Читать книгу Letzte Schicht - Dominique Manotti - Страница 7

Erster Teil

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Ein Raum, begrenzt durch vier graue Blechwände, durch den sich ein Förderband zieht, darauf zwei Reihen Fernsehbildschirme und ihre Röhren, unter dem weißen Licht der Neonlampen, von denen hier und da Kabel herabhängen. Zwei Reihen je vier junger Frauen, einander gegenüber, auf beiden Seiten des Förderbands. Es ist sehr kühl, der Herbst kommt, als sie heute Morgen ihre Plätze eingenommen haben, war es noch dunkel. Und obwohl die Frauen sich kennen und sich an diesem abgeschlossenen Ort beinahe vertraut fühlen, wo sie praktisch im Team arbeiten, gleicher Takt und gleiche Prämien, hat keine von ihnen Lust zu reden, denn es geht auf die langen Nächte und kurzen Tage zu, und das drückt aufs Gemüt.

Die Frauen, auch sie grau in ihren kurzen Kitteln, sitzen vorgebeugt, die Arme gestreckt, den Blick abwechselnd auf die vorbeiziehenden länglich-aggressiv geformten Röhrensockel und die oberhalb des Fließbands schräg montierten Spiegel aus poliertem Stahl gerichtet, die ihnen unablässig die immer gleichen Bilder der immer gleichen Röhren aus verschiedenen Blickwinkeln zurückwerfen, in der Vergrößerung erdrückend. Mit sehr feinen Lötkolben setzen sie die letzten Lötpunkte, dann verlassen die fertigen Bildröhren diesen Bandabschnitt und rollen in die nächste Werkstatt, hinter der Blechwand, wo sie verpackt, ins Lager befördert und verschickt werden, meist nach Polen, wo sie ein Plastikgehäuse erhalten und zu Fernsehern werden.

Die Geräusche aus der großen Werkhalle dringen nur sehr gedämpft zu den Frauen, innerhalb der Blechwände gibt das Klacken des Förderbands ihrem Leben den Takt vor. Klack, das Band setzt sich in Gang, Zischen, zwei Sekunden, die Bildröhren rücken vor, klack, Stopp, jede beugt sich vor, die Lötkolben knistern, eins, zwei, drei, vier Punkte, zehn Sekunden, die Oberkörper richten sich auf, am Ende des Bands Rolande, prüfender Blick, ob die Lötpunkte korrekt sitzen. Klack, zischsch, das Band läuft weiter, Kopf leer, Hände und Augen arbeiten von selbst, klack, eins, zwei, drei, vier, Blick drauf, klack, zischsch, zwischen zwei Röhren Aïshas Gesicht, abgespannt, zwanzig Jahre, könnte besser gehen, klack, eins, ging’s dir mit zwanzig besser, zwei, schwanger, sitzen gelassen, drei, Mutter Alkoholikerin, aggressiv, vier, lag dir damals schon auf der Tasche, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, leerer Blick, brutaler Vater, klack, eins, mein Sohn, Hände streichen übers Haar, zwei, übers Gesicht, liebevoll, drei, niemals in die Fabrik, nie, vier, lerne, lerne, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, die Arbeit, sie kann nicht mehr, klack, eins, seit dem Unfall, zwei, der Unfall, das Blut, drei, überall Blut, vier, der durchtrennte Hals, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha voller Blut, klack, eins, sie hat Angst, zwei, ich auch, drei, wir alle, vier, Angst geht um zwischen den Blechwänden, klack, zischsch, Aïsha, ihr Vater, immer am Rumbrüllen, klack, eins, greller Blitz bei der Reihe gegenüber, bis zu den Neonröhren, eine Röhre brennt durch, ein Schrei, der auf dem höchsten Punkt abbricht, fast platzt das Trommelfell, Émilienne ist starr hintenübergekippt, Rolandes flache Hand schnellt von selbst zum Sicherheitsknopf, das Band bleibt stehen. Ein Kabel brennt bis hinauf zur Neonleiste, gelb-orange Funken und ein scharfer Geruch nach verbranntem Gummi, Gummi oder etwas anderem, zum Erbrechen.

Stille.

Rolande steigt auf einen Stuhl, dann zwischen zwei Bildröhren über das Förderband. Émilienne liegt rücklings auf dem Boden, bleich, starr, mit geschlossenen Augen und blauen Lippen. Im sechsten Monat schwanger. Ihr Bauch ragt aus dem Kittel hervor, den sie nicht ganz zugeknöpft hatte. Irgendwo hinter den Trennwänden schrillt eine Klingel los. In die Stille des kleinen Raums hinein sagt Rolande leise, tonlos, präzise: »Aïsha, lauf zu den Büros, zum erstbesten Telefon, ruf den Notarzt, die Feuerwehr. Lauf, schnell!« Aïsha rennt los. Rolande kniet nieder, Émiliennes Haar auf dem schmutzigen, kaputten PVC, wie lange schon nicht mehr gereinigt? Sie fühlt Scham darüber, zieht sich den Kittel aus, schiebt ihn unter den Kopf der Verletzten, vielleicht gar Toten, ich seh sie jedenfalls nicht atmen. Sie beugt sich hinab, versucht Mund-zu-Mund-Beatmung, spürt einen Hauch. Sacht knöpft sie Émiliennes Blusenkragen auf, befreit die in dem umgekippten Stuhl verhakten Beine. Auf der Sitzfläche eine Brandspur.

Die Mädchen sind alle aufgestanden, starrer Blick, geschlossene Lippen, gegen die Blechwände gelehnt, so weit weg von Émilienne wie nur möglich. Woran dachtest du gerade noch? An die Angst? Die ist hier in ihrem Reich.

Réjane, Émiliennes Bandnachbarin, bebende Stimme, zittrige Hände, flüstert: »Man müsste vielleicht eine Herzmassage machen.«

»Kannst du das?«

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

Die eine schlägt ihr leicht auf die Wange und tupft ihr Gesicht mit einem feuchten Tuch ab, die andere massiert ihr weinend die Hände.

Antoine Maréchal, blauer Kittel, Brille auf der Nase, jongliert im Personalbüro mit Fertigungsplänen und Anwesenheitslisten. Er ist Werkmeister der Abteilung Montage-Fertigung-Verpackung, und sein Versuch, bei einer Fehlzeitenquote, die immer zwischen zehn und zwanzig Prozent liegt, die Produktion an den Bändern aufrechtzuerhalten, ist jeden Tag aufs Neue eine Großtat. Heute, an diesem Tag im Frühherbst, sind es eher zwanzig Prozent. Eine Scheiße ist das mit all diesen Kameltreibern und blöden Weibern. Die wissen doch nicht, was Arbeit ist.

Der Personaldirektor höchstpersönlich betritt das Büro, gerade mal dreißig, gut geschnittener Anzug, edle Schuhe, italienisches Leder, ein unfähiger, selbstsicherer Lackaffe, eben erst bei Papi und Mami ausgezogen. Maréchal, gut in den Fünfzigern, in Kittel und Sicherheitsschuhen, erbebt vor unterdrücktem Hass.

»Monsieur Maréchal, das trifft sich gut, zu Ihnen wollte ich. Die jüngsten Statistiken für Ihre Abteilung weisen eine Fehlzeitenquote von 13 Prozent im letzten Monat aus …«

»Ich weiß, ich kümmere mich gerade darum.«

»Das ist die höchste Quote im gesamten Werk. Wenn es Ihnen nicht in absehbarer Zeit gelingt, das zu korrigieren, gefährden Sie das Überleben des ganzen Betriebs.«

Maréchal nimmt die Brille ab, klappt die Bügel ein, steckt sie neben den roten und den blauen Kuli in seine Kitteltasche und stützt sich mit beiden Händen auf den knarrenden Schreibtisch. »Hören Sie, Herr Personaldirektor, Sie sind erst seit kurzem hier, ich seit dem Tag, an dem der Betrieb eröffnet wurde, und es ist nicht ein Monat vergangen, ohne dass die Chefetage uns mit Schließung gedroht hat. Man könnte meinen, die Fabrik wär nur eröffnet worden, um geschlossen zu werden. Aber nicht mit mir. Die Schließung Ihres Ladens geht mir am Arsch vorbei. Ich hab mein Haus, geh bald in Rente, krieg meine Prämie und geh Pilze sammeln.« Der Pager an Maréchals Gürtel piept. »Sie entschuldigen, meine Abteilung ruft mich.«

Er lässt den nach einer Antwort suchenden HR-Manager stehen und betritt die große Werkhalle neben den Verwaltungsbüros. Ein Schwall metallischer, klackender, knirschender Maschinengeräusche. Unzusammenhängende Geräusche, denkt er. Denkt zurück an das rhythmische Fauchen des Hochofens, das Fauchen des Feuers. Wehmut? Nicht mehr so sehr. Mein Vater ist dort draufgegangen. Unzusammenhängend auch die große Werkhalle, zerschnitten durch zahlreiche abgeteilte Bereiche, die man durchqueren oder umrunden muss, um auf den breiten Hauptgang zu gelangen. Der ist vollgestellt mit einem ausrangierten Gabelstapler, leeren Paletten und Abfallbehältern. Vor ihm eine weit offene Tür, dahinter ein winziger, verlassener Raum, der ganz von einer Maschine ausgefüllt ist, die damals bei ihrer Installation die chemische Behandlung von Mikroprozessoren revolutionieren sollte. Ein nach Maß gebauter, vor Staub und Temperaturschwankungen besonders geschützter Raum, bis die Maschine mangels Belüftung heißlief und kaputtging. Seit eineinhalb Jahren abgeschaltet. Ein paar ganz Gewitzte müssen hier und da Teile abmontiert und für sich abgezweigt haben. Kann’s ihnen nicht verdenken. Maréchal spürt, wie Zorn in ihm hochsteigt. Und meine Abteilung soll den Betrieb gefährden. Rotzlöffel.

Im Hauptgang kommt ihm Aïsha entgegengerannt. Nichts als Ärger, wohin man auch guckt. Ohne stehen zu bleiben, kreischt sie: »Ein Unfall, ein Kurzschluss, Émilienne ist tot! Ich ruf den Rettungswagen!« Er denkt: Nicht mehr nötig, wenn sie tot ist, legt aber einen Schritt zu, während Aïsha zu den Büros weiterrennt.

Er betritt den Fertigungsraum und erblickt zuerst, in der gegenüberliegenden Tür, Nourredine, den Vorarbeiter der Verpackungsabteilung, ein guter Arbeiter, das schon, aber eine echte Nervensäge, widerspricht ständig und kommt dauernd mit eigenen Lösungen. Was hat der denn hier verloren? Übler Geruch in dem Raum. Er entdeckt sofort die Spur, die der Kurzschluss vom Boden bis zur Decke hinterlassen hat, senkt den Blick und bemerkt den vor seinen Füßen liegenden Körper von Émilienne, neben ihr knien Rolande und Réjane, die zittert, weint und litaneihaft wiederholt: »Sie hat einen Stromschlag gekriegt, sie ist tot.« Émilienne, bewusstlos, bleich, blaue Lippen, windet sich in Krämpfen und gibt in regelmäßigen Abständen ein Stöhnen von sich. Tot ist sie also nicht. Die Weiber machen immer so ein Theater. Man muss Herr der Lage sein und es diesen Kameltreibern zeigen. Blick in die Runde. Die Mädchen sind alle da, an die Wände gedrückt, beängstigend blass. Rolande wirkt weniger geschockt, und sie ist ja auch Schichtleiterin, eine gute Kraft, sie wird die anderen mitziehen.

Er beugt sich zu ihr hinunter. »Alles in Ordnung, der Notarzt kommt gleich. Rücken Sie mal ein Stück beiseite, Ihre Kollegin muss doch Luft kriegen. Solange wir auf den Notarzt warten, muss jede von Ihnen zurück an ihren Platz. Wenn der Notarzt da ist, sehen wir weiter.«

Rolande hält noch immer Émiliennes Kopf. Niemand schenkt dem Werkmeister Beachtung. Er bückt sich, nimmt Rolande am Arm, die wie hypnotisiert auf eine Lache blickt, die sich zwischen Émiliennes Beinen ausbreitet.

»Sie verliert Fruchtwasser«, sagt sie rau, sehr leise.

Maréchal versteht nicht, was sie sagt. »Madame Lepetit, gehen Sie mit gutem Beispiel voran. Gehen Sie zurück an Ihren Platz. Wir müssen dafür sorgen, dass Ruhe einkehrt, den Notarzt machen lassen und wieder an die Arbeit gehen. Es ist alles halb so schlimm, Sie werden sehen.«

Rolande ist, als erwache sie aus einem Alptraum, halb so schlimm, du Mistkerl, wieder an die Arbeit gehen, Dreckskerl, und du wagst es, mich anzufassen, jäh richtet sie sich auf, befreit sich mit einem kräftigen Ruck aus dem Griff des Werkmeisters und langt ihm eine, dass er auf dem Rücken landet, zwischen den Beinen der jungen Frauen, von denen nicht eine ihm eine helfende Hand entgegenstreckt. Dunkelrot vor Zorn steht er wieder auf. Nourredine ist hereingekommen und über das Förderband gesprungen, er nimmt den Werkmeister bei den Schultern und schiebt ihn hinaus. »Beruhigen Sie sich! Sie können sich nicht vorstellen, was sie gerade durchgemacht haben. Der Kurzschluss war so heftig, dass wir nebenan dachten, wir sehen das Licht durch die Wand durch. Und der Schrei der Frau …«, er sucht nach Worten, »der kam aus einer anderen Welt.«

Angeführt von Aïsha, eilt die Feuerwehr im Sturmschritt herbei, während Nourredine Maréchal nach draußen bugsiert. Émilienne wird binnen Sekunden an den Tropf gelegt und auf einer Trage abtransportiert.

Aïsha liegt im Dunkeln, in einer Kabine des Sanitätsraums. Ihr Band steht still, aus Pondange sind eilig Elektriker gerufen worden, die es gerade reparieren. Der Werkmeister hat gesagt, bei der zweiten Schicht ist alles wieder in Ordnung. Und die Mädchen vom Band gegenüber, auch Rolande, sind schon wieder an der Arbeit. Die Arbeit. Aïsha wird flau. Zwischen diesen Blechwänden, weiß in dem Lichtblitz, vibrierend vom Schrei, Émiliennes Körper, wie er zwei Meter von ihr entfernt nach hinten kippt, stocksteif, in den Stuhl verhakt. Und der andere Unfall, vor einem Monat, erst, vor mir der Körper ohne Kopf, endlos lang aufrecht, bevor er zusammenbricht, das Blut, das stoßweise aus dem Hals hervorschießt, das warme Blut auf meinen Händen, im Gesicht, ich bin verflucht. Vergiss. Vergiss. Denk an was anderes. Ich will nicht vor dem normalen Schichtende heim. Zu Hause mein Vater und all seine Fragen. Warum bist du nicht in der Fabrik. Ich erzähl ihm nichts. Kein Wort. Es ist nichts passiert. Ich kann nicht mehr reden.

