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Askese
1
Wenn du nichts dagegen hast, fange ich mit meiner Geschichte an.
Damals wuchs mir ein Kopf voll von Locken, meine Stimme war unlängst heiser geworden und mir war noch kein Bart gewachsen. „Ohne Bart am Mund ist man noch unzuverlässig.“ Mein Vater Lang-wind warnte mich diesbezüglich immer wieder. Damals war es anders als heute. Wir haben jetzt viel Spielerei gegen Langeweile wie z.B. Fernseher, Internet und so weiter. Das alles gab es damals gar nicht. Teehäuser wurden verboten, die Straßen waren verlassen. Nirgendwo war ein Café oder Tanzball zu sehen, geschweige denn so etwas Ähnliches wie Sauna oder Massage. Sogar Geschäfte waren selten. Neben Schulbesuch und Verurteilungsversammlung sangen wir nur im Chor. Im Unterricht wurde nicht über Sex gesprochen. Es war sogar selten die Rede von Geschlechtsorganen. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, daß ich meine erste Lektion der Geschlechtsaufklärung von unseren zwei bunten Hunden bekam.
Das geschah an einem Sonntag. Die beiden Bunthunde wurden unglücklicherweise mit ihren Gesäßen zusammen verbunden. Sie standen im Sonnenschein vor einem Lager und streckten dabei ihre Zungen heraus. Vorsichtig guckten sie uns an. Mein Vater schleppte eine Bambusmatte aus dem Lagerhaus herbei und versperrte ihnen damit den Weg. Mit Hunderthaus Yu holte ich eine zweite Matte, mit der ich sie von hinten einkreiste. Die zwei Hunde wurden auf diese Weise eingezingelt. Der eine zog vorwärts, wobei der andere rückwärtsgehen musste. Sie drehten sich innerhalb der Matten im Kreis, indem sie ein leises Stöhnen hervorstießen. Hunderthaus rief aus vollem Hals begeistert: „Alle herschauen, fünf Cent für eine Eintrittskarte.“ Sofort lief jemand aus dem Lagerhaus heraus. Anfangs waren es die Eltern von Hunderthaus Wärmespender Yu und Zierapfel Fang, gefolgt von Aufrichtig Zhao und seine Frau Hellhübsch Chen. Sie traten an die Matten heran, rissen ihre unterschiedlich geformten Münder auf und ließen ihre weißgelblichen und schwarzen Zähne zum Vorschein kommen. Manchem floss vor Lachen Speichel aus dem Mund. Die Hunde wurden durch die sich vermehrende Menschenmenge schockiert und schauten uns bei ihren chaotischen Bewegungen erregt an. Der Rüde kreiste ein paar Runden entlang der Matten, während die Hündin rückwärts nicht Schritt halten konnte und versuchte sich mit allen Pfoten an den Boden zu klammern. Die Spuren ähnelten denen auf einem Leichtathletikplatz.
Vielleicht kannst du nicht wissen, daß es in der damaligen Zeit für uns, die eine schlechte Klassenherkunft hatten, schwieriger war, nach Spaß zu suchen als nach Geld. Deshalb lachten alle herzlich über das ganze Gesicht, als wollten sie alle an heutigem Tag ihre Ersparnisse mit Zinsen ausgeben. Ich muss dir nicht verheimlichen, daß derjenige, dem vor Lachen der Speichel floss, mein Vater war. Und derjenige, der gefühllos lächelte, war Onkel Yu. Tante Fang bedeckte mit der Hand ihren Mund. Onkel Zhao riss seine beiden Reihen schwarzer Zähne weit auf und Tante Chen tränten die Augen vor Lachen. Als sich alle gerade krummlachten, kam plötzlich Bergfluss Zhao aus dem Lager gestürzt und machte ein empörtes Gesicht: „Pa und Ma, ihr werdet ausgenutzt. Seht euch doch mal an, von wessen Familie werden die Matten kaputt gemacht?“
Onkel Zhao und Tante Chen hörten alsbald mit ihrem Lachen auf. Ihre Minen aber konnten sie nicht beherrschen. Das ließ Bergfluss Zhao ziemlich blamabel aussehen. Sie war die Tochter von Aufrichtig Zhao und arbeitete in einer Munitionsfabrik im Stadtvorort. Sie war von korpulentem Aufwuchs, dick und rund wie ein Lederball, besonders ihre Brust, für deren Spannweite sich im gesamten Kaufhaus keine passenden Blusen fanden. Mein Vater meinte aber nicht ohne Dreistigkeit: „Bergfluss, wir sind alle unsterblich bedrückt und deprimiert. Du tust so, als ob du selbst eine Bühne aufbauen und deine Nachbarn zur Theaterschau einladen willst.“
„Warum hast du nicht die Matten deiner Familie für den Bühnenbau genommen?“
„Sind denn die Hunde nicht von meiner Familie? Ich habe die Schauspieler ohne Entgelt zur Verfügung gestellt und am Abend werde ich ihnen noch extra Futter geben. Ich bin der große Verlierer, nicht du mit deinen Matten.“
Bergfluss reckte ihren Kopf, warf einen Blick auf die Matten und musste unwillkürlich in ein Gelächter ausbrechen. Endlich legte sie ihre Wichtigtuerei ab, lachte mit allen zusammen und machte ihren Mund noch weiter auf als Onkel Zhao. Sie krümmte sich vor Lachen. In diesem Augenblick fuhr ihr Großbruder Tausendjahr Zhao gerade mit dem Fahrrad herbei auf dem Weg nach Hause und nahm wahr, wie seine Schwester ungezügelt lachte. Sein Gesicht verdunkelte sich. Mit einer Hand in die Hüfte gestemmt und mit der anderen auf die Stirne der Anwesenden drückend: „Ihr seid unverschämt! Wie vulgär das ist! Das muss verurteilt werden!“ Tausendjahr Zhao war der Schuldirektor der fünften Mittelschule und galt als ein bekannter aber unverheirateter junger Mann. Ohne daß er den Sinn der Gedichtzeile wie „Auf den Bergen schlängeln sich die silbernen Schlangen und auf den Steppen rasen die Wachselefanten“ klar erklären konnte, war er trotzdem der Schuldirektor geworden, wobei man nicht verneinen konnte, daß er von seiner „Arbeiterklasse“ nicht profitiert hätte.
Seine anklagende und heimtückische Sprechweise sorgte bei allen Anwesenden für ein blasses Gesicht. Die Matten haltenden Hände zogen sich eine nach der anderen zurück, bis die Matten ohne Stütze krachend zu Boden fielen. Die beiden Hunde wurden dadurch für jedermann sichtbar.
Da streckte Tausendjahr Zhao seine Hände aus und schrie laut: „Her mit einem Holzstock.“ Ich rannte flink ins Lager und holte einen Stab herbei. Tausendjahr riss ihn an sich und versetzte einen unbarmherzigen Hieb auf die Verbindung der Hunde. Sie jaulten schmerzlich auf und hinkten auf allen Vieren in Richtung der Landstraße. Ihre Schritte waren wie ein Wunder. Die vorwärts und rückwärts tretenden Beine schritten überraschend gut im gleichen Trab, als riefe ihnen jemand „eins-zwei, eins-zwei“ zu. Sie hetzten quer über die Straße und stießen dabei auf einen heranfahrenden Omnibus. Die Stoßstange verbog sich. Der Krach vom Fleisch gegen Eisen hallte lange wider. Die Fahrzeugreifen überrollten ihre Körper. Blut, als auch Darm und Magen wurden ausgedrückt. Aber ihre Hintern waren weiter in enger Verbindung geblieben. Die Hunde klebten wie zwei dünne untrennbare Pfannkuchen auf der Straßenfläche.
Meine Augen vergossen unaufhaltbar Tränen, als wären sie durch Sandkörnchen gereizt. Mein Vater packte die toten Hunde in die Matten ein und schmiss sie vor die Tür des Lagers. Mittels eines Stabs hob Tausendjahr unter der Mithilfe von Hunderthaus die Hunde hoch und hing sie an Baumzweige vor der Tür. Der Stab befand sich ausgerechnet auf der Mitte der Verbindung. Die beiden Hunde hingen mit ihren Hintern gegen den Himmel und mit den Köpfen zur Erde, derart symmetrisch, als ob ein Hund sich im Spiegel spiegelte. Die zunächst auseinander gegangenen Zuschauer sammelten sich allmählich wieder. Tausendjahr, mit Finger auf die Hunde deutend: „Ihr sollt nicht glauben, es ginge hier bloß um die Frage der Hunde. Vielmehr handelt es sich hier darum, ob jemand hinter den Kulissen mit Absicht die Drähte zieht. Erotik in der Öffentlichkeit ist viel schlimmer als Pornobücher. Ihr seid alle anwesend gewesen. Ich hoffe, ihr könnt das klären und anzeigen.“
Mein Vater drehte sich um und ging weg, womit in der Menschenmenge eine Lücke entstand, die aber durch meine Mutter ausgefüllt wurde, die gerade Feierabend machte. Meine Mutter hieß Lebensfroh Wu und kam aus gutem Haus. Sie beherrschte Kaligrafie, spielte ein Musikinstrument und war gut im Sticken. Sie war weit und breit bekannt, wobei selbstverständlich eher durch ihre persönliche Schönheit als durch ihre Kaligrafie und Stickerei. Nach der Gründung der Volksrepublik änderte sie fortwährend ihre Weltanschauung und bemühte sich, durch ihre beiden fleißigen Hände die Tiere im Zoo sorgfältig zu züchten. Tausendjahr starrte meine Mutter an: „Diejenigen, die heute die Hunde bei der Paarung beobachtet haben, müssen entweder eine eingehende Selbstprüfung ausführen oder einen entlarvenden Brief schreiben und ihn mir binnen drei Tage aushändigen.“
Die Menschen verschwanden einer nach dem anderen. Onkel Zhao spuckte ein paar Mal auf den Boden, drehte sich um und ging auch. Letztendlich blieben vor Tausendjahr nur noch vier Schüler der Fünften Mittelschule zurück. Es waren Hunderthaus, Weiherchen, Helllicht Rong und ich. Tausendjahr betrachtete die allmählich scheidenden Rücken: „Um einen Tiger zu schlagen braucht man blutsverwandte Gebrüder, um aufs Schlachtfeld zu gehen, müssen es Lehrer und Schüler tun. Wenn man heute nichts schreibt, gibt es morgen keine Chance mehr. Meine Schüler, ihr schreibt das auf, egal ob die anderen das tun oder nicht. Ihr schreibt mit Niveau. Euer Niveau wird dann durch den Lautsprecher der Schule publik gemacht.“
2
Ich muss hier ein paar Worte über das Lager sagen. Dies Lager war ein Nachlass von meinem Großvater. Er war ein Kapitalist. Vor der Gründung der Volkrepublik machte er eine Zeit lang Geschäfte mit westlicher Medizin. Im Jahr 1949 wurde die Stadt durch die neue Regierung übernommen. Er spendierte all seine Immobilien. Mit einem kaputten Lederkoffer eilte er mit Kind und Kegel zum Bahnhof und war bereit, in seine alte Heimat auf dem Lande umzuziehen. Wegen seiner aktiven Vermögensübergabe an die öffentlichen Anstalten schickte der damalige neue Oberbürgermeister zwei Sekretäre zum Bahnhof, um meinen Großvater zurückzuhalten und gab ihm zum Dank das Medikamentenlager meiner Familie fürs Wohnen zurück. Das war natürlich nicht für meine Familie allein. Wäre das umfangreiche Haus nur für eine Familie zum Wohnen gewesen, hätte das bedeutet, daß die beabsichtige Umerziehung gar nicht ausgeführt wurde. Auf diese Weise wäre er ein stinkender Kapitalist geblieben. Deshalb waren insgesamt drei Familien in das Lager eingezogen. Neben uns waren noch die Familien von Wärmespender Yu und von Onkel Zhao. Die Familie Yu führte in der Vergangenheit für uns die Buchhaltung und Wärmespender war unser Hausverwalter. Familie Zhao war unser Diener. Sie erledigte die körperliche Arbeit wie Karrenziehen oder Sacktragen. Ich war zu der Zeit noch nicht geboren. Solche Geschichten bekam ich später aus dem Mund der Erwachsenen zu hören. Als ich geboren wurde, war mein Großvater bereits beim König des Totenreiches. Ich wusste wenig von ihm. Gegebenheiten wie das schwarze Muttermal im Handteller meiner Schwester und die lockeren Haare an meinem Kopf konnte man trotz aller Mühe nicht ausschaben und geradebiegen. „Dem Restgesindel der Kapitalisten“ war gedanklich ein zehnstufiger Hoher Papierhut als Demütigungen aufgesetzt. Wer ihn auf den Kopf gesetzt bekam, dem war als Folge eine Halswirbelkrankheit zugefügt worden. Der hätte gar „Kanzler Buckliger Liu“ werden müssen, seinen Kopf nicht erheben und seine Augen nur auf eigene Zehen richten können. Ach Entschuldigung, ich bin vom Thema abgeschweift! Ich fahre nun fort mit meiner Erzählung über das Lager.
