie warf die Bilder auf den kleinen Fernsehtisch. »Da, sieh dir die beiden Racker an. Für mich hat sich die Fahrt jedenfalls gelohnt. Schläft Kersten schon?«

»Um diese Zeit sicher. Oder hätte er etwa auf dich warten sollen?« Günther schenkte den Bildern kein Interesse.

»So sicher ist das gar nicht«, sagte Martina, »er kann ebensogut das Schlafen über einem Schmöker wieder vergessen haben. Ich gehe jetzt in die Küche und richte mir was zum Essen.«

»Ein Wunder«, rief ihr Günther nach, »daß du nicht auch noch zum Abendessen in Sophienlust geblieben bist.«

Doch am nächsten Morgen hatte Günther seinen Ärger vergessen. Sein erster Blick galt seiner Frau. Mit ihren verwuschelten blonden Haaren und den vom Schlaf geröteten Wangen, war sie für ihn selbst am Morgen von einem entzückenden Liebreiz. Er liebte sie noch genauso, wie am ersten Tag ihrer Ehe.

Leise, um Martina nicht zu wecken, ging er mit seinen Sachen in das Badezimmer. Eine Viertelstunde später kam er angezogen und frisch rasiert heraus. Da seine Frau noch immer schlief, schlich er sich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer und schloß leise die Tür hinter sich. Er machte sich auf den Weg zum Zimmer seines Sohnes. Kersten war schon wach. »Guten Morgen, mein Junge«, sagte Günther. »Mutti schläft noch, sei also leise.«

»Morgen!« erwiderte Kersten

»Du kannst dir Zeit lassen«, sagte der Vater. »Ich werde dich nachher mit dem Auto zur Schule bringen.«

»Nee, ich radle lieber«, erwiderte der Junge. »Was glaubst du,wie meine Freunde lachen würden, wenn man mich wie ein Baby zur Schule fährt.«

»Mit dem kleinen Unterschied, daß Babys noch nicht zur Schule müssen«, entgegnete der Mann. »Ich gehe jetzt nach unten und mache das Frühstück.«

Er eilte die Treppe hinunter in die Küche, füllte den Kaffee in den Filter und stellte die Kaffeemaschine an. Dann lief er in den Garten hinaus, um ein paar rote Rosen abzuschneiden. Als sein Sohn das Eßzimmer betrat, war der Tisch schon fertig gedeckt.

»Nanu, was ist denn los?« fragte Kersten überrascht, als er die Vase mit den Blumen inmitten des Tisches erblickte. »Mutti hat doch nicht Geburtstag.«

»Wenn man jemandem eine Freude bereiten will, ist jeder Tag recht«, erwiderte der Vater. »Sieh doch bitte mal nach, ob Mutti noch schläft.«

»Nicht nötig«, klang es von der Tür her. Martina kam vollständig angezogen herein. Sie warf einen anerkennenden Blick auf den Tisch. »Ihr verwöhnt mich ja wieder ganz schön.« Gewiß, Günther richtete öfter das Frühstück, aber um frische Blumen auf den Tisch zu stellen, dazu nahm er sich sonst nicht die Zeit. Und auch noch rote Rosen! Sie sah ihn fragend an.

Der Mann ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Ich habe die Rosen mit all der Liebe gepflückt, die ich für dich empfinde«, schmeichelte er. »Ich habe mich gestern nacht einfach scheußlich benommen. Ich kann mich nur entschuldigen und sagen, daß ich Angst hatte, dir könnte etwas passiert sein.« Er küßte sie zärtlich auf den Mund. »Ist wieder alles gut?«

Martina schmiegte sich an ihn. »Ja, mein Schatz«, erwiderte sie. »Wenn du wüßtest, wie glücklich ich darüber bin, daß du mir nicht mehr böse bist. Und vielen Dank für die schönen Rosen.«

Jäh wurden sie aus ihrer innigen Zwiesprache durch den lauten Ausruf ihres Sprößlings gerissen: »Sind diese beiden Affengesichter etwa die Zwillinge?« Kersten war dicht an seine Eltern herangetreten und hielt seiner Mutter die Bilder vor das Gesicht.

Martina hatte sich aus den Armen ihres Mannes befreit, und rief empört: »So spricht man nicht von anderen, noch dazu, wenn es sich um solche netten Kinder handelt.« Sie nahm ihm die Fotos aus der Hand.

»Pah, Kinder! Mit denen kann man nichts anfangen, die plärren nur herum. Die haben bei uns nichts verloren. Wir wollen lieber allein bleiben, nicht wahr, Vati?«

»Für diese Bemerkung würde ich dir gern eine Ohrfeige geben«, erwiderte der Vater, »wenn ich nicht ein Feind von Schlägen wäre. Die Kinder haben dir doch nichts getan.«

»Aber Vati, du hast doch selbst gesagt, daß du sie nicht willst«, maulte Kersten.

»Das ist eine ganz andere Sache«, behauptete Günther.

»Wieso? Du hast gesagt, du willst deine Ruhe haben. Ich doch auch«, widersetzte sich Kersten.

Der Vater hob drohend die Hand. Kersten flüchtete zu seiner Mutter und sah sie um Bestätigung flehend an. »Mutti, das hat er doch gesagt, nicht wahr?«

»Ich habe genug von diesem Thema«, erwiderte Martina ärgerlich. »Dein Vater hat sich solche Mühe gegeben, mir eine Freude zu machen, und du zerstörst durch dein freches Benehmen alles. Ich kann Vati nur darin beipflichten, daß die Kinder dir nichts getan haben.« Sie nahm Platz. »Setzt euch, sonst wird der Kaffee noch kalt.«

Die beiden gehorchten. Neben Günthers Kaffeetasse lagen jetzt die Fotos. Er schaute sie sich an. »Sie sehen wirklich nett und brav aus«, sagte er, um seiner Frau eine Freude zu machen.

»Nicht wahr?« Sie strahlte und bestrich ihm eine Scheibe Toastbrot.

»Als Belohnung?« fragte er scherzend.

»Wenn du es so sehen willst«, erwiderte sie lachend.

Leise, aber doch verständlich, knurrte eine Jungenstimme: »Die Erwachsenen halten doch immer zusammen.«

*

Die nächsten Tage verliefen sehr friedlich, keiner der drei sprach mehr von den verwaisten Kindern, obwohl Martina demonstrativ die Fotos der beiden in einem Sammel-Bildrahmen auf der Anrichte im Wohnzimmer aufgestellt hatte.

Doch der Sonntag rückte näher. Sie hatte den Zwillingen versprochen, sie dann wieder zu besuchen. Die Frage war nur, wie sollte sie es ihrem Mann beibringen, ohne daß er wieder böse wurde. Dazu kam, daß sie Frau von Schoenecker gesagt hatte, beim nächsten Besuch würde ihr Mann mitkommen.

Nun war schon Freitag, und sie hatte es Günther noch immer nicht gesagt. Länger konnte sie es nicht mehr hinausschieben, daher beschloß sie, recht diplomatisch vorzugehen. Mit Agnes Winkler stellte sie für den Abend ein Festtagsmenü zusammen.

Agnes bereitete gewöhnlich das Abendessen zu, wusch nachher noch das Geschirr ab und räumte die Küche auf, ehe sie nach Hause ging. Sie war sofort mit der Mehrarbeit einverstanden, als Martina ihr den Grund dafür erzählte.

Martinas Faktotum, eine verwitwete Frau von dreiundvierzig Jahren, war mit einem Mann verheiratet gewesen, der gleich nach der Ehe krank geworden und bald darauf an einem Herzleiden gestorben war. Obwohl Agnes Kinder liebte, war die Ehe durch die Krankheit des Mannes kinderlos geblieben. Nun arbeitete sie schon seit über zehn Jahren bei den Reichels als Haushaltshilfe.

Agnes hatte nichts gegen die Zwillinge einzuwenden. »Da kommt wenigstens wieder Leben ins Haus«, sagte sie. »Und ich habe wieder jemanden zum Knuddeln«, setzte sie ehrlich hinzu. »Ich habe kleine Kinder nun einmal sehr gern, und mir sind sie ja leider versagt geblieben.« Sie sah bei diesen Worten unsagbar traurig aus. Dann faßte sie sich wieder und fuhr fort: »Was für ein schmusiges Kind war Kersten, aber jetzt geniert er sich.«

»Uns gegenüber verhält er sich genauso«, erwiderte Martina. »Jungens sind wohl so, wenn sie erst mal aus den Kleinkinderschuhen heraus sind. Mädchen sind da viel anschmiegsamer.« Dabei dachte sie an die kleine Cora, die sich schon am ersten Abend an sie gedrückt hatte, ein Zeichen dafür, daß sich auch die Kleine noch nach Zärtlichkeiten sehnte.

»Liebe geht bei den meisten Männern durch den Magen«, behauptete Agnes. »Zumindest werden sie friedlich, wenn sie so satt sind, daß sie sich fast nicht mehr rühren können.« Die beiden Frauen lächelten sich wie alte Verschwörer zu.

Nachdem Günther nach Hause gekommen war und sich oben im Badezimmer frisch gemacht hatte, kam er gutgelaunt nach unten. Er war etwas verwundert gewesen, weil ihn seine Frau nicht wie gewöhnlich schon am Eingang mit einem Kuß begrüßt hatte. Noch mehr erstaunte ihn der im Eßzimmer festlich gedeckte Tisch.

Von oben kamen polternd Schritte herunter: Bald darauf tauchte Kersten auf.

»Was ist denn hier los?« fragte der Vater.

»Hab’ ich Mutti auch schon gefragt, aber sie sagte nur, man müsse die Feste feiern, wie sie fallen«, erwiderte Kersten. »Ich versteh das nicht.«

»Ich auch nicht. Hoffentlich habe ich nicht den Hochzeitstag vergessen. Wo ist die Mutti?«

»Hinten im Garten, sie plündert die Blumen. Aber wenn ich’s tue…«

»Da kann ich Mutti verstehen. Schließlich bist du noch viel zu jung, um damit schon bei einer Freundin Eindruck schinden zu wollen.«

»Das war doch nur einmal. Eva brauchte Blumen für ihre Mutter zum Geburtstag. Ihr Taschengeld war nämlich alle. Sie wollte mich dafür zum Fußballplatz begleiten. Aber diese blöde Pute hat die Blumen genommen und ist mit einem anderen losgeradelt. Na ja, Weiber halt.« Kersten schnaubte verächtlich.

Günther schmunzelte. »Siehst du, mein Sohn, so sammelt man die ersten Erfahrungen«, sagte er.

Er schaute zur Tür, denn seine Frau kam gerade mit einem kleinen Blumenstrauß herein. Er bemerkte, daß sie das blaue Plisseekleid trug, das er am liebsten an ihr sah, weil die Farbe des Kleides dem Blau ihrer Augen entsprach.

»Verzeih«, sagte Martina, während sie die Blumen in die Vasen verteilte, »daß du mit dem Abendessen noch etwas warten mußt, aber wir hatten soviel zu tun.« Sie ging zu ihrem Mann und begrüßte ihn mit einem herzlichen Kuß.

»Sag mal erst, was hier los ist. Der Hochzeitstag kann es doch nicht sein?«

»Den behältst du wohl nie, sonst hättest du nicht gleich deswegen ein schlechtes Gewissen«, erwiderte Martina lachend. »Nein, mir war eben mal nach Feiern zumute.«

»Vielleicht kannst du hellsehen«, scherzte Günther. »Ich habe nämlich heute einen größeren Auftrag erhalten. Das wollte ich sowieso mit euch feiern. Ich habe eine Flasche Sekt mitgebracht. Sie steht noch draußen im Flur.«

Martina band sich die Schürze ab und wandte sich nach Kersten um. Ihr Sohn schaute gelangweilt aus dem Fenster. Ihm pressierte es, er hatte oben in seinem Zimmer ein neues Karl-May-Buch angefangen, das er baldmöglichst weiterlesen wollte. Jetzt mußte er sich erst auf ein langweiliges, feierliches Essen einlassen. Seiner Meinung nach hätte man ebensogut in der Küche essen können, da bräuchte man keine Angst zu haben, in das teure Tischtuch einen Fleck zu machen.

»Kersten, bring doch mal meine Schürze in die Küche und sage Frau Winkler Bescheid, daß sie servieren kann«, bat Martina. »Wird auch Zeit«, meinte Kersten mißmutig, nahm die Schürze in Empfang und ging zur Küche.

»Daß Kinder so ungeduldig sind«, sagte Martina. »Sie müßten sich doch auch freuen, wenn es mal etwas Außergewöhnliches gibt.«

»Gibt es das denn?« fragte Günther, fuhr dann aber fort, ohne ihre Antwort abzuwarten: »Ich habe zur Feier meines großen Auftrages noch etwas Schönes für dich.« Er zog aus seiner Jackettasche ein Schmuckkästchen. »Augen zu«, kommandierte er.

Martina gehorchte erwartungsvoll. Sie fühlte, wie sich ihr Mann an ihrem rechten Arm zu schaffen machte. Als sie die Augen wieder aufschlug und ihr Blick auf das goldene, mit Saphiren besetzte Armband fiel, stieß sie einen Schrei des Entzückens aus. »Oh, ist das schön«, schwärmte sie. »Bestimmt war es aber auch sehr teuer.«

»Mutti, warum hast du geschrien?« fragte Kersten aufgeregt von der Tür.

»Schau mal, was Vati mir geschenkt hat«, sagte Martina und zeigte auf ihr neues Schmuckstück.

Perplex starrte Kersten darauf. »Und deshalb schreist du so?« fragte er verwundert. »Na ja, vielleicht würde ich auch schreien, wenn ich so was bekäme. Die Betty aus meiner Klasse hat auch so geschrien, aber das war, als sie ihre Kette vermißte. Sie behauptete, man hätte sie ihr gestohlen. Na, von uns Jungens war’s bestimmt keiner. Was sollten wir mit so nem Plunder. Hast du mir auch was mitgebracht, Vati?«

»So eine lange Rede hast du ja noch nie gehalten«, bemerkte der Vater lachend. »Natürlich habe ich dir auch was mitgebracht und zwar ein Fußballspiel. Es ist noch draußen im Flur. Bring es zusammen mit der Sektflasche herein.«

Während der Junge nach draußen lief, ruhten Günthers graue Augen liebevoll auf seiner Frau. »Für dich ist mir nichts zu teuer, Liebling«, sagte er. »Und auch nichts für unseren Kersten, wenn er auch den Wert von Schmucksachen nicht zu schätzen weiß. Doch nun wollen wir uns endlich an den Tisch setzen, mein Magen knurrt schon.«

Und dann begann das Festessen, das Martina nur veranlaßt hatte, um Günther in eine so gute Laune zu versetzen, daß er ihren Wunsch akzeptierte, sie am Sonntag nach Sophienlust zu begleiten.

Sie hatte ja nicht ahnen können, daß ihr Mann durch den erfolgreichen Geschäftsabschluß schon mit einer guten Laune nach Hause kommen würde. Macht nichts, dachte sie, um so besser läßt sich nachher mit ihm reden. Sie kannte ihren Mann, er schätzte gutes Essen sehr, und man sah ihm an, wie sehr er es genoß.

Agnes, eine hervorragende Köchin, hatte wieder einmal ihr ganzes Können bewiesen. Zuerst gab es einen Spargelcocktail mit Mandarinen, dann folgte eine Tomatencremesuppe, danach Seezungenröllchen »Nizza«, ­Toast, Butter, Kopfsalat auf Feinschmeckerart, zuletzt ein Zimtparfait. Dazu tranken sie Chateau Malartic Bordeaux, den Martina besorgt hatte.

»Das war mehr als köstlich«, sagte Günther und wischte sich mit einer bestickten Serviette den Mund ab. »Aber bitte, Liebes, mach nicht aus jedem Tag einen Festtag, sonst muß ich in ein Sanatorium zur Entfettung.«

»Vielleicht muß ich dann auch gleich mit dir mit«, meinte Martina, obwohl sie von jedem Gericht nur ein bißchen genommen hatte.

»Vati, kann ich jetzt endlich aufstehen?« fragte Kersten ungeduldig.

»Kannst du, mein Sohn. Oder gibt es noch einen Gang?« fragte er seine Frau neckend.

»Höchstens einen Kaffee ohne Zubrot.«

»Ein Glück, ich bringe nämlich nichts mehr unter.«

»Wollen wir nicht gleich mein neues Spiel ausprobieren?« fragte Kersten.

»Heute nicht, mein Junge«, erwiderte der Vater, »ich bin zu müde dazu.«

»Das sagst du immer«, erwiderte Kersten enttäuscht. »Ich kann schließlich nicht mit mir allein spielen.«

»Du hast doch genug Freunde«, meinte die Mutter.

»Aber jetzt nicht. Ihr habt nie Zeit für mich, ihr wollt nur allein sein und Sekt trinken. Warum krieg ich keinen ab?«

»Weil Alkohol nichts für Kinder ist«, erwiderte Günther.

»Bei der Geburtstagsparty beim Jürgen gab’s ’ne Bowle, da war auch Sekt drin, und wir durften alle davon trinken.«

»Günther, mach bitte schon die Flasche auf und gib ihm ein halbes Glas«, meinte Martina nachgiebig.

»Er weiß genau, daß wir immer nachgeben, das ist nicht gut«, erwiderte der Mann. Mit geschickten Händen entfernte er den Sektkorken.

Kersten trank ein halbes Glas voll, dann aber schüttelte er sich. »Brrrr«, machte er. »Was soll daran so gut sein? ’ne Cola ist mir lieber.«

»Du hast uns doch erzählt, du hättest schon Sekt getrunken«, sagte der Vater lachend.

»Da waren aber noch Früchte drin«, erwiderte Kersten. Dann geh ich halt nach oben. Gute Nacht!«

Damit marschierte er aus dem Zimmer.

Er fand, daß die Eltern ihn wieder mal im Stich gelassen hatten. Da schenkt mir Vati ein Spiel, dachte er, das ich mir schon lange gewünscht habe, und dann spielen sie es nicht mit mir. Na, ich werd’s ihnen schon zeigen! Er beschloß, den neuen Band von Karl May bis zum Ende zu lesen, und wenn es die ganze Nacht dauern sollte und er am nächsten Tag vor Müdigkeit in der Schule einschlafen würde und dann eine schlechte Note bekam. Da werden sie schöne Augen machen, malte er sich in Gedanken seine Rache aus.

»Trotz seiner Widerborstigkeit ist er ein lieber Bengel«, stellte Günther nach Kerstens Abgang fest.

»Ich wüßte gar nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte, obwohl er oft sehr anstrengend ist«, sagte Martina. »Ich liebe ihn genauso wie dich.«

Günther nahm die Sektflasche in eine Hand, mit der anderen hakte er seine Frau unter. »Komm, wir gehen ins Wohnzimmer.«

Eng aneinander geschmiegt saßen sie auf der Couch, nippten ab und zu an ihren Sektgläsern und wurden beide immer beschwingter. Sei es, daß es der gewinnbringende Auftrag war, oder das reichhaltige Abendessen, oder einfach nur die Tatsache, daß Günthers Magen so voll war, daß er sich lähmend auf jeden Widerstand auswirkte. Jedenfalls erreichte Martina ihr Ziel, Günther versprach ihr, am Sonntag mitzukommen, um nun endlich seinen Neffen und seine Nichte kennenzulernen.

*

Der Sonntag wurde zu einem regelrechten Familienausflug. Zwar hätte sich Kersten am liebsten wieder gedrückt, aber bei seinem Vater traute er sich das nicht. Selbst das Wetter spielte mit. Hatte es noch am frühen Morgen nach Regen ausgesehen, so waren die grauen Wolken doch weitergewandert und ließen einen strahlendblauen Himmel zurück.