Maréchal schiebt den Vorhang vor der Kabine beiseite, kommt fast auf Zehenspitzen herein. »Wie fühlen Sie sich, Mademoiselle Saïdani?« Keine Antwort. »Ich verstehe, dass das ein Schock für Sie war. Aber die Krankenschwester sagt, es geht Ihnen schon viel besser.«

Plump, der fette Maréchal. Ungeschickt. »Was wollen Sie?«

»Es ist so. Madame Lepetit ist rauf zur Direktion, und da Sie die Einzige der anderen Reihe sind, die in der Fabrik geblieben ist, habe ich mich gefragt, ob Sie wohl bereit wären, sie zu vertreten. Solange sie weg ist. Dürfte nicht lang dauern.«

Aïsha setzt sich abrupt auf. Gleich wieder zwischen den Blechwänden sitzen, am Fließband, unter Neonröhren und herabhängenden Kabeln, gleich wieder den Werkzeuggriff umfassen heißt dem Tod gegenübertreten. Doch ob heute oder morgen … Die Mädchen um mich herum aber, sie halten zusammen, ihre Augen haben gesehen, was ich gesehen habe. Wenn ich die Wahl hab zwischen dem Band und zu Hause mit meinem Vater, wähle ich das Band. Und es ist ja für Rolande. »Okay.«

»Die Krankenschwester wird Ihnen ein leichtes Stärkungsmittel geben.«

In den Räumlichkeiten der Verwaltung bemüht sich Rolande, aufrecht und langsam zu gehen. Sicher wird man mich zu dem Unfall befragen. Das wird nicht einfach. Weil ich jetzt vor allem erst mal vergessen muss, alles, für ein paar Tage, bis ich meine Angst im Griff habe. Aber jetzt gleich darüber reden, na ja … Ich muss um ein paar Ruhetage für die Schicht bitten. Rückblende: die fahlen Gesichter der Mädchen vor den Blechwänden. Der Schock war zu groß. Das muss ich denen klarmachen. Die Worte finden … und ich werde erfahren, was mit Émilienne ist. Fehlgeburt? Tot? Rechne mit dem Schlimmsten und verlier bloß nicht die Nerven vor »den anderen«.

Sie wird sofort ins Büro des Personaldirektors höchstselbst geführt. Sieht ihn zum ersten Mal. Taxiert ihn mit einem Blick. Ein Bürschchen. Ein Lackaffe. Nicht mein Typ.

»Madame Lepetit, ich habe Ihnen nicht viel zu sagen. Nach dem unerhörten Benehmen, das Sie sich gegenüber Monsieur Maréchal, dem Werkmeister Ihrer Abteilung, erlaubt haben, sind Sie wegen groben Fehlverhaltens entlassen, und zwar mit sofortiger Wirkung. Es ist Ihnen nicht gestattet, an Ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Man wird Sie zur Umkleide begleiten, damit Sie Ihre persönlichen Sachen holen können, und dann zum Ausgang. Den ausstehenden Lohn erhalten Sie morgen.«

Innerer Absturz, alles verschwimmt, kein Wort, kein klarer Gedanke, nur Bilder, heftige Empfindungen, der Blitz, das grelle Licht, der Schrei, der Geruch, die Angst, und dann noch das Lächeln meines Sohnes in seiner Internatsuniform, meine Mutter, stockbesoffen, auf dem Küchenboden eingeschlafen, wer kommt für sie auf? Arbeit, Schmerzen, zerschundener Körper, steife Hände, das ist hart, stimmt schon, aber keine Arbeit? Morgen auf der Straße sitzen, unter der Brücke?

Ohne dass es ihr richtig bewusst ist, hat man sie hinaus auf den Flur geschoben, sie lehnt an der Wand, mit geschlossenen Augen, Schwindel, Brechreiz. Als sie die Augen wieder öffnet, steht Ali Amrouche vor ihr, er hat ihre Hände genommen, tätschelt sie mit besorgtem Blick. Amrouche, der Betriebsrat, der sich immer in den Fluren der Direktion herumdrückt.

»Rolande, fühlst du dich nicht gut? Sag doch was, Rolande.« Er legt ihr eine Hand auf die Schulter, eine Geste, die er noch nie gemacht, nie zu machen gewagt hat, Rolande, das heißt Respekt, aber bei so viel Verzweiflung.

Sie spürt die warme Berührung dieser Hand auf ihrer Schulter, das tut ihr gut, nicht mehr so allein, und die Worte kommen wieder, erst stockend, sie lehnt sich an ihn, lässt den Worten freien Lauf, erzählt, immer flüssiger jetzt, von dem Unfall, ausführlich, von jedem einzelnen Handgriff, von Émiliennes Körper, eiskalt und steif, ich hab den Tod berührt, Ali, von dem Gefühl der Ohnmacht, weil sie die rettenden Handgriffe nicht kennt, von den starken Wehen und den ersten stöhnenden Lauten, wie ein unendlicher Schmerz und zugleich eine Hoffnung, es war fast, als hätte dieses sterbende Baby seine Mutter wieder zum Leben erweckt. Mit den Worten kommen die Tränen, welche Erleichterung. Und sie haben mich entlassen, Ali, weil ich Maréchal eine geknallt habe. Anflug eines Lächelns. Für den Preis hätte ich ihn gleich umbringen sollen, den fetten Maréchal.

»Ich bringe dich nach Hause, Rolande, und gehe dann gleich zur Direktion. Das kann nicht sein, das ist ein Irrtum. Das muss ein Irrtum sein.«

»Nein, danke. Begleite mich zum Ausgang, das wird mir guttun. Nach Hause geh ich allein, ist nur ein Katzensprung.«

Im Büro des HR-Managers versucht Ali Amrouche, diesem die Lage auseinanderzusetzen.

»Sie können Madame Lepetit nicht entlassen. Keiner in der Fabrik wird das hinnehmen. Sie ist eine tapfere Frau. Alle schätzen sie. Und jeder hier weiß, dass sie allein für ihren Sohn und ihre mittellose Mutter sorgt. Und der Unfall, der heute Morgen in ihrer Abteilung passiert ist, hat uns alle erschüttert.«

»Nicht sie ist zu Schaden gekommen, sondern Madame Émilienne Machaut, die übrigens wohlauf ist, wie ich Ihnen bei dieser Gelegenheit mitteilen kann.«

»Und das Baby?«

»Fehlgeburt. Das kommt vor. All das rechtfertigt in keiner Weise das Verhalten von Madame Lepetit, die ihren Werkmeister tätlich angegriffen hat.« Er streckt den Oberkörper, zieht die Schultern nach hinten. »Ich bin hier, um Ordnung und Disziplin wiederherzustellen, womit es in diesem Betrieb nicht weit her ist. Ich werde dieses Verhalten nicht durchgehen lassen.«

Der HR-Manager schiebt eine Akte von einer Stelle seines Schreibtischs an eine andere, tippt ans Telefon, verschränkt die Hände.

»Monsieur Amrouche, mein Vorgänger hat Sie mir als einen Mann der Vernunft beschrieben, einen Mann des Kompromisses, der die Dinge richtig einzuordnen weiß. Daher liegt mir daran, Sie als Ersten zu informieren. In einer Woche kommt der Betriebsrat zusammen, und da wird die Angelegenheit der seit neun Monaten nicht gezahlten Prämien erneut zur Sprache kommen. Würde das Unternehmen diese Prämien heute zahlen, würde dies in Anbetracht der ausstehenden Summen sein finanzielles Gleichgewicht gefährden, das, wie Sie wissen, immer noch fragil ist, mit all den Risiken einer Schließung, die das mit sich brächte. Die Direktion wird daher vorschlagen, und wenn ich sage vorschlagen, wissen Sie, was ich damit meine, die Prämien für dieses Jahr zu streichen und erst ab kommendem Januar zu zahlen.« Er löst seine Hände voneinander, zieht die Brauen hoch. »Wir haben uns die Konten gründlich angesehen. Es gibt keine andere Lösung. Und damit alle das akzeptieren, zählen wir auf Leute wie Sie.«

Amrouche sieht den HR-Manager an. Was kann der schon verstehen? Erschöpfung. Wie ihm von der Armut, dem Leid, der Angst erzählen und davon, dass Aufruhr, Wut und Hass am Lodern sind und es den hübschen Herrn mit seinen hübschen Schuhen in Stücke reißen wird?

»Ist Maréchal mit der Entlassung von Rolande Lepetit einverstanden?«

Der HR-Manager erhebt sich und dreht sich zum Fenster. »Das Gespräch ist beendet.«

Amrouche ist einen Kaffee trinken gegangen, ganz allein am Tisch in der leeren Cafeteria, und brütet vor sich hin. Was für ein arroganter Flegel, dieser HR-Manager. Mein Vorgänger hat mir von Ihnen erzählt. Und dann lässt er zwei Bomben platzen und merkt’s nicht mal. Was mache ich jetzt? Sie sind doch ein Mann der Vernunft. Ja und? Das mit den Prämien kann bis zur Betriebsratsversammlung warten, davon darf ich ja eigentlich noch gar nichts wissen, aber das mit Rolande wird schon bis zur Mittagspause jeder mitkriegen, und wenn die Jungs hören, dass ich das wusste und nichts gesagt hab und nichts gemacht hab, verzeihen sie mir das nie. Rolande, eine Frau, die viel mitgemacht hat, wie ich. Und sich nicht unterkriegen lässt. Ist immer da, arbeitet hart, ist hart im Nehmen. Aufrecht und stolz. Besser als ich. Ein Mann des Kompromisses, was du nicht sagst. Bitterer Kaffeegeschmack im Mund, auf den Lippen. Ein Mann des Kompromisses? Stimmt, weil ich ein gebrochener Mann bin. Bilder von der Eisenhütte in Pondange tauchen vor ihm auf, in der er zehn Jahre lang gearbeitet hat, ein paar Dutzend Meter von hier. Er hat die Hitze, den Lärm, die körperliche Anstrengung geliebt, aber auch die Gefahr und das mit ihr verbundene Zusammengehörigkeitsgefühl. Anders als hier. Und die mitreißenden Kämpfe um die Fabrik, gemeinsam haben wir uns so stark gefühlt. Und dann das totale Scheitern. Die Fabrik abgerissen, aus dem Tal ausradiert. Die Arbeiterklasse zersprengt, genau wie die Hochöfen. Jedes Mal, wenn er an den aufgeschwemmten Flussufern entlanggeht, wo jetzt Erde und Gras die Betonfundamente überdecken, auf denen einst die Hochöfen emporwuchsen, schießen ihm die Tränen in die Augen. Seither ist klar: Die Sieger sind die, die von der Gegenseite. Muss man sich mit abfinden. Tricksen, durchhalten. Heute dafür sorgen, dass Rolande wieder eingestellt wird. Wenigstens das. Zu Maréchal gehen, ist zwar ein rassistischer Dreckskerl, aber der kann das verstehen, anders als dieser Idiot von HR-Manager. War früher auch mal Stahlarbeiter. Er wird dafür sorgen, dass sie wieder eingestellt wird, auch wenn sie ihn umgeschubst hat.

Aber von Maréchal keine Spur, weder in seiner Abteilung noch in den Büros. Um diese Zeit müsste er eigentlich hier sein. Was mach ich jetzt? Ich werd mal mit Nourredine über die Sache reden, er ist aus Rolandes Abteilung, er kennt sie, er schätzt sie.

Als Amrouche ihm von Rolandes Entlassung erzählt, ist Nourredine erschüttert. Rolande, ihre vertraute hohe Gestalt, ihr klarer, aufmerksamer, warmer Blick. Eine Geste, ein Wort, wie nebenbei, sie hat mir geholfen, die ersten Tage in der Fabrik zu überstehen, als ich bloß ein unglücklicher, stummer Bengel war, und später dann, hier meinen Platz zu finden. Kommt nicht in Frage, sie hängen zu lassen, schon gar nicht nach diesem grauenhaften Unfall.

Er überträgt seine Arbeit den anderen aus seiner Schicht, um mit Maréchal zu klären, wie es jetzt weitergehen soll. Aber er findet ihn ebenso wenig wie Amrouche. Zurück zur Verpackungsabteilung. Kurze gemeinsame Diskussion. Der grauenhafte Unfall, noch ganz gegenwärtig, das weiße Licht, der Schrei, die vibrierenden Blechwände, Émiliennes lebloser Körper, der in dem Durcheinander kurz zu sehen war, und am Ende wird das Band nicht mal richtig angehalten, und ein paar Mädchen sind nach wie vor am Arbeiten, ohne dass der Stromkreis auch nur einmal ganz durchgecheckt wurde, Rolande ist entlassen und der Mistkerl Maréchal unauffindbar. Kann ja sein, dass der sogar dahintersteckt, als Ablenkungsmanöver, damit wir über Rolandes Entlassung reden und nicht über den Unfall. Elektrizität gibt es in der einen oder anderen Form überall, an allen Arbeitsplätzen. Wenn keiner was unternimmt, müssen wir noch alle dran glauben. In der Pause muss ich zu den Mädchen von der Fertigung.

Zwanzig Minuten Pause, gerade noch Zeit, um die Mädchen im Hauptgang abzupassen, bevor sie zur Cafeteria gehen, die Männer von der Verpackung lotsen sie durch die rückwärtige Tür auf das unbebaute Gelände hinter der Fabrik, wo alle sich auf ausrangierte Paletten setzen. Ein merkwürdiger Ort, dieser Blechwürfel, auf die Schnelle auf die Industriebrachen in einer von Unkraut und Gestrüpp überwucherten Talsohle gesetzt, wo nicht mal eine Generation zuvor noch die Hochöfen der lothringischen Eisenverhüttung gestanden hatten, die zu den leistungsfähigsten weltweit zählte. Heute ergreifen die Wälder, die aufs Neue die Anhöhen überziehen, langsam wieder Besitz von der Landschaft und von der Vorstellungswelt der in ihr lebenden Menschen. Es ist sehr kühl.

Étienne, Nourredines Freund, betrachtet die Mädchen. Sie sind schön, alle. Wieso hast du nicht früher schon mal daran gedacht, sie anzubaggern? Bist du blind oder was?

Auch Amrouche ist da, steht erst unschlüssig herum und setzt sich dann zu ihnen.

Nourredine steigt auf eine Palette, groß, schlank, in seinem grauen Arbeitskittel, asketisches Gesicht, steif, linkisch. Er kommt gleich zur Sache: Maréchal hat dafür gesorgt, dass Rolande entlassen wurde. Amrouche fühlt sich unbehaglich, sagt nichts.

Einige Sekunden totales Schweigen. Die Mädchen bibbern. Vor Kälte und Angst. Dann erhebt sich Aïsha. Mit vor der Brust verschränkten Armen, zittriger Stimme und zittrigen Lippen, findet sie endlich die Worte, um vom Tod des koreanischen Ingenieurs zu erzählen, genau einen Monat ist es her, alle haben davon gehört, aber sie hat es miterlebt, ihr Arbeitsplatz war neben dem Rotor in Sektor IV, als der ausfiel. Der Ingenieur ist gekommen, hat auf den Knopf am Ende der Reihe gedrückt, um an dem Bandabschnitt den Strom abzuschalten, hat das Schutzgehäuse des Rotors entfernt und sich tief in die Maschine hinabgebeugt, um sie zu reparieren. Aïsha stand hinter ihm. Dann ist ein anderer Koreaner vorbeigekommen, hat nicht kapiert, warum das Band nicht lief, hat die Arbeiterinnen auch nicht gefragt, verstanden hätte er sie ohnehin nicht, und bevor ihn einer stoppen konnte, hat er den Knopf gedrückt, um den Strom anzuschalten und das Band wieder in Gang zu setzen. Der Rotor hatte keine Sicherheitsabschaltung, und dem Ingenieur wurde der Kopf glatt abgetrennt. Ich habe gesehen, wie der Körper ohne Kopf sich aufgerichtet hat. Man hat mir gesagt, das geht gar nicht, aber ich hab es gesehen, und auch, wie das Blut stoßweise hervorgesprudelt ist, ich habe das Blut auf meinem Gesicht gespürt, auf meinen Händen, dann ist der Körper vor meinen Füßen zusammengebrochen. Ich seh’s immer wieder vor mir, diese Bewegung des kopflosen Körpers, der sich aufrichtet, jede Nacht. Und wenn ich im Dunkeln wach werde, spüre ich die Wärme des Blutes auf meinem Gesicht. Sie wollten, dass ich am nächsten Tag wieder arbeite, am selben Platz. Das fanden sie normal. Ein Unfall, aufräumen, saubermachen, weiter geht’s. Nie hätte ich mich wieder neben den Rotor setzen können. Rolande hat alles so geregelt, dass ich in die Fertigung kam, dass ich weiter arbeiten kann. Und jetzt kriegt Émilienne ’nen Stromschlag, ihr Baby ist tot und Rolande entlassen wie der letzte Dreck.