Das Lager wurde durch rote Backsteinmauern für die drei Familien aufgeteilt. Jeder Teilbereich mit Schlafzimmer und Küche. Bloß die Toilette und das Dach teilten alle drei Haushalte gemeinsam. Die Toilette wurde hinter dem Lager mit fünf Hockhöhlen gebaut. Sie konnte gleichzeitig drei Männer und zwei Frauen aufnehmen. Das sogenannte gemeinsame Dach hieß zwar so, doch jede Wand, die vier Meter hoch gebaut wurde, war oben nicht zugemauert und man konnte darüber von jedem Zuhause aus erhobenen Hauptes die Dachsparren, Dachziegel und Dachgläser erblicken. Deshalb strömten die Stimmen aller Familien wie Dampf nach oben, kreuzten sich gemeinsam und steckten sich unterm Dach an.
An jenem Abend waren auf unserem Speisetisch rote Süßkartoffeln, Moschuskürbis aufgestellt. Nachdem mein Vater etwas gegessen hatte, legte er die Stäbchen hin, griff zum Küchenbeil und ging nach draußen, um den Hunden das Fell abzuziehen, um das Fleisch in Sojasoße zu schmoren.
Ich schrie laut: „Ich mag kein Hundefleisch!“ Mein Vater schwenkte das Messer. „Hast du denn Angst, das Fleisch in deinen Rachen gesteckt zu bekommen?“ Ich wischte meine Augenwinkel einmal ab. „Alles war deine Schuld! Unsere Hunde wären nicht tot, wenn du sie nicht mit den Matten eingesperrt hättest.“
„Die wollten selber nicht weiterleben. Wie kannst du die Schuld auf mich abwälzen?“
„Doch, das war deine Schuld! Ohne deine Einsperrung hätte Direktor Zhao die Hunde nicht sehen können und sie hätten keinen Schlag gekriegt. Ohne den Schlag wären sie nicht weggelaufen und nicht durch den Wagen überrollt worden“
„Du bist doch selbst schuld. Ich frage dich, wer hat denn Tausendjahr den Stab gegeben?“
Auf einmal guckte ich dumm aus der Wäsche. War ich es denn nicht, der den Stock gegeben hat? Warum gab ich ihm den Stock? Hätte ich den Stock nicht gegeben, so hätten die Hunde überleben können?
„Schiebe nicht immer die Schuld den anderen zu. Du sollst lernen, die Ursachen auf dein eigenes Verhalten zurückzuführen.“
Mit diesen Worten trat mein Vater aus der Tür. Meine Mutter schlug die Stäbchen kräftig auf den Tisch: „Ich finde, du selbst hast auch nicht gelernt, die Ursachen im eigenen Verhalten zu finden! Du sollst dich besser zuerst scheiden lassen, bevor du solche schmutzigen Sachen isst.“ Sie stritten darüber, ob man das Hundefleisch essen sollte. Blümchen Zeng fing vor Schreck an zu weinen... Mein Vater muss zwangsweise das Beil aus der Hand legen. Er konnte nichts anders als den Wunsch zu unterdrücken. Er musste sich mit dem Moschuskürbis abfinden. Während des Essens war er verstummt. Meine Mutter jedoch redete ununterbrochen, plätscherte wie ein aufgedrehter Wasserhahn. „Unser Zoo hat einen Tiger zugeteilt bekommen,“ sagte sie. „Er wurde vor kurzem im Wald gefangen. Er ist böser als alle anderen. Aber der Zoodirektor He hat ihm trotzdem einen weiblichen Namen gegeben, wie etwa Orchidee“
„Solltest du dich nicht waschen, schaust du mich ab heute nicht mehr an, um mich nicht schmutzig zu machen.“ Die Stimmen von Tausendjahr schlugen wie Backsteine plötzlich vom Dach nieder und unterbrachen die Erzählung meiner Mutter. Hunderthaus und ich liefen vor die Tür der Familie Zhao und sahen auf dem Tisch ein Becken mit klarem Wasser. Tausendjahr befahl Bergfluss, ihre Augen zu waschen. Diese aber wehrte sich. „Man hat nur gehört, vor Mahlzeiten die Hände zu waschen, nicht aber die Augen.“ Tausendjahr packte die Haare von Bergfluss und drückte ihr Gesicht ins Becken. Bergfluss wehrte sich vehement dagegen und stieß dabei das Becken um. Wasser wurde dadurch auf die Hosenbeine von Tausendjahr verschüttet.
Bergfluss schwenkte mit einem Ruck ihren Zopf nach hinten. „Musst du denn deine Hände trainieren wollen, um mich wie einen Klassenfeind zu schlagen?“
„Schäme dich! Hast du dich nicht gescheut, der Paarung zuzuschauen?“ Tausendjahr schüttelte dabei seine Hosenbeine aus. „Papa hat zugeschaut, Mama und Tante Fang auch, und sogar die Kids. Warum durfte ich nicht? War das nicht bloß Hintern gegen Hintern?“ Die Stimme von Bergfluss war so schrill, daß es fast die Ziegel vom Dach herab gerissen hätte. Beim Sprechen machte sie verärgert einen Schmollmund.
„Was für ein Benehmen du hast! Die anderen haben zugeschaut, weil sie alle kapitalistisches Restgesindel sind. Aber du? Wer bist du? Du bist ein Angehörige der Arbeiterklasse, von guten Wurzeln und rotem Sämling. Noch wichtiger dazu, du bist ein junges Mädchen!“
„Mädchen? Ist das denn kein Mensch?“
„Schau mal! Du bist ja schon vergiftet! Ein Mädchen soll so sauber wie blankes Papier sein, nicht niederträchtig und verdorben.“
„Ich mag es, verdorben zu sein! Ich hasse es, nicht verdorben sein zu können! Was geht dich das an?“ Ruckartig rannte Bergfluss ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich laut zu.
Tausendjahr war so in Rage geraten, daß er einen Schüttelkrampf bekam. Höchstwahrscheinlich begegnete er als Mann der Arbeiterklasse zum ersten Mal solchen Widerworten und war völlig außer sich. Er hob seine Hände, suchte einen Halt und fand schließlich einen Bilderrahmen an der Wand. Der Rahmen fiel zu Boden. Das Glas zersplitterte in unzähligen Linien, ähnlich endlosen Sonnenstrahlen. Unter den Linien zeigte sich das Gesichtsfoto von Bergfluss.
Die Idee von Tausendjahr, seine Schwester zu retten, ist möglicherweise in diesem Moment aufgetaucht. Er suchte für eine Diskussion Onkel Zhao auf und hatte vor, im Lager eine der Zeit entsprechende Verurteilungsversammlung ins Leben zu rufen. Er war nämlich der Ansicht, daß erst durch eine eingehende und offene Kritik über das Geschehen mit den beiden Hunden die Beschmutzung von Bergfluss gründlich zu beseitigen wäre. Onkel Zhao spuckte einmal auf den Boden: „Mein großer Schuldirektor, hast du denn nichts anders zu tun als eine Kritikversammlung zu veranstalten? Du kannst überall wo du willst die Versammlung machen, bloß nicht hier im Lager. Lass das sein! Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“ Tausendjahr schimpfte einige Male ununterbrochen „Restgesindel! Restgesindel!“ und wollte ab da nie wieder eine Besprechung mit seinem Vater. Als später seines Vaters Hosenboden platzte, machte er ihm keinen Hinweis. Er machte keinen Vorschlag mehr und wollte zuschauen, wie das Gesicht seines Vaters zu Boden fiel.
3
In dieser Nacht schienen dem Bett meiner Familie Nägel gewachsen zu sein. Mein Vater wälzte sich hin und her, schlief für einen Moment auf dem Rücken und einen Moment auf den Armen. Dann lag er wieder auf dem Bauch, setzte sich daraufhin auf und bereitete mir „der Schlafmütze“ die ganze Zeit spitze Ohren. Wenig später schien er sich mit seinen Hämorrhoiden zu beschäftigen. Er rieb sich leise ein bisschen am Bettbrett, die Hälfte seines Pos schob er über die Kante und schließlich setzte er seinen ganzen Hintern in die Luft. Das Bettbrett erhob sich etwas und trug mich ein paar Zentimeter in die Höhe. Mit sachten Händen und schrittweise tastete er sich in Richtung meiner Mutter. Ehrlich gesagt, ich hörte ungern solche Geräusche mit. Sie ließen mich früh begreifen, was das „bunte Antlitz“ beinhaltete.
Mein Vater sprach wie in einem Ton des Geldleihens: „Genossin Wu, ich bitte dich, nur das eine Mal. Geht das?“
„Nein! Sage du, welchen Unterschied hat das im Vergleich zu Hunden, wenn du das tust „
„Ich habe lange überlegt. Du drückst einfach ein Auge zu, als hättest du gar nichts gesehen. Mach´s mir einmal? Ich verspreche, nur das eine Mal!“
„Du sollst mir lieber mit dem Messer ein Ende setzen. Ich habe zehn Jahre und einen ganzen Korb Chlorkalk gebraucht, um mich so sauber zu waschen wie weiße Sportschuhe. Sollst du noch ein klein wenig revolutionäre Freundschaft zu mir haben, so bleibe mir bitte fern. Verschütte keine Tinte auf meine weißen Schuhe!“
Mein Vater seufzte auf, ging aus dem Haus und saß die ganze Nacht durch vor dem Lagerhaus. Das Morgenlicht fiel auf die Baumkrone, seine Augen waren gerötet wie nach einer Erfrischungssalbe.
Er zerrieb ein paar auf seinen Beinen kriechenden Ameisen, nieste einmal ziemlich laut und vernahm die ersten Töne des „Rot-Laternen-Lautsprechers“, bei denen er feststellen konnte, daß er noch zu etwas taugte, mindestens, daß er noch Ameisen zerreiben und Lautsprecher produzieren konnte.
Ich habe leider versäumt, zu erklären, daß mein Vater ein Arbeiter der Radiofabrik Nr. 3 war. Den im Lager aufgehängten Lautsprecher hatte er mit eigenen Händen hergestellt. Die Geräusche vom Straßenfegen und die Stimmen der Dreiradfahrer kamen herüber. Es tagte immer mehr. Die vorher wie Klötze aussehenden Baumkronen entfalteten und verwandelten sich allmählich in Zweige und Blätter. Letztlich waren sogar die Hundehaare am Baum deutlich zu sehen.
Mein Vater dachte daran, sich einen Tag Urlaub zu nehmen, um zu Hause in Abwesenheit meiner Mutter während ihres Dienstes heimlich das Hundefleisch mit Sojasoße, viel Zuckerrohr und Anis zu kochen. Sie aber schien seine Gedanken lesen zu können, stand früh auf und packte die toten Hunde in einen Jutesack und band die Öffnung fest zu. Er fragte meine Mutter, ob es ihr eine Freude machen würde, gegen ihn zu handeln. Sie erwiderte: „Die Hunde sind für den Tiger bestimmt. Der Zoo kann uns dafür etwas Geld zahlen.“ Mit großen Augen schaute mein Vater zu, wie meine Mutter mit dem Fahrrad die Hunde abtransportierte. Die Räder wackelten hin und her, so wie der Hundesack auf dem Gepäckträger. Sie verschwand allmählich aus der Sicht meines Vaters. Er stand auf, kam zurück ins Haus zum Gesichtswaschen: „Die Hunde sind weg, ist es noch nötig, Urlaub zu nehmen?“
Am selben Tag brachte meine Mutter einen schweren Karton mit nach Hause, als Zierapfel Fang gerade die Wäsche hereinholte. Mit dem Karton in Händen näherte sich ihr meine Mutter und erzählte ihr vom Auffressen der Hunde durch den Tiger. Zierapfel nieste kräftig: „Entschuldige, ich scheine eine Erkältung zu bekommen.“ In diesem Moment kam Onkel Zhao mit Pfeife aus der Tür. Auf ihn ging meine Mutter zu und erzählte noch einmal von dem Hundefleisch. Onkel Zhao stieß etwas Tabakqualm aus dem Mund und lief dann in großer Eile zum Geschäft, um Sojasoße zu besorgen. Die wiederholten Erzählungen meiner Mutter fanden keine Anerkennung und nicht mal eine Antwort. Sie fühlte sich im Grunde ihres Herzens sehr enttäuscht und ärgerte sich, während sie den Karton trug und so lange stehen geblieben war. Schließlich kam Tausendjahr zurück. Meine Mutter wiederholte noch einmal die Erzählung. Tausendjahr klopfte meiner Mutter auf die Schulter: „Ausgezeichnet, Genossin Wu!“ Erst jetzt spürte meine Mutter unerträgliche Schmerzen in den Armen. Wegen des großen Gewichtes erhielten ihre Handflächen rote Spuren. Mit einem von Seifen gefüllten Karton war von Spaß keine Rede.