Da die Reichels sehr früh aufgebrochen waren, kamen sie schon vor elf in Sophienlust an. Günther Reichel war von dem alten Herrenhaus genauso beeindruckt, wie es eine Woche vorher seine Frau gewesen war. Besonders imponierte ihm die große Halle.

Sie wurden sehr herzlich von der Heimleiterin Frau Rennert begrüßt. »Ich freue mich, daß Sie mitgekommen sind, Herr Reichel«, sagte sie zu Martinas Mann. »Frau von Schoenecker möchte Sie auch gern kennenlernen und bittet Sie daher, ihr die Freude zu machen, mittags ihre Gäste zu sein.«

Dann sah sie den Jungen an. »Du bist also Kersten.« Sie reichte ihm die Hand. »Ich glaube, dir wird es hier nicht langweilig werden, bei uns ist immer etwas los.«

Wo sind denn die Kinder?« fragte der Elfjährige. Nicht etwa wegen seiner kleinen Verwandten, sondern weil er wissen wollte, ob Heimkinder irgendwie anders waren.

»Die größeren Kinder wollten zu den Pferdekoppeln«, erwiderte Frau Rennert. »Die kleineren sind zu ›Waldi & Co.‹ gegangen.«

»Waldi & Co.?« fragte Kersten erstaunt.

»Ja, das ist unser Tierheim«, erklärte Else Rennert. »Dort werden herrenlose, kranke und vernachlässigte Tiere aufgenommen, aber auch Tiere, die unsere Zöglinge mitbringen.«

»Au, das ist ja Klasse«, sagte Kersten. »Können wir da nicht hingehen?«

»Da sich dort Cora und Corwin befinden, werden wir es ebenfalls aufsuchen«, sagte die Mutter. »Aber wie kommen wir dahin?«

»Ich begleite Sie«, sagte die Heimleiterin. »Von dort aus können Sie dann gleich mit den Zwillingen nach Schoeneich gehen.«

»Wo kann ich einstweilen unseren Wagen unterstellen?« fragte Günther.

»Fahren Sie ihn ein bißchen zur Seite, falls noch andere Gäste kommen. Der Vorplatz ist ja groß genug«, erwiderte die Heimleiterin.

»Ich habe eigentlich meiner Frau nicht so recht geglaubt, was sie mir von Ihrem Heim erzählt hat«, gestand Günther, als sie auf dem Weg zum Tierheim waren. »Aber jetzt sehe ich selbst, daß sie nicht übertrieben hat.«

»Unsere Schützlinge fühlen sich hier auch sehr wohl«, erwiderte Frau Rennert, »aber für manche Kinder ist es doch keine Dauerlösung.«

»Das mag schon sein«, sagte der Spielzeugfabrikant, »aber wenn sie noch so klein sind, wie…«

»Da kommen Pünktchen und Nick«, wurde er von seiner Frau hastig unterbrochen. Sie war bei Günthers Rede immer unruhiger geworden, schien es ihr doch so, als ob er Frau Rennert sagen wollte, daß die Zwillinge hier besser aufgehoben seien. Sie wollte aber nicht, daß Frau Rennert oder Frau von Schoenecker erfahren, daß ihr Mann ihren Plan nicht billigte, weil sie immer noch hoffte, ihn umstimmen zu können.

Pünktchen und Nick waren inzwischen herangekommen. Martina wußte schon von ihrem ersten Besuch her, daß die beiden unzertrennlich waren und meist ihre Freizeit zusammen verbrachten.

»Gut, daß ich euch treffe«, sagte die Heimleiterin. »Könnt ihr unsere Gäste zu Waldi & Co. bringen?«

»Gern«, erwiderte Nick. »Ich habe sowieso von Mutti den Auftrag bekommen, Frau und Herrn Reichel abzuholen. Wir essen um eins.«

Frau Rennert wandte sich an Günther. »Die angehende junge Dame ist Pünktchen, Angelina Dommin, und der junge Mann Dominik von Wellentin-Schoenecker, der Besitzer Sophienlusts.«

Während sich Else Rennert auf den Rückweg machte, sagte der Mann zu Nick: »Sie können stolz auf diesen Besitz sein, junger Mann. Aber könnte man nicht mehr daraus machen? Zum Beispiel ein Sanatorium? Die Umgebung ist wie geschaffen dafür.«

Martina war empört über die Äußerung ihres Mannes. Bisher hatte sie nicht bemerkt, daß er so geschäftstüchtig dachte. Sie wollte schon eine heftige Antwort geben, doch Nick kam ihr zuvor.

»Herr Reichel, Sie können ruhig du zu mir sagen, ich bin erst sechzehn. Im übrigen finde ich, daß es genug Sanatorien gibt, aber nicht viele Kinderheime, die wirklich gut sind. Außerdem liebe ich Kinder und Tiere über alles. Ich kann mir nichts Schöneres denken, als für sie zu sorgen. Sie können das wahrscheinlich nicht verstehen, Sie sind ja ein Geschäftsmann.«

Martina biß sich vor Vergnügen auf die Lippen, sonst hätte sie laut auflachen müssen. So eine Zurechtweisung aus dem Mund eines Teenagers hatte ihr Mann wohl noch nie erhalten. Sie warf ihm einen Blick zu. Eine Zornesfalte hatte sich auf seiner Stirn gebildet.

»Dort ist schon das Tierheim«, rief Pünktchen ablenkend. Das sensible Mädchen fühlte, daß sich Herr Reichel über Nicks Antwort geärgert hatte. Ihrer Meinung nach war sie etwas zu scharf ausgefallen. Wenn Nick auch im Recht war, so waren sie doch noch Kinder, und der Fabrikant war immerhin ein Gast. »Sehen Sie das Schild, Herr Reichel«, fuhr sie fort, »das haben wir gemalt.« Sie deutete auf ein großes Tor, über dem ein rotes Schild prangte, auf dem mit grünen Buchstaben geschrieben war: »WALDI & CO. – DAS HEIM DER GLÜCKLICHEN TIERE«.

Günther zwang sich zu einem Lächeln. »Ganz nett«, sagte er vage.

Sie betraten einen großen Hof. Kläffend kam ihnen ein brauner Kurzhaardackel entgegengeschossen, dem etwas gemächlicher eine große Dogge folgte.

»Das hier ist Waldi, nach dem das Tierheim benannt worden ist«, erklärte Nick und streichelte zärtlich den Dackel, der an ihm hochgesprungen war. »Er fühlt sich auch als Chef des Tierheims. Und das ist Severin.« Er tätschelte den Kopf der Dogge, als sich das Tier an ihn schmiegte. »Severin gehört eigentlich zum Haushalt meiner Stiefschwester Andrea. Sie wohnt dort drüben.« Nick deutete auf das gegenüberliegende einstöckige Landhaus. »Mein Schwager ist Tierarzt, er hat seine Praxis gleich dabei und betreut auch die Tiere hier im Heim.« Nick grinste und sagte stolz: »Ich bin sogar schon Onkel. Sie haben einen kleinen Jungen. Er heißt Peter-Alexander, aber wir alle nennen ihn nur Peterle.«

»Erst sechzehn, und schon so vielseitig«, sagte Günther etwas ironisch.

Kersten hatte sich zu Waldi niedergebeugt und ihn gestreichelt. Jetzt richtete er sich auf und fragte: »Wo sind denn die Kinder?«

»Sicherlich im Bau«, antwortete Pünktchen. »Kommt!« Durch die zweiflüglige Tür kamen sie in einen breiten Mittelgang, der auf beiden Seiten Boxen aufwies. Schon beim Eintritt konnte man Kinderstimmen hören: »Ach wie süß, so etwas Niedliches. Kann ich eins davon haben?«

Die Tür zu einer der Boxen stand offen. Als die Besucher näher kamen, erhob sich dahinter eine abenteuerliche Gestalt. Es war ein Mann in den Siebzigern mit einem wettergegerbten Gesicht, dunklen Augen, weißem Haar, buschigen Augenbrauen, Koteletten und einem hängenden Lippenbart. Seine Kleidung war noch auffallender, als er ganz hervorkam. Er trug die Tracht eines ungarischen Pferdehirten.

Erst später erfuhren die Reichels von Alexander von Schoenecker, daß der alte Janosch ein ehemaliger Pferdehirt aus der Pußta war, der sich von seiner alten Tracht nicht trennen konnte, obwohl er schon lange in Deutschland lebte.

»Was gibt es denn hier so Niedliches zu sehen?« fragte Kersten.

»Böser Mensch wollte ersaufen Katze mit Jungen«, sagte Janosch in nicht ganz einwandfreiem Deutsch. »Doch guter Mann hat Sack gezogen aus Wasser und gebracht. Ihr haben Besuch mitgebracht?«

»Ja«, erwiderte Nick, »es sind die Tante und der Onkel von Corwin und Cora.«

»Tante Marty, Tante Marty«, erklang ein jubelndes Stimmchen und aus der offenen Box kam Cora hervor, hinter ihr etwas reservierter Corwin. Die Jeans der beiden Kinder waren alles andere als sauber, obwohl Schwester Regine sie ihnen am Morgen frisch angezogen hatte.

Trotz der vielen Strohhalme und den frischen Schmutzflecken hob Martina die Kleine hoch und küßte sie. Das Mädchen schmiegte sich an sie und schlang die Ärmchen um ihren Hals.

»Das ist also Cora«, sagte Günther. Er fuhr ihr über das Haar, das auch etliche Strohhalme aufwies. Dann sah er auf den Jungen, der ihn mißtrauisch anstarrte. Mißbilligend gab Günther den Blick zurück und meinte: »Na, meine dürften aber nicht so herumlaufen.«

Die junge Frau legte beschützend ihren freien Arm um den Hals des Jungen, bevor sie rebellisch sagte: »Denkst du! Als Kersten so alt war wie die beiden hier, kam er oft in noch schlimmerem Zustand nach Hause. Nicht wahr, Kersten?«

Sie drehte sich nach dem Jungen um, aber er war nicht mehr an ihrer Seite. Kersten hatte voller Eifersucht zugesehen, wie seine Mutter das fremde Kind in ihre Arme genommen hatte.

Einen bösen Blick auf die Zwillinge werfend, war er Janosch und den beiden größeren Kindern zu der Box nachgegangen. Gleich darauf hatte er seine Wut beim Anblick der kleinen Kätzchen vergessen.

»Du übertreibst, Marty«, sagte Günther. »Daran müßte ich mich auch erinnern.«

»Du sitzt doch den ganzen Tag im Büro und siehst deinen Sohn meistens erst am Abend in frischgewaschenem Zustand«, entgegnete Martina.

»Wirfst du mir jetzt auch noch vor, ich sei zu sehr Geschäftsmann?« fragte er wütend.

»Zankt ihr euch?« fragte Corwin. Interessiert sah er zu den Erwachsenen hoch. »Papa und Mama haben sich auch immer gezankt, dann mußten wir aus dem Zimmer.«

»Ich hab’ dann immer geweint«, sagte Cora.

Betroffen sahen sich die Eheleute an. Martina ließ die Kleine auf den Boden herunter. Sie schämte sich vor den Kindern. Sie sah ihren Mann an, auch dieser wirkte betreten. »Es tut mir leid«, sagte er.

Ungeduldig zupfte Cora am Kleid ihrer Tante. »Willst du nicht die Kätzchen sehen, Tante Marty?« fragte sie. »Die sind ja so süß.«

»Sie können auch mitkommen«, erlaubte Corwin, obwohl er noch immer mißtrauisch gegen den fremden Mann war. Die Tante mochte er inzwischen, aber den Mann? Er schien genauso gern zu schimpfen wie sein Papa. Er kehrte den beiden Erwachsenen den Rücken zu und verschwand wieder mit Cora in der Box.

»Mitkommen ist leicht gesagt«, meinte Günther. In der Box befanden sich noch zwei Kinder, die auf dem Boden in der Ecke knieten, daneben die Zwillinge, dahinter Kersten, Pünktchen, Nick und Janosch, der über dieses Gedrängel schmunzelnd hinwegblickte.

Als er die Gesichter der Reichels entdeckte, wandte er sich an die Kinder: »Tante und Onkel auch sehen wollen die Kätzchen, nix aber sehen.«

»Verzeihung, Frau Reichel«, sagte Pünktchen und stellte sich wieder aufrecht, »wir machen Ihnen gleich Platz.«

Janosch kam zuerst heraus, dann folgten Pünktchen und Nick. Die anderen Kinder rückten beiseite, als die Besucher nähertraten.

In der Ecke lag eine schwarze Katze, die den Neuankömmlingen ängstliche Blicke zuwarf, aber sich nicht von ihrem Fleck rührte, sondern leise miauend versuchte, ihre Jungen in der Nähe zu behalten. Es waren vier, eins weiß, eins schwarz, und zwei schwarz-weiß.

»Sind sie nicht süß, Tante Marty?« fragte Cora. »Ich möchte lieb zu ihnen sein. Janosch sagt aber, sie sind noch zu klein, ich tu ihnen weh, das will ich nicht.«

»Wir kriegen eins geschenkt, wenn sie größer sind«, sagte Corwin. »Ich möchte das schwarze.«

»Nein, das ist viel lieber«, widersprach Cora und deutete auf ein schwarz-weißes.

»Dann nehm ich das andere«, mischte sich Kersten energisch ein.

»Aber Kersten, du weißt doch gar nicht, ob die Katzen verschenkt werden«, wandte seine Mutter ein.

»Janosch hat gesagt, daß er sich freut, wenn die Tiere in gute Hände kommen. Und bei uns wäre das doch der Fall, oder?«

»Schon, aber du mußt zumindest Vati fragen.«

»Och, red du doch mit ihm. Vati wollte auch erst das Fahrrad nicht.«

»Na, schließlich ist ein großer Unterschied zwischen einer Katze und einem Fahrrad«, sagte Günther lachend. Er hatte seine gute Laune wiedergefunden. »Mit einem Fahrrad kann man verunglücken, eine Katze dagegen…« Er lachte wieder und setzte hinzu: »Sie macht bestimmt keinen Lärm, so wie…«

»Bestimmt nicht«, unterbrach ihn Martina schnell, »ich weiß, ich weiß.«

Günther schmunzelte. »Ja also, liebe Frau Allwissend, dann sind wir uns einig. Kersten kann das Kätzchen bekommen, wenn es von der Mutter entwöhnt ist, das macht dir weniger Mühe, als…«

»So einig sind wir uns nicht«, unterbrach ihn Martina. »Es kann leicht sein, daß sich zu der einen noch eine zweite Katze gesellt.«

»Wie meinst du das?« fragte Günther verblüfft. »Ach so, du meinst… Wir können ja einen Kater nehmen, unter den vieren wird bestimmt einer sein.«

Das wollte ich damit nicht sagen«, erwiderte Martina, und ihre Stimme klang überaus sanft. »Aber Cora möchte doch auch ein Kätzchen haben.«

»Du gibst wohl nie auf?« fragte er.

»Warum sollte ich auch«, konterte seine Frau.

Pünktchen schaute auf ihre Armbanduhr und sagte: »Es wird Zeit, daß wir nach Schoeneich kommen.«

»Oh, das hatte ich schon ganz vergessen«, rief Martina erschrocken. »Kommt Kinder!« Sie zog die Zwillinge hoch und ging mit ihnen aus der Box.

Günther kam hinterher und fragte: »Willst du die Kinder etwa in dem Zustand mitnehmen?« Entsetzt zeigte er auf deren beschmutzte Kleidung.

»Leider ist meine Schwester mit ihrer Familie weggefahren, sonst hätten wir zu ihr gehen können«, meinte Nick.

»Nicht schlimm, Kinder bei mir saubermachen«, sagte Janosch. »Bitte kommen.« Er führte sie zum Ende des Mittelganges, dann durch eine Tür in einen Flur, von dem man in die kleine Zweizimmerwohnung des Tierpflegers kam.

Einige Minuten später befanden sie sich bereits auf dem Weg nach Schoeneich. Voraus gingen Pünktchen und Nick als Führer, dann folgte das Zwillingspärchen in notdürftig gereinigten Jeans Hand in Hand, zuletzt Martina und Günther Arm in Arm. Kersten trottete gelangweilt hinterher.

»Ich komme mir vor, wie ein gesetzter Familienvater mit fünf Kindern«, scherzte Günther.

»Ich finde, das steht dir«, meinte Martina.

»Nur an Feiertagen mit schönem Wetter, wenn die Kinder draußen sein können, und nicht im Hause auf den geplagten Nerven der Eltern herumtrampeln«, meinte Günther lächelnd.

»Na, unser Einzelkind hat deine Nerven wohl kaum strapaziert«, spottete Martina.

»Eben, und ich möchte, daß es so bleibt«, sagte Günther energisch. »Obwohl ich zugeben muß, daß die Zwillinge mir gefallen.«

»Wenigstens ein Fortschritt«, erwiderte Martina hoffnungsvoll.

Sie kamen zu einer Lichtung des großen Parkes. Vor ihnen erhob sich ein schloßähnlicher Bau mit einem Turm. An den dunklen Mauern rankte sich wilder Wein hinauf.

»Ist das ein Schloß?« fragte Cora erstaunt. »Wohnt da Dornröschen?«

»Es sind doch keine Rosen davor«, erwiderte ihr Bruder.

»Mensch, seid ihr beide noch dumm«, meinte Kersten abfällig, »Dorn­röschen gibt’s doch nur im Märchen.«

»Kersten!« mahnte die Mutter. »Als du so klein warst, hast du auch noch an Märchen geglaubt.«

*

Nach dem guten und reichhaltigen Mittagessen verließ Alexander von Schoenecker mit Günther das Haus, um ihm einen Teil seines Gutes zu zeigen. Alexander war ein gutaussehender Mann mittleren Alters mit einem sonnengebräunten Gesicht, dunklen Augen und braunem Haar. Er war Gutsbesitzer aus Passion und stolz auf seinen Besitz.

Er hätte gern mit seinem Gast zu Pferd die Besichtigung vorgenommen, aber Günther hatte noch nie auf einem Pferd gesessen.

Denise saß mit Martina auf der Terrasse, während die Zwillinge auf der Wiese spielten. Henrik hatte ihnen einen Teil seiner Spielsachen gebracht. Bald darauf war er mit Kersten verschwunden.

Auch Pünktchen, die oft bei den von Schoeneckers war, hatte sich mit Nick selbständig gemacht. Sie wollten zur Pferdekoppel, um auszureiten.

»Ist es nicht schön, mal so richtig auszuspannen?« fragte Denise ihren Gast. »Ich habe selbst sonntags nur selten Muße dazu.«

»Ja, es ist wunderschön«, erwiderte Martina. »Wenn ich auch nicht soviel wie Sie in Anspruch genommen werde, so ist es doch ein herrliches Gefühl, mal so nach Herzenslust faulenzen zu können.«

»Ihr Mann ist mir sympathisch«, sagte Denise. »Als ich Sie vom Fenster aus unter den Bäumen auftauchen sah, wirkte es auf mich wie ein richtiges Familienidyll. Voran die Kinder, und die Eltern dahinter.«

»Das fand mein Mann auch. Er meinte, er käme sich wie ein gesetzter Familienvater mit fünf Kindern vor.«

Denise lachte. »So sah es tatsächlich aus«, erwiderte sie. »Demnach scheint er sich nicht unglücklich in dieser Rolle zu fühlen.«

»Vielleicht noch etwas ungewohnt«, meinte Martina vage, denn sie wußte, daß »unbehaglich« die bessere Bezeichnung gewesen wäre. »Wie stehen unsere Chancen, die Kinder zu bekommen?« fragte sie hastig, um von ihrem Mann abzulenken.