Schweigen. Alle sehen Aïsha an. Verkrampft und bebend, mit ihrem blassen Gesicht und dem gescheitelten tiefschwarzen Haar, das ihr glatt über die Schläfen fällt und im Nacken zusammengebunden ist, verkörpert sie in diesem Augenblick auf diesem Stück Brachland hinter der Fabrik aus Blech die Tragödie in ihrer aller täglichem Leben.

Amrouche schließt die Augen. Auch er hat seinen altvertrauten Alptraum. Er ist zwanzig, er arbeitet oben auf dem Steg in der großen Halle, die Pfanne mit dem flüssigen Stahl explodiert zehn Meter unter seinen Füßen, dreißig Tonnen kochender Stahl, die etwa fünfzehn Männer verschlingen, wilde Schreie, der Geruch von verkohltem Fleisch, unerträglich. Hör auf, reiß dich zusammen.

Jemand sagt: »Meine Frau arbeitet in den Büros. Sie hat gehört, dass im Dezember die Prämien nicht gezahlt werden sollen.«

Alle Blicke richten sich auf Amrouche, der sich räuspert.

»Ich glaube, das stimmt. Ich glaube, sie haben entschieden, die monatlichen Prämien nicht zu zahlen, die letzten Februar beschlossen worden sind und die im Dezember auf einen Schlag ausgezahlt werden sollten. Keine Prämien dieses Jahr. Die erste Prämie wird nächsten Januar gezahlt.«

Warum hast du das in diesem Augenblick gesagt? Zu spät wird dir klar, dass du Öl ins Feuer gießen wolltest, weil du dir nicht anders zu helfen wusstest. Vielleicht wolltest du von Maréchal ablenken, der früher auch Stahlarbeiter war, vor allem aber wolltest du der unerträglichen Angst ein Ende machen, die dich seit Aïshas Bericht, seit der übermächtigen Wiederkehr dieser Walze aus flüssigem Stahl gepackt hält, dieser Angst vor Unfall und Tod, weil der Mensch so ist, denkst du, weil du nichts dafür kannst, denkst du, und weil du lieber vergessen willst. Dass sie uns aber von hier auf jetzt die Prämien stehlen, die sich angesammelt haben und inzwischen fast einem Monatsgehalt entsprechen, die Prämien, die einem zustanden, mit denen man gerechnet hat, die schon für bestimmte Ausgaben verplant waren, das ist was anderes, ein anderes Thema, vertraut, überschaubar, irgendwie beruhigend.

In der Gruppe, die da auf dem unbebauten Gelände hinter der Fabrik vor Kälte bibbert, entladen sich jetzt Angst, Wut, Groll und Not: sofortige Zahlung der Prämien. Nourredine fügt hinzu: sofortige Wiedereinstellung von Rolande. Die Gruppe kehrt in die Fabrik zurück, um durch alle Werkstätten zu ziehen. Eine halbe Stunde später steht die ganze Fabrik still.

Vertrauliches Mittagessen in einem Luxemburger Gasthof gleich an der französischen Grenze, ein Tisch mit zwei Gedecken in einem kleinen Speiseraum.

Maurice Quignard trinkt Pastis und wartet. Um die sechzig, groß, breitschultrig, kein Bauch, er bewahrt sich sein sportliches Aussehen. Das Gesicht ist vierschrötig, die Haut gebräunt und faltig. Nach einer langen Laufbahn in der Stahlindustrie hat er eine Unternehmensberatung speziell für Umstrukturierungsmaßnahmen gegründet, er arbeitet mit zahlreichen europäischen Gremien zusammen und sitzt im Auftrag des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung als ehrenamtlicher Berater in der Geschäftsleitung von Daewoo Pondange.

In gewisser Hinsicht ist Daewoo sein Werk. Dank seiner politischen Freundschaften in Lothringen konnte er den Verbindungsmann zu den Koreanern spielen, er hat die Bedingungen für die Ansiedlung des Unternehmens ausgehandelt und dafür gesorgt, dass die europäischen und französischen Subventionen in Strömen fließen. Auch das alles ehrenamtlich. Im Interesse der Region und ganz Frankreichs. Die Idee, Daewoo und Matra für die Thomson-Übernahme zusammenzubringen, wurde zwei Jahre zuvor bei einem geselligen Abendessen geboren, bei dem er den Präsidenten des lothringischen Regionalrats zu Gast hatte. Heute ist er fast am Ziel. Und er weiß, dass er in dem neuen Unternehmensgefüge, das Daewoo und Thomson Multimédia vereinen soll – ein Weltkonzern –, als HR-Berater tätig sein und Einfluss haben wird. Der krönende Abschluss seiner Karriere. Ganz zu schweigen davon, was finanziell für ihn abfällt.

Dank der freundschaftlichen Kontakte, die er sich auf allen Hierarchieebenen aufgebaut hat, ist er immer auf dem Laufenden über das, was sich bei Daewoo tut. An diesem Morgen ist Maréchal gegen zehn Uhr in sein Büro in Pondange gekommen und hat ihm von der Lage im Betrieb berichtet. Bedenklich. Wieder ein Unfall, ein schwerer. Und die Entlassung einer guten und obendrein sehr beliebten Arbeiterin, eine unnötige Provokation seitens dieses Hornochsen von HR-Manager. Während des Gesprächs ein Anruf aus der Fabrik: In der Werkhalle war ein Streik ausgebrochen. Was habe ich dir gesagt? Doch Maréchal war nicht sonderlich beunruhigt: Das ist ein lokal begrenzter Streik, spontan, keiner von denen hat Organisationstalent, du weißt doch, wie diese jungen Wichser sind, morgen nehme ich die Sache wieder in die Hand, aber das hätte man sich wirklich sparen können.

Quignard aber hat die Wut gepackt. Er hat den Direktor einbestellt, um Klartext mit ihm zu reden. Der verspätet sich. Das macht es nicht besser. Quignard ist bei seinem dritten Pastis.

Park, der koreanische Direktor, erscheint, ein Lächeln im runden glatten Gesicht, kreisrunde Schildpattbrille, immer sieht er ein wenig verblüfft aus. Quignard drückt aufs Tempo und lässt sofort die Vorspeisen servieren, eine Auswahl Wurst und Schinken und ein guter Burgunder. Kaum sind sie allein, geht er barsch und voller Ungeduld zum Angriff über.

»Wie kommen Sie dazu, in einer Fabrik, in der seit zwei Jahren niemals etwas vorgefallen ist, nicht eine Stunde Streik, in der es keine Gewerkschaften gibt, derart leichtfertig mit dem Feuer zu spielen – noch dazu im für unsere Geschäfte denkbar ungünstigsten Augenblick?«

»Mit dem Feuer … die Wortwahl scheint mir doch übertrieben.« Die Stimme ist sanft, kultiviert, das Französisch tadellos, gerade mal ein leichter Akzent. In der Fabrik spricht er nie Französisch, das er angeblich nicht kann, sondern Englisch oder Koreanisch. »Bisher haben zwei Werkstätten die Arbeit niedergelegt, nicht mal zwanzig Leute.« Kommt nicht in Frage, diesem Großmaul, das mich verachtet, zu sagen, dass gerade eine ganze Schicht in Streik getreten ist, da er ja offensichtlich noch nicht Bescheid weiß. Dafür ist später immer noch Zeit.

»Meine Gesprächspartner sagen mir, die Stimmung in der Fabrik ist sehr angespannt. Dass es viele Unfälle gibt, die Taktzahlen hoch und die Löhne mager sind, ist ja auch nicht zu leugnen. Solange sich das in Fehlzeiten niederschlägt, nun gut. In meiner Jugend sagte man allerdings: Ein Funke kann die ganze Steppe in Brand setzen. Keine Funken also. Sie müssen Ihrem HRM den Kopf zurechtsetzen.«

»Das habe ich sehr wohl verstanden.« Das Lächeln ist verschwunden, am Mund eine bittere Falte. Diesen HRM hat er mir selbst empfohlen. Der Sohn von irgendeinem hohen Tier aus der Region. Wichtig für die Einbindung des Unternehmens in die lokalen Strukturen, hat er gesagt. Ein Stümper.

Der Kellner bringt den nächsten Gang, ein üppiges Pot-au-feu und eine weitere Flasche Burgunder. Quignard fährt fort, immer noch aggressiv: »Keinerlei Aufsehen, solange die Privatisierung von Thomson nicht unter Dach und Fach ist.«

»Das ist eine Frage von wenigen Tagen, so lange werden wir uns schon halten.«

»Nein. Vielleicht noch ein paar Stunden bis zum Votum der Regierung, dann ist die Hauptarbeit geschafft, da stimme ich Ihnen zu, aber wir müssen sehen, wie die Öffentlichkeit reagiert, und die Entscheidung der Privatisierungskommission abwarten. Wir brauchen einen vollen Monat Ruhe. Das ist doch nicht zu viel verlangt.«

»Bei den Löhnen kann ich keine Zugeständnisse machen. Wir haben zurzeit einen Engpass, da in einer Woche ein hoher Betrag an die Bank fällig ist. Den kann ich nur durch den Vorschuss auf eine Warenlieferung decken, den ich in zwei Tagen erwarte. Wir sind so klamm, dass ich wegen der gerade wieder fälligen Beiträge sogar die Brandschutzversicherung gekündigt habe, um die Durststrecke zu überwinden.«

»Das ist mir bekannt. Sie haben das Firmenbudget kräftig überstrapaziert. Vor allem in Anbetracht der gegenwärtigen Umstände. Das ist sehr unvorsichtig und zudem unnötig.« Quignard legt plötzlich die Stirn in Falten. »Sagen Sie, es droht doch wohl wenigstens in den nächsten zwei Tagen keine Arbeitsniederlegung? Wenn Sie Ihre Lieferfristen auch nur ein Mal nicht einhalten, hätte das verheerende Folgen für unsere Interessen auf nationaler Ebene.«

»Ich werde daran denken.«

»Daran denken reicht nicht. Treffen Sie entsprechende Vorkehrungen, und zwar schnell.«

Gut hundert Arbeiter stehen jetzt in der Cafeteria herum, viele Männer, die meisten sehr jung, höchstens zwanzig Frauen. Es haben sich Grüppchen gebildet, immer innerhalb der Schichtteams, und es wird hitzig über die Prämien diskutiert. Zwischen den Gruppen gibt es jedoch nur wenig Austausch, schließlich kennt man sich kaum und misstraut sich eher. Für fast alle ist es die erste Arbeitsniederlegung.

Was jetzt? Kader, der bekannteste Gewerkschafter dieser Schicht, ist krankgeschrieben, verkündet ein Betriebsrat. Allgemeines Feixen. Amrouche, der in einer Ecke nahe der Eingangstür steht, hält sich zurück. Nourredine zögert, blickt sich um, niemand drängt sich vor, er steigt auf einen Tisch. Wer ist das denn? Der Kerl aus der Verpackung, ein Großmaul … Hat der irgendeinen Posten? Nein, hat er nicht … Er erzählt von Émiliennes Stromschlag, unbeholfen, schroff, nicht alle hören ihm zu, hier und da Gespräche, Rolandes Entlassung, viele sind ihr schon begegnet, eine mutige Frau, das schon, bei der man sich aber ständig anbiedern muss. Wollen wir nicht über die Prämien reden?, ruft ein junger Mann, Nourredine winkt Amrouche herbei, der sich mürrisch weigert, auf den Tisch zu steigen, und ohne weiteren Kommentar die Streichung der Prämien für das laufende Jahr sowie die Zahlung der ersten Prämie im kommenden Januar bekannt gibt. Jetzt brodelt es in der Cafeteria, immer mehr Leute beteiligen sich an der Diskussion. Einige wollen es nicht glauben, Vereinbarung ist Vereinbarung, daran lässt sich nicht rütteln. Andere meinen, man hat es nicht anders verdient, wenn man so blöd ist, diesen koreanischen Freibeutern zu vertrauen. Um Nourredine und Amrouche formiert sich eine Abordnung, die zur Geschäftsleitung gehen soll, um Informationen einzuholen, die schnelle Zahlung der ausstehenden Prämien zu verlangen und die Wiedereinstellung von Rolande zu fordern. Die Delegation verschwindet in Richtung der Büros.

In der Cafeteria haben sich wieder Grüppchen gebildet. Einige fangen an, Karten zu spielen.

Étienne hat sich zu Aïsha gestellt. »Ich bin der Freund von Nourredine. Ich arbeite seit zwei Jahren in der Verpackung. Wie kommt’s, dass wir uns noch nie begegnet sind?«

»Ich bin erst seit einem Monat in der Fertigung.«

»Stimmt ja.« Jetzt sieht er sie wieder vor sich: das blasse Gesicht, der Rotor, Rolande hat mich in die Fertigung geholt … Da hab ich ja ’nen Bock geschossen, jetzt bloß nicht den abgetrennten Kopf erwähnen.

Lächeln. »Es hat mir so gutgetan, darüber zu reden. War das erste Mal. Ich hab auch zum ersten Mal vor so vielen Leuten geredet, mindestens zehn. Jetzt fühl ich mich besser.« Sie denkt: anders.

Erleichtert. »Darf ich dir einen Kaffee spendieren?«

Vor den Kaffeeautomaten stehen die Leute Schlange. Étienne stellt die beiden heißen Becher auf einen Pappteller, nimmt Aïsha bei der Hand und durchquert mit ihr die große Werkhalle der Fabrik, menschenleer, schwach erleuchtet vom trüben Tageslicht und der orangen Sicherheitsbeleuchtung. Tiefe Stille. So anders, ein bisschen seltsam. Aïsha entzieht ihm nicht ihre Hand. In der Verpackung, einem großen, luftigen Raum, knipst Étienne eine Neonröhre an, bleibt aber nicht stehen – weder bei den Maschinen, fremd in ihrer Reglosigkeit, noch bei den Holz- und Styroporlagern, dabei sind die doch ganz dekorativ, noch bei dem Förderband, auf dem die verpackten Bildröhren zur Decke empor und ins Lagerhaus schweben. Er zieht Aïsha zu einem alten Holzschreibtisch, der verlassen in einem Winkel der Werkstatt steht, und stellt die Kaffeebecher darauf ab.