Glaube nicht, daß meine Mutter nach dreimaligen Erzählungen ihren Mund halten würde. Das war leider nur ein Beispiel für ihr späteres ununterbrochenes Erzählen. Das war wie eine kleine Vorspeise vor einer üppigen Mahlzeit. Wie kann man erklären, daß sie das immer wiederholen musste? Das nervte doch, nicht wahr? Ob irgendjemand Interesse hätte, das zu hören? Wahrscheinlich lachte man schon innerlich, bevor sie anfing zu erzählen. Das konnte meine Mutter überhaupt nicht begreifen. Beim Abendessen begann sie wieder zu erzählen. Sie beschrieb, wie sich der Tiger auf die Hunde stürzte, sie mit dem Maul zerriss, und wie die Hunde in den Himmel flogen, in der Luft hingen und langsam runterfielen. In allen Einzelheiten wie die Zeitlupenaufnahme eines Filmes. Als die verbundenen Hunde auf halber Höhe waren, trennten sie sich. Der eine flog nach Osten, der andere nach Westen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie der Tiger das Hundefleisch tatsächlich gefressen hatte. Aber den Gesichtsausdruck meiner Mutter beim Erzählen kann ich nicht vergessen.
Sie war begeistert, schwang mit Händen andauernd in der Luft und bewegte flink ihre Lippen. Ihr Gesicht war bis zu den Halswurzeln rötlich angefärbt, als hätte sie gerade Schnaps getrunken. Mein Vater fragte: „Wo ist das Geld? Warum hast du kein Fleisch gekauft, um unsere Zahnlücken zu stopfen?“ Ihr war zumute, als hätte sie ihr warmes Gesicht an einen kalten Po gehalten. Ihre Begeisterung war plötzlich verschwunden. Nach langem Schweigen verriet sie, daß das Geld für den Kauf der Seifen ausgegeben worden war. Mein Vater meinte aber: „Du hast so viele Seifen gekauft, kann man sie als Fleisch verspeisen?“
„Guckt euch an, wie dreckig ihr seid! Dein Jackenkragen ist schmutzig, das Moskitonetz ist schmutzig, genauso wie die Bettwäschen, überall sind Schmutzflecken. Ein Karton Seifen kann vielleicht nicht alles sauber waschen. Man lebt, doch nicht nur um Fleisch zu essen. Man soll auf Hygiene achten. Eure Ohren sollen sauber sein, eure Fingernägel und Füße sind sauber zu waschen. Wenn der Körper sauber ist, ist man dann auch sauber im Herzen.“
Täglich nach Schulbesuch seifte ich meinen Kopf kräftig ein. Mein Kopf verwandelte sich in eine Schaummasse. Ich zog ständig an meinen Haaren und versuchte sie glatt zu ziehen. Wenn ich müde wurde, bat ich Blümchen mir zu helfen. Sie biss die Zähne zusammen und stemmte sich mit einem Fuß gegen den Boden wie beim Tauziehen. Meine Kopfhaut wurde um ein Haar herunter gezupft. Mir war damals wichtig, meine Locken gerade zu bekommen. Für Blümchen war aber wichtig, ihre Hände mit Seife zu waschen. Sie seifte brav ihre Handflächen gründlich ein, schuf dabei einen dicken Schaum nach dem anderen und dann steckte beide Hände ins Becken. Das Wasser darin dehnte sich blitzschnell. Die Seifenschäume glichen einer guten Bauwollernte und quollen über den Beckenrand. Ihre Hände waren durch das lange Einseifen blass geworden und bekamen sogar Falten. Blümchen kratzte am schwarzen Muttermal in der Handfläche und sagte: „Großbruder, ich habe so viel Seife genutzt, warum konnte ich das Muttermal immer noch nicht wegwaschen?“
„Blödsinn! Das ist Fleisch. Das kann man nicht wegwaschen.“
Aber sie gab nicht auf. Später fand ich für mich heraus, daß je länger die Haare wuchsen, desto schwieriger waren sie mit Seife zu befestigen. Letztendlich bekam ich im Friseursalon einen Bürstenhaarschnitt. Auf diese Weise waren meine lockigen Haare nicht mehr auffällig und unterschieden sich bei weitem vom Kratzkopf während der Verurteilungsversammlungen.
4
Unter der Anleitung meiner Mutter schrieb ich einen selbstkritischen Artikel über das Hundeereignis. Ich brauche nicht zu sagen, daß jedes Schriftzeichen ein von Sprengpulver gefülltes Geschoß war, seine Reichweite konnte bis nach Taiwan gehen. Ich machte von den „übelsten Missetaten, gnadenlosen Moralverstoßungen und ungeheuerlichen Verbrechen“ Gebrauch. Sie waren die derzeitigen modischen Begriffe. Sogar die Worte in einer Bekanntmachung gegen kriminelle Vergewaltiger versäumte ich nicht zu nutzen. Mit dem Artikel in der Tasche spürte ich die Schwere, wie vom Eisenpfriem belastet, wobei die Spitze jeden Moment durchstach. Aber Tausendjahr war tagelang nicht ins Lager zurückgekehrt. Er hatte einen Wohnplatz in der Schule. Hatte er komplizierte Gegebenheiten zu erledigen, übernachtete er dort. Es war in der Woche ein großes Durcheinander in der Schule, ich konnte sogar nicht einmal seinen Schatten erblicken.
Am Wochenende wusch meine Mutter mit mir und Blümchen vor dem Lager unsere Moskitonetze. Wir hingen die gewaschenen Netze auf. Wasserperlen trieften ununterbrochen vom Netzrande hinab. Brennende Sonnenstrahlungen spielten voll an den triefnassen Netzen. Es zischte hörbar, als käme Feuer in Kontakt mit Wasser. Mit weit geöffneten Augen konnte man wahrnehmen, wie die Wassertropfen verdunsteten. Blümchen hob ein Netz, versteckte sich darin, lief wieder heraus und schwang die Tropfen vom Netz spritzig in alle Himmelsrichtungen, wobei das durch Wassertropfen gebildete Rechteck auf dem Boden zerstört wurde. Nun sah ich Tausendjahr mit einem völlig verschwitzten Kopf zurückkommen. Sein Gesicht war versteinert, ähnlich wie ein Stück eingefrorenes Fleisch. Er begrüßte niemand und schloss die Tür sofort fest hinter sich.
Familie Zhao wurde plötzlich ruhig, so ruhig wie sonst nie. Man hörte dann auf einmal Geräusche, wie ein Hocker zu Boden gestoßen wurde. Bergfluss rief gedämpft: „gib her, gib mir das zurück!“ „Du liest jeden Abend versteckt hinter dem Moskitonetz in Wirklichkeit solche Dinge? Ich habe geglaubt, du lernst Marx und Lenin auswendig! Schau dir doch an, daß diese Zeichen einem Schamesröte ins Gesicht treiben müssen. Jede Schriftzeile ist ein unzüchtiges Verbrechen! Ist das denn deine augenblicklich wichtigste Sache? Willst du nicht mehr Werkmeisterin werden?“ Die Stimme von Tausendjahr hob und senkte sich abwechselnd.
Bergfluss aber halsstarrig: „Gib mir das zurück!“ Anschließend ließ sich eine Rangelei vernehmen.
„Kein Problem, daß du das zurückbekommst. Aber du musst mir sagen, welcher Rowdy dir das geschrieben hat?“
Wieder eine Rangelei. Ein Glas zersplitterte am Boden. Mit einem Knall wurde eine Tür zugeschlagen. Schritte wurden lauter. Sandalen wurden an die Wand geknallt und fielen zu Boden. Tausendjahr schrie schrill: „Ah! Du wagst mich zu beißen!“
Ein Knall wurde hörbar, wie wenn eine starke Ohrfeige gegeben wurde. Ein leises Schluchzen von Bergfluss war zu vernehmen.
Mit einem Brief in der Hand trat Tausendjahr mit dunklem Gesicht vor das Lager ins Freie. Unsere Moskitonetze waren durch den Sonnenschein leichter geworden. Ein sanftes Wehen des Windes durchlüftete sie. Tausendjahr stand im Schatten der Netze und las den Brief. Wir lagen auf dem Bauch und beobachteten ihn. Er erhob sein Haupt und winkte mir zu. Ich ging hinüber. Er schob das Netz zu einer Seite und bedeckte uns damit. Durch die Gaze sahen wir vor dem Lagereingang eine Schar von näher rückenden Gestalten. Sie konnten mich aber nicht klar erkennen. Tausendjahr zeigte mir den Brief: „Schau dir an! Sind das nicht die Handschriften deines Vaters?“ Ich starrte den Brief an und schüttelte meinen Kopf.
„Ob das von Wärmespender ist?“ „Keine Ahnung!“
Er hielt den Brief dicht unter die Nase und sah ihn noch einmal genau an. Er runzelte die Stirn: „Wer konnte dann das sein? Was man sich alles erlauben darf! Hatten dein Pa und deine Ma neulich Zankereien?“
Ich nickte.
„Worüber haben sie gestritten?“
„Mein Vater wollte was von meiner Mutter. Meine Mutter wollte ihm das nicht geben.“
„Übrigens, kannst du deinen Vater mit linker Hand ein paar Schriftzeichen schreiben lassen?“
„Soll er die gleichen Schriftzeichen aus dem Brief schreiben?“
Er schüttelte den Kopf. Seine Blicke suchten eilig im Brief herum. „Sollen wir ihn lieber den Namen Bergfluss schreiben lassen?“ „Quatsch! Lass ihn folgendes schreiben: Sehnsucht nach dem Vaterland. Nur diese Schriftzeichen. Merk dir, er soll mit linker Hand schreiben. Sollte dir das gelingen, bekommst du eine rote Armbinde!“
Ich nickte mit dem Kopf und gab ihm, was ich als Selbstkritik geschrieben habe. Er nahm es, warf einen Blick darauf und schimpfte: „Dummkopf! Ich wollte die Leute doch nur abschrecken. Wer ließ dich wirklich schreiben?“ Er knüllte meinen Artikel zusammen, warf ihn zu Boden und drehte sich weg, um zu gehen. Ich hob ihn wieder auf. Es war sehr schade. Ich hatte ihn so lebendig geschrieben, aber er hatte nur wenig Einblick genommen. Anfangs hatte er doch damit geprahlt, meine Aussagen durch den Lautsprecher der Schule vorzulesen.
Ab jenem Tag verfolgten meine Blicke ständig die linke Hand meines Vaters. Seine linke Hand zeigte keinen Unterschied zu seiner rechten. Die Blutgefäße auf seinen Handrücken waren stark hervorstehend und auffällig, als wollten sie aus der Haut herausspringen. Oder wie jemand, der sich jede Zeit von seinem Ursprungsbetrieb versetzen lassen wollte. Bis auf den Daumen waren alle vier restlichen Finger mit feinen Härchen versehen. Die Falten auf dem Gelenke waren zu einem Knoten gerunzelt, ähnlich wie Baumknollen. Und die Fingernägel waren zwar lang gewachsen, es befand sich darin aber kein halbes Pünktchen von Schwarz. Jede Fingerspitze war gleichmäßig rund geformt. Am Handgelenk war ein roter Punkt sichtlich, der von einem Moskitostich stammte. Mit dieser Hand hielt mein Vater die Schüssel, kratzte sich an der rechten Achselhöhle, knöpfte sein Hemd auf. Das war die Hand, die in der linken Hosentasche steckte, die das Obst zum Abschälen nahm und den Boden der Teetasse trug. Alles in allem entlastete sie gewöhnlich die rechte Hand, leistete eine tolle Zusammenarbeit mit der Rechten und erledigte alle möglichen Dinge. Nur hatte sie nicht geschrieben.
