Читать книгу Ein Kind unserer Zeit - Ödön von Horváth - Страница 8
Der Hauptmann
ОглавлениеEinst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie gewaltig sie gewesen ist.
Unerwartet werfen oft die größten Ereignisse ihre Schatten auf uns, aber sie treffen uns nicht unvorbereitet.
Es gibt keinen Schatten der Welt, mit dem wir nicht immer rechnen würden. Wir fürchten uns nicht!
In der Nacht zum Freitag gabs plötzlich Alarm. Wir fuhren aus dem Schlaf empor und traten an mit Sack und Pack. Ausgerichtet, Mann für Mann.
Es war drei Uhr früh.
Langsam schritt uns der Hauptmann ab –
Langsamer als sonst.
Er sah noch einmal nach, ob alles stimmt – denn nun gibts keine Manöver mehr.
Rascher als wir träumten, kam der Ernst.
Die Nacht ist noch tief und die große Minute naht –
Bald gehts los.
Es gibt ein Land, das werden wir uns holen.
Ein kleiner Staat und sein Name wird bald der Geschichte angehören.
Ein lebensunfähiges Gebilde.
Beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt –
Ein lächerlicher Standpunkt.
Jetzt steht er vor mir, der Hauptmann, und als er mich anschaut, muß ich unwillkürlich denken: wenn ich ihren Namen wüßte, würd ich ihr schreiben, direkt ins verwunschene Schloß.
»Wertes Fräulein«, würde ich schreiben, »ich wär am nächsten Sonntag gern gekommen, aber leider bin ich pflichtlich verhindert. Gestern war Donnerstag und heut ist schon Freitag, ich muß überraschend weg in einer dringenden Angelegenheit, von der aber niemand was wissen darf, denn darauf steht der Tod. Wann ich wiederkommen werd, das weiß ich noch nicht. Aber Sie werden immer meine Linie bleiben –«
Ich muß leise lächeln und der Hauptmann stutzt einen Augenblick.
»Was gibts?« fragt er.
»Melde gehorsamst, nichts.«
Jetzt steht er schon vor meinem Nebenmann.
Ob der auch eine Linie hat? geht es mir plötzlich durch den Sinn –
Egal! Vorwärts!
Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. Es geht los. Endlich! – Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind.
Wir zwinkern uns zu.
Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur.
Wir zwinkern uns zu.
Es gibt ein Land, das werden wir uns holen.
Ein kleines Land und wir sind zehnmal so groß – drum immer nur frisch voran!
Wer wagt, gewinnt – besonders mit einer erdrückenden Übermacht.
Und besonders, wenn er überraschend zuschlägt. Nur gleich auf den Kopf – ohne jede Kriegserklärung!
Nur keine verstaubten Formalitäten!
Wir säubern, wir säubern –
Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die lächerliche Grenze dieses unmöglichen Staatswesens überschritten. Die paar Zöllner waren rasch entwaffnet – morgen sinds drei Wochen her, aber die Hauptstadt ist schon unser.
Heut sind wir die Herren!
Im Tal brennen die Dörfer.
Sie stehen in Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt.
Bravo, Flieger!
Obwohl ich euch persönlich nicht riechen kann, muß mans doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet!
Nichts ist euch entgangen, auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen angepaßt hat.
Alles habt ihr erledigt – bravo, Flieger! Bravo!
Schießt das Zeug zusammen, in Schutt und Asche damit, bis es nichts mehr gibt, nur uns!
Denn wir sind wir.
Vorwärts!
Frohen Mutes folgen wir eueren Spuren –
Wir marschieren über ein hohes Plateau.
Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser.
Es ist ein milder Abend mit weißen Wölklein an einem rosa Horizont.
Vor zwei Stunden nahmen wir fünf Zivilisten fest, die wir mit langen Messern angetroffen haben. Wir werden sie hängen, die Kugel ist zu schad für solch hinterlistiges Gelichter. Aber der Berg ist kahl und ganz aus Fels, nirgends ein Busch. Wir führen sie mit uns, unsere Gefangenen, und warten auf den nächsten Baum.