»Hier können wir in der Pause etwas essen, die Cafeteria ist zu weit weg, man verliert zu viel Zeit. Und jetzt guck.« Stolz. Er öffnet eine Schublade, ein Gasbrenner kommt zum Vorschein. Nächste Schublade, eine Kaffeemaschine. Die Rückwand des Schreibtischs lässt sich aufschieben, dahinter: ein kleiner Kühlschrank und ein Fernseher. »Der Fernseher ist nur für die Nachtschicht.« Lachen. »Was den Rest betrifft, haben wir eine Abmachung mit Maréchal, dass er während der Pause nicht in die Werkstatt kommt.«

Sie trinken schweigend. Aïsha fährt mit dem Finger über die Flecken und Kerben auf der Schreibtischplatte. Ein Stück Freiheit, das die Männer ganz für sich allein haben, hier mitten in der Fabrik. Die Werkstatt der Frauen auf der anderen Seite der Blechwand: ein anderes Leben. Das Unglück, eine Frau zu sein.

»Du hast noch nicht alles gesehen.« Étienne setzt sie auf einen der Hocker. »Mein Arbeitsplatz, aber eigentlich steht man oft, man bewegt sich viel.« Er öffnet die obere Schreibtischschublade, breit, tief, flach, vollgestopft mit Besteck und diversen Korkenziehern, holt ein Brettchen hervor, das ganz hinten steckt, sowie einen Tabakbeutel und Zigarettenpapier. »Ein kleiner Joint, ist schnell gemacht.«

»Ich rauche nicht.«

»Das ist keine Zigarette, das schadet nicht.« Seine Hände arbeiten im Eiltempo, einmal lecken, Feuerzeug, er nimmt einen ersten Zug, einen tiefen, lächelt, reicht ihr den Joint.

Tohuwabohu in ihrem Kopf, Émilienne, Rolande, der Streik, Étiennes Hand in ihrem Haar, in ihrer Hand, ein Schauer überläuft sie, sie nimmt den Joint, führt ihn an die Lippen, inhaliert tief, Nase zu, Augen zu, wie sie es bei ihren Brüdern gesehen hat, schluckt den Rauch, gar nicht so stark, besser als ich dachte, atmet durch die Nase aus, ohne zu husten. Leises Wohlbefinden.

»Ein echter Profi«, sagt Étienne lachend.

Er löscht das Licht, die Werkstatt versinkt in gelblichem Halbdunkel. Aïsha wankt und zieht wild an ihrem Joint. Hört auf einmal wieder Émiliennes Stimme, wie sie sich in der Cafeteria vor Lachen biegt, als sie von ihrem »ersten Mal« erzählt, bäuchlings auf einer Mülltonne in einer Toreinfahrt, und es hat Bindfäden geregnet, Rolande lächelt ihr zu, nimmt sie am Arm, damit sie an einem anderen Tisch zu Ende isst. Ich hab nicht mal sein Gesicht gesehen, wiederholt Émilienne zwischen zwei Japsern. Und die Stimme ihres Vaters, rau, gekränkt, die Beschimpfungen, als sie nicht in sein Kaff zurückwollte, nicht mal in den Ferien, ich weiß, was dort passieren kann. Étienne kommt näher, mit langsamen Bewegungen, fasst sie am Arm, um die Taille, um ihr hochzuhelfen. Angst, aber danach ist es endgültig, ich geh nicht zu meinem Vater zurück. Er führt sie hinter einen Stapel Kisten. Ein Teppich.

»Nourredines Gebetsteppich.«

Er lächelt, kniet sich hin, sie setzt sich, fühlt sich, als schwebe sie, er löst ihr Haar, das ihr über die Schultern fließt. Sie denkt: vom einen Mann zum anderen, und legt sich mit geschlossenen Augen hin. Gedämpfte Dunkelheit und Stille, Étienne küsst sie auf die Wangen, die Augen, die Lippen, sie verkrampft sich, er gleitet zu ihrem Nacken, legt die Hand auf ihre Hüfte, wandert ihren Oberschenkel hinab, unter ihren Rock, Aïsha liegt reglos da, angespannt, das Herz klopft, die Hand fährt langsam wieder hoch zu ihrem Unterleib, wo sie verweilt, flach liegt sie da, warm, beharrlich. Aïsha wartet, gleich wird es geschehen.

Dann geht alles ganz schnell. Étienne zieht seine Hose herunter, streift mit beiden Händen Aïshas Strumpfhose und Slip über ihre Knöchel, legt sich auf sie, dringt in sie ein, braucht zwei oder drei Anläufe, es schmerzt, hab schon Schlimmeres erlebt, sie ist seltsam weit weg, er beginnt sich zu bewegen, ein stechender Schmerz zerreißt sie, sie schreit auf, dann spürt sie nicht mehr viel, er stöhnt und wird erregter, grunzt ein letztes Mal und rollt ausgestreckt von ihr herunter, neben sie, das Gesicht in ihrem Haar, riecht angenehm sauber, Küsschen auf die Wangen, sehr lieb. Sie fühlt etwas Warmes ihre Schenkel hinabrinnen, lacht, als sie an die Flecken denkt, die sie auf Nourredines Gebetsteppich hinterlassen wird, diese Unbekümmertheit, ihr Leben beginnt sich zu ändern, und das ist gut.

Die Abordnung kehrt in die Cafeteria zurück, ist sogleich dicht umringt. Ohne zu zögern steigt Nourredine auf den Tisch.

»Zu den Prämien: Darüber wird in einer Woche mit dem Betriebsrat gesprochen. Vorher keinerlei Informationen. Angeblich ist noch keine Entscheidung gefallen. Aber der Personaldirektor hat’s nicht abgestritten. Wir glauben, sie wollen sie streichen und es bloß noch nicht sagen. Und wegen Rolande wird der Personaldirektor mit dem Betriebsrat sprechen, wenn wir die Arbeit wieder aufgenommen haben.«

Hier und da fallen Schimpfwörter, Diebe, Dreckskerle, eine beleibte Dame mit Kraushaar bezeichnet die Chefs als Banditen. Und die große Frage: Was machen wir jetzt? Zunächst weiß keiner eine Antwort. Eine Woche Streik, bis der Betriebsrat zusammenkommt? Das ist lang. Und auch nicht der beste Moment, die Lager sind voll … Nourredine schlägt vor, auf die zweite Schicht zu warten, die in weniger als zwei Stunden kommt, und gemeinsam mit ihr zu entscheiden, ob der Streik verlängert wird oder nicht. Der Vorschlag klingt vernünftig, wird einstimmig angenommen.

Die Gruppen verteilen sich. Einige spielen in der Cafeteria weiter Karten, andere machen in den Räumen des Betriebsrats Musik. Amrouche verkrümelt sich, will wahrscheinlich wieder um die Büros herumschleichen. Frauen stehen in Grüppchen um den Kaffeeautomaten und unterhalten sich, ein paar Mütter machen sich unauffällig davon, um mit der Wäsche voranzukommen, und zwei Männer brechen zum Pilzesammeln auf. Jetzt, wo die kalte Zeit beginnt, müssten sich doch Semmelstoppelpilze finden lassen.

Nourredine sitzt auf einem Tisch, neben ihm Hafed, Arbeitnehmervertreter im Ausschuss Hygiene und Sicherheit, der bei der Abordnung dabei war, ein junger Techniker, schlank, elegant, spuckt gern große Töne, wird aber wegen seiner technischen Sachkenntnis sehr geschätzt. Einer von denen, die man mit Entlassungsdrohungen nicht beeindrucken kann. Er lebt – ob zu Recht oder nicht – in der Gewissheit, ein unentbehrlicher und gefragter Mann zu sein. Die beiden Männer kommen aus verschiedenen Welten und haben noch nie miteinander gesprochen, heute trinken sie zusammen Kaffee und empfinden die gleiche Machtlosigkeit.

Eine Angestellte aus den Büros schlängelt sich so unauffällig wie möglich durch die Cafeteria, schiebt sich dicht neben Nourredine und raunt ihm zu: »Der Direktor hat eine Umzugsfirma bestellt, um die Fertigwarenlager räumen zu lassen. Ich habe den Dolmetscher gehört, er hat im Büro neben mir telefoniert, während eure Abordnung darauf gewartet hat, dass man sie empfängt.«

Die beiden Männer sehen sich an, geben sich unwillkürlich die Hand und halten sie gedrückt. Beider Herz eine brennende Wunde. Angesichts dieser Missachtung möchten sie am liebsten schreien, schlagen, etwas zertrümmern, um zu spüren, dass es sie gibt. Und sie verstehen die Drohung genau, die sich hinter dieser Ohrfeige verbirgt: erst die Lager, dann die Maschinen und die Schließung der Fabrik, die Schließung, von der die Chefetage seit zwei Jahren ständig redet.

»Das bedeutet Krieg«, murmelt Nourredine aufgelöst.

Hafed lächelt. »Immer mit der Ruhe, so weit sind wir noch nicht, aber wir müssen uns überlegen, wie wir reagieren.«

Auf der Stelle erneute Generalversammlung. Hafed berichtet in neutralem Ton. Die Reaktion ist einmütig und prompt: All das gehört uns mindestens so sehr wie denen. Hier aufs Werksgelände kommt kein Lkw. Kein Zögern, Schwanken, Sichverzetteln mehr, fast alle beteiligen sich jetzt an der Diskussion. Wie soll man die Sache anpacken? Die Zufahrtstore schließen. Und die Pforte besetzen, unerlässlich, wenn man das Öffnen und Schließen der Tore kontrollieren will. Heißt das, wir besetzen die Fabrik? Du sagst es, wir besetzen die Fabrik. Und wir müssen schnell machen, an Firmen, die sich auf Fabrikumzüge spezialisiert haben, herrscht in Lothringen kein Mangel. Wir besetzen, bis die zweite Schicht eintrifft, entscheidet Nourredine. Dann sehen wir gemeinsam weiter. Einhellige Zustimmung.

Die Cafeteria leert sich, und etwa hundert Arbeiter, darunter vielleicht zehn Frauen, finden sich am Eingang zum Werksgelände ein. Zwischen Pforte und Gebäudefassade eine freie Fläche von etwa dreißig Metern, auf der das Gras kräftig – lothringisches Klima verpflichtet – und wild vor sich hin wächst. Hinter der getönten Spiegelglasfassade die Büros der Direktion. Chefs und leitende Angestellte, Koreaner und Franzosen, bestimmt sind sie alle dort und verfolgen aufmerksam das Geschehen. Sie sind nicht zu sehen, aber sie zu spüren ist belastend, man fühlt sich ungeschützt. Immerhin noch keine Lkws in Sicht, das ist schon ein kleiner Sieg, und vielleicht kommen ja auch keine, ein falsches Gerücht, gut möglich, man macht sich Mut, so gut man kann.

Erkundung des Geländes. Zwei große Rolltore, die von der Pforte aus elektrisch bedient werden. Das rechte führt zum Personalparkplatz, der sich am rechten Werksflügel entlangzieht, das linke zum Lagerhaus und zu den Verladerampen für die Lkws. Rechts ein Törchen für die Fußgänger. Zwischen den beiden Toren die Pforte, ein Leichtbaukubus mit großen Fenstern. Da passen sicher zwanzig Leute rein. Im Augenblick befinden sich nur zwei Wachleute darin, die hinter der Scheibe die Arbeiter beobachten, ohne sich zu rühren.

Dort muss man hinein. Inzwischen hat sich auch Amrouche mit undurchdringlicher Miene zu den Arbeitern gestellt. Die Abordnung formiert sich erneut und betritt das Pförtnerhaus. Wieder ergreift Nourredine das Wort. Wir besetzen, wir übernehmen die Kontrolle über das Öffnen und Schließen der Tore. Die Wachleute, zwei gut fünfzigjährige Männer, kräftig, beleibt, in marineblauen Blousons mit Security-Schriftzug, zucken die Achseln. Wie ihr wollt. Wir sind keine Daewoo-Angestellten, und unser Boss hat gesagt, wir sollen nicht eingreifen. Er hat uns nur gesagt, wir sollen im Pförtnerhaus bleiben, und er schickt noch zwei Kollegen zur Verstärkung, die Sicherheitsrundgänge machen sollen. Ihr werdet sie schon erkennen, sie tragen die gleiche Uniform wie wir. Nourredine lässt sich erklären, wie man die Tore öffnet und schließt. Sieht alles einfach aus. Draußen kommt jetzt die Sonne ein wenig durch, die Arbeiter unterhalten sich und spazieren in kleinen Gruppen müßig umher. Ein paar Frauen gehen ins Pförtnerhaus, um sich aufzuwärmen, oder laufen zurück in Richtung Cafeteria.

Die ersten Arbeiter der zweiten Schicht treffen ein, die meisten im Auto. Nourredine öffnet das rechte Tor, die Autos werdenauf dem Parkplatz abgestellt, dann kommen die Arbeiter grüppchenweise zurück, und die Schichtteams tauschen sich aus. Keine Prämien dieses Jahr. Nein, die Zahlung wird nicht nur im Dezember ausgesetzt, es gibt gar keine Prämien. Und die Vereinbarung vom Februar? Für’n Arsch. Die Frauen debattieren unter sich. Weihnachten naht und keine Prämien, das heißt vor allem keine Geschenke für die Kinder. Die Reaktionen sind bunt gemischt, reichen von Ungläubigkeit bis Wut.

In diesem Moment sieht Nourredine, der immer noch das Tor überwacht, drei riesige Lastzüge der Firma Rapid Umzüge Lothringen. In Zeitlupe nähert sich der Konvoi dem Kreisel, von dem die Zufahrt zur Fabrik abgeht. Nourredine betätigt die elektrische Schließvorrichtung des Tores, aber es rührt sich nicht. Adrenalinstoß, Schweißausbruch, grelle Gedankenblitze: Die Ankunft der Lkws wurde auf das Eintreffen der zweiten Schicht abgestimmt, das offene Tor muss von den Büros aus blockierbar sein, wenn die hier reinkommen, Krawall, Polizei, wir sind erledigt.

Er stürzt nach draußen und brüllt: »Die Lastwagen, die Lastwagen! Das Tor klemmt, versperrt die Einfahrt, los, versperrt die Einfahrt!«

Die Lastwagen nähern sich in einer langsamen, unerbittlichen Prozession. Der erste fährt in den Kreisel ein, umrundet ihn majestätisch, in der Fahrerkabine sind die Umrisse von drei Männern zu erkennen. Etwa zweihundert Arbeiter, alles Männer, Hafed in der ersten Reihe, haben sich eilig am Tor versammelt, verkrampfte Kiefer, untergehakt, an die Gitterpfosten geklammert, in mehreren Reihen, zusammengeschweißt, verflochten, mit klopfenden Herzen.

Hinter der menschlichen Barrikade haben Nourredine und fünf andere Arbeiter gleichzeitig dieselbe Idee. Ein paar leere Paletten auf einen Haufen, die Trennpappe mit dem Feuerzeug anzünden, etwas anderes hat keiner, Scheiße, wenn das bloß brennt, es brennt.

Der vordere Lastwagen ist in die Zufahrt zur Fabrik eingebogen, er kommt näher, keine zwanzig Meter mehr, monströse Kühlerhaube über ihren Köpfen. Die Männer schließen stumm die Augen. Zu behaupten, man hätte keine Angst … Keine fünf Meter mehr, nicht daran denken, wie der Körper auf dem Boden liegt, nicht daran denken, wie das Rad ihn zerquetscht, an gar nichts denken. Zusammenhalten. Zusammen. Halten. Und bloß nicht hinfallen.