Infolge der Beobachtung seiner linken Hand veränderte sich überraschend auch die Verhaltensweise an meinem eigenen Körper. Ich fand heraus, daß ich mit meiner linken Hand den Löffel nahm, um Suppen zu essen. Der Riemen meiner Schulmappe wechselte unerklärlicherweise von der rechten zur linken Schulter. Ich drehte sogar mit der linken Hand den Wasserhahn und hielt mit links die Stäbchen. Gerade in denjenigen Tagen war ich ein „Linkshänder“ geworden, was bis heute nicht korrigiert worden ist, anscheinend so wie es folgerichtig war, daß nach dem Monatsanfang die Monatsmitte kommen musste. Mit einem Groschen in der Hand versuchte man Millionär werden zu wollen. Im Grunde war ich nicht zufrieden mit dem Leben als Linkshänder. Merkwürdigerweise fing ich an, auch mit meiner Linken zu schreiben. Als mein Vater das sah, riss er den Stift aus meiner Hand und schrie: „Wann bist du ein Linkshänder geworden?“ Ich nahm meinen Stift zurück und nahm ihn in meine rechte Hand. Während des Schreibens ging der Stift automatisch wieder in meine Linke. Auf dem Papier schrieb ich andauernd: „Sehnsucht nach dem Vaterland“, bis ich scheinbar in Wirklichkeit eine echte Sehnsucht empfand. Meinem Vater wurde schwindelig beim Zuschauen, als wäre er immer im Kreis gelaufen. Er nahm meinen Stift an sich und begann selber mit der linken Hand „Sehnsucht nach dem Vaterland“ zu schreiben. Er lächelte, nachdem er das fertig hatte. „Wie kann man deine linke Hand mit meiner vergleichen! Du bist dafür noch zu jung und ungeschickt.“ Ich schnitt das ab, was mein Vater mit linker Hand geschrieben hatte, „Sehnsucht nach dem Vaterland“ und steckte den Zettel in ein Kuvert, fand es nicht sicher genug und umhüllte es zur Sicherheit mit einer Plastikfolie. Erst so war mir ein Stein von Herz gefallen. Ich fügte das Kuvert in ein Buch, das ich dann in meiner Schultasche versteckte, die ich anschließend an die Wand hing und legte mich endlich flach ins Bett. Kaum war ich eingeschlafen, wurde ich durch das Schnarchen meines Vaters geweckt. Daraufhin erhob ich mich leise vom Bett, holte die Tasche von der Wand und legte diese unter mein Kopfkissen. Mein Hinterkopf spürte die Härte des Buches und konnte sogar den Platz des Zettels erfühlen. Nur auf diese Weise hörte ich, wie nach dem Gebrauch von Schlaftabletten, sehr schnell die Laute der anderen nicht mehr.
Am folgenden Tag ging ich zum Büro von Tausendjahr, dessen Tür offen stand. Ich ging hinein und übergab ihm den Zettel. Seine Augen begannen sofort hell zu leuchten. Er nahm den Zettel mit einer Hand und mit der anderen griff er flink nach dem Brief in seiner Jackentasche. Er breitete den Brief auf dem Tisch aus. Das war der Brief des Gauners an Bergfluss. Mit einer Schere schnitt er den Zettel nur mit dem Schriftzeichen „Sehnsucht“ aus. In Wirklichkeit brauchte er nur das eine Schriftzeichen, das er jetzt mit dem im Brief verglich. Seine Blicke wanderten durch den Brief und blieben stehen, wo die Zeichen standen. Er starrte sie lange an, mal von links, mal von rechts und erhob den Kopf erst, nachdem er den ganzen Brief verglichen hatte. „Der Brief zeigt neunmal das Schriftzeichen ´Sehnsucht´, wovon vier ähnlich sind; schau her!“ Ich beugte mich vor und sah es mir genau an. Er fragte dann: „Sind sie ähnlich?“
„Ein bisschen ähnlich, aber nicht sehr.“
„Ich bin auch nicht sicher. Für die Beurteilung brauche ich einen Fachmann. In den folgenden Tagen musst du sehr aufmerksam sein. Gibt´s dann irgendwas Neues über deinen Vater, sage mir sofort Bescheid.“
5
Mein Vater schnarchte vor Mitternacht viel. Oft stand er nach Mitternacht auf und trank kaltes abgekochtes Wasser aus der Kanne, die auf dem Tisch stand. Er gab dabei einen besonders hellen Laut von sich. Onkel Yu aus der Nachbarschaft zeigte mir öfters zwei Finger und sagte: „Dein Vater hat letzte Nacht wieder zwei Kannen geleert.“ Mein Vater trank deshalb so viel kaltes Wasser, weil er sich zu warm fühlte. Seiner Meinung nach fingen in der Nacht alle vitalen Organe an zu brennen, auch sei er gar nicht müde. Einmal mitten in der Nacht fächelte er sich Luft zu, ging im Haus auf und ab, klatschte ständig nach Moskitos auf seinem Arm und sprach laut: „Hört ihr, hört ihr, wie lästig das ist! Ob man so noch weiterleben kann!“
Ich wurde dadurch aufgeweckt. Eine weibliche Stimme stöhnte leise, mit Unterbrechungen, mal hörte sie auf, mal stöhnte sie weiter, mal klang es vom Dach herab, mal außerhalb vom Fenster. Ich spitzte meine Ohren und überlegte lange, bis ich die Stimme der Tante Fang identifizierte. Sie schien schwer unter Schmerzen zu leiden und unterdrückte mit Mühe das Schreien. Aber langsam konnte sie sich nicht mehr beherrschen. „Ach ja, Ach ja“, stöhnte sie laut auf. Die Geräusche wurden immer heftiger und ihre Stimme erhob sich immer mehr. Mit dem lauteren Stöhnen fing ihr Bettbrett zu knarren an. Nach meinen Lebenserfahrungen muss ein Bett erst damit anfangen, wenn man sich vor Schmerzen unruhig hin und her wälzt. Mein Vater ging an das Bett meiner Mutter und klopfte zweimal. „Hör mal, hör mal das an!“ Meine Mutter gab keinen Laut von sich, sie schlief wie ein Stein. Mein Vater schlug sich auf den Schenkel und ging aus dem Haus.
Meistens nach Mitternacht nahm mein Vater am Wasserteich vor dem Haus eine kalte Dusche. Er goss sich kühles Wasser über den Kopf, duschte sich lange, als wollte er das große Feuer im Körper löschen. Nach der Dusche saß er still auf der Betonbank. Anfangs saß er tatenlos herum, später hatte er gelernt, mit billigen Zigaretten die Zeit totzuschlagen. Er rauchte eine nach der anderen. So verbrachte er Stunde um Stunde und ließ keine Sekunde die Zigaretten ausgehen. Er sagte mir einmal, das Rauchen vertreibe zwar keine Sorgen, aber die lästigen Mücken. Onkel Yu musste jede Nacht unbedingt einmal urinieren, pünktlich wie unsere riesige Holzuhr an der Wand. Manchmal ging er zum Klo hinter dem Lager, aber ab und zu, um ein paar Schritte zu ersparen, pinkelte er unter den Baum vor dem Haus; ein Wasserlassen im Freien. Obwohl er die mit der Zigarette hell beleuchteten Finger meines Vaters sah, machte er nicht mal ein Zeichen des Grußes. Er fühlte sich abgehoben wie ein stinkreicher Mensch, der keine Lust hätte, mit einem Bettler zu verkehren.
Einmal war Onkel Yu gerade dabei, sein bestes Stück herauszufischen, da schrie mein Vater ihn an: „Grünhügel“. Onkel Yu kriegte einen Schock und es kam kein Urin mehr, als litte er plötzlich an einem Blasenverschluss. Ein lange in Vergessenheit geratener Ruf ließ seinen Mund unbewusst hervorstoßen: „Jung...Jungherr.“ Das war eine Anrede aus der alten Zeit. Damals war Onkel Yu noch ein junger Buchhalter in der Firma meines Großvaters. „Grünhügel“ war der Name, den mein Großvater ihm gegeben hatte. Nach der Gründung des Neuen China glaubte er, an Ausstrahlung zu gewinnen, wenn er sich warmherzig gab und änderte seinen Namen in „Wärmespender“. Er band seine kurze Hose zu und näherte sich meinem Vater: „Es ist noch Nacht. Du sitzt immer hier?“ Mein Vater seufzte: „Könnt ihr etwas leiser sein? Kannst du veranlassen, daß Zierapfel nicht so laut ist? Ich war eigentlich entschlossen, ein Leben lang vegetarisch zu essen. Das Geschrei von deiner Frau macht mir aber wieder Appetit auf Fleisch. Man fühlt sich wie in einen heißen Ölkochtopf gefallen. Was für ein Leiden für mich!“
„Dies miese Geschöpf! Ich hinderte sie am Schreien, aber sie konnte nicht anders. Das nächste Mal lege ich ein Kopfkissen auf ihren Mund.“
„Da kriegt sie keine Luft mehr. Das ist lebensgefährlich.“
„Was für ein komisches Haus das ist! Man hat für sich kein Geheimnis mehr. Hätten wir unsere Immobilien nicht spendiert, würden wir gar keinen stören, auch wenn wir so laut wie ein Lautsprecher wären.“
Sie unterhielten sich kurz und dann ging Onkel Yu. Ungern Abschied nehmend rief mein Vater noch einmal „Grünhügel“. Onkel Yu drehte seinen Kopf: „Ist noch was?“ Mein Vater zögerte einen Augenblick. „Lassen wir das! Du kannst gehen!“ Onkel Yu kam zurück: „Seid ihr knapp bei Kasse? Brauchst du etwas Geld?“ Mein Vater schüttelte den Kopf. „Diese Sache, die traue ich mir noch nicht auszusprechen...“
„Ist es denn noch schwerer als Geldleihen, um den Mund aufzumachen?“
„Das ist wie eine Narbe am Körper. Man schämt sich, das zu zeigen. Nach dem Seminar scheint meine Frau Lebensfroh plötzlich im Kopf nur ein blankes Papier zu sein. Sie ist danach so prüde geworden, daß ich mich ihr nicht mehr nähern kann. Es ist zehn Jahre her, daß ich so ein Leben nicht mehr habe, wie du es in der Nacht hast. Ich fürchte, das nicht länger aushalten zu können, falls es so weiter geht...“
„Eure Zankereien haben wir alles mitbekommen, nur nicht verstanden, warum sie sich so benimmt.“
„Sie findet das schmutzig. Ihrer Meinung nach soll man als erhabener Mensch darauf verzichten. Sie ist beeinflusst durch ihre Leitung. Ich lebe seit fast zwanzig Jahren mit ihr. Sie hört mir ungern zu, sie hört nur auf ihre verdammte Leitung. Ich weiß nicht, welche Zauberkraft ihre Leitung hat!“
„Ob man ihr etwas Medizin verschreiben lassen kann?“
„Alles ausprobiert, alles ohne Wirkung. Mehrmals war ich dabei, Fehler machen. Ich hatte aber Angst, bestraft zu werden. Manchmal habe ich sogar ans Sterben gedacht. Grünhügel, hilf mir bitte!“ „Das ist weder wie Bodenkehren oder Tischwischen, noch wie Wassertragen oder Reiskochen. Wie kann ich dir helfen?“
Mein Vater kniete sich blitzartig vor Onkel Yu: „Grünhügel, ich bitte dich! Nur du kannst mir helfen!“ Onkel Yu schien etwas verstanden zu haben. Seine Stimme begann zu zittern. „Lang-wind, wie kannst du sowas denken! Auch der Bruder von derselben Mutter könnte dabei nicht helfen!“
„Nur einmal, erweis mir und Zierapfel eine Gnade! Ich werde im nächsten Leben vier Räder haben, um mich zu revanchieren.“
Onkel Yu drehte sich um, ging fest entschlossen weg. Die Kieselsteine unter seinen Füßen flogen auf. Mein Vater kniete starr wie ein Stück Eisen lange da.