»Sehr gut. Nicht nur, weil Sie die einzigen Verwandten sind, sondern weil Ihr und Ihres Mannes Ruf ausgezeichnet ist. Sie verstehen doch, daß wir erst Erkundigungen einziehen mußten. Das Jugendamt hat also nichts dagegen. Trotzdem würde ich nichts überstürzen. Von Ihnen weiß ich, daß Sie eine ideale Mutter abgeben würden, und auch Ihr Mann hat auf uns einen guten Eindruck gemacht. Aber wir kennen ihn erst seit heute. Er muß hundertprozentig für die Aufnahme der Kinder sein, und nicht nur das, er muß sie auch liebhaben können. Besprechen Sie also noch einmal alles in Ruhe mit ihm.«

»Ja, Frau von Schoenecker, das werde ich tun. Übrigens hat er sich schon immer ein Mädchen gewünscht.« Das stimmte sogar, allerdings verschwieg Martina, daß Günther dabei nur an eine eigene Tochter gedacht hatte. Doch sie war überzeugt davon, daß er mit der Zeit nachgeben würde.

Nach circa zwei Stunden kamen die beiden Herren von der Besichtigung zurück. Günther war von dem Gut sehr beeindruckt. »Ich glaube, ich habe den falschen Beruf ergriffen«, sagte er lachend zu den beiden Frauen. »Draußen in der frischen Luft zu arbeiten, ist etwas ganz anderes, als immer in einem muffigen Büro zu sitzen.«

»Auch in meinem Beruf gibt es viel Büroarbeit zu erledigen, aber Sie werden sich höchstwahrscheinlich den ganzen Tag in der Fabrik aufhalten müssen, Herr Reichel«, erwiderte der Gutsbesitzer. »Das wäre nichts für mich.«

»Leider kann man sich den Beruf nicht immer aussuchen«, sagte Martina. »Im Fall meines Mannes ist es so, daß er die Fabrik seines Vaters übernehmen mußte. Natürlich bliebe so viel Zeit, hin und wieder in die grüne Natur hinausfahren zu können. Aber damit hapert es bei meinem Mann. Er glaubt, unser Einfamilienhaus am Rande einer Großstadt ersetzt vollständig Felder, Wälder und Wiesen.«

»Ihre Frau hat recht, Sie müßten sich von Zeit zu Zeit mit Ihrer Familie hinaus aufs Land flüchten«, bestätigte Denise.

»Ich habe mir das heute auch gesagt«, erwiderte Günther. »Wenn ich ehrlich bin, war das für mich ein wundervoller Tag.«

Das Hausmädchen Gusti kam mit einem Tablett voll Kaffeegeschirr auf die Terrasse hinaus und deckte den Tisch. Martina stand auf, um die Zwillinge von der Wiese zu holen. »Wo kann ich mir bei Ihnen die Hände waschen?« fragte sie die Gutsbesitzerin.

»Gusti wird’s Ihnen zeigen«, erwiderte Denise.

Kurz darauf kam Martina mit den Kindern zurück. Sie hatten zwar jetzt saubere Händchen und Gesichter, aber ihre Jeans waren bei ihrem Hin- und Herrutschen auf der Wiese noch schmutziger geworden. Martina Reichel hatte sie nicht besser sauber bekommen. Deshalb warf sie einen ängstlichen Blick auf Günther, doch ihr Mann befand sich in Hochstimmung.

»Ihr braucht anscheinend jeden Tag neue Jeans«, meinte er lachend und strich ihnen über ihre dunkelblonden Haare.

Das schien Corwin Mut zu machen. Er sah zu dem Mann auf und sagte: »Tante Marty sagt, du wärst mein Onkel. Darf ich Onkel sagen?«

»Aber natürlich, ich bin Onkel Günther.«

»Onkels bringen immer was mit. Tante Marty hat uns Teddys geschenkt und du?«

»Was hast du mitgebracht?«

»Aber Kinder, so was fragt man nicht«, sagte Denise, konnte sich aber kaum ein Schmunzeln verkneifen.

Günther dagegen prustete los und schlug sich an die Stirn. »Das habe ich ja völlig vergessen.«

»Wir beide haben es vergessen«, sagte Martina. Sie wandte sich an die Kinder: »Onkel Günther hat nicht nur euch, sondern auch den anderen Kindern etwas mitgebracht. Es liegt nur noch im Kofferraum unseres Wagens.«

»Fein. Dann gehen wir es gleich holen«, erklärte Corwin sachlich.

Cora ergriff die Hand ihres Bruders. »Ich komm mit.«

»Nichts da, erst wird Kaffee getrunken«, bestimmte Denise.

»Wir müssen sowieso nach dem Kaffeetrinken zurückgehen«, sagte Günther. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

»Ja. Wo ist eigentlich Kersten?« fragte Martina. »Die beiden Jungen sind noch nicht da.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, erklärte Alexander. »Unser Jüngster ist nachmittags selten hier.«

»Aber wir müssen doch nachher aufbrechen«, sagte Martina beunruhigt.

»Wir werden die beiden suchen gehen«, erklärte Pünktchen, die gerade mit Nick die Terrasse betrat.

»Dann kommt ihr um euren Kaffee«, meinte Kerstens Mutter bekümmert.

»Der läuft uns nicht weg«, sagte Pünktchen, »und außerdem…«

»… hat Pünktchen Angst, zuzunehmen«, vollendete Nick lachend den begonnenen Satz.

Angelina puffte ihren Freund in die Seite. »Was du schon sagst! Komm, laß uns die beiden Bengels suchen.«

Eine Stunde später wanderten sie alle nach Sophienlust. Henrik und Kersten voran, sie waren Freunde geworden, dann kamen die Zwillinge, danach folgten Alexander mit Martina und Denise mit Günther. Den Nachtrupp bildeten Pünktchen und Nick.

»Jetzt nehmen wir auch noch weiterhin Ihre Zeit in Anspruch«, meinte Martina.

»Weil wir Sie begleiten?« äußerte Alexander lächelnd. »Wir gehen gern spazieren, und besonders abends lieben wir es, durch den Park zu bummeln.«

»Ich wünschte, mein Mann würde auch manchmal mit mir spazierengehen.«

»Vielleicht tue ich das in Zukunft«, rief Günther seiner Frau zu. Er hatte ihre Worte verstanden. »Man müßte sich tatsächlich mehr Ruhe gönnen.«

Vor dem Kinderheim gab es dann noch ein großes Hallo, als Günther den Kofferraum leerte. Er hatte nicht nur Süßigkeiten, sondern auch Spielsachen für alle Kinder mitgebracht.

»Du kannst oft kommen«, sagte Corwin und drückte ein Spielzeugauto an sein Herz, während Cora und Heidi ihre neuen Puppen liebkosten.

Als der Wagen der Reichels außer Sichtweite war, gingen Denise und Alexander Arm in Arm zurück. Nick und Henrik liefen ihren Eltern weit voraus, weil sie wußten, daß sie auch mal gern allein waren.

»Mir gefällt Herr Reichel«, sagte Alexander. »Ich glaube, er würde den Zwillingen ein guter Vater sein.«

»Er hat sich zwar nicht viel um Corwin und Cora gekümmert, aber er wurde ja auch durch soviel abgelenkt«, meinte Denise. »Auf jeden Fall hat er ein Herz für Kinder. Sie waren alle begeistert von ihm.«

»Nun, er hat buchstäblich einen Sack voller Geschenke mitgebracht, das hätte mich in meiner Kindheit auch begeistert.«

Denise lachte. »Kinder lassen sich zwar bestechen, aber nicht auf Dauer. Schließlich kann er ihnen nicht immer soviel mitbringen, das würde mir auch nicht gefallen. Aber die Art, wie er die Sachen verteilt hat, war so herzlich, einfach clever.«

Zur gleichen Zeit erklärte Kersten auf der Nachhausefahrt seinen Eltern: »Mensch, war das ein Tag. Ich komme das nächste Mal gern wieder mit, Henrik ist einfach dufte.«

»Und Corwin und Cora?«

»Die sind noch so klein«, erwiderte der Junge verachtungsvoll. »Was soll ich denn damit? Was anderes wäre es, wenn Henrik zu uns käme. Er ist zwar erst neun, aber ein toller Kumpel. Sein Baumhaus hättet ihr mal sehen müssen.«

Günther riß das Steuer herum, um einem blindwütigen Autofahrer auszuweichen, dann erklärte er lachend: »Kersten hat recht, kleine Kinder sind nichts für uns. Du hast doch selbst erlebt, Marty, wie oft du sie sauber machen mußtest.«

»Na und? Auch dein Sohn kam ziemlich ramponiert mit Henrik zurück. Aber das übersiehst du.«

»Ich hätte mich gut allein säubern können«, behauptete Kersten. »Aber ich mach’s dir ja nie gut genug, Mutti.«

Verbittert schwieg Martina. Früher waren sie und ihr Sohn ein Herz und eine Seele gewesen, aber jetzt stellte er sich immer häufiger gegen sie.

*

Am folgenden Samstag kam Martina allein nach Sophienlust. Kersten wäre gern mitgekommen, aber er mußte zur Schule. Sein Vater hatte ihm nicht erlaubt, freizunehmen. Günther selbst war verhindert, da sich zwei Geschäftsfreunde angesagt hatten, die er vom Flughafen abholen mußte.

Das war auch der Grund, weshalb Martina am Samstag fuhr. Günther hatte nämlich die beiden Herren für den Sonntag zum Mittagessen eingeladen.

Die größeren Kinder waren noch in der Schule, die kleineren im Hause, da es regnete. Sie hielten sich im Aufenthaltsraum auf. Es war ein helles freundliches Zimmer mit bunten Gardinen, kleineren Tischen und vielen Stühlen.

Cora und Corwin saßen an so einem Kindertisch und bauten gemeinsam eine Burg. Heidi und Karl-Heinz standen vor einem kleinen Kaufmannsladen, andere wieder hatten Spiele vor sich liegen. Das alles ging natürlich nicht ohne Geschrei ab, und so schallten Frau Rennert und Martina fröhliche Kinderstimmen entgegen, als sie das Zimmer betraten.

Heidi entdeckte die Frauen zuerst. »Cora, Corwin, eure Tante ist gekommen«, brüllte sie, um die anderen Stimmen zu übertönen.

Beim Aufspringen stieß einer von den beiden gegen die Burg, so daß alles mühsam Aufgebaute in sich zusammenfiel. Doch weder Cora noch Corwin kümmerten sich nicht darum, sondern liefen freudestrahlend der jungen Frau entgegen.

Martina kniete sich auf den Teppichboden und begrüßte die beiden Kinder.

»Sie haben die Herzen der Kinder buchstäblich im Sturm erobert«, sagte Frau Rennert.

Die junge Frau stand auf. »Darüber bin ich auch sehr froh«, entgegnete sie. »Leider mußte ich heute alleine kommen, weil mein Mann sich um einige Geschäftsfreunde kümmern muß, während Kersten ja Schule hat.« Sie wandte sich an die Zwillinge und strich ihnen liebevoll über die Haare. »Ich habe noch etwas mit Frau Rennert zu besprechen«, sagte sie. »Spielt noch ein bißchen, ich bin gleich wieder zurück. Sie haben doch hoffentlich ein paar Minuten Zeit für mich, Frau Rennert?« fragte sie und sah die Heimleiterin an.

»Selbstverständlich«, erwiderte Else Rennert. »Gehen wir in mein Zimmer.«

Während die beiden Frauen zur Tür gingen, rief Corwin ihnen nach: »Tante Marty, du kommst doch wieder?«

Die junge Frau drehte sich noch einmal um: »Schließlich bin ich euretwegen hergekommen. Vielleicht habe ich nachher eine Überraschung für euch.«

»Wollen Sie einen Kaffee trinken?« fragte Frau Rennert, als sie sich in ihrem Zimmer gegenübersaßen.

»Nein danke, Frau Rennert, ich habe unterwegs schon einen getrunken. Was mir so am Herzen liegt, wissen Sie. Wir haben schon am Telefon darüber gesprochen. Mein Mann läßt alle hier herzlich grüßen, er hat es sehr bedauert, nicht mitkommen zu können.«

»Danke«, erwiderte Frau Rennert.

Martina spielte gedankenverloren mit einem Bleistift, den sie vom Schreibtisch genommen hatte, dann sagte sie: »Wie Sie schon bemerkt haben werden, traue ich mich nicht recht zu fragen, ob ich die Kinder schon jetzt zu mir holen kann, noch bevor das Jugendamt es offiziell genehmigt hat.«

Frau Rennert lächelte. »Nach Ihrem Anruf vor zwei Tagen habe ich ausführlich mit Frau von Schoenecker darüber gesprochen, und diese wiederum mit dem Jugendamt. Es spricht nichts gegen Ihren Wunsch.«

»Herrlich«, jubelte Martina. »In einer Woche haben wir ja Pfingsten, jetzt freue ich mich erst so richtig darauf.« Sie wurde plötzlich verlegen und setzte hinzu: »Bitte, Frau Rennert, denken Sie nicht falsch von mir. Aber bei meinem Mann sind seine Gedanken auch an Feiertagen halb in seiner Fabrik, und mein Sohn wird immer selbständiger und entgleitet mir mehr und mehr. Ich sehe ihn praktisch nur noch zu den Mahlzeiten und am Abend.«

»Das verstehe ich, denn ich habe das bei meinem eigenen Sohn erlebt«, sagte die Heimleiterin.

»Sie haben einen Sohn?« fragte Martina erstaunt.

»Ja, meinen Wolfgang, er ist Musik- und Zeichenlehrer. Er ist verheiratet, und ich verstehe mich blendend mit ihm und seiner Frau. Sie haben ein Zwillingspärchen, das uns allen viel Freude macht. Aber als er flügge wurde, gab es manchen Kampf. Es schmerzt eine Mutter immer sehr, wenn der Sohn sich von ihr löst.«

»Es muß wohl so sein, aber dadurch fühle ich mich oft einsam und unausgefüllt. Ich habe schon an Mitarbeit gedacht, aber das liegt einfach nicht in meiner Natur. Ich brauche eine andere Aufgabe, eine schönere, und was gibt es Schöneres, als Kinder zu lieben und sie aufzuziehen?«

»Das stimmt«, bestätigte Frau Rennert. »Deshalb liebe ich auch die Arbeit hier so sehr.«

»Am Anfang unserer Ehe hatte ich gehofft, mindestens drei Kinder zu bekommen, aber es ist nur bei unserem Kersten geblieben. Ein lieber Junge, aber leider braucht er mich immer weniger.« Martina Reichel seufzte, dann sagte sie energisch: »Aber die Zwillinge brauchen mich, und wenn ich mich mit meiner Schwester auch nie verstanden habe, gehören ihre Kinder einfach zu uns.«

»Sie werden ihnen eine gute Mutter sein«, sagte die Heimleiterin. Sie horchte nach draußen. »Die Schulbusse sind gekommen«, bemerkte sie dann. Sie stand auf und trat ans Fenster.

Martina tat es ihr gleich. Zwei rote Kleinbusse mit der Aufschrift: »Kinderheim Sophienlust« standen vor dem Gebäude. Die Fahrgäste stiegen lärmend aus.

»Die Busse bringen die Kinder zur Volksschule nach Wildmoos und zum Gymnasium nach Maibach und holen sie auch wieder ab«, erklärte Frau Rennert. »Na, dann kommen Sie bitte, Frau Reichel, Zeit zum Mittagessen. Sie sind natürlich wieder unser Gast. Übrigens, die wichtigsten Sachen der Kinder haben wir schon in einen Koffer getan.«

»Ich danke Ihnen und Frau von Schoenecker, für alles, was Sie getan haben«, sagte Martina.

»Nichts zu danken, das ist nun mal unsere Aufgabe.«

Martina teilte den Zwillingen erst nach dem Mittagessen mit, daß sie mit ihr fahren sollten, sonst hätten sie vor lauter Aufregung womöglich nichts gegessen.

Die beiden waren dann tatsächlich vor Freude ganz aus dem Häuschen. Sie schleppten alles Mögliche an, was sie unbedingt noch mitnehmen wollten.

»Autofahren ist schön«, sagte Corwin. »Papa und Mama sind auch mit uns gefahren.«

»Sehr schön«, echote Cora und kletterte mit ihrem Teddy in den Fond des Wagens.

Corwin wollte ihr erst nachsteigen, ging aber dann zu Martina zurück, die inmitten der Kinderschar noch mit Frau Rennert sprach. Er boxte sich durch die Kinder hindurch und zupfte Martina an ihrem Kleid. »Tante Marty, was ist mit dem Onkel? Mag er uns auch?«

»Aber natürlich, Corwin. Warum sollte er euch nicht mögen?«

»Weiß nicht.« Corwin lief zurück und stieg in den Wagen. Der Onkel war zwar lieb zu ihnen gewesen, hatte ihnen Geschenke mitgebracht, aber… Der kleine Junge konnte es nicht definieren, was ihn störte, aber so lieb wie Tante Marty war Onkel Günther nicht. Er hatte sogar ein bißchen Angst vor ihm.

Um sich selbst zu beruhigen, sagte er zu seiner Schwester: »Tante Marty sagt, Onkel Günther mag uns.«

»Ich mag ihn auch«, erwiderte Cora und drückte liebevoll ihren Teddy an sich.

Heidi kam zu dem Wagen gelaufen. »Schade, daß ihr fortgeht«, sagte sie traurig. »Ich hab’ so gern mit euch gespielt. Hoffentlich kommt ihr bald wieder.«

»Hoffentlich nicht«, widersprach Martina lachend. Sie hatte sich endlich von allen verabschiedet. »Zu Besuch kommen wir natürlich sehr gerne. Auf Wiedersehen, Heidi!« Sie strich der Kleinen über die blonden Haare, dann setzte sie sich hinters Steuer und startete. Noch lange winkten ihnen die Sophienluster nach.

*

Zu Hause angekommen, hatte Martina erst eine Weile damit zu tun, die Kinder wachzubekommen, die während der Fahrt fest eingeschlafen waren.

»Wo sind wir?« fragte Corwin und rieb sich verschlafen die Augen.

»Zu Hause«, erwiderte Martina und hob den kleinen Jungen aus dem Wagen. Dann nahm sie das Mädchen auf den Arm. Sie ergriff die Hand Corwins und wollte gerade mit den Kindern die paar Stufen zur Haustür hinaufgehen, als plötzlich das Licht über der Tür anging. Dann wurde sie von Kersten aufgerissen.

Vor Überraschung riß er den Mund weit auf, als müsse er nach Luft schnappen. »Du hast das Kleinzeug mitgebracht?« rief er ungläubig aus

»Das ist kein Kleinzeug! Corwin und Cora sind deine neuen Geschwister«, erwiderte die Mutter, ärgerlich über sein Verhalten. »Warum liegst du nicht im Bett? Ist Vati noch nicht zu Hause?«

»Nee, er rief an und sagte, daß es spät werden kann. Ich habe ferngesehen.« Er trat von der Tür zurück, so daß seine Mutter vorbeigehen konnte.

»Du weißt doch, daß du so spät nicht mehr fernsehen sollst«, rief die Mutter ihm über die Schulter zu. »Es ist schon nach zehn.«

»Och, morgen ist doch Sonntag«, erwiderte Kersten.

Die junge Frau ließ die Hand Corwins los und öffnete die Tür zu dem Zimmer, das neben ihrem Schlafzimmer lag. Es war nicht nur vom Flur, sondern auch vom Schlafzimmer aus erreichbar.

Mißmutig blieb Kersten auf der Türschwelle stehen und sah zu, wie seine Mutter die beiden kleinen Kinder auszog und in das einzige Bett legte, das im Zimmer stand. Die Zwillinge reagierten kaum, so übermüdet waren sie von der langen Fahrt.

»Am Montag werde ich noch ein zweites, passendes Bett besorgen.«

»Wie lange sollen die denn hierbleiben?« fragte Kersten.