Keine zwei Meter mehr. Eine Parole wird von hinten nach vorn durchgegeben: Wenn einer »Feuer« schreit, so schnell wie möglich zur Seite weg und abhauen. Die Stoßstange berührt die Männer der ersten Reihe, und der Lkw rollt weiter, Zentimeter um Zentimeter. Wer kann zehn Tonnen in Bewegung aufhalten?

Ein langgezogener Schrei, einstimmig aus sechs Kehlen: »Feuer!« Die Menschenketten reißen, bloß schneller sein als der Fahrer, sechs mit Brettern bewaffnete Männer schieben wie die Wahnsinnigen einen Stapel brennender Paletten heran, in einer Funkengarbe schrappt er über den Boden und unter die Kühlerhaube des Lastwagens, der inzwischen das Tor erreicht hat.

»Diese Hurensöhne, wir fackeln sie in ihren Kabinen ab!«, brüllt Nourredine, schweißgebadet, die Hände verbrannt, außer sich.

Panik im ersten Lastzug. Der Fahrer legt jäh den Rückwärtsgang ein, setzt ein paar Meter zurück, zu schnell, der Anhänger kommt von der Fahrbahn ab, seine Räder versinken im weichen Boden, er stellt sich quer, die Beifahrer springen mit Baseballschlägern heraus, um den Lkw zu schützen. Hafed und ein Dutzend Arbeiter gehen dazwischen.

»Aufhören jetzt, aufhören. Wir bleiben auf unserer Seite, innerhalb des Werksgeländes. Wir zünden die Lkws nicht an. Wir haben gewonnen. Sie verziehen sich, wir lassen sie gehen.«

Die Wachleute hinter ihrer Scheibe sehen dem Schauspiel regungslos zu.

Hinter den brennenden Paletten – das trockene, luftig angeordnete Holz gibt ein schön helles, lebendiges Feuer – drängen sich die Arbeiter und gucken zu, wie die schweren Lastwagen unbeholfen mit ihren Anhängern manövrieren, um wegzukommen. Spötteleien und Gelächter, pass auf, dir schmort noch der Motor durch, stellen sich nicht gerade geschickt an, die Fahrer, Erdklumpen fliegen gegen die Windschutzscheibe, ein paar Steine, man reagiert sich ab, nichts wirklich Schlimmes. Nourredine hat sich seinen grauen Kittel heruntergerissen und ins Feuer geworfen. Dann fahren die Lastwagen in einer langsamen Prozession wieder ab, wie sie gekommen sind. Je weiter sie sich entfernen, durch die Flammen hindurch nur undeutlich zu sehen, desto stiller wird es, und die Stille hält auch, nachdem sie in Richtung Luxemburg verschwunden sind, noch ein paar Minuten an. Jeder sieht noch einmal ein Stück Kühlerhaube, den Zipfel einer Stoßstange, die Kante eines Kotflügels, ein Rad, jeder durchlebt noch einmal die Berührung der zusammengeschweißten Körper, die der Angst widerstehen, die Stiche des Feuers und die Riesenfreude über das Debakel des Monstrums, das gemeinsam ausgekostete Gefühl, dass wir, wir alle miteinander, eine Macht sind, uns gehört die Welt. Gereckte Fäuste in Richtung der blinden Fenster der Geschäftsleitung.

Hätte man uns nicht gewarnt, wären die Lkws problemlos reingekommen, denkt Nourredine benommen und glücklich.

Dann schnappt sich Hafed einen Stuhl aus dem Pförtnerhaus und steigt darauf. »Da sie uns den Krieg erklärt haben, müssen wir uns organisieren, damit wir ihn auch führen können.«

An diesem sonnigen frühen Nachmittag verbreitet sich das Gerücht von dem Streik, dem Machtkampf und der Niederlage der Bosse in der ganzen Umgebung. Die Fabrik wirkt wie ein Magnet, und sie kommen von überall aus dem Tal, Arbeitslose, Rentner, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, um zu hören, was es Neues gibt, um zu sehen, wie die jungen Leute sich schlagen, um über ihre Erinnerungen zu reden. Als die Stahlindustrie noch alle Täler ringsum einnahm, als das Wort »Streik« noch eine Bedeutung hatte, als man die Polizeireviere mit Bulldozern angriff, als man massenhaft und ohne friedliche Absichten nach Paris marschierte … Erinnerungen, neben denen das, was sich soeben bei Daewoo ereignet hat, zu fast nichts, zu einer Bagatelle schrumpft, glaubt mir, Jungs. Auf dem Grünstreifen vor den Toren bilden sich Menschentrauben bis hin zum Kreisel. Amrouche ist hinausgegangen, um alte Bekannte zu begrüßen. Arbeiter von der Spätschicht diskutieren mit den Alten, bevor sie aufs Werksgelände gehen. Auch ein paar dubiose Gestalten kreuzen auf, wie Karim Bouziane, wegen eines Arbeitsunfalls für sechs Monate krank geschrieben, ein simulierter Hexenschuss, den er sich geholt hat, als er während der Arbeitszeit für den koreanischen Direktor den Möbelpacker spielte. Eine Weile schnuppert er die Atmosphäre vor den Toren, dann betritt er das Werksgelände. Nourredine lässt ihn widerwillig passieren. Mit welchem Recht ihn daran hindern?

Rolande trifft ein, mit strahlendem Lächeln schiebt sie einen mit Kartoffeln, Zwiebeln, Eiern und Brot beladenen Einkaufswagen. »Ich habe im Supermarkt gehört, wie man von euch sprach, da habe ich eine Spendenaktion in den Läden organisiert. Das hier ist alles für euch. Damit ihr heute Abend warm essen könnt. Das ist meine Art, euch danke zu sagen.«

Nourredine ist gerührt und öffnet ihr das Tor. »Komm rein, Rolande. Wenigstens solange wir da sind, bist du hier zu Hause.«

Und dann treten die wichtigen Persönlichkeiten in Erscheinung, dunkle Limousinen, dunkle Anzüge, Unbehagen, großes Unbehagen, der Bürgermeister mit seiner blauweißroten Schärpe, der Abgeordnete, unauffälliger, und der Arbeitsdirektor des Departements, der so tut, als sei er gar nicht da. Sie drücken ein paar Hände, lächeln gezwungen, klopfen Amrouche auf die Schulter und reden dann vor dem Tor mit Nourredine und seinen Schichtkollegen.

»Das Tal braucht diese Arbeitsplätze … Passen Sie auf, was Sie tun … Monsieur Park, Ihren Direktor, kennen wir gut, das ist doch ein vernünftiger Mann … Versuchen Sie es auf dem Verhandlungsweg …«

Was wissen die drei denn von dem Leben hier drin? Was weiß dieser Arbeitsdirektor mit seinen getürkten Sicherheitskontrollen, seinen ewig positiven Berichten, nicht eine Beanstandung in zwei Jahren in der gefährlichsten Fabrik der ganzen Region, was weiß der schon von dem Mann mit dem abgetrennten Kopf, von Émilienne, von Rolande, von Aïsha? Nourredine ist verlegen in seiner zu engen Jacke, seiner schmutzigen Jeans. Plötzlich überkommt ihn Wut, in seiner Phantasie packt er den Arbeitsdirektor am Revers, schüttelt ihn, schlägt seinen Kopf gegen die Gitterstäbe des Tors, zertrümmert ihm Stirn und Nase, Blut fließt auf den schönen marineblauen Anzug, er lässt ihn los, der Arbeitsdirektor sackt zu Boden.

»… Wenn Daewoo wegen dieses Streiks schließen würde, was, wohlgemerkt, möglich ist, wäre das eine Katastrophe für das ganze Tal.«

»Wir haben große Anstrengungen unternommen, um diese Fabrik hierher zu bekommen«, fügt der Bürgermeister hinzu. »Ich weiß, was die Stadt das gekostet hat.«

Nourredine fällt nichts ein, was er entgegnen könnte.

Da tritt der vierte Mann, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hat, lächelnd auf Nourredine zu und streckt ihm die Hand hin. Er ist groß und kräftig, hat eine einfache, direkte Art. Und sein Händedruck sagt deutlich, dass er keine Angst hat, sich schmutzig zu machen, wenn er einem Arbeiter die Hand gibt. Auftreten, Ausdruck und Ton sind kaum wahrnehmbare Erkennungszeichen: dieselbe Welt, die Welt der Fabrik, nicht auf demselben Posten, aber trotzdem, das schafft Nähe.

»Maurice Quignard. Ich vertrete den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung.« Die europäischen Subventionen, die Registrierkasse, übersetzt Nourredine. »Bevor ich hergekommen bin, habe ich mit Ihrem Direktor telefoniert. Wissen Sie, das ist kein schlechter Kerl. Ich glaube, in dieser ganzen Angelegenheit gibt es ein riesiges Missverständnis. Seinen Worten zufolge müsste der sofortige Verkauf der Lagerbestände eigentlich die Zahlung bestimmter Prämien erlauben …« Nourredine gerät ins Wanken, atmet schwer. Denkbar wär’s schon, wir haben ja gleich losgelegt wie die Bekloppten … »Wir müssten doch eine Verhandlungsbasis finden.«

»Verhandeln, nichts anderes fordern wir seit heute Morgen.«

»Es gibt keine Verhandlungen, solange das Management festgehalten wird.«

Nourredine ist ehrlich überrascht. »Niemand wird festgehalten. Wir hindern die Leute am Reinkommen, nicht am Rausgehen.«

»Und verhandelt wird nicht hier, unter Druck, sondern im Rathaus.«

»Ich entscheide nicht allein.« Er blickt sich um. »Das müssen wir erst bereden. Ich sehe da aber kein Problem.«

Wie selbstverständlich geht Quignard durch das Törchen, Nourredine ist überrumpelt, zögert, zu spät. Quignard ist schon im Pförtnerhaus, einer der beiden Wachleute schiebt ihm einen Stuhl hin und reicht ihm ein Telefon. Er setzt sich, ruft die Direktion an, er ist hier zu Hause. Als er wieder herauskommt, erklärt er: »In einer Viertelstunde werden die ersten Führungskräfte die Fabrik verlassen, in ihren Autos natürlich. Die Geschäftsleitung empfängt Sie in zwei Stunden im Rathaus. Selbstverständlich nur, wenn Sie einverstanden sind.«

Dann geht Quignard zurück in Richtung Kreisel, wo ihn sein Wagen, ein großer schwarzer Mercedes, und sein Fahrer erwarten, wechselt ein paar Worte mit den drei hochrangigen Repräsentanten der Republik, das wird schon wieder, warum auch nicht, niemand will Krieg. Ein Stück weiter begegnet er einem düster dreinblickenden Maréchal, der gekommen ist, um zu sehen, was es Neues gibt.

»Antoine, gehst du in die Fabrik zurück?«

»Nein, meine Schicht geht nur bis vierzehn Uhr, und bis auf Weiteres gehöre ich nicht zu den Streikenden.«

»Dann begleitest du mich in mein Büro. Die Verhandlungen dürften sehr bald beginnen, und Park wird mich telefonisch auf dem Laufenden halten. Ich würde gern deine Meinung dazu hören.«

»Hast du was zu trinken da?«

Lächeln. »Wie üblich. Deinen Lieblingscognac.«

»Zu Hause wartet eh keiner auf mich.«

Auf dem Brachland hinter der Fabrik betreibt Karim sein kleines Geschäft. Er mag diesen Ort. Vor ihm erstreckt sich das Tal mit seinen grünen Flussufern bis nach Pondange. Als er Kind war, war dies eine Straße aus Hochöfen, Tag und Nacht Feuer, Lärm, Rauch und Staub. Sein Vater ging von Hochofen zu Hochofen immer mehr kaputt, und Karims eigenes Schicksal als ältester Sohn war klar vorgezeichnet. Mit sechzehn ab ins Stahlwerk, als Hilfsarbeiter, an der Seite seines Vaters. Heute stirbt sein Vater mit einer guten Rente langsam vor sich hin, ihm selbst geht es prima dank vieler kleiner Tricksereien, die Luft ist sauber und das Tal ist grün. Ist das Leben nicht schön, von Daewoos Brache aus betrachtet? Er hat aus Palettenresten Kleinholz gemacht, einen behelfsmäßigen Grill aufgestellt und brät mit Billigung des Cafeterialeiters auf Draht gespießte Würstchen, die er günstig verkauft.

Zwei Unbekannte, sehr breitschultrig, ultrakurzes Haar, um die dreißig, aggressive Ausstrahlung, kommen langsam heran, die Hände hinter dem Rücken. Seh’n aus wie Bullen, aber nicht wie gute, denkt Karim, zögert, schneller Blick nach allen Seiten, kein Fluchtweg. Bemerkt die marineblauen Security-Jacken, die Uniform der Daewoo-Wachleute. Beruhigt lächelt Karim ihnen zu und streckt ihnen zwei Wurstspieße entgegen. Für Sie, ist gratis. Die beiden Männer nicken, nehmen die Spieße und entfernen sich ohne ein Wort. Karim bedient seine Kundschaft weiter, und Stammkunden schiebt er gegen Aufpreis noch etwas Hasch in die Papierserviette, die es zu den Würstchen gibt. In einer Ecke des Warenlagers ist ein Raucherzimmer eingerichtet worden, inmitten der Styroporverpackungen, gut geschützt vor den patrouillierenden Wachleuten.

Rolande ist unterdessen in der Cafeteria angekommen und hat die Kochecke mit Beschlag belegt. Sie macht sich an die Arbeit, jeder Handgriff sitzt, Gerätschaften, Teller, beglückt schält sie, spült, schneidet, rührt. Sorgende Mutter. Halb Spiel, halb verdrängter Wunsch. Ihre Art, sich an der gemeinschaftlichen Aktion zu beteiligen.

Schon bald verlässt das erste Auto den Parkplatz für das Führungspersonal am rechten Gebäudeflügel und fährt Richtung Werkstor, durch ein Spalier aus Arbeiterinnen und Arbeitern, die aus allen Winkeln der Fabrik herbeigeströmt sind, um die spottenden Schaulustigen zu spielen. Über die Motorhaube gebeugt, mustern sie den Insassen aus nächster Nähe, verpassen der Karosserie Schläge und ein paar Tritte und haben echten Spaß daran, nun ihrerseits Angst zu machen, heitere Saturnalien, bis jetzt. Étienne ist wieder voll da und amüsiert sich prächtig. Aïsha steht erst ganz vorn, erstaunt über ihren Wagemut, hat das Spiel aber bald satt, zu viele Männer, zu nah, lässt sich aus der Menschentraube hinausschieben und geht ins Pförtnerhaus, wo die beiden Wachleute sich gleichmütig einen Kaffee machen und ihr eine Tasse anbieten.

Das erste Auto fährt ungehindert davon, das zweite auch. Am Steuer leitende Angestellte, Franzosen, die so gut wie keiner kennt. Arbeiten wahrscheinlich in der Finanzabteilung. Dann kommt ein Peugeot 605 mit einem Koreaner am Steuer. Viele in der Fabrik mögen die Koreaner nicht. Ist halt so, muss man nicht verstehen. Und der hier hat noch dazu den miesen Ruf, die Putzfrauen aus der Fabrik unbezahlt in seinem Apartment arbeiten zu lassen. Irgendwer schreit: »Das Auto durchsuchen!« Und schon kann das Spiel weitergehen. Der Vorschlag wird sofort angenommen und in die Tat umgesetzt. Während eine Gruppe Arbeiter der Limousine den Weg versperrt, geht Nourredine zur Wagentür und wirft einen Blick auf die Rückbank. Leer.