Einige Tage später überreichte Onkel Yu meinem Vater ein Papierpäckchen: „Ich habe jemand aufgetragen, einen alten Arzt für Chinesische Medizin in der Drei-Verbindungen-Straße aufzusuchen, um dir diese Medizin verschreiben zu lassen. Man nimmt das zweimal im Monat. Es ist garantiert, daß du nicht weiter dumme Gedanken hast.“ Mein Vater steckte die Nase ins Päckchen, roch ein paar Mal darin und schleuderte es blitzschnell zum Fenster hinaus. Das Päckchen ging kaputt und die Heilkräuter verstreuten sich auf dem Boden. Onkel Yu bückte sich, um sie aufzunehmen.
„Wärmespender, oh, Wärmespender, es ist OK, daß du mir nicht helfen willst! Aber warum musst du noch zusätzlich meinen Körper ruinieren?“
„Denke doch nicht falsch! Ich habe befürchtet, daß du da Nacht für Nacht so sitzt und dabei krank werden musst.“
„Danke für deine gute Absicht. Ich bereue sehr, dir so viel erzählt zu haben.“
„All andere Hilfe kann ich dir geben, nur diese schaffe ich wirklich nicht. Diese Sorgen kann man echt nicht runterschlucken!“
„Nicht alle haben kein Herz wie du. Nicht alle sind undankbar wie du. Wie vielen Menschen hat unsere Familie Zeng in der Vergangenheit geholfen? Auch kein Bettler ging mit leeren Händen von uns weg. Ich glaube nicht, daß es in der Umgebung keinen Menschen gibt, der nicht ein weiches Herz hat.“
6
Einige Zeit war vergangen, als sich eine Röte im Gesicht meines Vaters zeigte, die man aber nicht als gesunde Farbe bezeichnen konnte. Sein Schnarchen wurde immer lauter und dauerte immer länger, konnte sogar von Beginn der Nacht bis zur Morgendämmerung währen. Nach Mitternacht musste er nicht mehr das Bett verlassen. Beim Gemüseputzen und Kochen wollte seine Zunge nicht nur den Geschmack probieren, auch aus dem Mund entsprangen ihm ein paar südländische Volksweisen. Er hatte die Chinesische Medizin nicht genommen. Wie konnte er sich so einfach in einen anderen Menschen verwandelt haben?
Die gute Gesichtsfarbe meines Vaters hätte lange bestehen können, hätte ich mich vielleicht nicht zum Sperlingfang entschieden. Aber der Sperling schien mich zu necken, genau wie eine augenblinzelnde Frau. Sollst du sie nicht als die zu Jagende betrachten, wird es heißen, daß du machtlos bist. Damals war ich unfähig, richtig zu denken. Nach dem vergangenen Vorfall glaube ich jetzt, daß das ein weiblicher Sperling gewesen sein musste, denn sonst wäre das unerklärliche Verhalten nicht wie das eines liederlichen Frauenzimmers gewesen. Ich verdächtige den Vogel sogar, durch Tausendjahr entsandt worden zu sein. Er flog vom Hausdach herunter und landete innerhalb eines Meters vor mir. Die Federn schüttelnd zwitscherte er „jiji-zhazha.“ Mit sachten Schritten ging ich auf ihn zu und streckte meinen Arm aus, um ihn zu fangen, aber er sprang einige Schritte nach vorn. Ich versuchte es noch einmal und er sprang wieder nach vorn. Jedes Mal sprang er nicht sehr weit, nach wie vor in der Reichweite meines Armes, als hätte er einen Mathematiker zu Rat gezogen, um die Distanz präzis auszurechnen. Einmal berührten meine Finger bereits seine Federn. Er war nicht verängstigt und sprang wieder einen kleinen Schritt, als ob er auf mich hätte warten wollen. Ich hielt inne, atmete ein paar Mal tief ein. Dann, den Atmen anhaltend, warf ich mich auf ihn. Meine Nase berührte die Erde; das tat weh. Er flog unter meiner Hand davon, landete auf dem Dachvorsprung und zwitscherte laut. Ich hob einen Stein und warf nach ihm. Er machte einen Sprung und kroch in ein Nest unterm Dach. Der Holzsäule entlang kletterte ich nach oben. Ohne Schwierigkeiten war ich am Dachrand angekommen. Ich steckte meine Hand ins Nest. Zwei Sperlinge flogen aufgescheucht aus ihrem Nest heraus und ich wurde dadurch sehr erschreckt. Ein Dachziegel brach ab. Ich habe erzählt, daß wir zwischen den drei Familien lediglich einfache Trennwände hatten und jeder Haushalt das einzige Dach des Lagers gemeinsam überm Kopf hatte. Die Sperlinge waren weggeflogen. Ich war hoch wie im Himmel und schaute durch die Ziegelspalten ins Haus hinunter. Die Abdeckung der Moskitonetze, die Schränke und die tönerne Wassertonne der Familie Yu, alles sprang mir auf einen Blick ins Auge. Onkel Zhao rauchte Pfeife im Wohnzimmer. Ein Kreis weißen Rauches umwickelte wie zartes Gewebe seine Haare. Im Schlafzimmer der Familie Zhao lag mein Vater zu meiner Überraschung auf Bergfluss. Ach du meine Güte! Mein Körper fing an zu zittern und mir standen Haare zu Berge. Mir war, als würde das ganze Lager in sich zusammenstürzen. Der an meinem Gesicht klebende Ziegel fiel direkt vor Onkel Zhao auf den Boden und zersplitterte. Onkel Zhao hob seinen Kopf:
„Wer ist da?“ Mein Vater wälzte sich blitzschnell vom Körper von Bergfluss weg und deckte sich mit einer Jacke zu. Mit erhobenem Haupt schaute er herauf. Sie konnten nur maximal ein kleines Stück meines Gesichts sehen, während ich sie vollständig sah.
Onkel Zhao lief durch die Hintertür des Lagers. Mit der Hand am Sonnenzelt gestützt schaute er zu mir herauf: „Du bist es, Kleiner!“ Unmittelbar lief auch mein Vater aus dem Haus und brüllte mich an, indem er mir drohte. „Suchst du den Tod? Warte ab, wie ich dich bestrafe!“ Mein Vater sprang wie der Sperling hin und her und suchte nach etwas. Er fand endlich eine Bambuspeitsche und schwang sie geräuschvoll durch die Luft. „Komm sofort runter!“ Ich stand auf dem Dachrand und mir zitterten die Beine wie Stroh im Wind auf einer Mauer. Onkel Zhao entriss meinem Vater die Peitsche, zerbrach sie und schmiss sie zu Boden. „Ihn so zu erschrecken!“
Ich schob mich langsam zur Säule und wollte daran herunterrutschen. Meine Hände waren wie betäubt und ich konnte mich nicht richtig festhalten. Um ein Haar wäre ich wie ein Ziegelstein abgefallen. Mit dem Kopf nach oben gerichtet meinte Onkel Zhao: „Guang-xian, keine Panik, festhalten, langsam runterrutschen. Ja, so ist es richtig, die Säule fest umklammern. Gut so, ja, beide Beine zusammendrücken. Ja, langsam, langsam runterrutschen. Keine Angst. Dein Onkel Zhao kletterte in seinen jungen Jahren öfters hier auf und ab, um die Sperlinge oben zu fangen, für deinen Großvater zum Schnapsdrink. Vor Freude darüber lud er mich zu einem Schluck ein. Ja richtig, so kommst du runter, weiter runter..!“
Der Stimme von Onkel Zhao folgend kam ich gut runter, mit beiden Füßen sicher auf dem Boden. Kaum stand ich aufrecht, wurde mein Ohr durch meinen Vater hochgezogen. Ich schrie vor Schmerzen und stand auf allen Zehen. Mein Vater donnert mich an: „Was hast du gesehen?“
„Ich habe dich nackt gesehen.“
Meines Vaters Hand drehte noch fester: „ Was hast du wirklich gesehen?“
Ich versuchte mit beiden Händen mein Ohr zu schützen und schrie vor Schmerzen noch lauter auf.
„Schäme dich zu weinen! Sage, was hast du tatsächlich gesehen?“ „Ich... ich habe gar nichts gesehen.“
„Merk dir, du hast gar nichts gesehen. Sonst schlage ich dir deine Schneidezähne ein!“
Mein Vater ließ endlich los. Mein Ohr ähnelte einem Stück brennender Kohle und erwärmte meine Handfläche. Onkel Zhao brachte mich zu seiner Wohnung. Er holte ein kleines Gefäß mit Arznei, mit der er mein dick geschwollenes Ohr bestrich. Dabei erzählte er mir: „Ab heute bist du sozusagen erwachsen geworden. Als ich so alt war wie du jetzt, war ich schon dreimal wegen Hunger auf den Straßen umgekippt. Das letzte Mal war ich deswegen vor eurem Hauseingang fast hingestürzt. Dein Großvater hatte mich aufgenommen. Hätte ich nicht in Gedanken deinem Großvater einen Dank erweisen wollen, hätte ich heute deinen Vater nicht so gut behandelt. Obwohl ich, Aufrichtig Zhao, aus einer armen Familie stamme, bin ich in keinem Fall ein undankbarer Typ. Gibt mir jemand einen Löffel Reis, so gebe ich ihm eine Schüssel zurück. Was ich tue, ist gut für deine Familie, ist auch gut für die Gesundheit deines Vaters. Sollte dein Vater schwer erkranken oder nicht Haus halten können und sich in den Kehrfluss stürzen, dann müssten alle Mitglieder deiner Familie Hunger leiden. Dann könnte es sein, daß es um euch noch schlimmer steht als mir damals. Ich war ein Leben lang ohne ordentliche Kleidungen. Kannst du mein Verhalten verstehen? Wenn ja, solltest du deinen Mund zunähen und nichts von dem weitererzählen, was du heute gesehen hast.“
Die Wattekugeln mit der Medizin von Onkel Zhao wurden kräftig an meine Ohren gedrückt. Ich schrie auf.
Plötzlich bemerkte ich, daß mich ein Paar Augen die ganze Zeit betrachtet hatten. Das waren die Augen von Bergfluss. Sie hatte sich heute in die Schale geworfen, lehnte sich an den Türrahmen ihres Schlafzimmers, zerknackte dabei Melonenkerne und die Schalen spuckte sie in meine Richtung. Ihr Gesicht war so ruhig, als ob gar nichts geschehen wäre. Wahrscheinlich war sie es gewohnt. Die weißen Schalen bedeckten langsam den ganzen Boden. Eine flog auf den Kopf von Onkel Zhao, der sich nicht länger beherrschen konnte und sie anbrüllte: „Zurück in dein Zimmer! Benimm dich nicht so, als wärst du die Hauptfrau. Du bist maximal eine Konkubine!“ Bergfluss schimpfte einmal leise, wackelte kurz mit ihrem Po und ging aus dem Haus.
7
Was für ein Gefühl hegt man, wenn man weiß, daß man ein Geheimnis in sich birgt? Das Gefühl wäre gleich dem, als hätte man in der Brust eintausend oder zehntausend Pferde, die rollend und grollend galoppieren. Die Gefahr könnte existierten, daß sie jeden Moment herausrennen. Ich war seit damals wie mein Vater geworden, der kaltes Wasser in großem Zug trank. Manchmal trank ich an einem Tag zwei Kannen. Weil ich dermaßen weiter trank, bekam mein gesunder Körper eine Nierenkrankheit. Seinerzeit dachte ich mir, daß mein Vater hartherzig und rücksichtslos wäre. Er hatte für seinen eigenen Körper ein Plätzchen gefunden, aber den quälenden inneren Druck dieses Erlebnisses zwang er mir jetzt auf. Man soll wissen, daß ich damals erst 15 Jahre alt war!