»Vorläufig über Pfingsten. Ich hoffe aber, daß es für immer ist«, erwiderte die Frau und drückte jedem der Zwillinge einen Kuß auf die Stirn. »Gute Nacht!« sagte sie zu ihnen, obwohl sie schon fest schliefen.

»Weiß das Vati?« fragte Kersten, der durch Martinas Küsse, die nicht ihm galten, wieder eifersüchtig geworden war.

»Wenn er nach Hause kommt, wird er es erfahren.«

»Au backe, der wird sich aber wundern.«

»Gleich wirst du dich wundern, wenn ich dir eine Backpfeife gebe.«

Obwohl Kersten bisher nur sehr selten von der Mutter einen Klaps bekommen hatte, wich er doch vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Agnes hat dir dein Essen auf die Heizplatte gestellt«, sagte er ablenkend.

»Wir haben schon eine Kleinigkeit unterwegs gegessen«, erwiderte die Mutter. »Ich werde das Essen nachher in den Eisschrank stellen. Jetzt bist du aber dran, schlafen zu gehen, es ist schon spät genug. Wenn du willst, ziehe ich dich auch noch aus«, scherzte sie.

»Bin doch kein Baby mehr«, murrte Kersten. »Das wird ja jetzt heiter werden mit den beiden.«

»Du wirst dich daran gewöhnen und merken, daß es auch schön sein kann, noch kleine Geschwister zu haben«, erwiderte Martina. Sie zog ihren Sohn an sich und wollte ihm auch einen Gutenachtkuß geben, doch er entwand sich ihr und wiederholte grollend: »Ich bin doch kein Baby.«

»Dann eben nicht«, sagte Martina, obwohl es sie schmerzte, daß er sich ihr immer mehr entzog. Was war er doch früher für ein anlehnungsbedürftiges Kind gewesen, dachte sie.

Nachdem Martina den Wagen in die Garage gefahren hatte, ging auch sie zu Bett. Da sie aber auf ihren Mann warten wollte, las sie noch in einem Romanheft. Obwohl die Geschichte sehr spannend war, schlief sie darüber ein.

Günther Reichel kam erst gegen ein Uhr nach Hause. Er war mit seinen Geschäftsfreunden, Hermann Bader und Manfred Klein, in verschiedenen Lokalen gewesen. Daher war Günther ziemlich angeheitert, so daß er, nachdem er sich von den Herren vor ihrem Hotel verabschiedet hatte, sich von einem Taxi nach Hause bringen ließ.

Leise schloß er die Gartentür auf und ebenso leise auch die Wohnungstür, um seine Frau nicht zu wecken. Es kam zwar sehr selten vor, daß er einen über den Durst trank, aber er wußte, wie sehr es seine Frau haßte, wenn er nach Alkohol roch.

Es gelang ihm, die Treppe ohne größeren Krach zu bewältigen.

Im Schlafzimmer brannte noch die Nachttischlampe auf Martinas Nachttisch. Doch seine Frau schlief fest. Der Roman lag auf dem Fußboden. Er mußte ihren Händen entglitten sein.

Er bemerkte nicht, daß die Tür zum Nebenzimmer, die sonst immer geschlossen war, etwas offenstand. Er hatte vielmehr Mühe damit, sich der Schuhe und seiner Oberbekleidung zu entledigen. Schließlich gab er es auf. Er ließ sich auf sein Bett fallen. Bald verkündete sein lautes Schnarchen, daß er den Schlaf des Gerechten schlief. An die noch brennende Nachttischlampe seiner Frau hatte er nicht mehr gedacht.

*

Martina wachte eine halbe Stunde vor sieben auf. Zu ihrem Schrecken sah sie, daß ihre Nachttischlampe noch brannte und der Roman auf dem Boden lag. Kopfschüttelnd hob sie ihn auf. Sie wunderte sich, daß ihr Mann nicht wenigstens die Lampe ausgeschaltet hatte. Sie ging auf die andere Seite des Bettes und beugte sich über ihn. Sie roch sofort den Alkohol. Aha, er hat also eine feuchtfröhliche Nacht verbracht, dachte sie halb belustigt. Jetzt entdeckte sie auch, daß seine abgelegte Kleidung wild herumlag. Sie hob die Hose und die Jacke auf und hängte sie im Badezimmer auf einen Bügel. Danach ging sie ins Zimmer der Zwillinge, aber diese schliefen noch fest. Sie kehrte ins Badezimmer zurück, um sich frischzumachen.

Kurz vor sieben begann sich im Nebenzimmer etwas zu regen. Zuerst wachte Corwin auf. Verdutzt betrachtete er die ihm fremde Umgebung. Angestrengt dachte er nach, dann fiel ihm ein, daß er und seine Schwester ja von Tante Marty mitgenommen worden waren.

Neben ihm bewegte sich seine Schwester Erschrocken richtete sie sich auf, als sie an ihren Bruder stieß, denn sie hatte sonst immer ein Bett für sich allein gehabt. »Mein Bett«, murrte sie noch halb verschlafen. Dann entdeckte sie, daß es gar nicht ihr Bett war. Sie starrte ihren Bruder verängstigt an. »Wo sind wir«, lispelte sie mit weinerlicher Stimme.

»Nicht weinen, wir müssen Tante Marty suchen«, sagte Corwin.

Cora rieb sich ihre Augen, dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Tante Marty, liebe Tante.«

Die Kinder standen auf und liefen barfuß Hand in Hand zu der halboffenen Tür. Sie lugten durch den Spalt und entdeckten das breite Bett, dessen eine Seite leer war, aber unter der anderen Decke lag jemand bis über den Kopf zugedeckt. Daneben hing auf einem Bügel am Schrank das Kleid, das Tante Marty angehabt hatte.

»Hier ist sie«, jubelte Corwin und stürzte sich mit einem Indianergeheul auf das Bett.

»Hier ist sie«, kam Coras Echo. Sie stürzte ihrem, Bruder nach.

»Sie ist wach«, schrie Corwin und hopste auf das Bett, als sich unter der Decke etwas bewegte.

»Wach«, wiederholte Cora und plumpste auf das Fußende.

Mit einem Schrei fuhr Günther hoch und starrte entsetzt und wütend zugleich auf die Kinder.

Bestürzt starrten ihn die Zwillinge an, dann rutschten sie verängstigt vom Bett herunter.

»Seid ihr denn verrückt geworden?« schimpfte Günther los. »Mensch, habt ihr mir weh getan. Wie kommt ihr überhaupt hierher? Ich hätte einen Herzschlag kriegen können. Da hört sich ja alles auf!«

Die Kinder fingen laut zu heulen an.

»Hört mit dem Geschrei auf«, schrie Günther. Er wollte aus dem Bett springen, rutschte aber dabei auf dem Vorleger aus und knickte mit einem Fuß um. »Au«, brüllte er und setzte sich auf das Bett zurück. »Martina! Martina!«

Zitternd waren die Kinder bis an die Zwischentür zurückgewichen, um sich hinter ihr zu verstecken, doch sie hatten sie versehentlich zugedrückt. Nun standen sie eng aneinander geklammert davor und heulten noch lauter.

Zuerst hatte Martina durch das Rauschen des Wassers den Lärm überhört, jetzt drang er aber doch bis an ihre Ohren.

Hastig sprang sie aus der Badewanne, zog sich den Bademantel über ihren nassen Körper und eilte ins Schlafzimmer.

»Was ist denn hier los?« fragte sie.

»Ich hab’ dir doch gesagt, Mutti, daß sich Vati wundern wird«, kam eine Jungenstimme von der anderen Tür her. Kersten stand dort, noch im Schlafanzug, und grinste. »Er wundert sich eben.«

»Ich mich noch viel mehr«, fauchte Martina, besonders erbost über Kerstens offen gezeigte Schadenfreude. Sie fröstelte unter ihrem naßgewordenen Bademantel. »Mach, daß du in dein Zimmer kommst, dann wasch dich und zieh dich an!«

Kersten, der merkte, daß jetzt mit seiner Mutter nicht zu spaßen war, zog sich zurück, schloß die Tür aber nicht ganz, um besser lauschen zu können.

Martina wandte sich jetzt an ihren Mann, der mit einer Leidensmiene auf dem Bett saß und seinen Fuß rieb. »So was will ein erwachsener Mann sein«, schimpfte sie. »Was haben dir die Kinder denn getan? Wie kannst du ihnen nur einen solchen Schreck einjagen?«

»Ich?« fragte ihr Mann empört. »Es ist wohl eher umgekehrt. Da schuftet man bis in die Nacht hinein, kommt endlich zum Schlafen und wird in aller Frühe brutal aus dem Schlaf gerissen, weil plötzlich zwei Gören auf einem herumtanzen. Es scheint dir sogar egal zu sein, daß ich mir dabei den Fuß verknackst habe.«

»Wir waren’s nicht«, schluchzte Corwin. »Wir dachten, du bist drin und wollten dir guten Morgen sagen.«

»Ihr habt es gut gemeint«, tröstete Martina die Kinder, dann sah sie wieder ihren Mann an und meinte verächtlich: »Von wegen schuften! In welchen Lokalen denn?« Sie sah auf seinen Fuß, den er noch immer rieb, ging zu ihm hin und sah ihn sich an. Dann richtete sie sich wieder auf und meinte: »Na, so schlimm kann es nicht sein. Der Knöchel ist nicht mal geschwollen.

»Wenn du mir wenigstens vorher gesagt hättest, daß du die Kinder mitbringst, dann hätte ich mir einen Panzer angeschafft«, meinte er mit grimmigem Humor.

»Den hast du bei den zweien nicht nötig, es sind nette Kinder«, verteidigte Martina die Zwillinge. »Sie haben ja auch bei ihrer Begrüßung nicht dich, sondern mich gemeint, und ich wäre nicht so zimperlich gewesen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich an Corwin und Cora, die noch immer ganz verstört dastanden. »Onkel Günther hat es nicht so gemeint, er war nur sehr erschrocken.« Sie zog die Kleinen an sich.

Beide klammerten sich fest an sie. »Onkel Günther ist böse«, widersprach Corwin.

»Ganz böse«, jammerte Cora.

»Das ist er nicht«, verteidigte Martina ihren Mann.

»Wir wollten ihm doch nicht weh tun«, sagte Corwin und wischte sich über sein tränenverschmiertes Gesicht.

»Will nach Hause«, schluchzte Cora.

»Aber Kinder, Onkel Günther tut es bestimmt sehr leid«, versuchte Martina erneut die Kinder zu trösten. »Kommt, ich werde euch jetzt waschen und anziehen, danach frühstücken wir und alles ist wieder vergessen.« Sie ging mit ihnen ins Nebenzimmer, um aus ihrem Koffer frische Wäsche herauszusuchen.

Inzwischen stand ihr Mann auf und verschwand im Badezimmer. Sie seufzte, sie fror unter ihrem nassen Bademantel und hatte vorgehabt, sich noch einmal heiß abzubrausen, aber noch länger konnte sie nicht warten. »Wartet einen Moment«, rief sie durch die offene Tür den Kindern zu. »Ich muß mich erst anziehen.«

Eine halbe Stunde später kam Günther im Bademantel aus dem Bad. »Ihr könnt jetzt rein«, sagte er mürrisch.

Kurze Zeit danach saßen sie alle am Frühstückstisch. Obwohl Günther Kaf­fee gekocht und den Tisch gedeckt hatte, war seine Laune nicht besser geworden.

Die Zwillinge saßen verschüchtert auf ihren Plätzen, Kersten grinste sie ab und zu schadenfroh an.

Corwin und Cora hatten Kakao vor sich stehen, getrauten sich aber kaum, an ihren Tassen zu nippen, geschweige denn vom Kuchen abzubeißen.

»Warum eßt ihr nicht?« fragte Martina. »Schmeckt’s euch nicht?«

»Doch«, murmelte Corwin. Er brach ein Stück vom Kuchen ab und steckte es in den Mund.

»Sie sind von Sophienlust Besseres gewöhnt«, stichelte Kersten.

Corwin verschluckte sich, mußte husten und wurde ganz rot im Gesicht. Martina sprang auf, schlug ihm leicht auf den Rücken, bis der Hustenanfall vorbei war.

Die junge Frau setzte sich wieder und sagte zu ihrem Sohn: »Es wäre ganz gut, wenn du mal eine Zeitlang in einem Kinderheim zubringen müßtest, aber nicht in einem wie Sophienlust, sondern in einem schlechten, damit du Mitgefühl mit Waisen lernst.«

»Das fehlte noch, daß Kersten gehen soll, damit für andere Platz wird«, sagte Günther mit eiskalter Stimme.

Kersten, der zu genau wußte, daß der Vater in punkto der Zwillinge auf seiner Seite war, warf der Mutter einen triumphierenden Blick zu.

»Du weißt genau, wie ich das meine«, wehrte sich Martina mit Tränen in den Augen. »Kersten hat überhaupt kein Mitgefühl, und du unterstützt ihn darin noch.«

»Kersten hat das sehr wohl, allerdings nur da, wo es am Platze ist«, behauptete der Vater. »Hier ist es wohl kaum angebracht, denn Sophienlust ist ein hervorragendes Heim, wie ich mich selbst habe überzeugen können.« Er schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein und nahm gleich darauf einen kräftigen Schluck, wobei sein Blick auf Coras Teller fiel. »Matsch nicht so mit dem Kuchen herum«, herrschte er sie an.

Cora fing daraufhin wieder zu weinen an. »Will nach Hause«, jammerte sie unter Tränen.

»Ich auch«, echote diesmal ihr Bruder.

»Kinder, nun weint doch nicht«, bat Martina verzweifelt. Sie hatte sich alles so schön ausgemalt, daß sich ihr Mann an die Kinder gewöhnen und sie liebgewinnen würde, wenn er ihnen täglich begegnete. Nun mußte sie erkennen, daß es eine Fehlspekulation gewesen war. »Nimm dich doch wenigstens vor den Kindern zusammen, Günther. Meinst du, sie erzählen ihrer Tante Isi nicht, wie du dich ihnen gegenüber benommen hast?«

»Hast du dich etwas beherrscht, als du mich vor den Kindern einen Saufkumpan genannt hast, der sich in Kneipen herumtreibt?« brauste er auf.

»Aber ich habe doch nur gemeint, daß ich nicht vom Schuften sprechen kann, wenn man Lokale besucht«, entgegnete sie.

»Das ist doch dasselbe«, behauptete er. »Wenn mich Geschäftsfreunde besuchen, kann ich ihnen schließlich nicht ihre Bitte abschlagen, wenn sie noch in ein Lokal gehen wollen«, fuhr er fort. »Und außerdem, wie denkst du dir das heute mit dem Mittagessen? Die Zeit verrinnt, und statt dich um das Essen zu kümmern, vertust du deine Zeit mit fremden Kindern.«

»Im Gegensatz zu dir, nehme ich alle meine Pflichten ernst«, erwiderte sie heftig. »Ich habe schon am Freitag mit Frau Winkler alles besprochen, und da du ja wer weiß wann nachts in einem wenig delikaten Zustand nach Hause gekommen bist, ist dir entgangen, daß in der Küche schon alles dazu vorbereitet worden ist.« Sie stand auf. »Wie den Zwillingen so ist auch mir der Appetit vergangen. Kein Wunder, bei der Herzenskälte, die einem von dir entgegenschlägt.«

Cora und Corwin waren schon von ihren Stühlen heruntergerutscht. »Fahren wir jetzt nach Hause?« fragte der Junge hoffnungsvoll, als sie das Zimmer verließen.

»Heute nicht«, erwiderte Martina. Am liebsten hätte sie geweint. »Jetzt werden wir erst mal in der Küche in Ruhe essen.

»Ich mag den Onkel nicht«, stellte Corwin trotzig fest.

»Ich auch nicht«, sagte Cora.

Kein Wunder, dachte Martina. Um das Ansehen ihres Mannes vor den Kindern vielleicht doch noch zu retten, sagte sie: »Onkel Günther ist sonst nicht so, aber er hatte großen Ärger und ihr habt ihn auch heute früh so erschreckt.«

Mit schiefgelegten Köpfchen sahen beide Kinder sie an. Obwohl Junge und Mädchen, glichen sie sich in diesem Augenblick wie ein Ei dem anderen.

Man sah auch beiden an, daß sie ihr nicht glaubten.

In der Küche entwickelten die Kinder auf einmal einen großen Appetit, und auch Martina schmeckte jetzt das Frühstück. Sie überhörte, daß draußen die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Kurz darauf ging die Küchentür auf, und Agnes stand mit offenem Mund auf der Schwelle.

»Frau Reichel, Sie haben die Kinder mitgebracht? Aber warum frühstücken Sie in der Küche?« rief sie erstaunt. Sie trat zum Tisch. »Das sind also Cora und Corwin«, bemerkte sie, während sie den Kindern über die Haare strich. »Süß sehen sie aus.« Sie wandte sich an die Hausherrin. »Hatten Sie Angst, daß sie im Eßzimmer etwas schmutzig machen würden? Das wäre doch nicht so schlimm, das hätte ich schon wieder sauber gekriegt.«

»Wer ist die Tante?« fragte Corwin.

»Ich bin Agnes«, stellte sich die Haushaltshilfe selbst vor. »Ich habe mich sehr auf euch beide gefreut, ich wußte aber nicht, daß eure Tante euch jetzt schon mitbringen würde.«

»Es war sehr unüberlegt von mir«, gestand Martina. »Aber die beiden sind mir so ans Herz gewachsen, und ich glaubte, meinen Mann würde es genauso gehen, wenn er sie dauernd um sich hat. Doch bisher ist alles schiefgelaufen.« Sie erzählte Agnes, was am Morgen passiert war.

Frau Winkler hatte sich einen Stuhl herangezogen und sich an den Küchentisch gesetzt. »Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, bemerkte sie.

»Ihr Mann wird bald darüber hinwegkommen, wenn er erst den Schock über das plötzliche Auftauchen der Kinder überwunden hat.«

»Ein Schock war es wirklich für ihn«, mußte Martina zugeben. »Es war mein Fehler, ich hätte ihn darauf vorbereiten müssen.« Sie schaute auf die Kinder, die jetzt von ihren Stühlen rutschten.

»Wir sind satt«, verkündete Corwin.

»Ganz satt«, bestätigte Cora.

»Fahren wir zu Tante Ma?« Hoffnungsfreudig sah der kleine Junge Martina an.

»Vielleicht nächste Woche«, erwiderte seine Tante. Am liebsten hätte sie die Kinder bei dem herrlichen Wetter draußen im Garten spielen lassen, aber sie konnte nicht auf sie aufpassen, weil sie Frau Winkler helfen mußte, wenn das Essen rechtzeitig zur vollsten Zufriedenheit ihres Mannes und seiner Gäste ausfallen sollte. »Heute müßt ihr in eurem Zimmer spielen«, sagte sie seufzend zu den Zwillingen. »Ihr habt ja eure Teddys und noch anders Spielzeug mitgebracht.«

»Och, kannst du nicht mit uns spielen, Tante Marty?« fragte Corwin enttäuscht.

»Wenn es Ihnen recht ist, Frau Reichel, bleibe ich den ganzen Nachmittag da«, mischte sich Agnes ein. »Dann kann ich mit den Kindern im Garten spielen, und Sie können sich ungestört Ihren Gästen widmen.«

»Danke, Frau Winkler, Sie sind ein Engel«, sagte Martina erleichtert. »Damit wäre mir sehr geholfen.«

*

»Das Essen war hervorragend, gnädige Frau«, sagte Hermann Bader und tupfte mit der Serviette seine Lippen ab.