»Öffnen Sie bitte den Kofferraum, Monsieur.«

Der Koreaner, ein verschrecktes Gesicht hinter einer dünnen Stahlbrille, fährt schnell die Scheiben hoch, verriegelt die Türen und signalisiert, er verstünde nicht. Seine Haut färbt sich grün, er zwinkert heftig, öffnet und schließt den Mund im Takt seiner tonlosen, abgehackten Atemzüge. Ein Fisch im Aquarium, lächerlich.

Was ist dann geschehen? War es Panik? Der feste Wille, sich den Weg notfalls mit Gewalt zu bahnen? Das Auto macht einen Satz nach vorn und bringt drei Arbeiter zu Fall, die Menge schreit auf, etwa zwanzig Männer greifen nach der Karosserie und rütteln an dem Wagen, der auf und ab federt, beinahe abhebt. Einer der umgefahrenen Arbeiter steht wieder auf und übernimmt vor der Motorhaube das Kommando. Linke Seite hoch, rechte Seite hoch, immer im Wechsel, und eins, und zwei, das Auto schwankt, und drei, ein letzter Stoß kippt es auf die linke Seite, wo es mit dem Geräusch von knirschendem Blech aufschlägt. Der Koreaner ist platt an die linke Wagentür gepresst, verbirgt sein Gesicht hinter den Händen und rührt sich nicht mehr.

»Was hat der denn dabei, dass er so viel Angst hat? Drogen? Waffen?«

Der Kofferraum ist verschlossen und lässt sich nicht öffnen. Den Schlüssel aus dem Wageninneren holen? Nourredine ist dagegen, zu kompliziert, außerdem besteht die Gefahr, dass es zu einer Schlägerei kommt.

Karim tritt mit einem selbstgefälligen Lächeln neben ihn und knufft ihn in die Rippen. »Was zahlst du mir, wenn ich ihn für dich öffne?« Wütendes Schnauben. »Ist ja gut, war ’n Scherz. Aber das Recht dazu haben wir, oder? Das ist heute unsere Party.«

Aus der Innentasche seiner Lederjacke holt er einen sehr feinen Schraubenzieher, steckt ihn ins Schloss, dreht ihn behutsam zwischen den Fingern, horcht, ob sich etwas tut, findet die Raste, Drehen, Drücken, der Kofferraum öffnet sich quietschend, und darin, einfach hineingeworfen, ein Computer und drei Kisten voller Akten. Die schaffen Unterlagen weg. Die Menge verstummt. Jetzt ist das Spiel vorbei.

Nourredine fühlt sich wie im Rausch, er, der noch nie einen Tropfen Alkohol getrunken hat. Die Gestalten um ihn herum schwanken. Ein Schritt, und du kippst um. Seit heute Morgen nichts gegessen. Ständig unter Strom, und dann wieder diese Abstürze. Ihm ist zum Kotzen. Quignard, sein offener, direkter Händedruck, Ihr Direktor, kein schlechter Kerl, riesiges Missverständnis … Meine Fresse, klar. Und du blöder Hund musst auf diesen Kitsch natürlich jedes Mal reinfallen. Er schüttelt sich kräftig, das Unwohlsein vergeht, die Wut bleibt. Jemand macht für ihn die Räuberleiter, er klettert auf die Flanke des Wagens. All die Gesichter, die sich ihm zuwenden, ihm, Nourredine, dem angelernten Araber, und unter seinen Füßen, in seiner Kiste verkrochen, der koreanische Manager. Stolz wallt in ihm auf. Der Wagen schwankt. Breites Grinsen.

»Der da unten soll sich lieber ruhig verhalten. Okay, die Sache ist ganz einfach. Die Koreaner schaffen heimlich Unterlagen hier raus, um die Fabrik hinter unserem Rücken leichter schließen zu können. Lassen wir das zu?«

Hundertfünfzig Leute schreien: »Nein!«

»Ich schlage vor, wir besetzen die Büros und setzen die Führungskräfte fest …«, die Arbeiter halten den Atem an, »… bis unsere Forderung erfüllt ist: Zahlung der Prämien. Es gibt nämlich eine Lösung. Die Lager sind voll. Sie verkaufen die Lagerbestände unter unserer Aufsicht, und von dem Geld zahlen sie zuerst unsere Prämien.«

Lebhafte Diskussionen in der kleinen Schar. Die Lagerbestände verkaufen, gute Idee, mal was Konkretes, da ist noch mehr drin als bloß unsere Prämien. Vielleicht, aber gleich festsetzen … Wir müssen uns absichern … Sie lassen uns keine Wahl. Eine Provokation nach der anderen. Man könnte meinen, sie legen es darauf an … Das ist ja das Beunruhigende.

»Hört zu, Leute, wir müssen jetzt schnell sein, und effektiv. Wir gehen alle zusammen hin, wir sperren sie ein, über Nacht wird reichen, morgen früh sind sie fertig mit den Nerven. Ihr seht ja den Koreaner in seiner Karre hier.« Leichter Tritt mit dem Absatz gegen das Wagendach, ein blecherner Klang ertönt. Jeder sieht noch einmal das angsterfüllte Gesicht, das schaukelnde Auto, gemeinsam sind wir stark. »Sie haben Angst vor uns. Das nutzen wir. Wenn wir uns heute nicht Respekt verschaffen, machen sie die Fabrik morgen dicht, und uns bleibt gar nichts. Wir setzen sie fest, jetzt gleich. Wer ist dafür?«

Sehr kurzes Zögern. Étienne und die erste Schicht aus der Verpackung heben die Hand. Alle heben die Hand. Aïsha kann es kaum glauben, aber auch sie stimmt für Festsetzen. Während vier Männer den Computer und die Aktenkisten aus dem Kofferraum holen (nichts, was der Firma gehört, darf die Firma ohne unsere Zustimmung verlassen), findet sich die Abordnung erneut zusammen und tritt an die Spitze des sich formierenden Zuges. Relativ geordnet setzt sich der kleine Trupp in Bewegung. Das auf der Seite liegende Auto wird mit offenem Kofferraum einfach vor dem Tor liegen gelassen, der Koreaner hat sich immer noch nicht gerührt.

Kreidebleich umklammert Park sein Telefon. »Sie kommen, sie besetzen die Büros … Das gibt eine Katastrophe.«

»Was haben Sie denn jetzt wieder für einen Mist gebaut? Und was für eine Katastrophe, erklären Sie mir das.«

»Als ich hier anfing, habe ich ein System mit fingierten Rechnungen erstellt, um den koreanischen Führungskräften eine Auslandszulage zahlen zu können …«

Ein Brüllen am anderen Ende. Quignard springt auf, wirft seinen Stuhl um, lässt seine Faust auf die Schreibtischplatte krachen, die Cognacgläser hüpfen, eine Vase mit Chrysanthemen kippt um, setzt die wartenden Akten unter Wasser. Maréchal nimmt die Gläser, bringt sie in Sicherheit, stellt die Vase wieder hin.

»Löschen Sie alles, verdammte Scheiße, worauf warten Sie denn noch?«

Ihm sagen, dass man versucht hat, den Computer rauszuschaffen, und dass er jetzt in den Händen der Streikenden ist? Lieber krepieren. »Der Buchhalter, der sich darum kümmert, ist heute nicht da, und sonst weiß keiner, wo das abgelegt ist, wir können ja nicht die gesamte Buchhaltung löschen …«

Park fiept wie ein verängstigtes Kaninchen, die Verbindung ist unterbrochen.

Der Weg zum Gebäude der Geschäftsleitung, einem Spiegelglaskubus mit einer zweistufigen Freitreppe vor dem Haupteingang, eine Art bessere Lagerhalle, nicht sehr eindrucksvoll, ist kurz, ein paar Dutzend Meter vielleicht, aber doch lang genug, damit jeder noch einmal darüber nachdenken kann, was er da eigentlich tut.

Freiheitsberaubung. Wir werden hineingehen, wo wir nicht hineingehören, ihr Terrain besetzen, unsere Chefs höchstpersönlich einsperren, ihnen auf die Pelle rücken, sie mit uns einschließen, von Gleich zu Gleich mit ihnen reden. Wenigstens eine Zeitlang. Wir rühren an die soziale Ordnung. Wenigstens eine Zeitlang. Es zählt also jeder Schritt, wir werden uns später an jeden Schritt erinnern. Und wir halten zusammen, dicht zusammengedrängt, schweigend.

Die Frauen folgen am Ende des Zuges, hängen ein wenig zurück, zu viele Männer in zu dichten Reihen, sie sind besorgt, zögerlich. Einige machen sich unauffällig davon, durch die Fabrik und über das Brachland.

Amrouche lässt sich widerstrebend mitziehen. Jetzt stecken wir mittendrin, die Explosion, die Wut, seit Jahren verfolgt mich das, die anderen sind so viel stärker, sie haben immer gewonnen, sie werden immer gewinnen. Schafe zur Schlachtbank. Er schließt zu Hafed auf. »Wir müssen das Ganze stoppen, das gibt eine Katastrophe.«

»Ich begreife nicht, warum diese Managerärsche nicht alle längst nach Hause gefahren sind. Worauf spekulieren sie? Wir können jedenfalls nichts ändern.«

Getragen von seinen Leuten geht Nourredine bis zur automatischen Schiebetür: geschlossen. Probiert sie aufzubekommen: vergeblich.

Er hat nicht mal mehr Zeit, sich umzudrehen: Der Ansturm der nachdrängenden Arbeiter, der sich mit jeder Reihe verstärkt, bringt die Männer an der Spitze aus dem Gleichgewicht und lässt sie gegen die Glastür krachen, die nachgibt und birst.

Die Zeit steht still, Amrouche ist gestolpert und bäuchlings in den Glasscherben auf dem blauen Teppichboden gelandet. Nourredine, blutüberströmt, mit gebrochener Nase und Schnittwunden im Gesicht, sieht sich dem koreanischen Direktor gegenüber, der starr und bleich mitten in der Empfangshalle steht.

Jemand schreit: »Holt sie aus ihren Löchern und bringt sie her.« Die Männer stürmen wieder los, trampeln über Amrouche hinweg, schwärmen aus zu den Büros, reißen die Türen auf, zerren die Leute von ihren Stühlen, schleifen sie halb bis in die Empfangshalle, die sich zunehmend mit zerrupften Anzugträgern füllt.

Amrouche hat sich hochgerappelt, kurzatmig zieht er den Direktor hinter sich her in den Sitzungsraum, er kennt diesen Raum gut, so viele nutzlose Palaver, diese Schwachköpfe, die nie zugehört haben, und jetzt … Hafed, leicht angeschlagen, kommt dazu. Sie lassen die leitenden Angestellten einen nach dem anderen hineingehen, nein, nicht alle Arbeiter, so viel Platz ist nicht, nur die Abordnung, wir lassen die Tür auf. Sofortige Zahlung der Prämien, alle wissen, warum wir hier sind, und wir lassen niemanden gehen, bevor unsere Forderung nicht erfüllt ist, aber von jetzt an bewahren wir Ruhe. Wir sind ja keine Kriminellen.

Nourredine hat sich in der Empfangshalle auf einen Stuhl gesetzt, den Kopf vornübergebeugt, er versucht mit einer Rolle Klopapier sein Nasenbluten zu stoppen, er hat die Augen geschlossen, seine Hände sind blutig, das Hirn träge und die Gedanken verworren.

Hafed hockt sich neben ihn. »Amrouche und ich kümmern uns im Sitzungsraum um die Chefetage. Du musst in den Büros ein bisschen für Ordnung sorgen. Hörst du?« Nourredine knurrt nur. »Das ist wichtig. Organisier die Besetzung. Streikposten an die Türen, Kontrollrunden durch Fabrik und Büros. Okay?« Nourredine nickt stumm. »Denk dir was aus, damit die Jungs was zu tun kriegen.« Er wiederholt: »Das ist wichtig«, und geht zurück in den Sitzungsraum.

Quignard stellt seinen Stuhl wieder hin, setzt sich mit geschlossenen Augen, zwingt sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, indem er durch den Mund ausatmet, seine großen Hände liegen flach auf dem Schreibtisch.

Während Quignard sich langsam beruhigt, hat Maréchal wieder sein Glas genommen und trinkt in kleinen Schlucken, um nicht loszulachen. »Und, was hat sich dein zündelnder Feuerwehrmann nun wieder ausgedacht?«

»Es ist ein Alptraum, Antoine. Vor nicht mal einer Stunde bin ich dort weggegangen, sie haben Verhandlungen vereinbart, und nun besetzen die Arbeiter die Büros der Geschäftsleitung.«

»Das ist schon anderen Chefs passiert, und die haben’s auch überlebt.«

»Vielleicht, aber bei der Gelegenheit eröffnet mir Park, dass er mit einem System fingierter Rechnungen Geld unterschlägt, um seiner koreanischen Managerbande, die allesamt Stümper sind, Gehaltszulagen zu zahlen, und dass das Ganze zu allem Überfluss auch noch schwarz auf weiß in der Firmenbuchhaltung steht … Wenn da irgendwelche Schlaumeier einen Blick drauf werfen … Das Werk muss geräumt werden.« Quignard greift zum Telefon. »Ich rufe den Kommissar an …«

Maréchal bremst ihn. »Tu das nicht. Das führt nur zu Ausschreitungen, die die Bullen vom Kommissariat nicht in den Griff kriegen. Und das Anfordern von Spezialeinsatztruppen braucht Zeit und gute Gründe.«

Die beiden Männer trinken schweigend. Quignard grübelt. »Zündelnder Feuerwehrmann, hast du gesagt. Die Feuerwehr, das ist eine Idee. Ein Feuer bricht aus, und alle werden evakuiert.«

Erneutes Schweigen. Die beiden Männer trinken. Quignard brummt, mehr zu sich selbst: Zumal wir nicht Gefahr laufen, dass die Versicherungsschnüffler uns auf die Nerven gehen.

Maréchal hat sein Glas geleert und erhebt sich. »Karim Bouziane hat auf dem Gelände hinter der Fabrik einen Grill aufgestellt. Der muss an so einem Streiknachmittag nur so geglüht haben. Na dann, ich überlass dich deinen Angelegenheiten, ich fahr nach Hause. Danke für den Cognac.« Er hebt die Hand zum Gruß, die Tür klappt zu.

Schnell mal überlegen. Ein Glas Cognac. Wäre jetzt nicht Tomaso der richtige Mann? Er denkt an ihre erste Begegnung zurück. Ein Geschäftsfreund hatte ihn nach Nancy ins Oiseau Bleu mitgenommen. Ein ganz besonderer Laden, hatte er gesagt. Ein Restaurant, das beste von Nancy. Der Besitzer, Tomaso, war gekommen und hatte sie begrüßt. In der hochgewachsenen eleganten Erscheinung hatte Quignard eine unnachgiebige Härte gespürt, Blaustahl, die ihn sofort fasziniert hatte. Nach dem köstlichen Abendessen dann der Nachtclub im Untergeschoss des Restaurants, Nutten, die besten von Nancy. Er war Stammgast geworden im Oiseau Bleu, wo er viel mehr Zeit verbrachte als zu Hause, und hatte sich mit Tomaso angefreundet, der sich ihm ein wenig geöffnet hatte: ein ehemaliger Hund des Krieges, der dabei war, sich neu zu orientieren, noch gezeichnet von Einsätzen und Gewalttaten, von denen der junge Quignard während seiner kurzen Zeit in der militärischen Geheimorganisation OAS geträumt hatte. Ach ja, das waren Zeiten … Und Tomaso war vierzig, hätte fast sein Sohn sein können, der Sohn, den er nie hatte. Also hatte Quignard ihm Aufträge für seinen Sicherheitsdienst verschafft, auch den für Daewoo Pondange, und er konnte sich dazu nur beglückwünschen. Linke Tricks gegen unliebsame Gewerkschafter, Übergabe von Geldkoffern, hier und da ein wenig Wirtschaftsspionage. Tomaso hat ihm nie einen Gefallen abgeschlagen, alles effizient und diskret erledigt. Für einen brennenden Mülleimer in einer besetzten Fabrik ist er natürlich der richtige Mann.