Für eine Zeitlang kam mein Vater regelmäßig nachts nicht nach Hause. Er behauptete stets, eine wichtige Sitzung zu haben. Er hätte in der Nacht Überstunden gehabt, um bessere Lautsprecher zu produzieren. Von der oberen Leitung wäre er aufgefordert worden, die Lautsprecher für noch lautere und deutlichere Qualität zu produzieren. Am besten sollte man das aus einer Entfernung von 10 Li (1 Li = 1/2 Kilometer) hören. Kein einziges Wort durfte überhört werden, nicht einmal ein kompliziertes Wort. In der Fabrik war eine Gruppe für die Lösung der Schlüsselaufgaben organisiert worden. Mein Vater war ein Mitglied davon. Wenn er nicht nach Hause kam, zeigte sich im Gesicht meiner Mutter erstaunlicherweise ein Lächeln. Das war so komisch, als wären Süßkartoffeln gegessen worden, war aber nicht ganz ehrlich. Eines Abends brachte meine Mutter mir und Blümchen bei, sich zu waschen. Wir sollten viel Seife benutzen und uns wiederholt waschen, je sauberer desto besser. Dann holte sie uns zum Anziehen zwei nagelneue Hemden aus dem Schrank. Da sie strahlend weiß waren und wir uns nicht trauten, uns hinzusetzen, standen wir dumm herum. Wir fanden sogar keinen Platz für unsere Hände. Meine Mutter sagte: „Ihr könnt euch ruhig hinsetzen. Alle Hocker zu Hause habe ich eben mit Seifen sauber geputzt.“ Blümchen und ich nahmen auf den Hockern Platz. Meine Mutter sagte jetzt: „Bleibt da sitzen! In wenigen Minuten lasse ich euch etwas erleben.“ Wir hielten unseren Kopf aufrecht, legten beide Hände auf die Knie und schlugen nicht nach den Mücken, die uns im Gesicht stachen.
Hochkonzentriert verfolgten wir die Wassergeräusche, die meine Mutter im Bad beim Duschen zustande brachte.
Endlich kam meine Mutter in einem ausgeblichenen und karierten Hemd aus dem Bad. Das Hemd war zwar nicht mehr neu, denn am Kragen war der Rand rau geworden, aber es sah sogar noch sauberer aus als unsere Neuen. Sie öffnete die kleine Holzkiste in der Hand: „Mama zeigt euch eine neue Erfahrung.“ Wir traten zu ihr und sahen, daß in der Kiste ein Parfümfläschchen lag. „Das habe ich heimlich zurückbehalten. Ihr sollt niemand ein Wort darüber sagen!“ Sie nahm das Fläschchen in die Hand und tropfte etwas auf unsere Körper. Ich zuckte mit meinen Nasenflügeln und machte einen tiefen Atemzug, eine Welle von Blumenduft ließ mich abheben. Blümchen meinte: „Wie herrlich!“ Meine Mutter drückte sofort einen Finger auf ihren Mund und machte ein „pst“. Das war das erste Mal für mich, mit Parfüm in Kontakt zu kommen. Dieser Duft tauchte später in meinem Leben nie wieder auf. Meine Mutter träufelte auch auf ihren Körper einige Tropfen, dann schloss sie ihre Augen und atmete sanft ein: „Dieser Duft erinnert mich sofort an meine Mädchenzeit.“ Wir drückten uns fest an ihr Kleid, in der Furcht, daß die Reste des Duftes unbemerkt und umsonst verschwanden.
„Das ist eine bourgeoise Sentimentalität. Wenn ihr das weitersagt, werden wir verurteilt werden. Ausnahmsweise biete ich euch heute dieses Erlebnis. Wisst ihr warum? „
Wir schüttelten den Kopf. „Weil Guang-xian heute sechzehn geworden ist.“
Erst in diesem Moment konnte ich mich erinnern, heute Geburtstag zu haben. Meine Augen wurden langsam nass. Es entstanden viele Tränen. Auch zitterten meine Lippen. Die in meinem Bauch vergrabenen Worte wollten heraus. Manche sammelten sich in der Tiefe, manche krümmten sich, manche waren bereit, jeder Zeit aus dem Mund zu schießen. Ich aber spürte plötzlich eine Kälte, die über meinen Rücken kroch und schlug eilig auf meinen Mund, um die nach draußen eilenden Worte mit Kraft zurückzuschlagen. Meine Mutter schloss weiter genüsslich ihre Augen. Ihre Brust hob und senkte sich langsam, ihre langen Augenlider bebten sanft. An beiden Seiten der Nase blähten sacht die Nüstern. Ihre Gesichtsfarbe war weiß wie Lauchzwiebeln und ruhig wie ein Spiegel. Sie konnte sich durchaus niemals vorstellen, betrogen zu werden. Komischerweise neigte mein Mund dazu, sich mehr zu öffnen, je ruhiger ihr Gesichtsausdruck wurde. Das Stadttor war kaum noch zu verteidigen. Ich sah mich gezwungen, meiner Handfläche mehr Kraft zu geben, um meinen Mund noch fester zu schlagen.
Die Augenlieder meiner Mutter sprangen auf, sie betrachtete mich. Ich drehte mich um und schlug weiter auf meinen Mund. „Dummkopf! Auch wenn du deinen Mund bis zum Anschwellen schlagen würdest, würde das Parfüm nicht am Mund hängen bleiben.“ Sie öffnete das Fläschchen, strich mit dem Finger über die Öffnung und gab mir ziemlich verschwenderisch eine große Menge an meinen Hals. Meine klatschende Hand hörte nicht auf. Wie einer, der seinem Vorgesetzten Honig um den Mund schmieren wollte, erhöhte ich das Tempo. Sie brach in Gelächter aus. Sie lachte sehr leise und sehr würdig. „Ma, man betrügt dich.“ Kaum war das ausgesprochen worden, drückte ich mit der Hand meinen Mund zu, in der Befürchtung, daß noch mehr Worte heraussickerten. Ihre Augen vergrößerten sich mäßig: „Wer hat mich betrogen?“ „Das war Pa.“ Warum hatte ich meinen Mund nicht zudecken können.
„Hatte Vater denn keine Nachtschicht?“ „Ich meine das nicht.“
„Wie kann er mich noch betrogen haben?“
„Ich sah, daß er mit Bergfluss schlief. Er verbat mir, davon etwas zu erzählen.“
Meine Mutter war bestürzt. Sie setzte sich langsam hin: „Das ist also passiert. Das habe ich erwartet, entweder heute oder morgen, wenn nicht mit Bergfluss Zhao, dann mit Zierapfel Fang. Das war todsicher.“ Sie drehte die Parfümflasche fest zu und legte sie in die Holzkiste zurück, als ob diese Nachricht für sie kein besonderer Schlag wäre. Als sie mit ihrer ausgestreckten Hand die kleine Knopfschlinge an der Kiste schloss, bemerkte ich, daß ihre Hand zitterte. Trotz mehrmaligem Versuch schaffte sie das nicht.
Im Geheimen hatte ich mir selber nicht wenige Ohrfeigen verpasst. Als ich die Schritte meines Vaters im Haus hörte, fing mein Körper unwillkürlich an zu zittern. Mein Ohr begann vorab zu schmerzen, aus Furcht, daß die beiden wegen Bergfluss in eine Schlägerei geraten und sogar Wasserkannen, Spiegel, Gläser zerschlagen würden. Ich hatte bereits wiederholt auf dem Boden Scherben gesehen. Aber nach einem kurzen Augenblick war der Holzboden wieder sauber gewesen und nichts mehr zu sehen. Das war wie eine Täuschung gewesen. Unsere Familie konnte den Status quo ante bewahren, essen wie normal, schlafen wie immer, das alles hing von der Selbstbeherrschung meiner Mutter ab. Trotz eines so bestürzenden Ereignisses änderte sie all ihre Gewohnheiten nicht, wie zum Beispiel Sauberkeit zu lieben, fein zu zerkauen und langsam zu schlucken. Nur als sie den Tisch abwischte, war ihre Hand sichtlich langsamer geworden. Ab und zu hielt sie ein Wasserglas in der Hand und stand wie betäubt da.
Ich hasste es, nicht an meinem Mund einen Reißverschluss befestigen zu können und bemühte mich insgeheim, nie mehr über meinen Vater zu sprechen. Aber ich sprach gern mit Hunderthaus über alles. Wie eine Maus das Restfutter vom Vorabend nicht liegen ließ, konnte ein Trunkenbold eine halbe Flasche nicht aufbewahren. Hunderthaus war um zwei Jahre älter als ich. Sein Gesicht war wie durch ein Messer ausgeschnitten, mit Ecken und Kanten, sah noch standhafter aus als Revolutionäre, die trotz Folterbank und Chiliwasser kein Geständnis ablegen wollten. Nachdem ich ihm das erzählt hatte, bekam ich etwas Angst im Nachhinein. Ich ließ ihn schwören, niemandem davon weiter zu sagen. Er hob als Garantie seine Hand zum Schwur. „Soll ich das verraten, möge mein Mund verderben.“ Einige ruhige Tage waren verstrichen, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte und offenbarte das seinen Eltern. Sein Vater schimpfte: „Halt das Maul! Gott sei Dank, daß das unsere Familie nichts angeht!“
Der Verrat von Hunderthaus war wie ein Schlag auf meinen Kopf. Ich biss meine Zähne zusammen und sagte es seitdem keinem mehr weiter, weder zu Hellhübsch Chen, noch zu Zierapfel Fang, obwohl sie sehr gerne meiner Erzählung zuhören würden. Eines Tages kam Tausendjahr zurück, klopfte auf meinen Kopf und lachte: „Den Liebesbrief hat nicht dein Vater geschrieben. Ich habe das bereits fachlich begutachten lassen.“
„Sie schlafen übrigens schon lange zusammen, was soll da noch ein Liebesbrief bedeuten.“
„Was sagst du da? Sage das noch einmal.“
Tausendjahr hielt mich fest. Ich befreite mich aus seinen Händen und lief zur Straße. Während des Laufens schlug ich mir selber auf meinen Mund, fester und genauer denn je.
8
Dreimal hatte ich über den Skandal meines Vaters gesprochen. Die ersten zwei Male hatten keine Folgen. Deshalb betete ich insgeheim zum Himmel. „Lassen wir Tausendjahr für alle Fälle in Ruhe. Veranlassen wir ihn nicht zu einem Streit mit meinem Vater.“ Im Lagerhaus herrschte tatsächlich ein echter Frieden, bis auf die Tatsache, daß sich Onkel Zhaos Husten verschlimmerte. Musste man essen, aß man, sollte man schlafen, schlief man. Man ging nach wie vor zur Arbeit. Alles war wie immer.
Mittwochvormittag hielt mich meine Mutter an und sagte mir: „Guang-xian, geh heute nicht zur Schule. Begleite mich in die Fabrik deines Vaters.“
„Um zu sehen, wie er Überstunden macht?“
„Er kommt seit drei Tagen nicht mehr nach Hause. Findest du das nicht ungewöhnlich?“
Ich folgte meiner Mutter in die Werkstatt der Lautsprecherfabrik. Die Arbeiter fragten uns, warum wir erst jetzt kämen. Vor zwei Tagen war Lang-wind durch Rotgardisten abgeführt worden. Sofort schlug ich mir auf den Mund. Die Blicke meiner Mutter stachen wie Eisennägel in mein Fleisch und hielten mich für ein paar Sekunden fest: „Das musste die Tat von Tausendjahr gewesen sein. Hast du ihm schon etwas erzählt?“ Ihre Blicke erschreckten mich dermaßen, daß ich mich umdrehte, um weg zu laufen. Meine Mutter verfolgte mich. Nach den schweren Schritten hinter mir zu urteilen, merkte ich, wie verärgert meine Mutter war. Das war kein normales Ärgernis. Ich lief über den Sportplatz, ihr Schatten vor mir wurde immer länger und drohte mich jeden Augenblick zu überholen. Ich drehte schnell ab und versteckte mich in der Männertoilette nebenan. Ich vernahm, daß meine Mutter außer Atmen war. Sie schrie: „Zeng Guang-xian, komm da raus!“
Nach einer Pause ließ sich die Stimme meiner Mutter wieder hören: „Weißt du, welche Folgen das haben kann? Wahrscheinlich wird unsere ganze Familie verurteilt werden. Deine Mutter kann dadurch verwitwet werden. Du bist ein Scheißkerl! Was hast du denn sonst noch wem alles erzählen können? Warum hast du das gerade Tausendjahr erzählt? Glaubst du, deiner Familie wird jetzt eine Verdiensturkunde erteilt werden? Heraus mit dir! Warte ab, ich zerreiße dir das Maul!“
Das hatte mich tief ins Herz getroffen und ich brach in Weinen aus. Meine Stimme schluchzte schmerzlich und ich kam zur Erkenntnis, daß mein plappernder Mund zerrissen werden musste. Anders wäre mein Selbsthass im Herzen nicht zu besänftigen. Und das könnte weitere Probleme mit sich bringen. Draußen hatten die Menschen einen Kreis gebildet. Vor ihnen stand meine Mutter. Ich verließ die Toilette. Mit einem sachten Kneifen an meinen Lippen umarmte sie mich. Ihre Tränen rollten über die Wangen und bedeckten fast ihr ganzes Gesicht. Eigentlich sollte sie sich das Gesicht abwischen. Das hat sie nicht getan, da ihre Arme mich umarmten. Sie hielt mich so fest, daß ich kaum atmen konnte. Je fester sie mich drückte, desto dringender wollte ich meinen Mund zerreißen. Ich war schon kurz davor, es zu versuchen.