»Wirklich hervorragend«, bestätigte auch der andere Gast, Manfred Klein. Er nickte der Hausfrau anerkennend zu. »Ich wünschte, meine Frau könnte so gut kochen wie Sie, gnädige Frau.«

Martina wollte schon sagen, daß das Lob mehr ihrer Haushaltshilfe gebührte, doch als sie das strahlende Gesicht ihres Mannes sah, der sich als Ehemann darin sonnte, daß seine Frau als Köchin so gelobt wurde, sagte sie nur: »Ich freue mich, daß Ihnen das Essen geschmeckt hat.« Sie stand auf. »Wenn Sie sich jetzt ins Wohnzimmer begeben wollen? Ich werde Ihnen dort den Kaffee servieren.«

»Ist Agnes nicht mehr da?« fragte ihr Mann, der mit seinen Gästen aufgestanden war.

Martina zögerte, dann antwortete sie: »Doch, aber ich habe sie gebeten, im Garten auf die Kinder aufzupassen.«

»Ich denke, Sie haben nur ein Kind?« fragte Herr Bader überrascht.

»Es sind die Kinder der verstorbenen Schwester meiner Frau«, erklärte Günther. »Sie sind nur vorübergehend hier. Sie sind wie zwei Wirbelwinde.« Er sah seine Frau an. »Das ist gut, dann werden wir wenigstens nicht von ihnen gestört.«

»Corwin und Cora sind trotz allem liebe Kinder«, verteidigte Martina sofort die beiden. »Bitte, Günther, führe die Herren in den Salon, ich komme dann bald mit dem Kaffee nach.«

Während die drei Herren das Eßzimmer verließen, blickte Martina aus dem Fenster, aber von den Kindern war nichts zu sehen und zu hören. Erleichtert atmete sie auf. Ihr Blick fiel auf die Chrysanthemen und Narzissen, die die Gäste mitgebracht hatten. Sie liebte Blumen über alles. Für sie war der Sonntag wieder schön geworden, zumal ihr Mann seine gute Laune zurückgewonnen hatte.

Gleich nach dem Essen war Kersten mit seinem Fahrrad zu einem Freund aufgebrochen, während Agnes die Zwillinge zum Sandkasten führte, der hinter dem Haus lag. Sie besprengte den Sand in einer Ecke mit etwas Wasser, damit er zusammenhielt, denn Cora jauchzte jedesmal auf, wenn der Sandkuchen gut aus der Form purzelte.

»Zu Hause müssen wir mittags immer schlafen«, sagte der Junge. »Fein, daß wir’s hier nicht brauchen.«

»Das ist heute nur eine Ausnahme«, erwiderte Agnes, die sich auf einen Gartenstuhl gesetzt hatte und an einem Pullover strickte. »Du weißt, dein Onkel hat Gäste, da dürft ihr nicht dazwischen platzen.«

»Bei Tante Isi und Tante Ma dürfen wir platzen, wenn Gäste da sind.«

Agnes mußte lachen. »Na, platzen tut ihr dort bestimmt nicht«, sagte sie amüsiert. »Außerdem sind die dort Kinder gewöhnt.«

»Ein Kätzchen«, schrie Cora plötzlich auf, als eine junge weiße Katze vor dem Sandkasten auftauchte und spielerisch nach einem der Sandkuchen schlug. »Ist das süß. Das will zu mir, das behalt ich.«

»Kinder, das gehört nicht…« Agnes konnte ihren Satz nicht beenden, da jetzt auch Corwin begeistert schrie: »Ist das süß. Wir werden Tante Marty fragen.« Er hob das Kätzchen hoch, und beide Kinder liefen zum Haus.

Agnes sprang so schnell, daß ihr Stuhl umfiel und das Strickzeug auf dem Boden landete. Sie lief ihnen nach und schrie: »Halt Kinder, ihr dürft nicht ins Haus, die Katze gehört den Leuten nebenan.«

Es gelang Frau Winkler nicht, die Kinder noch vor dem Haus einzuholen. Durch die offene Hintertür gelangten die Zwillinge in den Flur. Die Tür, hinter der sie Stimmen hörten, rissen sie auf und stürmten ins Zimmer.

Martina hatte gerade auf dem Tisch vor der Couch, der schon mit ihrem besten Porzellan gedeckt war, die gefüllte Kaffeekanne auf einen Untersatz abgestellt. Ihr Mann saß auf dem Sofa, während die beiden Gäste in bequemen Sesseln Platz genommen hatten.

Als die Kinder hereinstürzten und riefen: »Tante Marty! Tante Marty!« drehten sich alle erschrocken zu ihnen, weil sie annahmen, daß etwas passiert sei. Doch ehe sie noch fragen konnten, nahm das Schicksal seinen Lauf, denn die Katze war durch den Lärm in Panik geraten.

Mit einem Sprung floh sie aus den Armen Corwins auf die erstbeste Erhöhung, die sie erreichen konnte. Das war zum Leidwesen aller der Tisch, über den sie schräg hinwegfegte. Das Geschirr flog dabei zum größten Teil auf den Boden und zerbrach. Die Kaffeekanne fiel um, ihr heißer Inhalt ergoß sich auf die Hosen eines Gastes, der mit einem Aufschrei aufsprang und sich bemühte, den naßheißen Stoff von seiner Haut abzuhalten.

Während die anderen wie erstarrt dasaßen – Martina hatte sich vor Schreck neben ihren Mann gesetzt – sprang die Katze auf die Anrichte, wobei sie eine Vase herunterriß, die auch auf dem Boden zerschellte. Jetzt erspähte das Tier ein rettendes Loch, nämlich ein offenes Fenster. Mit einem Satz war es durchs Fenster verschwunden.

Langsam kam wieder Leben in die Erwachsenen. »O nein, o nein«, jammerte Martina, dann raffte sie sich auf. »Sie haben sich doch hoffentlich nicht verbrüht, Herr Klein?« fragte sie und ging zu ihm hin.

»Nicht der Rede wert«, meinte dieser höflich, dabei brannte ihm das Bein wie Feuer.

»Das war das letzte!« sagte Gün­ther erschüttert. Er erhob sich und ging drohend auf die Kinder zu, die vor Angst aufkreischten, entsetzt aus dem Zimmer flohen und die Treppe hochstolperten.

Dafür tauchte Agnes jetzt in der Tür auf und warf einen entsetzten Blick auf die Scherben.

»Sie sollten doch auf die Kinder aufpassen«, schrie Günther sie an.

»Ich habe sie nicht aufhalten können«, sagte sie zerknirscht. »Sie wollten unbedingt Tante Marty fragen, ob sie die Katze behalten dürfen, dabei gehört sie doch den Nachbarn. Ich werde die Scherben gleich beseitigen.« Sie lief aus dem Zimmer, um aus der Küche einen Handfeger und eine Schaufel zu holen.

»Sagten Sie nicht, Herr Reichel, die Kinder seien wie zwei Wirbelwinde?« fragte Herr Bader ironisch. »Das haben sie jetzt bewiesen.«

Günthers Augen sprühten Blitze, als er seine Frau ansah. »Hoffentlich siehst du es jetzt ein, Martina, daß wir hier keine Kleinkinder gebrauchen können«, sagte er mit harter Stimme zu ihr. »Morgen bringst du die beiden nach Sophienlust zurück.«

Die Frau wandte sich, ohne eine Antwort zu geben, von ihm ab, den Gästen zu. »Ich kann Sie nur für die Kinder um Entschuldigung bitten«, sagte sie. »Sie handeln nun einmal unüberlegt. Seien Sie mir bitte jetzt nicht böse, aber ich muß nach den Kindern sehen. Agnes wird Ihnen gleich neuen Kaffee aufbrühen.«

»Meine Frau hat auch für alles eine Entschuldigung«, sagte Günther wütend, als Martina gegangen war.

»Nehmen Sie es nicht so tragisch, Herr Reichel«, meinte Herr Bader. »Bei Kindern muß man auf Überraschungen immer gefaßt sein. Mein Bein ist ja noch dran«, scherzte er, um der Peinlichkeit der Situation die Spitze zu nehmen.

*

So unfreundlich der Sonntag begonnen hatte, noch schlechter ging er zu Ende. Nach dem Abendessen gab es zwischen dem Ehepaar einen Riesenkrach. Sie saßen sich im Wohnzimmer wie Feinde gegenüber.

Günther warf seiner Frau vor, sie hätte schuld daran, daß die Gäste vorzeitig gegangen wären. Tatsächlich hatten sich die beiden Herren bald nach dem Vorfall verabschiedet, obwohl sie ursprünglich bis zum Abendbrot hatten bleiben wollen.

»Deine Affenliebe zu den Zwillingen ist mir einfach unverständlich«, schrie er sie an. »Du willst ja nicht einmal einsehen, daß ich mir von ihnen nicht die Gäste, mit denen ich in geschäftlichen Beziehungen stehe, aus dem Haus treiben lassen kann.«

»Das war doch alles nur ein unglücklicher Zufall«, verteidigte Martina die Kinder. »Sie waren selbst sehr unglücklich darüber und haben noch lange geweint. Schließlich konnten sie doch nicht wissen, daß die kleine Katze so einen Trümmerhaufen hinterlassen würde. Corwin und Cora haben mir fest versprochen, kein Tier mehr nach Hause zu bringen.«

»Und das glaubst du ihnen? Vielleicht bringen sie das nächste Mal einen Schimpansen an. Ein Glück, daß die nicht frei herumlaufen.«

»Sei nicht so zynisch. Schließlich sind es noch kleine Kinder.«

»Jetzt triffst du den Kern der Sache. Für kleine Kinder sind wir beide einfach schon zu alt.«

»Du vielleicht«, erwiderte Martina erbittert. »Wenn du dich mit deinen siebenunddreißig Jahren schon so alt wie Methusalem fühlst, ist das dein Problem. Allerdings bin ich auch fünf Jahre jünger, das scheint bei uns was auszumachen. Ich hätte damals lieber einen Gleichaltrigen heiraten sollen.«

»Du kannst dich ja scheiden lassen, um das noch nachzuholen«, erwiderte er kalt. »Jedenfalls kommen die Kinder morgen aus dem Haus. Sage jetzt nicht wieder, ich wäre herzlos. Die Kinder sind in Sophienlust gut untergebracht. Ich werde selbstverständlich für alle Kosten aufkommen. Und du kannst sie besuchen, so oft du willst. Von mir aus auch noch mit Geschenken überschütten.«

»Kinder brauchen keine Geschenke, sondern eine Familie und vor allem Liebe«, erwiderte Martina.

»Letzteres werden sie auch in Sophienlust bekommen, denn soviel ich gesehen habe, hängen sie sehr an der Heimleiterin und auch an der Verwalterin. Ich jedenfalls brauche nach der anstrengenden Arbeit in der Fabrik zu Hause meine Ruhe. Wenn du das nicht verstehen kannst…« Er zuckte mit den Schultern. »Du mußt dich entscheiden, entweder ich oder die Zwillinge.«

Sie sah ihn fassungslos an. »Soll das etwa heißen, daß du…«

»Genau das. Wenn die Kinder nicht gehen, gehe ich!«

Stumm erhob sich Martina und ging an ihm vorbei zur Tür.

»Du bist mir noch eine Antwort schuldig«, rief er ihr nach.

Seine Frau blieb stehen und drehte sich um. »Ich gehe schlafen«, erwiderte sie, kehrte ihm wieder den Rücken zu und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Ehe Martina ihr Bett aufsuchte, sah sie noch nach den Kindern. Obwohl es erst kurz nach neun war, schlief Kersten schon fest. Er hatte eine anstrengende Radtour hinter sich und war gleich nach dem Abendbrot schlafen gegangen.

Auch die Zwillinge, die von Agnes zu Bett gebracht worden waren, bevor diese nach Hause ging, schliefen fest. Eng aneinander geschmiegt, als ob sie sich gegenseitig schützen wollten, lagen sie da. Lange saß Martina an ihrem Bett und weinte leise vor sich hin.

Endlich raffte sie sich auf und ging ins Badezimmer. Sie entnahm dem Arzneischrank zwei Schlaftabletten und löste sie in einem Glas Wasser auf. Nachdem sie die trübe Flüssigkeit getrunken hatte, machte sie sich zum Schlafengehen fertig. Als sie ihre Nachttischlampe ausknipste, war es schon elf Uhr vorbei, aber ihr Mann war noch nicht nach oben gekommen.

*

Günther kam am Montag abend erst spät nach Hause, da er angenommen hatte, daß seine Frau seinem Wunsch nachgekommen wäre und diese Nacht in Sophienlust verbringen würde. Er mußte feststellen, daß dem nicht so war.

Martina hatte zwar mit dem Gedanken gespielt, dem Wunsch ihres Mannes nachzukommen und die Kinder zurückzubringen, aber sie hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, obwohl die Zwillinge selbst darum gebeten hatten. Sie gab sich noch immer der Hoffnung hin, daß ihr Mann mit der Zeit einsehen würde, daß Corwin und Cora brave Kinder waren, die nur viel Liebe und Verständnis brauchten.

Doch Günther blieb stur, schon aus Prinzip. Er brachte schließlich das Geld ins Haus, somit hatte sich seine Frau nach seinen Wünschen zu richten. Auf keinen Fall wollte er die Kinder seiner charakterlosen Schwägerin im Hause haben.

Außerdem vertrat Günther die Ansicht, daß sich Martina lieber mehr um Kersten kümmern sollte. Ihm paßte es nicht, daß sein Sohn seine Radtouren immer länger ausdehnte und oft unpünktlich nach Hause kam. Für ihn war der Junge mit seinen elf Jahren noch viel zu jung dazu, außerdem litten seine Schularbeiten darunter.

Er fragte sich, wo die gemütlichen Stunden mit seiner Frau geblieben waren, die abendliche Stille im Haus, die sie oft bei einem Glas Wein genossen hatten.

Jetzt ließ ihn Martina sogar allein sein Abendbrot essen, da sie schon mit den Kindern gegessen hatte.

Mit steinernem Gesicht saß Gün­ther am Tisch und schaufelte lustlos das Essen in sich hinein, ohne ein Wort zu sagen.

Auch Kersten hatte denkbar schlech­te Laune. Immer wieder mußte er an den Streit mit den Zwillingen und seiner Mutter denken. Er begriff nicht, daß er sich unbewußt in diese Wut hineinsteigerte, weil er tief in seinem Innern fühlte, daß er im Unrecht war.

Als Kersten von der Schule nach Hause gekommen war, hatten die Zwillinge im Wohnzimmer artig am Tisch gesessen und in einem schmalen Tierbilderbuch geblättert, das Agnes unter anderem aus einer Kiste vom Dachboden geholt hatte.

Kersten, der die Bücher selbst ausrangiert hatte, weil er sie nicht mehr hatte haben wollen, war wütend über die Kinder hergefallen. Er gab ihnen auch die Schuld daran, daß ihm der Vater verboten hatte, jemals eine Katze ins Haus zu bringen. Er hatte ihnen lautstark zu verstehen gegeben, daß sie sich an seinen Sachen nicht zu vergreifen hatten. Die Zwillinge hatten das Buch nicht hergeben wollen. In dem anschließenden Hin- und Hergezerre hielt jede Partei mit einmal die Hälfte des Buches in den Händen, bevor die Mutter es hatte verhindern können.

Kersten beschloß, seinem Vater von dem Streit zu erzählen, in der Hoffnung, daß wenigstens er ihm recht gab.

Martina saß im Wohnzimmer. Sie hatte ein Wäschestück auf dem Schoß liegen, das es auszubessern galt, aber sie hatte bisher noch keinen Stich getan. Durch die geöffnete Tür konnte sie den Rücken ihres Mannes sehen. Sie ahnte, wie böse er jetzt auf sie war. Sie glaubte sogar zu spüren, wie sich die Atmosphäre im ganzen Haus immer mehr vergiftete, und sie wußte, daß das die Zwillinge ebenfalls fühlten und darunter litten. Sie überlegte, ob es nicht doch besser wäre, die Kinder nach Sophienlust zurückzubringen und auf sie zu verzichten, obwohl sie sie liebgewonnen hatte. Doch dann hätte sie Frau von Schoenecker gestehen müssen, daß sie Corwin und Cora gegen den Willen ihres Mannes nach Augsburg mitgenommen hatte.

Mitten in ihre Gedanken hinein hörte sie die Stimme ihres Sohnes: »Vati, sie haben mir heute mein liebstes Tierbilderbuch zerrissen.«

Wütend sprang Martina auf und lief ins Eßzimmer hinüber.

Kersten stand an der Tür, die zum Flur führte.

»Vielleicht erzählst du deinem Vater auch, daß dieses liebste Buch von dir selbst aussortiert und auf den Boden gebracht worden ist«, sagte Martina mit scharfer Stimme.

»Ist doch egal, aber es ist immer noch mein Buch«, erwiderte Kersten trotzig.

»Für Bilderbücher bist du nun wirklich schon zu groß«, sagte der Vater wider Kerstens Erwarten. Er schob seinen geleerten Eßteller zurück. »Kümmere dich lieber um deine Schularbeiten«, fuhr er fort. »Das wollte ich dir längst einmal sagen, daß mir dein vieles Herumtreiben mit dein Fahrrad nicht gefällt. Deine Schulnoten werden immer schlechter.«

Mit offenem Mund starrte der Junge seinen Vater an, dann drehte er sich um und lief beleidigt in sein Zimmer hinauf.

Auch Martina war über Günthers Reaktion erstaunt, doch sie ahnte, daß ihr noch ein Sturm bevorstand. Schweigend räumte sie den Eßtisch ab und ging hinüber in die Küche.

Als sie kurz darauf das Wohnzimmer betrat, lief dort ihr Mann wie ein wildgewordener Stier von einer Seite des Raumes zur anderen. Bei ihrem Eintritt blieb er vor ihr stehen und sagte drohend: »Habe ich dir nicht aufgetragen, diese Unruhestifter zurückzubringen?«

»Aber Günther, es sind doch nicht die Zwillinge, die Unruhe ins Haus bringen, sondern nur du und Kersten«, widersprach Martina.

»Natürlich, immer nur wir«, brauste er auf. »Merkst du denn nicht, daß sich unser Kersten mit den Kindern nicht verträgt, nie vertragen wird?«

»Nur weil du ihm ein so schlechtes Beispiel gibst«, erwiderte die junge Frau erregt. »Er ist sonst nicht so, bisher hat er sogar oft bei kleineren Nachbarskindern den Beschützer gespielt.«

»Mit denen muß er ja auch nicht die Liebe seiner Mutter teilen«, argumentierte Günther.

»Unterstütze doch nicht immer seinen Egoismus«, bat Martina. »Ich liebe ihn noch genauso wie vorher. Es ist für ihn sowieso nicht gut, als Einzelkind aufzuwachsen, weil er immer mehr glauben wird, alles habe sich nur um ihn zu drehen. Es wäre daher nur gut für ihn, wenn er noch Geschwister hätte.«

»Das sind doch nur Spitzfindigkeiten«, behauptete Günther. »Ich will endlich wieder Frieden im Hause haben. Morgen bringst du die Zwillinge endgültig nach Sophienlust zurück.«

»Lasse sie mir wenigstens noch bis Pfingsten«, bat Martina.

»Nein! Je länger du sie hierbehältst, um so schwerer wird dir die Trennung von ihnen fallen. Ich werde unseren Rechtsanwalt beauftragen, sich wegen dem Unterhalt der Kinder mit Sophienlust in Verbindung zu setzen. Und damit Schluß! Ich gehe jetzt in mein Arbeitszimmer, ich habe noch zu arbeiten.«

Wo sind nur unsere gemütlichen Abende geblieben, fragte sich jetzt auch Martina, als sie allein im Wohnzimmer zurückgeblieben war. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Ihr Herz war voller Traurigkeit. Sie ging auf die Terrasse hinaus und setzte sich in einen Liegestuhl. Hier draußen war alles so friedlich. Am dunklen Himmel blitzten unzählige Sterne, um sie herum war die Luft vom Zirpen der Grillen erfüllt. Langsam kam der Friede der Nacht auch über sie. Sie wußte jetzt, was sie tun mußte.