Vor der offenen Tür drängen sich etwa zwanzig Arbeiter und versuchen einen Blick nach drinnen zu erhaschen. Zu hören ist die Stimme von Amrouche, der die Sitzung mit einer gewissen Feierlichkeit eröffnet.

Während Nourredine immer noch benommen dasitzt, den Kopf in die Hände gestützt, und nicht richtig Luft bekommt, verteilt sich der Rest der Truppe in den Büros und nimmt mit sichtlichem Vergnügen die Räumlichkeiten in Besitz. Teppichböden, richtige Wände, saubere, solide Möbel, zarte Pastelltöne, reichlich Platz, eine andere Welt als die Fabrik, eine Welt, in der man Lust bekommt zu spielen, sich in einen der Drehsessel zu setzen, Füße auf den Tisch, die metallenen Aktenschränke als Grundausstattung für ein Schlagzeug neuen Typs zu verwenden, alle Apparate der Telefonanlage zum Klingeln zu bringen. Wir sind hier zu Hause, oder besser, wir tun so, als seien wir hier zu Hause. Dann wird das Spiel langweilig, in einer Schublade findet sich eine Flasche Whisky, die aus Kaffeetassen geleert wird, man ruft entfernt lebende Freunde an, ein bisschen Kleinzeug verschwindet in namenlosen Taschen, elektronische Terminkalender, Handys, bunte Filzer als Mitbringsel für die Kinder, ein Montblanc-Kugelschreiber, durch ein Fenster gegenüber der großen Fabrikhalle schaffen zwei Männer einen topmodernen Computer samt Zubehör hinaus.

Im Sitzungsraum zieht sich die Diskussion durch endlose Präliminarien in die Länge, der Dolmetscher übersetzt jeden Beitrag ins Koreanische oder Französische. Amrouche geht Punkt für Punkt eine Liste mit Beschwerden durch, die sich seit Gründung der Fabrik angesammelt haben. Die Gruppe der vor der Tür versammelten Zuhörer wird allmählich kleiner. Der Nachmittag zieht sich hin, man beginnt sich zu langweilen. Im Hauptgang drehen die dafür Eingeteilten ihre Runde, was niemanden weiter interessiert. Im Büro des Personaldirektors sitzt ein Grüppchen im Kreis und lässt Joints herumgehen. Schade, dass die Sekretärinnen schon weg sind, mit ihnen wär die Party lustiger. Und wo sind unsere Mädels? Die haben Schiss gekriegt, kannste dir doch denken. Lacher, Kerle unter sich. Andere sitzen neben dem Kaffeeautomaten schon wieder bei ihrem unvermeidlichen Kartenspiel. Im Büro vom Chef steht ein Fernseher, aber die Fernbedienung ist unauffindbar. Das Gerät wird auf den Boden geschmissen. Nourredine ist mit dem Kopf auf den Knien auf seinem Stuhl eingeschlafen.

Étienne hat den Computer aus dem Wagen des koreanischen Managers geholt. Er setzt sich in ein ruhiges Büro und schließt ihn an. Mit Computern, denkt er, kennt er sich ein bisschen aus. Mal gucken, wie sie in den Büros arbeiten, wo er schon mal die Gelegenheit dazu hat, das macht ihm Spaß, das interessiert ihn. Er kommt ohne weiteres in den Rechner hinein, drückt ein paar Tasten. In der Rubrik »Verwaltung Einkauf-Verkauf Lieferanten« erscheinen mehrere Ordner, denen Nummern zugeordnet sind. Er öffnet irgendeinen und stößt auf Namensdateien, französische und ausländische Namen, er kennt keinen. Klickt einen an. In einem Fenster links auf dem Monitor der Mund einer Frau, der einem männlichen Schwanz einen bläst, Nahaufnahme, eine handfeste, sich ständig wiederholende Animation. Étienne wechselt die Datei, wieder ein Bildchen, wieder ein Blowjob, aber Blickwinkel und Stellung diesmal anders. Étienne ist hocherfreut. Er klickt sich durch Ordner und Dateien und springt von Masturbationen und Analverkehr zu flotten Dreiern und anderen Spezialitäten. Étienne ist hellauf begeistert. Diese Bürohengste, nicht zu fassen, die wissen, wie man sich die Arbeit einteilt. Er sieht wieder Aïsha vor sich, wie sie im Dunkeln auf dem Boden liegt, riecht den Shampooduft ihres vollen schwarzen Haars, dann den kräftigen Geruch von Blut. Eine Jungfrau, ein besonderes Gefühl, das war gut. Schöne Erektion. Er zuckt zusammen. Karim beugt sich über seine Schulter, Vertrautheit zwischen Händler und einem seiner Stammkunden, und steckt ihm einen fertig gedrehten Joint in die Kitteltasche. »Schenk ich dir. Ich mach Feierabend und fahr nach Hause.« Sein Blick fällt auf den Bildschirm. Gerade lässt sich eine Frau auf allen vieren von einem Hund besteigen, einer großen, schwarzweiß gefleckten Deutschen Dogge, die mit hängender Zunge hechelt. Ihm stockt der Atem. So was kriegt man hier in Pondange nicht oft zu sehen.

Verhandlungspause. Die Führungskräfte haben den Wunsch geäußert, sich miteinander zu besprechen, und Amrouche und Hafed haben sie im Sitzungszimmer allein gelassen. Sie nutzen die Gelegenheit, um einen Gang durch die Büros zu machen und eine Zwischenbilanz der Besetzung zu ziehen. Amrouche betritt den Raum, in dem Étienne und Karim Schulter an Schulter vor dem Computer kleben und sich glucksend in die Rippen stoßen. In einer Ecke des Bildschirms nimmt ein Mann eine Frau in der Hündchenstellung, Halbnahaufnahme der sich bewegenden Hintern. Amrouche, zutiefst schockiert, murmelt ein paar Teufelsbeschwörungen und knallt im Hinausgehen die Tür hinter sich zu.

Das Geräusch lässt Karim zusammenzucken, der, aus seiner Betrachtung gerissen, seinen Geschäftssinn wiederentdeckt. »Kannst du mir nicht schnell eine Kopie von den Bildern ziehen? Dann vergrößerst du sie, du kennst dich doch aus mit diesen Geräten, und wir machen eine hübsche Diskette draus, die ich zu einem guten Preis verkaufe. Die Kundschaft dafür hab ich. Und wir machen halbe-halbe.«

»Genial. Warte, das ist schnell gemacht.«

Étienne wühlt in den Schränken, findet Disketten, legt eine ein, startet den Kopiervorgang. Der dauert drei Minuten, Zeit genug, den Joint anzuzünden und die ersten Züge mit Karim zu teilen, der die Diskette einsteckt und in Richtung Cafeteria verschwindet.

Étienne raucht weiter und träumt vor sich hin. Wie viel bringt diese Nummer? 1000 Franc? Mehr? Er sieht wieder auf den Bildschirm. Die Pornobildchen sind verschwunden, und jetzt weckt der Name der Datei, in der er sich befindet, seine Aufmerksamkeit. Nourredine Hamidi. Nourredine, mein Kumpel aus der Verpackung? Unter dem Namen stehen wie auf einem Kontoauszug Kolonnen von Zahlen und Daten, unterteilt in Soll und Haben, und am Ende der Liste ein Guthabenbetrag: 100 000 Franc. Er springt von Datei zu Datei, plötzlich hellwach. Andere Namen erscheinen, mit anderen Kontoauszügen, die meisten kennt er nicht, aber da ist ja der von diesem scheinheiligen Amrouche. Nicht schlecht, 150 000. Und etwas weiter unten der von Rolande Lepetit, nur 50 000, die hat auch nie Schwein. Und Maréchal, 200 000. Die Hierarchie wird gewahrt. Erste Reaktion: Die haben einen Haufen Zaster in der Firma stecken, die haben’s besser auf die Reihe gekriegt als ich, sogar Rolande, die immer so spröde tut. Zweite Reaktion: Moment mal, wenn Nourredine so einen Batzen Geld in Daewoo stecken hat, worauf will er dann mit dieser Prämien-Geschichte hinaus? Dem können die Prämien doch scheißegal sein. Für wen arbeitet er? Und die gute Rolande, entlassen? Das würde mich wundern. Das muss geklärt werden.

Étienne findet Nourredine schlafend auf einem Stuhl in der Empfangshalle. Er rüttelt ihn. »He, alter Heimlichtuer, du hast uns gar nicht erzählt, dass du einen Haufen Zaster in der Firma stecken hast.«

Nourredine kommt mühsam zu sich. »Sei so gut und lass den Scheiß.«

»Komm mit, ich zeig dir deinen Kontoauszug. Du bist im Moment bei über 100 000 Franc.«

»Du hast zu viel geraucht oder zu viel getrunken.« Nourredine erhebt sich schwerfällig, schüttelt seinen schmerzenden Kopf und geht in Richtung Toiletten.

Zu viel geraucht, zu viel getrunken, ist das etwa eine Antwort? Verärgert läuft Étienne die Flure entlang, um ein paar Kumpels zusammenzutrommeln.

»Nourredine, Rolande, Maréchal und ein Haufen anderer Leute kriegen von den Daewoo-Bossen Millionen, kommt mit und guckt, ich hab die Liste mit den Zahlungen in einem Rechner gefunden …« Erheiterung, niemand rührt sich. »… und Pornos sind da auch.«

»Sag das doch gleich!«

Genau in diesem Moment stürmen zwei Frauen aus der Cafeteria. »Kommt schnell! Im Hauptgang ist ein Feuer ausgebrochen!«

Die Büros leeren sich. Nourredine zögert, dann betritt er den Sitzungsraum. Beim Anblick seines geschwollenen Gesichts und seiner blutbefleckten Kleidung wird es still.

»Hafed, du bist doch Sicherheitsbeauftragter, komm, du wirst gebraucht.«

Hafed geht mit hinaus, und die beiden Männer verschwinden in Richtung Fabrik.

Étienne ist empört. Für die wichtigen Dinge interessiert sich niemand. Ein Feuer ausgebrochen, von wegen. Mal wieder ein brennender Mülleimer. Davon hab ich, seit ich hier bin, ein oder zwei pro Monat erlebt. Aber wenn es darum geht, ob Nourredine von Daewoo Kohle kriegt oder nicht … Ach was, sollen sie doch sehen, wie sie klarkommen. Mal gucken, wo Aïsha ist, bestimmt in der Cafeteria, ich werd ihr vorschlagen, dass wir noch mal Nourredines Gebetsteppich aufsuchen. Und dann ab nach Hause. Hab die Schnauze voll von all den Blödmännern.

Auch Karim in der Cafeteria ist müde und fängt an, sich zu langweilen. Rolande steht am Herd. Es riecht gut nach ausgebratenen Zwiebeln. Ich esse einen Happen, dann hau ich ab. Hier ist für mich nichts mehr zu holen.

Dichter schwarzer Rauch füllt einen Teil des Hauptgangs. Kreuz und quer durch die Fabrik laufen Menschen auf der Suche nach Feuerlöschern. Viele fehlen, andere sind leer. Hafed findet einen, zieht sein Hemd aus, bindet es sich wie eine Maske um den unteren Teil des Gesichts, zieht seine Jacke über die nackte Haut und läuft in die schwarze Wolke hinein. Er tastet sich zu einem brennenden Mülleimer vor, löscht das Feuer mit einem Schaumstrahl, dann tritt er den Eimer um und verteilt den qualmenden Müll mit dem Fuß in alle Richtungen. Nun kommt auch Nourredine mit einem Feuerlöscher angerannt, den er hinten im Lager gefunden hat, und vollendet das Werk. Der Rauch zieht langsam durch die Hintertür ab. Außer Atem gehen die beiden Männer ein paar Meter auf Abstand. Nourredine betrachtet die geschwärzte Blechwand, den Boden, bedeckt mit Abfall und Flocken von Löschschaum, die sich zu Pfützen auflösen und in die große Werkhalle rinnen. Denkt vielleicht an den Teppich und die Pastellfarben in den Büros. Er lässt sich zu Boden gleiten, sitzt mit angezogenen Beinen gegen die Blechwand gelehnt, sein Atem geht immer noch kurz und pfeifend.

»Das ist doch zum Kotzen.«

»Jammer nicht rum. Wir sind gerade noch mal davongekommen. In dieser Fabrik gehen die Sprinkler nicht, und die Feuerlöscher sind leer oder nicht funktionstüchtig. Im Hygiene- und Sicherheitsausschuss kommt das Thema bei jeder Sitzung auf den Tisch und nichts passiert.«

Nourredine, der sich sehr gut an ein Sprühgefecht mit den Feuerlöschern erinnert, das er und die Kumpels sich einmal aus Jux auf dem Brachland geliefert haben, wendet den Blick ab.

Hafed geht zu dem umgekippten Mülleimer und zeigt mit dem Fuß auf ein paar kohlschwarze Überreste. »Vielleicht hat jemand etwas Glühendes in den Müll geworfen.« Eine Weile herrscht Schweigen. »Ich fühl mich plötzlich, als würde ich auf einer Bombe sitzen.«

»Hatten die Wachleute nicht gesagt, dass sie für Sicherheit sorgen?«

»Ja, du hast Recht, wir werden mal hingehen und ein Wörtchen mit ihnen reden.«

Draußen ist es stockfinster. Das umgekippte Auto ist noch undeutlich zu erkennen, aber wie es aussieht, hat der Koreaner sich hinauswinden können. Das Pförtnerhaus ist innen strahlend hell erleuchtet, die beiden Wachleute sehen ihnen mit leisem Lächeln entgegen. Nourredine ist augenblicklich alarmiert, da ist was faul.