Wir kamen zu dem Eingang der Fünften Schule und meine Mutter sagte mir: „Ich will Tausendjahr nicht sehen. Du hast das alles verursacht, also verlangst du, daß dein Vater durch ihn freigelassen wird.“ Mit Ach und Krach lief ich in die Schule und sah von weitem den beweglichen Schatten von Tausendjahr im Büro. Ich lief zur Tür und schrie: „Melde!“ Er sah sich um: „Warum bist du so verschwitzt? Komm herein und wisch dich ab.“ Ich trat näher zu ihm; er gab mir ein Frottiertuch.
„Wo ist mein Vater?“
„Warum ist deine Mutter nicht persönlich gekommen?“ Ich schaute mich um.
„Steht deine Mutter schon vor der Tür?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Ich weiß, daß deine Mutter mit mir Ärger hat, sie hat immer noch eine kleinbürgerliche arrogante Haltung. Aber wie ist es möglich, daß sie nicht kommt, wenn so etwas Wichtiges passiert? Du musst aber wissen, daß manche Sachen ein anderer nicht vertreten kann, so wie ein Mann eine Frau nicht ersetzen kann. Wenn deine Mutter das mit mir privat erledigen will, bin ich nicht dagegen. Sollte sie das nicht wollen, dann müsste dein Vater einige Male Unangenehmes ertragen. Wir können nicht nur der Familie Zhao zumuten, allein die Verantwortung zu übernehmen. Eure Familie Zeng soll auch ihren Standpunkt klar machen. Geh und hole deine Mutter hierher! Ich will mit ihr reden.“
Ohne mit mir zu diskutieren, schob er mich nach draußen. Ich lief auf das Schultor zu und bereute, mich vorhin umgeschaut zu haben. Meine Mutter kam mir entgegen. „Wie ist das denn mit Vater?“
„Der Onkel wollte mit dir persönlich sprechen.“ „Woher konnte er wissen, daß ich hier bin.“
„Ich habe mich immer nach dir umgeschaut. Daher weiß er es!“ Meine Mutter machte sich extreme Sorgen. „Was für eine schlimme Sache das ist, wirklich! Darf man sich nicht umschauen? Warum hast du dich umgeschaut? Sage ihm, ich bin schon gegangen. Du lässt dich zu deinem Vater bringen.“ Meine Mutter schob mich wieder hin zur Schule. Mit der Erfahrung von vorher lief ich diesmal nicht und ohne zurück zu blicken. Absichtlich ging ich langsam, um den überhitzten Kopf abkühlen zu lassen. Ich wollte mich vor Tausendjahr nicht wieder versprechen und versuchen, überflüssige Bewegungen zu vermeiden.
Tausendjahr reckte seinen Hals aus dem Fenster: „Wollte mich deine Mutter nicht sehen?“
„Sie ist gegangen.“
„Dann kannst nur du deinen Vater retten.“ „Was ist los mit meinem Vater?“
„Er ist uneinsichtig und stur. Er wollte die Vergewaltigung an Bergfluss nicht eingestehen. Du selbst brauchst bloß das zu gestehen, was du an jenem Tag gesehen hast. Dein Vater sollte danach ehrlich seine Fehler einsehen. Auf diese Weise kann er sein wegen Engstirnigkeit verdorbenes Schicksal vermeiden.“
„An jenem Tag habe ich gar nichts gesehen.“
„Nicht lügen! Mit Lügen kannst du deinem Vater nur schaden. Es kann dann zu einer strengen Verurteilung kommen. Wer unehrlich ist und sich wehrt, dem wird das rechte Bein gebrochen. Sollte er sich weiter wehren, wird ihm dann sein linkes Bein kaputt geschlagen. Sollte er sich, nachdem ihm die beiden Beine gebrochen worden sind, immer noch wehren, werden ihm dann die beiden Hände gebrochen werden, womit er in Zukunft nicht mal in der Lage ist, eine Schüssel zu heben. Du wünschst doch nicht, deinen Vater täglich zu füttern?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Dann sagst du, was du gesehen hast.“
Er schloss das Fenster und zerrte mich ins Freie. Ich versuchte einiges Mal mich zu befreien, was nicht klappte. Es gelang mir, einen Baum vor dem Haus zu umklammern. Er zog an mir so kräftig, daß die Nahtstellen an Ärmel und Schulter platzten. Trotzdem hatte ich mich nicht vom Baum losgelassen. „Du Kleiner hast doch ein dickes Fell.“ Er gab sich extrem große Mühe, um mich wegzuziehen, so als wollte er meinen rechten Arm vom Körper reißen. Tränen schossen mir wegen der Schmerzen in die Augen. Ich weinte aber nicht. Ich versuchte, das durchzuhalten, auch wenn ich meine Zähne zusammenbeißen musste.
In diesem Moment kam ein O-beiniger hinter meiner Mutter her aus dem Haus. Der O-beinige war niemand anderer als der Vater von Tausendjahr, den ich bestens kannte. Er hob seine Pfeife und schlug damit auf den Kopf von Tausendjahr. Dieser wich aus: „Vater, hier ist die Schule. Man muss Manieren verlangen.“
„Warum sollte ein Vater vor dem Sohn Manieren beachten? Mach schnell, daß Guang-xians Vater frei kommt.“
„Er hat noch kein volles Geständnis abgelegt.“
„Was hat er zu gestehen? Soll er gestehen, mit deiner Schwester geschlafen zu haben? Du willst keinen Gesichtsverlust erleiden. Wäre das in der Alten Gesellschaft gewesen, hätte er beliebig mehrere Frauen heiraten können und du würdest ihn vielleicht Schwager nennen.“
„Kein Wunder, daß so etwas passierte! Das liegt daran, daß du ein Wirrkopf bist. Hätte ich dich nicht als Vater in Betracht gezogen, wärst du auch ein Begleiter in einer Verurteilungsversammlung!“
„Ich habe sogar keine Angst vor Sterben durch Hunger! Woher soll ich Angst haben vor einer Versammlung? Wann willst du ihn freilassen?“
„Das geht nicht mich allein an.“
„Aber was mich für alle Fälle angeht, du musst ihn frei lassen. Ansonst werde ich den Baum hier mit meinem Kopf zerstören.“
Das war kein kleiner Baum. Ich konnte ihn kaum umarmen. Sollte Onkel Zhao mit dem Kopf gegen ihn stoßen, würde bestimmt nicht der Baum brechen. Tausendjahr bemerkte, wie der Bart seines Vaters zitterte und dessen Hals dicker wurde. Das sah nicht nach einem Spaß aus. Er bekam Angst: „Ihr geht zuerst nach Hause. Morgen werde ich ihn freilassen.“ Der Vater hielt seine Pfeife in der Luft: „Sollte ich ihn morgen nicht sehen, dann bist du ein Hundesohn, ich bin dann nicht mehr dein Vater!“
9
In der nächsten Früh sah ich, als ich das Tor des Lagers aufmachte, daß vor mir eine Tragbahre auf dem Boden lag, auf der mein Vater schlief. Das Waschbecken in meinen Händen fiel vor Schreck zu Boden. Er hatte seine Augen fest geschlossen. Am unteren Kinnbereich wuchs ihm der Bart wie wilde Kräuter, an seinen Händen klebte viel Schmutz, seine Fäuste ballten sich. Drei Fingernägel steckten im blutigen Fleisch. Man würde die Fäuste nicht so fest ballen, wenn man nicht bis an seine Grenzen gequält wurde.
Wir trugen ihn ins Haus. An seinem Gesicht waren keine auffälligen Verletzungen zu sehen, auch nicht an Brust und Rücken, seine Beine und Hände waren noch ganz. Wie konnte er aber in den letzten Zügen liegen? Mit einem Becher Medizin in der Hand kam Onkel Zhao ins Haus: „Zieht seine Hose runter. Ich kenne mich gut aus, wo mein Sohn anpackt.“ Onkel Yu war dabei, die Hose auszuziehen. Mein Vater bewegte sich ein bisschen und sagte: „Nein!“ Meine Mutter wollte das tun. Er bewegte sich noch mehr: „Nein! Nein!“ sagte er. Onkel Zhao streckte seine Hände nach meinem Vater aus, der sich noch mehr wehrte. „Jungherr, du brauchst dich nicht zu schämen, ich habe gesehen, wie du aufgewachsen bist. Welche Stelle an deinem Körper habe ich nicht gesehen, nicht abgetastet? Deinen Körper kenne ich besser als du selbst.“ Mein Vater machte seinen Mund einige Male auf wie ein sterbender Fisch: „Ihr geht alle raus. Lasst Guang-xian mir Medizin auftragen. Wo ist Guang-xian? Wo ist mein Sohn?“ Ich habe ihn dermaßen verletzt, er wollte trotzdem mich allein dazu bestimmen, seine Hose auszuziehen. Es lag auf dem Tisch, was für ein großes Herz er hatte und wie kleinlich meines war.
Die Unerwünschten verschwanden nach und nach. Im Schlafzimmer blieben nur noch Onkel Zhao und ich. Mit zitternden Händen löste ich sein Hosenband und bemerkte, daß sein Penis am Hosenboden klebte, voll vom Blut verschmiert. Bei jeder meiner Handbewegungen runzelte er seine Stirn. Um ihm keine zu großen Schmerzen zuzufügen, bewegten sich meine Hände sehr sacht und möglichst langsam. Er hatte insgesamt dreiundzwanzig Mal gerunzelt, bis seine Hose richtig ausgezogen war. Onkel Zhao murmelte: „Welche Sünde!“ und strich die Medizin auf die Wunden. Nun sah ich deutlich, daß da unten die Stelle meines Vaters extrem stark geschwollen war. Die glänzende Oberfläche spiegelte den Medizinbecher und die wackelnde Hand Onkel Zhaos wider. Ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben, hätte ich mir nie vorstellen können, wie hässlich so eine Stelle aussah. Sie hatte ihre Ursprungsform verloren, sah jetzt rund aus, so rund wie eine Bleikugel, aber dann wieder nicht, denn sie wurde weich und schwoll ab infolge der Medizin aufstreichenden Hand Onkel Zhaos, bloß nicht in der Länge. Mir wurde eiskalt und ich zitterte schaudernd am ganzen Körper und knirschte ununterbrochen mit meinen Zähnen, als ob ich versuchte, alle meine zu Tausendjahr ausgesprochenen Worte zurücknehmen zu wollen.
„Guang-xian, Pa befindet sich nur noch in den letzten Zügen und kann wahrscheinlich nicht mehr länger leben. Ich bin schuldig vor euch, ich habe eure Ehre besudelt. Pa kann dir nichts hinterlassen als nur ein paar Worte..., in Zukunft darfst du alles tun, nur das nicht, was dein Pa getan hat. Zehn Jahre lang habe ich es ausgehalten, ohne zu wissen, daß ich es zum Schluss doch nicht schaffen würde. Guang-xian, hast du dir meine Worte gemerkt?“
„Ja!“
Onkel Zhao fing an laut zu weinen: „Jungherr, mach dir keine Sorgen. Diese Medizin ist ein Rezept von deinem Großvater, die beste Medizin gegen Verletzungen. In wenigen Tagen wirst du geheilt sein. Ich wusste, daß mein Bastard grausam ist, aber daß er so brutal ist, habe ich nicht gewusst!“
Mein Vater tat so, als hätte er alles gesagt, was er sagen wollte. Er schloss nun den Mund fest zu. Wäre mein Mund so fest zugemacht gewesen, hätte ich uns nicht diese Probleme bereitet. Ich biss meine Zähne zusammen und nahm mir insgeheim vor: In Zukunft werde ich nie mit einer Frau schlafen, auch wenn man mich mit einem Gewehr dazu zwingt. Lieber möchte ich sterben. Das schreckliche Beispiel mit meinem Vater ließ mich gründlich verstehen, wieviel Schmerzen man in dem Fall ertragen muss, indem man mit einer Frau ins Bett geht, die keine Ehefrau ist. Im schlimmsten Fall kann man nicht mehr pinkeln. Was nutzt es einem Menschen, Kommandeur zu sein, wenn er nicht mehr urinieren kann? Auf diese Weise habe ich einige Tage philosophiert. Meine Überlegungen, wie oben erwähnt, wurden mehr und mehr unverbrüchlich, so hart wie Stahlbeton.