Auch wenn sie es schmerzte, sie mußte auf die Zwillinge verzichten, um nicht Kersten und auch Günther zu verlieren. Nicht nur, daß diese beiden bisher ihr ganzer Lebensinhalt waren, sie hatten auch die älteren Rechte. Dabei ist mein Herz so groß, daß auch die Zwillinge darin noch einen Platz fänden, dachte sie deprimiert.

*

Martina hatte in der Nacht zum Dienstag lange wachgelegen. Als ihr Mann das Schlafzimmer betrat, war es längst nach Mitternacht. Sie hatte sich schlafend gestellt, um nicht mit ihm reden zu müssen. Auch wenn sie sich entschlossen hatte, die Kinder zurückzubringen, so war sie ihm doch bitterböse, weil er sie dazu zwang.

Irgendwann war sie dann doch eingeschlafen. Sie wachte erst wieder auf, als sich zwei Kinderärmchen um ihren Hals legten.

»Der böse Onkel und der böse Kersten sind weg«, sagte Corwin. »Darf ich in dein Bett?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, kuschelte er sich an ihre Seite und drückte sich eng an sie.

»Ich auch, ich auch«, krähte Cora kletterte über Corwin und Martina hinweg und schmiegte sich von der anderen Seite an. Innig drückte Martina die Kinder an sich und schmuste eine Weile mit ihnen herum.

Die Zärtlichkeiten der beiden Kinder bedrückten die junge Frau noch mehr. Sie kam sich schlecht vor, die Kinder nun zurückzubringen. Mußte es unbedingt heute sein, fragte sie sich. Wenigstens diesen Tag wollte sie mit den Kindern noch genießen. Sie beschloß, mit ihnen in die Stadt zu fahren und in den Tiergarten zu gehen, wo sie auch essen konnten. Aber zuerst würde sie mit ihnen ein Kaufhaus aufsuchen, um die Kinder von Kopf bis Fuß neu einzukleiden.

»Wir müssen jetzt aufstehen«, sagte sie zu den Kleinen. »Wir werden in die Stadt fahren. Dort werde ich euch viele, viele Tiere zeigen. Habt ihr Lust dazu?«

»Au fein«, rief Corwin und sprang vom Bett herunter. »Gibt’s da so viele, wie bei Tante Andrea?«

»Ich glaube, viel, viel mehr«, erwiderte Martina. Sie war auch aufgestanden und hob jetzt das kleine Mädchen aus dem Bett.

»Kann man sie streicheln?« fragte Cora.

Ihre Tante lachte. Sie dachte an die wilden Tiere im Zoo. »Das glaube ich kaum«, erwiderte sie.

Als sie kurz darauf mit den Kindern die Küche betrat, war Agnes bereits anwesend. »Ich bin heute wegen der Zwillinge früher gekommen«, sagte sie. »Da traf ich Ihren Mann und Kersten schon am Küchentisch vor.«

»Ich bin heute zwar spät dran, aber die beiden scheinen ja besonders früh aufgestanden zu sein. Offensichtlich wollte mein Mann mir nicht begegnen, und wie in der letzten Zeit üblich hat sich Kersten ihm angeschlossen, trotz seiner gestrigen Abfuhr.« Sie hob die Kinder auf die Stühle.

»Es hat wohl gestern abend wieder eine Auseinandersetzung gegeben«, sagte Agnes mitleidig. Sie nahm das gebrauchte Geschirr ihres Chefs und seines Sohnes vom Tisch und stellte es in das Abwaschbecken. Dann holte sie für die Neuankömmlinge frische Tassen und Teller aus dem Schrank und füllte diese.

»Bitte holen Sie sich auch eine Tasse, Frau Winkler«, sagte Martina. Sie sah zum Fenster hinaus. Es schien ein schöner Tag zu werden. »Wie schön könnte alles sein«, seufzte sie. »Frau Winkler, ich werde morgen die Kinder zurückbringen, es bleibt mir nichts anderes übrig.«

Mitfühlend nickte Agnes. »Ich verstehe. Es ist auch sicher besser für die Kleinen, sie fühlen sich hier nicht wohl. Wenn ich könnte, würde ich sie zu mir nehmen, aber leider…« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich könnte ihnen nicht viel bieten«, fuhr sie fort. »Ich verstehe Ihren Mann nicht.«

»Ich hatte bisher angenommen, wir wären ein Herz und eine Seele«, sagte Martina bedrückt, »aber nun habe ich erkennen müssen, daß ich ihn gar nicht richtig kannte, wenigstens von dieser Seite nicht. Und doch liebe ich ihn noch immer. Somit bleibt mir keine andere Wahl, als die Kinder nach Sophienlust zurückzubringen.«

Bei dem Wort Sophienlust wurden die Zwillinge aufmerksam. »Zu Tante Isi und Tante Ma?« fragte Corwin ­aufgeregt. »Cora, wir fahren heute

zu Tante Ma und Tante Isi«, jubelte

er.

»Das ist fein. Ich hole meinen Teddy.« Flink rutschte Cora von ihrem Stuhl herunter, um nach oben zu laufen.

»Halt«, rief Martina und hielt sie fest. »Wir fahren doch erst morgen. Heute möchte ich mit euch in den Tiergarten, und euch vorher noch schöne Sachen kaufen.«

»Wir können ruhig heute fahren«, schlug Corwin vor. »Tiere gibt’s daheim auch.«

»Bitte, schenkt mir noch den heutigen Tag«, bat Martina.

»Na, wenn du willst, fahren wir eben morgen«, kam es langgezogen aus Corwins Mund.

Die Frau bemühte sich, ihre Tränen zu unterdrücken. Es war wie ein Dolchstoß für sie gewesen, als sie die Freude der Zwillinge sah, wieder nach Sophienlust zurückkehren zu dürfen.

»Sie wollen mit den beiden Kleinen in die Stadt?« fragte Agnes. »Das ist doch zu anstrengend für Sie, Frau Reichel. Sie können bei dem Betrieb in der Stadt nicht gleichzeitig auf beide Kinder aufpassen.«

Sinnend blickte Martina auf die Zwillinge, die erwartungsvoll zu ihr aufsahen. »Da haben Sie wahrscheinlich recht, Frau Winkler«, erwiderte sie. »Wissen Sie was, Sie begleiten uns. Machen wir uns eben alle einen schönen Tag.«

»Und die Arbeit hier?« fragte Agnes überrascht.

»Bleibt einmal liegen. Räumen Sie nur noch die Küche auf, während ich mich und die Kinder zurechtmache. Ich werde unsere Nachbarin anrufen und sie bitten, sich um Kersten zu kümmern, wenn er aus der Schule kommt. Wir haben das ja auch schon öfter für ihre Kinder getan.« Sie nickte ihrer Haushaltshilfe zu und eilte mit den Kindern nach oben.

*

Der Ausflug in die Stadt wurde für alle ein schönes Erlebnis. Nicht nur die neuen Kleider und der Besuch des Tiergartens machten die Zwillinge glücklich, sie kamen auch an einem Platz vorbei, wo vorübergehend ein kleiner Vergnügungspark aufgebaut worden war. So etwas hatten die Kinder noch nicht gesehen.

Am späten Nachmittag fuhren sie nach Hause zurück. Die Kinder waren, von den vielen neuen Eindrücken ermüdet, im Fond des Wagens in den Armen Agnes’ eingeschlafen.

Martina hielt gerade vor ihrem Haus den Wagen an, als die Nachbarin am Zaun erschien. »Frau Reichel!« rief sie, als Martina ausgestiegen war. »Einen Augenblick, Frau Reichel.«

»Ja, Frau Gehricke?« Martina ging zum Zaun. »Hoffentlich ist mit Kersten alles glattgegangen«, sagte sie beunruhigt, weil sie ihren Sohn nicht sah.

»Keine Sorge, ich komme mit Ihrem Sohn gut zurecht«, beruhigte sie die Nachbarin. »Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen. Ihr Sohn hat mich gebeten, bei seinem Vater anrufen zu dürfen. Kurz darauf ist Ihr Mann zu mir gekommen, um Kersten abzuholen und mit ihm wegzufahren.«

»Wieso denn das?« fragte Martina erstaunt. »Hat Ihnen mein Mann nicht den Grund dazu gesagt?«

»Nein, nur daß er zuvor in der Wohnung gewesen wäre und Ihnen einen Brief dagelassen hätte. Sie wüßten dann schon Bescheid, hat er gesagt.« Neugierig starrte die Nachbarin sie an.

Sich mühsam beherrschend sagte Martina: »Vielen Dank, Frau Gehricke. Ich werde ja gleich erfahren, warum mein Mann so plötzlich mit Kersten wegfahren mußte.« Sie nickte der Nachbarin zu und kehrte zu ihrem Haus zurück. Es war ihr, als ob sie auf Watte ginge und sie jederzeit zusammenbrechen würde. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

Agnes hatte inzwischen schon die Kinder ins Haus gebracht. Sie kam jetzt der jungen Frau entgegen. Als sie deren weißes Gesicht sah, fragte sie erschrocken: »Ist was passiert?«

»Das werden wir gleich wissen«, erwiderte Martina mit tonloser Stimme. Sie sah sich suchend im Flur um. Auf dem Flurgarderobenschränkchen lag ein weißer Umschlag. Mit zitternden Händen zog sie Günthers Schreiben hervor. Ihre Ahnung bewahrheitete sich, ihr Mann hatte sie mit Kersten verlassen. Das Schreiben enthielt nur ein paar Sätze, ohne Anrede, ohne Unterschrift:

»Du hast mich nicht ernst genommen, als ich sagte, ich oder die Zwillinge. Kersten rief mich an, daß du mit ihnen in die Stadt in den Tiergarten gefahren wärst, anstatt nach Sophienlust. Demnach hast du dich also für sie entschieden, ich mich für Kersten.«

Martina wurde es schwarz vor Augen. Lautlos brach sie zusammen.

*

Zwei Tage später wurden die Zwillinge nach Sophienlust zurückgebracht. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Warum brachte man sie zurück? Da waren erst Mama und Papa, die so oft nicht da waren, aber doch immer wiederkehrten und ihnen Geschenke mitbrachten, bis sie dann plötzlich ganz wegblieben. Dann wurden sie von Tante Marty, die wie ihre Mama aussah, aus dem Heim, wo alle so lieb zu ihnen gewesen waren, geholt, und nun wollte diese von einem Tag auf den anderen auch nichts mehr von ihnen wissen.

Verstört saßen sie im Fond des Wagens, eng aneinander gekuschelt und ihre Teddys fest an sich gedrückt. Verstohlen warf Corwin ab und zu einen Blick auf die teilnahmslos neben ihnen sitzende Tante, die mit einem Mal so fremd wirkte.

Am Steuer des Wagens saß Agnes Winkler. Sie war gegen diese Fahrt gewesen, da ihr der Arzt gesagt hatte, daß Martina nach ihrem Zusammenbruch mindestens eine Woche im Bett bleiben müßte. Agnes hatte seitdem die Nächte im Hause der Reichels verbracht, weil sie die junge Frau nicht allein lassen wollte. Auf Martinas Bitte hin hatte sie unter einem anderen Namen – Martina wollte jeden Skandal vermeiden – in der Spielzeugfabrik angerufen und nach dem Chef gefragt. Dort hatte man ihr nur sagen können, daß dieser mit unbekanntem Ziel in Urlaub gefahren sei. Wie lange er fortbleiben würde, könne man ihr nicht sagen.

Nach dieser Auskunft hatte es Martina im Bett nicht mehr ausgehalten. Sie hatte sofort den Entschluß gefaßt, ihren Mann und Kersten suchen zu gehen, aber zuvor die Zwillinge in Sophienlust abzuliefern.

Mit Mühe und Not hatte Agnes wenigstens erreicht, daß sie den Wagen fahren durfte, da Martinas Zustand noch immer schlecht war.

Durch den Rückspiegel beobachtete Frau Winkler die junge Frau besorgt. Die beiden letzten Tage hatten sie arg mitgenommen. Unter den Augen Martinas lagen dunkle Ringe, sie konnte keinen Augenblick ihre Hände still halten.

»Sie hätten noch im Bett bleiben müssen, Frau Reichel«, sagte sie. »Ich hätte doch gut allein mit den Kindern nach Sophienlust fahren können.«

Ich habe die Kinder in diese unglückliche Lage gebracht. Es ist daher meine Pflicht, sie auch zurückzubringen und mich persönlich Frau von Schoenecker gegenüber zu meiner Schuld zu bekennen«, erwiderte Martina.

»Es ist nicht Ihre Schuld allein, Sie haben es nur gut gemeint«, sagte Agnes.

»Wir sind gleich in Sophienlust, da ist schon das erste Hinweisschild«, sagte Martina ablenkend. Sie warf einen schmerzlichen Blick auf die Kinder.

Corwin hob den Kopf, er erkannte die Umgebung. »Cora, wir sind bald bei Tante Ma«, flüsterte er ihr zu.

»Hier ist wohl die Einfahrt«, sagte Agnes, passierte das schmiedeeiserne Tor und hielt kurz darauf den Wagen vor der Freitreppe an.

Noch ehe das Fahrzeug richtig stand, hatte Martina schon die Tür aufgestoßen. Sie hastete die Treppe hoch und schlug mit den Fäusten auf die geschlossene Tür ein.

Das Portal schwang auf, Frau Rennert stand auf der Schwelle und starrte erschrocken auf die aufgeregte Frau. »Was ist denn passiert?« rief sie.

Martina sah nicht die Kinder, die aus dem Speisesaal in die Halle liefen, sie sah nur Frau Rennert und schrie hysterisch: »Ich bringe die Kinder zurück! Sie sind in keinem guten Zustand, und es ist meine Schuld!« Sie zitterte am ganzen Körper, Nebel wallte vor ihren Augen auf, sie taumelte. Die Heimleiterin konnte sie gerade noch auffangen.

*

Sophienlust verfügte über ein Erste-Hilfe-Zimmer, das zweckentsprechend mit einer Untersuchungsliste, Bestrahlungslampen, einem Instrumentenschrank und einer großen Hausapotheke, die Schwester Regine verwaltete, ausgestattet war.

In diesem Zimmer untersuchte Frau Dr. Anja Frey, die mit ihrem Mann Dr. Stefan Frey eine gemeinsame Praxis in Wildmoos besaß, gewöhnlich ihre kleinen Patienten, impfte und behandelte sie.

Daneben gab es noch ein Krankenzimmer. Es war mit weißen Stahlrohrmöbeln eingerichtet. Hier wurden die nur leicht erkrankten Kinder von Schwester Regine, die ja auch Krankenschwester war, gepflegt.

Jetzt lag in dem einen Bett Martina. Nach dem Anruf Frau Rennerts war die Ärztin sofort gekommen, hatte Martina untersucht und ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Nachdem Frau Reichel eingeschlafen war, schrieb Frau Dr. Frey ein Rezept aus und übergab es Schwester Regine.

Agnes Winkler trat nach vorherigem Anklopfen ein. »Was ist mit Frau Reichel?« fragte sie. »Ich habe ihr immer wieder gesagt, daß sie vor einer Woche nicht aufstehen dürfe, aber sie wollte nicht auf mich hören.«

»Dann ist es kein Wunder, daß Frau Reichel wieder zusammengebrochen ist«, erwiderte die Ärztin. »Sie ist ein labiler Mensch, der mit den seelischen Aufregungen nicht fertig wird. Körperlich ist sie gesund. Was sie braucht ist Ruhe und nochmals Ruhe.«

»Ich glaube, sie braucht auch die Kinder«, sagte Agnes leise. »Es sind zwar die Kinder ihrer Schwester, doch sie liebt sie aufrichtig. Was ihr auch fehlt, ist die Verantwortung.«

»Hat sie dafür nicht einen Mann und einen Sohn?« fragte die Ärztin.

»Einen Mann, der nur selten für sie und den Sohn Zeit findet, und einen Sohn, der mit seinen elf Jahren immer mehr seine eigenen Wege geht. Sie hätte gern mehr Kinder gehabt, aber das war ihr leider versagt.«

Dr. Frey lächelte. »Sie haben aber eine sehr gute Beobachtungsgabe, Frau Winkler.«

»Ich arbeite ja auch schon jahrelang für die Reichels«, erklärte Agnes.

Frau Rennert kam ins Zimmer. »Ich habe soeben mit Frau von Schoenecker telefoniert, sie wird am Nachmittag herkommen. Sie läßt sie bitten, Frau Winkler, auf sie zu warten. Sie möchte mit Ihnen sprechen, da ja Frau Reichel zur Zeit nicht ansprechbar ist.«

»Dann wird es für mich zu spät zur Rückfahrt.«

»Sie können hier übernachten und morgen früh fahren«, meinte die Heimleiterin.

»Danke, ich nehme Ihr Angebot gern an«, erwiderte Agnes. »Wie geht’s den Kindern?«

»Sie sind noch immer sehr verstört«, antwortete Else Rennert. »Dauernd jammern sie, daß ihre Tante Marty sie jetzt auch nicht mehr mag. Ich habe ihnen erzählt, daß das nicht wahr ist, sondern ihre Tante nur krank sei. Pünktchen ist bei ihnen und versucht sie zu trösten.«

»Ich werde noch einmal nach ihnen sehen, bevor ich nach Hause fahre«, sagte Dr. Frey. Sie wandte sich an die Schwester: »Sollten doch irgendwelche Komplikationen eintreten, dann rufen Sie mich bitte sofort an, Schwester Regine.« Sie nickte den drei Frauen zu, bevor sie mit ihrer Arzttasche das Krankenzimmer verließ.

*

Günther Reichel war es nicht gewohnt, ungeplant eine Reise anzutreten. Doch diesmal hatte er gegen seine Gewohnheit gehandelt. Als ihn am Dienstag Kersten angerufen hatte, um sich bei ihm darüber zu beschweren, daß die Mutter mit den Zwillingen in die Stadt gefahren sei, um für sie einzukaufen und mit ihnen auch noch den Tiergarten zu besuchen, hatte Günther die Wut gepackt. Vor allem, weil er sich vor seinem Sohn gedemütigt vorkam, da sich Martina nicht nach seinen Wünschen richtete. Er fragte sich, wie sein Sohn vor ihm Respekt haben sollte, wenn er zu Hause nichts zu sagen hatte. Er konnte es nicht länger dulden, daß seine Frau ihn noch länger an der Nase herumführte. Er beschloß daher, ihr einen Denkzettel zu verpassen, und mit Kersten irgendwohin zu fahren. Nur über das Ziel konnte er sich nicht schlüssig werden.

Doch während er zu Hause die nötigsten Sachen für sich und Kersten in einen Koffer warf, fiel ihm ein Freund seines verstorbenen Vaters ein, der in Württemberg lebte, und bei dem er als Kind ein paarmal die Ferien verbracht hatte.

Fritz Hagemann hieß er. Nach seiner Pensionierung war er mit seiner Frau in ein Haus am Waldesrand gezogen, weil er sich – als ehemaliger Förster – nicht von seinem geliebten Wald trennen konnte. Vor ein paar Jahren war seine Frau gestorben. Seine Tochter Lenore meinte daraufhin, er solle wieder ins alte Försterhaus ziehen, aber das wollte er nicht.

*

»Alt und Jung eng zusammen ist nichts«, sagte er jetzt wieder zu seinem Gast, während er Tabak in seine Pfeife stopfte und anzündete.