»Sollte nicht ein Team von uns ständig da drin sein, um zu kontrollieren, wer rein- und rausgeht?«

»Ja. Ich vermute, dass vorhin in dem Tumult einfach alle losgerannt sind, um die Büros zu stürmen.«

»Wir sind wirklich Pfeifen.«

»Wir sind vor allem Anfänger. So was macht man nicht mal so eben. Und die, die wissen, wie’s geht, weil sie’s schon mal gemacht haben, und die uns helfen könnten, sind nicht da. Wir geben unser Bestes.«

Nourredine öffnet die Tür. Der ältere der beiden Wachleute geht sie frontal an: »Und, wie sieht’s aus, ist die Freiheitsberaubung schon beendet? Da hättet ihr ja vielleicht nicht so einen Zirkus zu veranstalten brauchen, Jungs.«

»Was reden Sie da?«

»Eben haben der Direktor und die anderen Führungskräfte die Fabrik verlassen.« Nourredine fühlt sich wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht, als schrumpfe er in sich zusammen. »Ist keine zehn Minuten her.« Er hört nur noch gedämpft und wie von fern. Die Gestalten von Hafed und den beiden Wachleuten werden kleiner und rücken in die Ferne. »Amrouche hat ihnen das Tor geöffnet, und sie sind zu Fuß weg, gerannt sind sie wie die Kaninchen.« Der Mann lacht. »Wir haben uns nicht gerührt, Jungs, das ist eure Angelegenheit, nicht unsere.«

Nourredine setzt sich, sein Kopf schmerzt immer stärker, er sieht nur verschwommen. Er kriegt kaum Luft. Verlockend: Alles hinschmeißen, nach Hause gehen, zu den Frauen, Mutter, Schwestern, blutjunge Ehefrau, eine andere Arbeit, eine kleine Frittenbude auf dem Marktplatz. »Ich blick’s nicht mehr, Hafed. Erklärst du’s mir?«

»Wie denn? Ich war doch bei dir, als das Feuer ausgebrochen ist, weißt du nicht mehr? Als du mich aus dem Sitzungsraum geholt hast, schlug Amrouche gerade vor, die unteren Führungskräfte gehen zu lassen. Wir hatten vorher einen Rundgang durch die Büros gemacht, und es waren höchstens noch zwanzig aktiv bei der Besetzung. Das schien uns ein bisschen knapp, um so viele Führungskräfte zu bewachen. Wir wollten gerade beschließen, nur die fünf wichtigsten dazubehalten. Was danach war, weiß ich nicht.«

Nein, ich kann jetzt nicht alles hinschmeißen, nicht nach dem Riesen-Lkw, den wir in die Flucht geschlagen haben, dem umgekippten Auto, dem Marsch auf die Büros, diese Kraft der Männer alle miteinander, das hab ich noch nie erlebt, die Kumpel, die mir zuhören, dieses Vertrauen, ich bin ein anderer, ich spreche, ich tu was. Nicht jetzt.

Er steht auf, macht zwei Schritte, schnappt sich das Berichtsheft der Wachleute. Nichts über den Abgang der Manager und das Öffnen der Tore, nichts über den Mülleimerbrand. Nur ein knapper Eintrag: »17 Uhr 15: Wachschutz meldet Handel mit Haschisch auf dem Brachland hinter dem Werk. Wegen der allgemein unsicheren Lage nach der Besetzung der Fabrik durch die Belegschaft und gemäß den Anweisungen unseres Vorgesetzten halten wir es für klüger, das Brachland nicht in unsere Runden einzubeziehen.« Wut steigt in ihm hoch und gibt ihm seine ganze Energie zurück.

»Ihr macht euren Job nicht. Wo waren die Wachleute während des Feueralarms? Wo ist dieser Alarm vermerkt? Ihr seid nur daran interessiert, die Arbeiter in Verruf zu bringen.« Er reißt das Blatt heraus, hält es auf Augenhöhe zwischen zwei Fingern. »Hast du ein Feuerzeug, Hafed?«

Er nimmt es, zündet das Blatt feierlich an, sieht zu, wie es schnell verbrennt, und lässt ein paar verkohlte Überreste zu Boden fallen. Dann gibt er Hafed das Feuerzeug zurück, spuckt auf den Boden und verlässt das Pförtnerhaus.

Ab in Richtung Cafeteria, wo sich bestimmt alle zusammengefunden haben. Nourredine geht schweigend, mit gerunzelter Stirn, dann und wann entschlüpft ihm ein Knurren, ein Wort, Hafed beobachtet ihn aus dem Augenwinkel, besorgt, es so in ihm brodeln zu sehen.

In der hell erleuchteten Cafeteria sitzen die Leute in kleinen Gruppen an den Tischen und diskutieren laut, bisweilen hitzig, ein einziges lärmendes Stimmengewirr. Die beiden, die mit dem Kontrollgang dran sind, sind nur bis zum Kaffeeautomaten gekommen und suchen in ihren Taschen nach Kleingeld. Amrouche sitzt allein in einer Ecke und trinkt einen Kaffee. Nourredine durchquert mit schnellen Schritten den Raum und stürmt auf ihn zu. Er hat sich zwar das Blut von Gesicht und Händen gewaschen, dafür klebt jetzt dicker Schorf an seiner Nase, er hat grün-blaue Ringe unter den Augen, und seine Kleidung ist mit dunkelroten und schwärzlichen Flecken beschmutzt. Einige haben ihn nicht erkannt, als er die Cafeteria betreten hat. Überall, wo er vorbeikommt, wird es still. Er bleibt neben Amrouche stehen, steigt auf einen Tisch, dreht ihm den Rücken zu und spricht mit lauter Stimme zu der Gruppe, die sich vor ihm bildet.

»Du bist ein Verräter, Ali. Wir hatten alle miteinander eine Waffe in der Hand, und du hast sie uns genommen.«

Amrouche wirft den leeren Becher weg. Er wirkt müde, aber ruhig. »Wir haben die einzige vernünftige Entscheidung dieses Tages getroffen. Wenn du dich bitte wieder abregen könntest …«

Nourredine tut so, als hätte er ihn nicht gehört. »Nachdem du uns den Direktor ja genommen hast, bleibt uns nur eine Möglichkeit. Hinter der Fabrik sind die Lager für die Chemikalien. Die holen wir uns, wir brauchen bloß die Tür aufzubrechen, wir nehmen sie mit und lagern sie gut bewacht im Verpackungssektor. Und morgen Mittag kippen wir sie in den Fluss, wenn die Prämien bis dahin nicht gezahlt sind. Vielleicht auch morgen Abend, aber nicht später.«

Amrouche erhebt sich und baut sich in der ersten Reihe der dichten Menschentraube, die Nourredine umringt, vor ihm auf. »Solange ich lebe, wird das in dieser Fabrik niemand tun, ist das klar? Wie viele sind wir hier, hast du darüber mal nachgedacht? Höchstens achtzig. Wie viele müssten wir sein? Zwischen dreihundertsechzig und dreihundertachtzig. Wo sind die anderen? Zu Hause. Dein Streik ist jetzt schon der Streik einer Minderheit. Wir wollten Rolande wiederhaben und reden nur noch über Prämien. Wir sind nicht in der Lage, die Fabrik ernsthaft zu besetzen. Überall spazieren Leute rum und machen irgendwas, man geht ein und aus wie in einem Hotel, die Sicherheit ist nicht gewährleistet. Als wir gehört haben, dass ein Feuer ausgebrochen ist, habe ich beschlossen, die Führungskräfte rauszubringen. Denkst du vielleicht, du kannst einen Spinner am Feuerlegen hindern? Du weißt, dass das nicht geht. Immer wenn du in Schwierigkeiten bist, greifst du zu noch mehr Gewalt, und immer weniger Leute folgen dir. Deine Idee, Chemikalien in den Fluss zu kippen, ist eine Terroristenidee. Kipp ein Fass Säure in den Fluss, und wir landen alle sofort im Knast, und zwar für eine ganze Weile. Du weißt so gut wie ich, dass niemand, hörst du, niemand in Pondange auch nur den kleinen Finger rühren und sich für uns starkmachen wird. Weil wir Araber sind und weil diese Fabrik bloß als Anhängsel des Arbeitsamts betrachtet wird. Wir arbeiten hier nicht, wir beschäftigen uns, und bezahlt werden wir aus Steuergeldern. Du weißt doch, wie die Leute in Pondange reden. Und jetzt auch noch Araber und Terrorist, wirklich eine reife Leistung.« Er wendet sich an die schweigenden Zuhörer. »Wollt ihr das? Als Terroristen in den Knast wandern?«

Nourredine ist aschfahl, er atmet keuchend, stammelt: Terrorist, Terrorist, ich bin kein Terrorist.

Hafed nimmt ihn bei den Schultern, bringt ihn dazu, vom Tisch zu steigen und sich zu setzen, dann greift er den Faden auf. »Geschehen ist geschehen. Lasst uns nicht mehr darüber reden, lasst uns weiter zusammenhalten. Solange wir besetzen, haben wir die Lagerbestände und damit ein Druckmittel. Morgen nehmen wir die Verhandlungen wieder auf. Heute müssen wir uns vor allem organisieren. Uns organisieren!« Er skandiert die Worte zweimal. »Den ganzen Tag sind wir herumgerannt. Damit ist jetzt Schluss, wir organisieren uns. Ein Team an der Pforte, das die ganze Sache koordiniert. Ein Team in den Büros, das ein bisschen Ordnung macht, herausfindet, wo sich das Firmenarchiv befindet, die Unterlagen zurückräumt, die wir aus dem Auto mitgenommen haben, morgen machen wir dann eine Bestandsaufnahme, damit wir wissen, warum sie die rausschaffen wollten. Und zwei Teams, die die ganze Nacht über Kontrollgänge machen, die Fabrik komplett räumen, alle, die sich irgendwo rumdrücken, in die Cafeteria bringen und für Sicherheit sorgen. Alle, die nicht in den ersten Teams sind, bleiben hier, um zu schlafen, und übernehmen um drei Uhr. Morgen früh um sieben Generalversammlung hier, um zu entscheiden, wie es weitergeht.«

Hafed und Amrouche stehen Seite an Seite: Es wird abgestimmt. Wer ist dagegen? Nur fünf Hände heben sich gegen Hafeds Vorschlag. Angenommen.

Nourredine, der kaum noch Luft bekommt und nicht mehr reden kann, springt auf und verpasst Amrouche einen Fausthieb in den Magen. Hafed geht dazwischen, nimmt ihn am Arm, zieht ihn nach draußen auf den Parkplatz. Sie gehen herum, ohne etwas zu sagen. Je mehr Nourredine wieder zu Atem kommt, desto deutlicher wird er sich der mondlosen Nacht bewusst, des starken Geruchs nach feuchter Erde, Bäumen und Pilzen, der ungewöhnlichen Stille, die von kaum hörbaren Geräuschen erfüllt ist, Vögel wahrscheinlich, oder Tiere am Flussufer. Ein leichter Wind kommt von der Hochebene. Eine Nacht, die von einem anderen Leben erzählt. Er beginnt wieder zu atmen, langsam, unter Schmerzen, und betastet seine gebrochene Nase.

»Ich bin total fertig, Hafed. Ich würd mich gern hier hinhauen und ein bisschen schlafen.«

»Unmöglich. Wir haben beschlossen, alle an einem Ort zu versammeln, da wirst du nicht mit schlechtem Beispiel vorangehen. Wenn du dich abgeregt hast, gehen wir wieder rein, du wäschst dich, isst was und schläfst dann. Ich übernehme den ersten Wachdienst, du den zweiten. Morgen, denk an morgen. Wir werden gewinnen.«

Nourredine schläft auf einem Kantinentisch, in Tischdecken gehüllt und mit einem Stapel Geschirrtücher unter dem Kopf. Amrouche überwacht die Aufräumarbeiten in den Büros. Hafed nimmt im Pförtnerhaus die Berichte der verschiedenen Teams entgegen und überträgt sie ins Berichtsheft, als Étienne hereinstürzt und schreit: »Feuer hinter den Lagerräumen … Es breitet sich überall aus … Hilfe …«

Mit dem Auto, mit dem Fahrrad oder zu Fuß, das ganze Tal ist gekommen, um die brennende Fabrik zu sehen. Polizei und Feuerwehr haben einen Sicherheitsring gezogen, und nachdem man die Autos einfach irgendwo hat stehen lassen, drängt sich die Menschenmenge jetzt am Kreisel. Es ist ein grandioses Schauspiel. Der ganze linke Teil der Fabrik, das Lagergebäude, steht in Flammen. Sehr gelben, sehr leuchtenden Flammen, die die dunklen bewaldeten Flanken des Tals in helles Licht tauchen. Die Macht des tosenden Feuers wird noch verstärkt durch mal mehr, mal weniger heftige Explosionen, die bisweilen wie Salven aufeinander folgen, schwarze Rauchspiralen treiben mit dem Wind in Richtung Talsohle.

Plötzlich fällt ein Teil des Dachs in sich zusammen, es gibt einen mächtigen Funkenregen, der für einen Moment den Förderturm und das klaffende Einstiegsloch einer stillgelegten Eisenmine auf halber Höhe der Talflanke erleuchtet, eine gespenstische Silhouette, die nach ein paar Sekunden wieder in der Dunkelheit verschwindet. Der Menge entfährt ein Seufzer der Bewunderung und der Angst.

In den ersten Reihen der Schaulustigen stehen tief erschüttert die streikenden Daewoo-Arbeiter. Aïsha hat Rolande entdeckt und schluchzt in ihren Armen, hemmungslose, wortlose Verzweiflung. Im Lauf dieses Tages muss eine Menge passiert sein, denkt Rolande, die nicht den Versuch macht, sie zu trösten, sie einfach nur spüren lassen will, dass sie nicht allein ist, ohne dabei den Blick von dem Flammenmeer abwenden zu können. Wir sind umherirrende Seelen.

Wenige Schritte entfernt stehen Nourredine und Hafed dem Feuer gegenüber, die Flammen spiegeln sich in ihren aufgelösten Gesichtern, und halten sich an der Hand, die Fingerknöchel vom Zudrücken weiß. Unsere Macht geht in Rauch auf, sagt Hafed sehr leise, die Kehle wie zugeschnürt, das sind wir, die da brennen, man hat uns umgebracht.

Étienne, leichenblass, geht von Gruppe zu Gruppe und wiederholt unermüdlich, »ich hab die Brandstifter gesehen, ich hab die Brandstifter gesehen«. Die Leute sind jedoch von dem Schauspiel gebannt und schenken ihm keine Aufmerksamkeit. Amrouche sitzt ein ganzes Stück entfernt auf einer Böschung, abseits, den Kopf in den Händen, und weint lautlos.

Quignard hat Anorak und Cordhose über den Pyjama gezogen und sich den Wagen seiner Frau geliehen, nun sitzt er mit einer bis zu den Augenbrauen heruntergezogenen Wollmütze auf der Motorhaube und sieht der Feuersbrunst scheinbar gelassen zu. Wie konnte ein brennender Mülleimer, der den Vorwand zur sofortigen Räumung liefern sollte, zu diesem vernichtenden Feuer werden? Tomaso kommt heran, eine hohe, in einen Militärparka gemummte Gestalt, und setzt sich wortlos neben ihn, mit Blick aufs Feuer, das lange, knochige Gesicht im Schatten der Kapuze undurchdringlich und stumm. Quignard ist ihm dankbar, dass er da ist. Ein etwas stärkerer Windstoß, und das Feuer breitet sich tosend noch weiter aus. Aber es dröhnt immer noch nicht so wie in einer Stahlhütte, denkt er mit einem versteckten Lächeln.

Étienne kommt an den beiden Männern vorbei, will ein wenig Aufmerksamkeit. »Ich hab die Brandstifter gesehen, wissen Sie.«

Ein Moment erdrückender Stille, dann sagt Quignard frostig: »Wenn das stimmt, junger Mann, dann rate ich Ihnen zu schweigen und sich Ihre Erklärungen für die Polizei aufzuheben.«

Entmutigt beschließt Étienne, nach Hause zu gehen. Tomaso erhebt sich und verschwindet. Maréchal lehnt sich neben Quignard an den Wagen.

»Ich hätte nie gedacht, dass das Ganze so schnell gehen würde.« Einige Minuten herrscht Schweigen. Er hat das Gesicht der Fabrik zugewandt, die Flammen lassen seine Falten tiefer und seine Haut gelb erscheinen. Ein Lächeln in den Augenwinkeln. »Man könnte meinen, das Feuer ist zurück im Tal.«

Letzte Schicht

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