Sie sind aneinandergefesselt, alle fünf an einen Strick. Der Älteste ist zirka sechzig, der Jüngste dürfte so siebzehn sein.
Ihre Sprache ist häßlich, wir verstehen kein Wort.
Ihre Häuser sind niedrig, eng und schmutzig. Sie waschen sich nie und stinken aus dem Mund. Aber ihre Berge sind voll Erz und die Erde ist fett. Ansonsten ist jedoch alles Essig.
Selbst ihre Hunde taugen einen Dreck. Räudig und verlaust streunen sie durch die Ruinen.
Keiner kann die Pfote geben.
Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser.
Zwei Krähen fliegen vorbei.
Wir ziehen über das hohe Plateau.
Die Krähen kommen wieder –
Es war ein milder Abend und jetzt kommt die Nacht.
Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen.
Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen und sie werden den Nagel auf den Kopf treffen, wenn sie loben und preisen, daß wir bescheidene Helden waren.
Denn auch von uns biß ja so mancher ins grüne Gras.
Aber nicht mal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz auf ihr Opfer sein zu können.
Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit.
Nur unerlaubt sickerte es durch, das Blut –
In der fünften Woche unseres Vormarsches fiel unser Hauptmann auf dem Felde der Ehre. Er fiel unter eigentlich eigenartigen Umständen.
Überhaupt ist der Hauptmann ein anderer Mensch geworden, seit wir die Grenze überschritten.
Er war wie ausgewechselt.
Verwandelt ganz und gar.
Wir fragten uns bereits, ob er nicht krank ist, ob ihn nicht ein Leiden bedrückt, das er heimlich verschleiert. Immer grauer wurd sein Gesicht, als schmerzte ihn jeder Schritt.
Und am 5. Juni kam das Ende.
Ohne Arg näherten wir uns einer Ruine, aus der plötzlich eine Salve über uns dahinkrachte.
Wir werfen uns nieder und suchen Deckung.
Nein, das war keine Salve – das war ein Maschinengewehr. Wir kennen die Musik.
Es steckt vor uns in einer Scheune.
Ringsum ist alles verbrannt, das ganze Dorf –
Wir warten.
Da wird drüben eine Gestalt sichtbar, sie geht durch das verkohlte Haus und scheint etwas zu suchen.
Einer nimmt sie aufs Korn und drückt ab – die Gestalt schreit auf und fällt.
Es ist eine Frau.
Jetzt liegt sie da.
Ihr Haar ist weich und zart, geht es mir plötzlich durch den Sinn und einen winzigen Augenblick lang muß ich an das verwunschene Schloß denken.
Es fiel mir wieder ein.
Und nun geschah etwas derart Unerwartetes, daß es uns allen die Sprache verschlug vor Verwunderung.
Der Hauptmann hatte sich erhoben und ging langsam auf die Frau zu –
Ganz aufrecht und so sonderbar sicher.
Oder geht er der Scheune entgegen?
Er geht, er geht –
Sie werden ihn ja erschießen – er geht ja in seinen sicheren Tod!
Ist er wahnsinnig geworden?!
In der Scheune steckt ein Maschinengewehr –
Was will er denn?!
Er geht weiter.
Wir schreien plötzlich alle: »Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!«
Es klingt, als hätten wir Angst –
Jawohl, wir fürchten uns und schreien –
Doch er geht ruhig weiter.
Er hört uns nicht.
Da spring ich auf und laufe ihm nach – ich weiß es selber nicht, wieso ich dazu kam, daß ich die Deckung verließ – Aber ich will ihn zurückreißen, ich muß ihn zurückreißen! Da gehts los – das Maschinengewehr.
Ich sehe, wie der Hauptmann wankt, sinkt – ganz ergeben –
Und ich fühle einen brennenden Schmerz am Arm – oder wars das Herz?
Ich werfe mich zu Boden und benutze den Hauptmann als Deckung.
Er ist tot.
Da seh ich in seiner Hand was Weißes –
Es ist ein Brief.
Ich nehm ihn aus seiner Hand und hör es noch schießen – aber nun schützt mich mein Hauptmann.
»An meine Frau«, steht auf dem Brief.
Ich stecke ihn ein und dann weiß ich nichts mehr.