»Vatis Zigaretten riechen besser«, stellte Kersten, der in einer Ecke der großen Stube hockte und mit den Welpen der schon bejahrten Dackeldame Asta spielte, laut fest.

»Aber Kersten«, mahnte der Vater.

»Laß man, Günther. Lenore findet auch, daß ich ein schauderhaftes Kraut rauche, aber mir schmeckt es.«

»Sie müssen entschuldigen, Herr Hagemann, daß ich Ihnen so selten geschrieben habe, aber meine Zeit…«

»… war immer knapp«, vollendete der alte Förster lachend. »Ihr Stadtleute habt doch nie Zeit. Um so mehr hat es mich gefreut, daß du endlich mal meiner vor längerer Zeit erfolgten Einladung nachgekommen bist. Allerdings hatte ich erwartet, daß dann deine Frau mitkommen würde.«

»Na ja, ein andermal vielleicht.«

»Wenn ihr euch wieder versöhnt habt. Hoffentlich bald!«

»Kann ich mit Asta nach draußen?« fragte Kersten.

»Das wird sie nicht wollen, wo sie die Jungen hat«, sagte Fritz Hagemann. »Aus Erfahrung weiß sie, daß man sie ihr nach einer gewissen Zeit wegnimmt, daher läßt sie ihre Welpen ungern allein.«

»Wo kommen denn die Jungen hin, Herr Hagemann?« fragte der Junge.

»Du willst wohl einen haben?«

»O ja, das wäre fein«, rief Kersten begeistert aus. »Darf ich den hier haben?« Er hob einen Welpen hoch, der besonders drollig aussah.

»Von mir aus«, erwiderte der alte Herr. »Ich kann sie ja nicht alle behalten. Mein Schwiegersohn bekommt einen, ein anderer geht ins Dorf. Und ein Junges darf Asta behalten, somit wäre eins frei.«

»Ich werde wohl gar nicht gefragt«, mischte sich Günther ein. »Ich weiß nicht, ob wir das deiner Mutter zumuten dürfen. Ein junger Hund macht viel Dreck, und entwöhnt muß er auch noch werden.«

»Letzteres ist nicht mehr so wichtig, immerhin sind die Welpen schon fast sechs Wochen alt«, meinte der Förster. »Und ein Hund ist zur Sauberkeit leicht zu erziehen. Durch ihre Mutter haben sie bereits gelernt, draußen ihr Geschäftchen zu verrichten. Du hast doch einen großen Garten, Günther.«

»Trotzdem können wir den Hund nicht mitnehmen«, widersprach der junge Mann.

»Nie erlaubst du uns was«, begehrte Kersten auf. »Mutti darf die Zwillinge nicht behalten, und ich nicht den Hund. Auch das Kätzchen vom Janosch hast du mir verboten!«

Verdutzt sah der Vater seinen Sohn an. »Da hört sich doch alles auf«, fuhr er ihn an. »Wer hat sich denn gegen die Zwillinge gestellt? Noch vor zwei Tagen hast du mir vorgejammert, daß deine Mutter mit ihnen ohne dich zum Tiergarten gefahren sei.«

»Na ja, das schon«, gab Kersten zu. »Aber wenn du nicht immer auf die Zwillinge geschimpft hättest und…«

»Das ist doch ganz was anderes. Ich hatte schließlich triftige Gründe. Deine Mutter hat genug Arbeit mit dir, sie sollte sich nicht überarbeiten.«

»Ich werde ihr nicht mehr so viel Arbeit machen«, behauptete Kersten. »Den Hund werde ich auch ganz allein versorgen, du wirst sehen, Vati.«

»Ja, das werde ich sehen«, ereiferte sich Günther. »Wie du es immer machst. Schließlich bist du tagsüber in der Schule. Wann willst du deine Schularbeiten machen? Du bist schlecht in Mathe, schon deswegen hätte ich dich eigentlich nicht einige Tage vor den Pfingstferien von der Schule beurlauben lassen dürfen. Du magst zwar den guten Willen haben, aber letzten Endes bleibt allein deiner Mutter die Betreuung deines Hundes überlassen.«

»Mutti ist nicht so. Und Frau Winkler ist ja auch noch da«, meinte Kersten. »Weißt du was? Laß Mutti die Zwillinge, dann hast sie auch bestimmt nichts gegen den Hund.«

Günther blieb erst einmal die Luft weg. Noch bevor er sich gefaßt hatte, brach der alte Förster in ein lautes Lachen aus. Dann sagte er unter Prusten: »Dein Sohn gefällt mir. Für den Welpen würde er sogar die Zwillinge in Kauf nehmen.«

»Och, so schlimm waren die beiden eigentlich nicht«, meinte jetzt der Elf­jährige. »Und das mit dem Buch war gemein von mir.«

»Eine späte Einsicht«, murrte der Vater.

»Wenigstens bekennt sich dein Sohn dazu, daß er im Unrecht war«, meinte der alte Herr. »Aber wie steht’s mit dir, Günther? Sei doch mal ehrlich. Hast du nicht nur Angst um deine eigene Bequemlichkeit? Vielleicht steckt auch ein Schuß Eifersucht dahinter.«

»Bestimmt nicht«, begehrte Gün­ther auf. »Meine Frau denkt sich alles so leicht, ich…«

»Papperlapapp«, unterbrach ihn der alte Herr. »Meine Frau hat fünf Kinder großgezogen, ohne mir jemals etwas vorzujammern. Und meine Lenore hat vier Kinder.«

»Warum sind Sie von Ihrer Tochter weggezogen, Herr Hagemann? Doch sicherlich auch nur aus Bequemlichkeit«, sagte Günther.

»Ja, das stimmt«, gab der Alte unumwunden zu, »doch schließlich bin ich über siebzig, da hat man sich seine Ruhe redlich verdient. Aber ich freue mich jedesmal, wenn ich mit meinen Enkeln zusammenkomme. Du aber bist noch nicht einmal vierzig! Wenn du nun eine Schwester gehabt hättest, und die wäre gestorben und hätte ein Kind hinterlassen, würdest du dich dann auch so egoistisch verhalten?«

»Ein Kind, hier sind’s doch zwei.«

»Na und? Wenn du jetzt arm wärst und nicht verkraften könntest! Es war wirklich nicht recht, daß du deine Frau im Stich gelassen hast.«

»Zum Donnerwetter noch mal«, brauste Günther auf. »Haben Sie mir nicht schon einmal denselben Vortrag bei unserer Ankunft gehalten? Seit wir hier sind, habe ich mir immer wieder alles durch den Kopf gehen lassen. Es tut mir ja schon längst leid, aber ich kann doch schließlich nicht bei meiner Frau zu Kreuze kriechen.«

»Wenn man im Unrecht ist, sollte man seinen Stolz vergessen«, meinte der Alte ruhig. »Versetze dich doch mal in die Lage deiner Frau. Was mag sie empfunden haben, als du mit Kersten einfach so sang- und klanglos verschwandest? Sie liebt euch doch, oder zweifelst du etwa daran, weil sie sich der Kinder ihrer Schwester annehmen will?«

»Nein, daran zweifle ich nicht«, erwiderte Günther nachdenklich. »Sie haben schon recht, es war nicht nur dumm, sondern auch verantwortungslos von mir. Sie hatte sich so auf Pfingsten gefreut.« Er atmete tief ein, dann gestand er: »Ich glaube, ich habe nur die Antipathie gegenüber meiner Schwägerin auf die Kinder übertragen. Dabei sind die Zwillinge eigentlich sehr nett, nur sehr tolpatschig.«

»Wie die meisten Kinder in diesem Alter«, sagte der alte Herr.

»Was meinst du, Kersten, wollen wir Pfingsten nicht doch zu Hause verleben«, fragte Günther.

»Von mir aus schon, Vati. Ich wollte nur nichts sagen, aber ich habe große Sehnsucht nach Mutti. Pfingsten war es bisher immer so schön bei uns.«

Günther dachte wehmütig daran, wie sie die Feiertage genossen hatten.

»Corwin und Cora sind eigentlich sehr drollig«, meinte Kersten in seine Gedanken hinein. »Ob sie schon auf meinen Hund aufpassen können, wenn ich in der Schule bin?«

»Sicherlich«, erwiderte der Vater. Zum ersten Mal seit Tagen lächelte er wieder. »Wie schnell sich doch die Ansichten eines Kindes ändern«, meinte er zu Fritz Hagemann.

»Wenn erst mal der Vater vernünftig wird«, erwiderte der alte Herr belustigt.

»Fahren wir schon morgen?« fragte Kersten eifrig.

»Wenn, dann möchte ich auch bald fahren«, gestand Günther, »nur…« Er zögerte, dann fuhr er fort: »Wissen Sie noch, Herr Hagemann, als ich als Zwölfjähriger mit Ihnen auf dem Hochsitz war, um die Tiere des Waldes zu beobachten? Manchmal ist man auch als Erwachsener wie ein Kind. Ich habe mir gewünscht, das noch einmal zu erleben.«

»Dem kann abgeholfen werden«, sagte der alte Förster schmunzelnd. »Wenn ich auch nicht mehr der Herr dieses Reviers bin, mein Schwiegersohn hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich mit euch auf den Hochsitz steige.«

»Au fein«, schrie Kersten. »Da darf ich doch mit?«

»Die Leiter schwankt beim Auf- und Abstieg«, warnte der Vater. »Das kann gefährlich werden.«

»War’s doch für dich auch nicht«, argumentierte Kersten. »Du warst damals zwar ein Jahr älter, aber das macht nichts aus. Im übrigen bin ich der beste Turner der Klasse.«

»Den Klassenbesten müssen wir natürlich mitnehmen«, sagte der Alte lachend. »Wir nehmen ihn beim Klettern einfach zwischen uns.«

»Wenn Sie meinen«, gab Günther nach. Aber danach werden wir gleich nach Hause fahren, wir müssen also schon heute packen.«

*

Es war noch ziemlich dunkel, als der alte Förster mit seinen Gästen durch den Wald ging. Für den alten Hagemann hatte die Umgebung auch um diese Zeit etwas Vertrautes. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte er den Wald betreten. Aber für die beiden Reichels wirkte er um diese frühe Morgenstunde fremd.

Sie mußten eine ziemliche Strecke zurücklegen, ehe sie zu dem Platz kamen, wo der Hochsitz stand. Die Bäume rauschten geheimnisvoll, die Stille ringsumher wurde nur ab und zu durch ein leises Rascheln irgendwo im Gebüsch oder Knacken von Ästen im Unterholz unterbrochen. Dies alles hatte für Kersten etwas Bedrohliches an sich. Allein wäre er um diese Stunde ganz gewiß nicht durch einen Wald gegangen.

Vor ihnen tauchte eine große Lichtung auf. An der einen Seite erhob sich ein hohes Gerüst mit einer Plattform, die von einer hölzernen Brüstung umgeben war. Eine zerbrechlich aussehende Leiter führte zu ihr hinauf.

»Hoffentlich bist du schwindelfrei, junger Mann«, scherzte Fritz Hagemann.

»Na klar«, behauptete der Junge selbstbewußt.

»Ich erkenne den Platz wieder«, sagte Günther. »Hier bin ich damals auch hochgeklettert.« Er wandte sich an seinen Sohn. »Kersten, wenn du hochsteigst, halte dich gut fest.« Er selbst stieg vorsichtig die Sprossen hoch. »Ich hatte es leichter in Erinnerung«, rief er dann von oben herunter.

Auch Kersten hatte sich die Klettertour einfacher vorgestellt. Die Sprossenabstände waren ziemlich groß, und je weiter er nach oben kam, um so mehr schwankte die Leiter. Er war froh, als er endlich neben dem Vater auf dem Hochsitz stand. Trotzdem hatte ihm das Klettern Spaß gemacht.

Dem ehemaligen Förster schien die hohe Leiter nichts auszumachen. In null Komma nichts war er oben.

Langsam wich die Dämmerung. Östlich glomm ein rötlicher Schein hinter den Bäumen auf. An einer Seite der Schneise bewegte sich etwas. Ein Hirsch tauchte aus dem Dunkel des Waldes mit hocherhobenem Haupt auf. Aufmerksam beobachtete er die Umgebung, bevor er langsam auf die Lichtung heraustrat. Ein paar Rehe folgten ihm.

Der alte Förster nahm das Fernglas von seinen Augen und reichte es Günther.

»Ich auch«, schrie Kersten aufgeregt und langte nach dem Glas.

Die Tiere unten spitzten die Ohren, dann verschwanden sie wie ein Blitz wieder hinter den Bäumen.

»Och!« sagte der Junge enttäuscht.

»Du warst zu laut, mein Sohn«, erklärte Fritz Hagemann.

»Das konnten die da unten doch nicht hören«, meinte Kersten.

»Hast du eine Ahnung! Waldtiere verfügen über ein ausgezeichnetes Gehör.«

Der rötliche Schein hinter den Bäumen war höher heraufgezogen und breiter geworden. Der Horizont wurde immer heller, der Wald belebte sich. Wieder traten einige Waldtiere auf die Lichtung hinaus, Vögel fingen an zu zwitschern. Der Tag war erwacht.

»Ich sitze oft hier oben und denke an vergangene Zeiten zurück«, sagte Fritz Hagemann. »Und ich bin dankbar dafür, daß ich mein Leben in diesem herrlichen Stück Natur habe verbringen dürfen und es auch hier vollenden kann.«

»Man könnte Sie wirklich darum beneiden«, erwiderte Günther. »Ich muß gestehen, erst in letzter Zeit ist mir so richtig aufgegangen, was man als Stadtmensch alles versäumt. Da sitzt man jahraus, jahrein in einem stickigen Büro, statt öfter in die Natur hinauszuwandern. Es ist für uns noch nicht zu spät«, stellte er dann fest und wandte sich an seinen Sohn: »Was hältst du davon, wenn wir in Zukunft mehr Ausflüge in die Natur machen?«

»Mit dem Rad ja, aber mit dem Auto fährt man doch nur schnell durch.«

»Fahrradfahren können die Zwillinge noch nicht«, gab der Vater zu bedenken. Es fiel ihm gar nicht auf, für wie selbstverständlich er es jetzt hielt, daß Corwin und Cora mit dabei sein würden.

»Gefällt es dir hier oben, Kersten?« fragte der alte Förster.

»Einfach Klasse.« Der Junge dachte daran, wie er vor seinen Klassenkameraden damit prahlen konnte.

Nach fast einer Stunde Aufenthalt auf der Plattform machten sich die drei wieder an den Abstieg. Zuerst stieg der alte Mann die Leiter hinunter, dann folgte Kersten.

Der war froh, daß er wieder Boden unter den Füßen spürte. Nicht, daß ihm beim Abstieg schwindlig geworden wäre, aber er kam ihm schlimmer vor als der Aufstieg, wo er die Sprossen vor sich gesehen hatte.

Das empfand auch Günther. Vorsichtig tastete er sich von Sprosse zu Sprosse. Er hatte die Leiter schon fast bewältigt, als er eine Querverbindung verfehlte. Dabei machte er eine so ungeschickte Bewegung, daß die Leiter noch mehr schwankte und der andere Fuß auch abrutschte. Da er schon die rechte Hand gelöst hatte, um weiter nach unten zu greifen, hing er nur noch mit der anderen Hand an der Leiter.

Im Bemühen, wieder Halt zu gewinnen, rutschte er auch mit der linken Hand ab. Es ging alles rasend schnell.

Als der alte Förster Günther fallen sah, wollte er ihn noch auffangen, um den Sturz zu mildern, dabei wurde er durch den Aufprall selbst zu Boden gerissen, während der junge Mann ziemlich unsanft neben ihm landete.

»Vati!« schrie Kersten entsetzt auf. Er stürzte zu seinem Vater und kniete sich vor ihn hin. »Was ist? Du bist doch nicht verletzt? Mach doch bitte die Augen auf, Vati.« Verängstigt versuchte der Elfjährige, ihm mit Gewalt die Augen zu öffnen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.

Fritz Hagemann stand neben ihm. »Laß man, Junge, deinem Vater wird schon nichts passiert sein.« Er kniete sich neben Kersten hin.

»Da wäre ich nicht so sicher«, ächzte Günther. Er hatte die Augen aufgeschlagen und wollte sich aufraffen. »Verdammt!« entfuhr es ihm.

»Du mußt ruhig liegenbleiben, Günther. Vielleicht hast du innere Verletzungen«, sagte der alte Mann. »Wo tut es dir weh?«

»Überall«, stöhnte Günther. »Aber mein rechtes Bein besonders. Verdammt!« stieß er wieder hervor. »Ich kann es nicht bewegen.«

Geschickt tastete Fritz Hagemann das Bein ab. »Hm, vermutlich gebrochen«, sagte er dann bedauernd.

»Verd…, das hat gerade noch gefehlt«, schimpfte Günther. »Was nun?«

»Bleib ganz ruhig liegen, ich laufe zu meinem Schwiegersohn und hole Hilfe.«

»Keine Angst, weglaufen kann ich ja nicht«, erwiderte Günther grimmig. »Hoffentlich haben Sie sich nichts getan, Herr Hagemann, als ich Sie mit umriß.«

Der alte Förster grinste. »Ein paar blaue Flecken werde ich wohl haben«, erwiderte er. »Leicht bist du nicht gerade, aber ein alter knorriger Baum, wie ich es bin, hält schon was aus.« Er wandte sich an Kersten. »Du bleibst hier und paßt auf deinen Vater auf.«

»Mach ich.« Der Junge setzte sich neben seinen Vater, während sich der alte Mann auf den Weg machte. Kersten entdeckte ein Eichhörnchen, das den Stamm eines Baumes hochjagte, innehielt und neugierig zu den Menschen hinunterstarrte.

Als Kersten überrascht rief: »Ein Eichhörnchen, Vati!«, war es wie ein Blitz zwischen dem Laub verschwunden.

»Hätte ich es dir etwa fangen sollen?« versuchte Günther zu scherzen, obwohl es an seinem Körper keine Stelle zu geben schien, die ihm nicht weh tat.

Kopfschüttelnd betrachtete der Junge seinen Vater. »Na sowas«, sagte er. »Mich warnst du, und du selber purzelst herunter.«

»Nun mach dich auch noch über mich lustig. Tu ich dir nicht mal ein bißchen leid?«

»Natürlich tust du mir leid«, erwiderte Kersten, dann runzelte er die Stirn. »Aus unserem Ausflug am zweiten Pfingstfeiertag wird jetzt wohl auch nichts«, platzte er heraus. »Nun hat Mutti nicht nur die Zwillinge, sondern auch noch dich zu pflegen.«

»Ich werde wohl ins Krankenhaus müssen. Hoffentlich überweist man mich in eine Augsburger Klinik, damit ich nicht zu weit von euch weg bin«, meinte Günther besorgt.

*

Zunächst einmal sollte der Verunglückte ins Maibacher Krankenhaus. Da es wahrscheinlich noch einige Tage dauern würde, bis er nach Augsburg überführt werden konnte, bat er darum, Kersten nach Augsburg zu seiner Mutter zu bringen. Seinen Wagen wollte er später abholen lassen.

»Ob Mutti schimpfen wird, wenn sie das erfährt?« fragte Kersten.

»Weil ich mir ein Bein gebrochen habe?«

»Na ja, wenn wir nicht ausgerissen wären, wäre das doch nicht passiert, oder?«

»Damit kannst du recht haben«, brummte der Vater.

»Vati, sind wir nicht durch Maibach gekommen, als wir nach Sophienlust fuhren?«

»Stimmt«, bestätigte der Vater verdutzt. »Daran habe ich bisher gar nicht gedacht, daß der Roggendorfer Forst in der Nähe Maibachs liegt.«

»Kann ich nicht bei dir bleiben?« fragte Kersten.

»Sei froh, daß dir nichts passiert ist«, erwiderte Günther, »ein Krankenhaus nimmt kaum gesunde Fami­lienangehörige auf. Ich möchte, daß deine Mutter wenigstens einen ihrer Ausreißer baldmöglichst zurückbekommt.«

»So, Günther, jetzt lernst du auch noch das Maibacher Krankenhaus kennen«, erklärte Fritz Hagemann mit grimmigem Humor. »Wäre allerdings nicht nötig gewesen.«

»Wenn ich nicht so ein Tolpatsch gewesen wäre, wie ich noch vorher meine Zwillinge genannt habe.«

»Meine Zwillinge ist gut«, sagte der Alte grinsend.

Der alte Förster und der Fahrer, Forstgehilfe Leo Wilcke, wurden von zwei Krankenpflegern beiseite gedrängt, die schon mit einer Trage auf sie gewartet hatten, da die Tochter Hagemanns sie telefonisch alarmiert hatte.

Nachdem sein Vater ausgeladen worden war, sprang auch Kersten vom Wagen herunter, seinen Waldi, den er natürlich mitgenommen hatte, fest an sich gedrückt. Er wollte hinter der Trage herrennen, wurde aber von Fritz Hagemann zurückgehalten.

»Du kannst nicht mit rein, und mit dem Hund schon gar nicht«, sagte der alte Förster zu ihm. »Setz dich mit deinem Waldi auf eine Bank. Ich werde jetzt reingehen, um zu erfahren, was mit deinem Vater ist, und wann du zu ihm darfst.«

Leo Wilcke hatte inzwischen die Hecktür zugeschlagen. »Herr Hagemann, ich fahre den Wagen auf den Parkplatz und warte dort auf Kersten«, sagte er. »Wie kommen Sie dann aber nach Hause?«

»Na wie schon, mit dem Bus oder einem Taxi«, sagte Fritz Hagemann sarkastisch. »so senil bin ich noch nicht, daß ich ein Kindermädchen brauche.« Er verschwand im Eingang des Krankenhauses.

Gelangweilt schaute sich Kersten um. Waldi wollte auf den Boden herunter. Der Junge zog aus der Hosentasche eine Leine, die er vom alten Förster geschenkt bekommen hatte, und befestigte sie an Waldis Halsband, das auch eine Gabe des Alten war. Der Hund sträubte sich zuerst, denn er war keine Leine gewohnt, dann aber zog er Kersten zu einem Gebüsch, wo er brav sein Geschäftchen verrichtete.

»Du wirst Durst haben«, meinte Kersten, »aber wo kriege ich Wasser her?« Suchend sah er sich um. Da entdeckte er die Telefonzellen, die an der einen Seite des Krankenhauses standen.

»Mensch, wir sollten Mutti anrufen«, sagte Kersten. »Was meinst du, Waldi?«

Das kleine Hündchen jaulte.

»Du bist also meiner Meinung«, deutete Kersten Waldis Töne zu seinen Gunsten und begab sich mit dem Tier zu einer der Telefonzellen.

Es war nicht seine Mutter, die sich meldete, sondern Agnes Winkler. »Mein Gott, Kersten, du bist es! Was habt ihr uns für eine Angst eingejagt! Deine Mutter ist nicht hier, sie ist mit den Zwillingen in Sophienlust.«

»Warum denn das?« fragte Kersten verwundert.

»Na, warum wohl?« entgegnete Agnes. »Dein Vater wollte es doch so.« Sie verschwieg ihm, daß seine Mutter krank geworden war, um ihn nicht aufzuregen.

»Dann werde ich nach Sophienlust fahren«, sagte Kersten entschlossen.

»Wieso du? Wo ist denn dein Vater?«

»Im Krankenhaus, er hat sich das Bein gebrochen. Tschüs!«

Noch ehe Agnes auf diese Hiobsbotschaft reagieren und Fragen stellen konnte, hatte Kersten schon den Hörer aufgelegt.

Was sollte er jetzt tun? Er besaß kein Geld mehr, um in Sophienlust anzurufen. Sein Vater hätte ihm bestimmt das Geld gegeben, aber er war ja mit Herrn Hagemann in dem großen Gebäude verschwunden. Herr Wilcke würde es ihm bestimmt auch nicht geben, da er den Auftrag hatte, ihn nach Augsburg zu bringen.

Sein Blick fiel auf ein unverschlossenes abgestelltes Fahrrad. Auf dem Gepäckträger war ein Karton aufgeschnallt. Wenn der leer wäre… Sein Gesicht verklärte sich. Vorsichtig spähte er zum Eingang des Krankenhauses, niemand kam heraus. Er öffnete den Karton, der einen Stoß Zeitungen enthielt. Schnell nahm er ihn heraus und setzte seinen Hund hinein. Dann machte er den Karton wieder zu. Noch ein schneller Blick zum Eingang, aber niemand war zu sehen. Kersten schwang sich aufs Rad und strampelte in aller Eile davon.

Kersten sah nicht mehr, daß der Eigentümer des Rades gerade aus dem Krankenhaus kam, als er vorbeiflitzte.

Dieser versuchte nun, ihn per pedes einzuholen, während er schrie: »Haltet den Dieb!«

Kersten bog in die nächste Querstraße ein. Wie ein Hase schlug er noch einige Haken um verschiedene Stra­ßenecken. Erst als er sicher war, nicht verfolgt zu werden, hielt er an, um nach seinem Waldi zu sehen.

Der kleine Hund saß zusammengekauert da und schaute ängstlich zu ihm auf.

»Ist ja alles in Ordnung«, beruhigte Kersten ihn. »Wir müssen unbedingt nach Sophienlust.«

Waldi schien das aber gar nicht zu interessieren, er winselte und leckte ihm die Hand ab, als Kersten ein Loch in den Karton bohrte, weil er fürchtete, daß sein Hund nicht genug Luft bekam, wenn er den Karton wieder zumachte. »Okay, auf geht’s!« sagte er befriedigt

Die Sonne schien jetzt heiß vom Himmel herab. Durch das schnelle Pedaltreten war er ins Schwitzen geraten. Er hatte auch Durst bekommen, und sein Magen knurrte. Waldi wird auch durstig sein, dachte er mitleidig. Eifrig hielt er nach den Wegweisern Ausschau, und endlich sichtete er sie.

Erschöpft hielt er etwas später vor dem schmiedeeisernen Tor an und stieg ab. Seine bisherige Entschlossenheit schien dahin zu sein. Auf einmal hatte ihn der Mut verlassen. Er sagte sich, daß die Mutter vielleicht schon wieder abgefahren sei. Sicher würden ihm dann alle den Kopf waschen, weil er die Schuld daran trug, daß seine Mutter die Zwillinge wieder hatte zurückbringen müssen.

Er nahm den kleinen Welpen aus dem Karton heraus, lehnte das Rad an die Hecke und setzte sich mit dem Hündchen ins Gras.

Waldi winselte und sah ihn bittend an.

»Du hast bestimmt Durst«, sagte er. »Ich auch. Vielleicht kommt einer raus, den ich fragen kann, ob Mutti noch da ist.« Er nahm das Tier auf seinen Schoß und streichelte es.

Plötzlich schreckte Kersten hoch. Hinter der Hecke war es lebhaft geworden.

Eine Kinderstimme schrie: »Er muß bald kommen. Wollen wir ihm nicht entgegenlaufen?« Heidi kam durch das Tor gerannt. Neben ihr liefen die Zwillinge. Da Kersten auf der anderen Seite des Tores saß, sahen ihn die Kinder nicht.

»Da ist er schon«, rief Heidi und blieb mit den Kindern an der Hecke stehen.

Kersten, der bisher nur die Kinder beobachtet hatte, schaute jetzt auch auf die Straße. Ein roter Kleinbus kam heran. Er wollte gerade in die Auffahrt einbiegen, als sich die kleine Cora von Heidis Hand losriß. Mit dem Ruf: »Bus halt, will mitfahren«, stellte Cora sich mit ausgebreiteten Armen vor das Tor.

Ohne lange zu überlegen war Kersten aufgesprungen. Er hörte nicht das Jaulen seines kleinen Hundes, der unsanft auf dem Grasboden gelandet war. Er riß das kleine Mädchen beiseite, verlor dabei die Balance und fiel mit ihm ins Gras, fast auf den kleinen Hund drauf, der entsetzt zur Seite sprang und sich im Gras verkroch.

Der Fahrer saß mit leichenblassem Gesicht am Steuer. Er hatte zwar den Bus schnell abgebremst, aber er wußte genau, daß es für die Kleine zu spät gewesen wäre, wenn der Junge sie nicht weggezogen hätte. Noch saß ihm der Schock im Nacken.

Die Sophienluster Schulkinder hatten den Bus verlassen und umstanden nun Kersten und Cora, die sich beide wieder aufgerappelt hatten.

»Das ist ja Kersten«, rief Pünktchen. »Wie kommst du denn hierher?«

Corwin drängte sich mit Heidi durch die Umstehenden hindurch. »Cora, hast du dir weh getan?« fragte er und umarmte sein Schwesterchen stürmisch.

»Ich konnte nichts dafür«, sagte Heidi. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Wir wollten dem Bus entgegengehen. Plötzlich riß sich Cora los, und da… beinahe…« Sie schluchzte laut auf.

Angelika nahm sie tröstend in die Arme. »Du hast keine Schuld, Heidi«, sagte sie. »Kleine Kinder sind unberechenbar. Das sagte Tante Ma auch immer. Du darfst nie wieder mit ihnen auf die Straße gehen, hörst du?«

»Das wird sie auch nicht mehr, denn jetzt bin ich ja da«, sagte Kersten stolz. Er zog Cora und Corwin an sich. »Das sind nämlich meine Geschwister«, erklärte er, »und ich bin ihr Beschützer.«

»Ach nee«, bemerkte Fabian spöttisch, »und warum hat deine Mutter sie dann zurückgebracht?«

»Ist sie noch hier?«

»Ja, sie liegt im Krankenzimmer, so sehr hat sie sich gegrämt«, sagte Angelika erbarmungslos. »Und daran bist du und dein Vater schuld.«

»Laßt doch die Vorwürfe«, sagte Pünktchen ärgerlich. »Schließlich hat er Cora gerade das Leben gerettet.«

»Mein Vater liegt im Krankenhaus. Er hat sich ein Bein gebrochen, als er nach Hause wollte, um Mutti zu sagen, daß die Zwillinge bleiben können«, erzählte Kersten.

Sprachlos starrten ihn die Kinder an. Kersten kam sich jetzt ungeheuer wichtig vor.

»Was höre ich da?« erklang die Stimme der Heimleiterin. »Ist das wahr?«

»Ja, Frau Rennert«, sagte Kersten. »Er liegt im Maibacher Krankenhaus. Ich hab’ in Augsburg angerufen und erfahren, daß Mutti mit den Zwillingen hier ist. Aber Angelika sagt, sie wäre krank. Das hat sie doch nur gesagt, um mich zu ärgern, nicht wahr? Dabei tut es mir leid, das mit Cora und Corwin, auch meinem Vati. Wir dachten, sie wären noch bei uns in Augsburg.«

»Darüber werden wir uns im Haus ausführlich unterhalten«, sagte Frau Rennert. »Kommt, Kinder, geht schon mal vor.« Sie trat an den Bus heran. »Wie geht es Ihnen nach dem Schreck?« fragte sie den Fahrer. »Können Sie mit dem Wagen noch bis zum Parkplatz fahren, oder soll ich meinen Sohn rufen?«

»Nein danke, Frau Rennert, ich habe mich wieder erholt«, antwortete der Busfahrer. »Da kann man noch so vorsichtig fahren, plötzlich springt einem ein Kind vor die Räder.«

»Kleine Kinder sind eben unberechenbar«, sagte die Heimleiterin. »Davon kann ich ein Lied singen.«

Sie sah den Kindern nach, die schon fast beim Haus angelangt waren, vermißte aber die Kleinen dabei. Während der Busfahrer an ihr vorbei durchs Tor fuhr, wandte sie sich um und sah, daß Kersten mit Heidi und den Zwillingen im Gras kniete und sich irgend etwas Braunes zwischen ihnen bewegte.

»Ist der süß«, sagte Heidi.

»Dürfen wir ihn haben?« fragte Corwin.

»Er gehört mir«, erwiderte Kersten, »aber wenn ich in der Schule bin, dürft ihr auf ihn aufpassen und mit ihm spielen. Janosch hat euch doch ein Kätzchen geschenkt. Wenn ich Vati darum bitte, dürft ihr es sicherlich behalten.« Gönnerhaft nickte er ihnen zu.

»Au fein«, rief Cora und strahlte über das ganze Gesichtchen. Sie hatte ihr Abenteuer bereits vergessen, höchstwahrscheinlich auch die Gefahr nicht begriffen, in der sie geschwebt hatte. »Du bist doch lieb«, rief sie.

»Sehr lieb«, bestätigte Corwin. »Er hat gemacht, daß der böse Bus dir nichts tut.«

»Du bist also nicht allein gekommen«, sagte Frau Rennert und betrachtete den kleinen Dackel.

»Ich habe ihn auf dem Rad im Karton gehabt«, erklärte Kersten. »Er hat mächtigen Durst, und ich auch.«

»Dem kann abgeholfen werden«, sagte die Heimleiterin. »Also, ab ins Haus!«

Kersten setzte den kleinen Hund wieder in den Karton, der noch immer ziemlich verängstigt schien. Das Rad schiebend, folgte er Frau Rennert, während die Zwillinge lustig schwatzend neben ihm herliefen.

*

»Sie haben großes Glück gehabt, Herr Reichel«, sagte Denise, die auf einem Stuhl neben Günthers Bett saß, während Martina selbst auf dem Bett Platz genommen hatte und Günthers Hand in der ihren hielt.

»Du hättest dir das Genick brechen können«, sagte Martina. »Was habe ich mir für Sorgen um euch gemacht.« Die letzten Worte klangen etwas vorwurfsvoll.

»Um mich hättest du dich nicht sorgen brauchen«, meinte Kersten, der am Nachttisch seines Vaters stand und verlangend nach den Weinbrandbohnen blickte, die Martina ihrem Mann mitgebracht hatte. »Ich bin ja schließlich nicht von der Leiter gefallen, sondern Vati.«

»Mach dich nur lustig über mich«, sagte Günther lächelnd. »Dafür hast du für andere Aufregungen gesorgt. wie war denn das mit dem Fahrrad?«

»Ach das!« Kersten machte eine verächtliche Handbewegung. »Das ist schon wieder in Ordnung. Schmecken die?« fragte er dann und schaute verlangend auf die Pralinen.

»Die sind nur für Vater«, sagte Martina. »Da ist Alkohol drin, das ist nichts für Kinder.«

»Ich glaube, bei der Rettung Coras hat er sich als Mann erwiesen«, sagte der Vater anerkennend.

Martina Reichel schauderte. »Nicht auszudenken, wenn der Bus die Kleine überrollt hätte«, sagte sie. Stolz blickte sie auf ihren Sohn. »Machen wir also eine Ausnahme.«

»Cora ist doch jetzt meine Schwester«, sagte Kersten und machte sich über die Weinbrandbohnen her.

»Ich wollte eigentlich nach Augsburg überwiesen werden, aber dort wäre der Weg von unserem Haus bis zur Klinik auch ziemlich weit«, sagte Günther. »Da ist es wohl besser, wenn ich hier solange bleibe, bis man mich mit einem Gipsbein entläßt. Deshalb möchte ich Sie bitten, Frau von Schoenecker, die Zwillinge noch in Sophienlust zu behalten, bis wir nach Augsburg zurückkehren können. Das heißt, wenn Sie uns noch einmal die Kinder anvertrauen«, setzte er verlegen hinzu.

»Ich habe mich darüber ausführlich mit Frau Rennert unterhalten«, erwiderte Denise. »Wir glauben es noch einmal verantworten zu können, zumal jetzt Ihr Sohn und die Zwillinge ein Herz und eine Seele sind. Außerdem haben mir die Kleinen verraten, daß es zwar schön bei uns wäre, aber daß sie doch wieder einen Papa und eine Mama haben wollen, und zwar die, die wie ihre Mama im Haus aussieht. Ich fragte daraufhin, wie denn der Papa aussehen soll, da antwortete Corwin: Wie Onkel Günther!«

»Jetzt schäme ich mich noch mehr«, sagte der junge Mann bewegt, »daß ich von diesen Kindern nichts habe wissen wollen. Ich verspreche Ihnen, Frau von Schoenecker, Corwin und Cora ein guter Vater zu werden. Es soll ihnen bei uns an nichts fehlen, auch nicht an Liebe.«

»Ich mag sie schon«, sagte Kersten und betrachtete betrübt die Pralinenschachtel, die schon halb leer war. Seine Worte ließen offen, ob er die Zwillinge oder die Weinbrandbohnen gemeint hatte. »Kann man davon eigentlich betrunken werden? fragte er.

»Wenn du noch mehr davon ißt, bestimmt«, erwiderte die Mutter. »Laß also die anderen für deinen Vater.«

Schweren Herzens stellte Kersten die Schachtel hin.

»Unser Versagen steht doch hoffentlich jetzt nicht einer späteren Adop­tion im Wege?« fragte Martina besorgt die Gutsbesitzerin.

»Ich glaube nicht, da jetzt auch Ihr Mann die Kinder zu sich nehmen will«, erwiderte Denise. »Und Cora und Corwin freuen sich riesig, zu Ihnen zurückzukehren, seitdem ihnen Kersten soviel von seinem Vati vorgeschwärmt und ihnen gegenüber behauptet hatte, sein Vati hätte sich nur das Bein gebrochen, weil er sie zurückholen wollte.«

»Aber Kersten, das ist doch eine Lüge«, entrüstete sich Günther.

»Eine Notlüge«, korrigierte Kersten. »Die Mutter meines Freundes sagt, Notlügen sind erlaubt.«

»Aber man sollte sie nach Möglichkeit vermeiden«, meinte Martina.

»Sie sagte, jeder würde mal eine gebrauchen. Du etwa nicht?« Neugierig sah er seine Mutter an, die verlegen den Blick abwandte.

»Komm, Kersten, wir gehen zusammen in die Cafeteria. Deine Mutter will bestimmt noch allein mit deinem Vater sprechen«, lenkte Denise ab.

Entsagend schaute Kersten auf die Pralinenschachtel, dann reichte er seinem Vater die Hand. »Tschüs, wir kommen bald wieder.«

»Dann bringt aber die Zwillinge mit«, bat Günther. »Ich möchte ihnen wenigstens vom Fenster aus zuwinken.«

»Wird gemacht«, versprach sein Sohn und verließ mit Denise das Zimmer.

Martina beugte sich über ihren Mann und küßte ihn auf die Lippen. »Ich liebe dich«, flüsterte sie.

Er zog sie sanft zu sich heran. »Und ich liebe dich, wie sehr, das habe ich erst gemerkt, als ich dich verlassen hatte«, sagte er. »Kannst du mir verzeihen?«

»Es gibt nichts zu verzeihen. Ich hätte dich niemals so spontan mit den Kindern überfallen dürfen.«

»Es wird jetzt alles anders werden«, versprach Günther. »Wir werden nun eine fünfköpfige Familie sein. Ich freue mich darauf. Vielleicht war es ganz gut, daß ich eine Weile aus dem täglichen Trott herauskam. Erst in der Einsamkeit habe ich erkannt, was ich alles falsch gemacht habe.«

Sie lächelten sich zu. Noch nie waren sie so glücklich gewesen. Fest hielten sie sich an den Händen und sahen sich nur an. Was sollten sie auch noch viel reden? Sie wußten jetzt, daß sie zusammengehörten, sie, er, Kersten, Cora und Corwin.

Sophienlust Bestseller Box 4 – Familienroman

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