Nach diesem Ereignis erlitt meine Mutter eine schwere Blinddarmentzündung. Sie lag im Bett des Krankenhauses und genoss die Vorteile wie diejenigen, die große Leistungen überstanden hatten. Eines Tages fütterte ich sie zum Abendessen. Eigentlich konnte sie auch selber essen. Ich wollte damit meine Fürsorge zum Ausdruck bringen. Nach einigen Bissen sagte sie: „Guang-xian, diese Welt ist ein Chaos. Ich bin völlig verärgert. Ich habe keine Lust mehr zu leben.“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, drückte sie sich den Mund zu, sah mich mit einer gewissen Ernsthaftigkeit an und meinte: „Du wirst das aber nicht weitererzählen, was deine Mutter eben gesagt hat?“
„Nein. Im schlimmsten Fall werde ich das höchstens Papa erzählen und wenn er das erfährt, wird er nicht zulassen, daß du nicht mehr leben willst.“
Sie machte einen bösen Gesichtsausdruck und hob plötzlich ihre Stimme: „Wovor ich mich fürchte, ist dein Dreckmaul. Weißt du, manche Sachen kann man nicht mehr zurücknehmen, sobald man diese weiter gesagt hat. Und auch kann man nicht dann sterben, wenn man sterben will.“ Sie schob die Decke weg, stand vom Bett auf und wollte mich hinausbegleiten. Dabei sah es gar nicht danach aus, das sie eine Blinddarmentzündung hatte.
Ich folgte ihr in die 6. Gasse der Drei-Bindungen-Straße. Wir gingen durch ein schattiges, feuchtes Tor hinein. Es war bereits ganz dunkel geworden und im Haus brannte kein Licht. Meine Mutter rief: „Tante Neun.“ Ein Licht flammte auf und erleuchtete unsere Augen. Die Gestalt einer alten Frau kam allmählich näher und wurde langsam deutlicher.
„Fräulein Wu, du bist schon lange nicht mehr zu uns gekommen.“
„Hilf mir Guang-xian aus meiner Familie, den Mund zu verschließen. Sein Mund hat in der letzten Zeit meiner Familie nicht wenige Katastrophen gebracht!“
Meine Mutter nahm einen Geldschein aus der Tasche, den die Tante Neun annahm. Das Haus war wieder dunkel geworden. Ein Streichholz zündete ein Häufchen Papier an. Ich erhielt drei Stücke Weihrauchstäbchen von Tante Neun in die Hand gedrückt und machte dreimal Kotau. Die Tante Neun befahl: „Schließe deine Augen!“ Ich machte meine Augen zu. Sie legte ihre Hand, deren Haut älter war als Baumrinde, auf meinen Scheitel. Ihre Hand rutschte über meine Stirn, meine Augen, meine Nase und landete schwer auf meinen Mund. Überall dort, wo ihre Hand drüber strich, war ein Gefühl, als würde man von einem Messer geschnitten.
„Guang-xian, nach diesem Mundverschluss sagst du nichts mehr unüberlegt!“
Ich nickte mit meinem Kopf. Sie klebte mit einem Stück Papier meinen Mund zu. Es war ein kleines rotes, zwei Finger breites Stück Papier, das auf meinen Mund vertikal geklebt wurde, die eine Hälfte an meiner Oberlippe, die andere an der Unterlippe. Tante Neun erklärte mir, die Wirkung würde sich mindestens nach einer halben Stunde zeigen. Um schnell nach Haus zu kommen, fuhr ich, mit dem roten Papier auf dem Mund, zusammen mit meiner Mutter mit dem öffentlichen Bus. Viele Passagiere drehten sich nach mir um. Ich bekam daraufhin ein rotes Gesicht, noch röter als das Papier. Auf dem Heimweg fiel das Papier zweimal herunter. Ich las das zweimal auf, nässte es mit Mundspeichel und klebte es zurück auf meinen Mund. Ich betrachtete das Papier wie eine Verdiensturkunde, die speziell meinen fleißigen Mund auszeichnete.
10
Dass Bergfluss immer seltener nach Hause kam, war auffällig. Wenn sie aber heimkam, lief sie an meinem Vater vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. In dem Moment konnten die Lippen meines Vaters gewöhnlich nicht aufhören zu zittern, ähnlich wie Heuschrecken, die ihre Flügel schwangen. Ich wollte dazu etwas sagen, nahm es mir aber nicht heraus, denn aus Furcht, das hinter mir jemand zuhörte, hielt ich meine Zunge im Zaum. Bergfluss richtete ihren Kopf nach oben und blickte absichtlich gegen den Himmel. Ihr Hintern wackelte wie eine Schaukel. So ging sie in großen Schritten vorbei, als kenne sie meinen Vater nicht.
Onkel Zhao fürchtete, daß sich die beiden nicht aushalten könnten und fand schnell für Bergfluss einen ein Meter achtzig großen Lokomotivführer als Partner. Mit dem Tempo, in dem man das Neue China aufbaute, arrangierte er für sie die Hochzeit. Eines Sonntags hielt ein LKW, geschmückt mit vielen bunten Fahnen, vor unserem Lagerhaus. Einige uniformierte Eisenbahner, unter ihnen der dicke „Klumpen“ namens Dong, sprangen aus dem Wagen, luden Bergfluss und fünf Munitionskasten auf und fuhren weg. Die farbigen Fahnen flatterten lebhaft im Wind und aus dem Lautsprecher am Wagenkopf schallte heraus: „Die Kulturrevolution ist wirklich gut! Ist wirklich gut, wirklich gut, wirklich gut!“ Alle standen vor dem Hauseingang, bis auf meinen Vater und Tausendjahr, und schauten dem sich entfernenden Fahrzeug nach. Der Wagen bog in die Straße ab und verschwand unter dem Gesang von Revolutionsliedern. Wir standen noch lange da, unter dem Eindruck der vom Lautsprecher zurückgelassen Lieder.
Später erzählte mir mein Vater offen, daß er sich zur gleichen Zeit an der nächsten Straßenkreuzung befunden hätte, als der bunte Wagen vor seinen Augen vorbeiraste. Bergfluss stand am vordersten Platz, sich mit beiden Händen an der Lehne festhaltend. Ihre Haare waren vom Wind zerzaust, wie ein zerrissener Lumpen. In ihrem Gesicht war keine Traurigkeit, kein Bedauern zu sehen, und es war unvorstellbar, sogar mit etwas Fröhlichkeit. Ihr war keinesfalls aufgefallen, daß mein Vater zum Abschied dort stand. Er verfolgte den Wagen, lief an dem großen Warenhaus, dem SonnenAufgang-Hotel vorbei, bis er nicht mehr mithalten konnte. Er blieb stehen und weinte. Er sagte mir hinterher, er habe den ganzen Nachmittag geweint.
Ich glaubte im Prinzip seinen Worten, weil er an jenem Nachmittag erst sehr spät nach Hause kam und gerötete Augen hatte. Man konnte Blutfaden in seinen Augen sehen. Er starrte am Esstisch eine Weile ins Leere und ergriff erst dann die von meiner Mutter zurückgelassene Reisschüssel. Er nahm einen Mundvoll, machte Pause, erst lange danach wieder einen Mundvoll.
Jedes Mal erreichte mindestens die Hälfte der Reiskörner nicht den richtigen Platz, sie landeten auf dem Tisch. Er schien anfangs den Teller fetten Fleisches als zusätzliches Essen auf dem Tisch nicht zu sehen, griff mit den Stäbchen wiederholt daneben. Immer wieder konnte er dann das Fleisch nicht festhalten. Er bemerkte nicht, daß die Reisschüssel von meiner Mutter vollgestopft worden und schwerer als sonst war. Das Fleisch schien seine Zunge heute nicht besonders zu reizen und es machte ihm keinen Unterschied zum Moschuskürbis als alltägliche Mahlzeit. Er speiste für eine gute Stunde und schaffte nur eine kleine Hälfte. Die meiste Zeit machte er Pausen. Die Zubereitung der Speisen durch meine Mutter mit größter Sorgfalt übersah er, so wie ihn Bergfluss übersehen hatte.
Es war zum ersten Mal so mäuschenstill in unserer Wohnung, wie auch im gesamten Lagerhaus. Nachts wälzte sich Vater im Bett hin und her und schlief erst ein, als es am Fenster hell wurde. Es gab seitdem auch kein Schnarchen mehr. Stattdessen knirschte er leise mit den Zähnen. Unversehens umarmte er mich im Schlaf und stieß hervor: „Bergfluss, Bergfluss“. Vor Schreck war ich wie gelähmt. Er schien seine Verwirrung eingesehen zu haben und ließ seine Hand los, die nun schlaff auf meine Seite fiel. Meine Mutter hustete ein paar Mal laut und stand von ihrem Bett auf. Die in der letzten Nacht verstummten Geräusche kehrten morgens ins Lager zurück. Da war das Pinkeln von Tante Fang und das Spucken von Onkel Zhao. Wir richteten uns auf Grund dieser vertrauten Geräusche im Bett auf, wuschen uns das Gesicht und verschwanden. Mein Vater faulenzte allein im Bett weiter.
Wenn dieses nächtliche Vorkommnis nur das eine Mal gewesen wäre, hätte meine Mutter das möglicherweise entschuldigen können. Auch ich hätte das entschuldigt. Aber mein Vater war unbeherrscht, umarmte mich in den folgenden Nächten immer wieder und schrie dabei „Bergfluss, Bergfluss“. Bevor ich meine alte Gänsehaut los war, überzog mich schon wieder eine neue. Ich konnte nicht umhin, auf einem zusammengestellten Bettchen zu schlafen. In den folgenden Nächten umarmte mein Vater sein Kopfkissen und rief nach wie vor den Namen jener Frau. Meiner Mutter riss schließlich der Geduldsfaden, sie schrie plötzlich auf, griff nach einem Wasserglas, das sie in Richtung meines Vaters Bett zum Kopfende hin schmiss und donnerte ihn aus vollem Hals an: „Du, Schurke! Raus mit dir!“
Mein Vater stieg verdrießlich aus dem Bett, zog sich eine Jacke an und trollte sich wirklich. Er rollte wie ein Eisenring immer vorwärts, rollte über die Eisen-Pferd-Straße, die Drei-Bindungen-Straße und hielt an der Einfahrt zur Eisenbahn. Du weißt, daß damals in der Nacht die ganze Stadt ruhte, nur die Züge auf den Schienen schliefen nicht. Sie fuhren hin und her, manchmal ein ganzer Zug voll von Lichtern, manchmal mit Waren zu Bergen aufgeladen. Mein Vater saß am Rand der Bahngleise und beobachtete die Züge. Warum wollte er die Züge beobachten? Er hatte heimlich die Waffenfabrik aufgesucht und durch andere erfahren, daß Bergfluss dort nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Sie war in den Zug vom Lokführer Dong versetzt worden. Sie würde mit Sicherheit eines Tages das ganze China bereisen.
Eines Tages nach unserer Heimkehr sahen wir einen Zettel auf dem Tisch liegen. Es waren die Handschriften des Vaters: „Ich habe in Peking zu tun und werde in fünf Tagen wieder zu Hause sein.“ Meine Mutter hielt den Zettel, ihre Hand zitterte leicht. „Weißt du, warum Papa nach Peking gefahren ist?“ fragte Blümchen. „Besucht er den Vorsitzenden Mao?“
„Diese große Ehre hat er nicht, er besucht Bergfluss im Zug.“ Meine Mutter zerriss den Zettel, warf ihn zu Boden und versetzte ihm einen kräftigen Tritt. „Ein großer Gauner ist dein Vater,“ platzte sie ihren Jammer heraus, „ich kann mit ihm nicht weiterleben. Hätte ich nicht euch beide Geschwister, hätte ich mich schon tausendmal wollen scheiden lassen. Er muss überlegen, welcher unmögliche Typ Bergfluss ist. In welcher Hinsicht ist sie besser als deine Mutter? Kann sie Kaligrafie? Kann sie Instrumente spielen? Kann sie sticken? Das alles kann sie nicht. Sie kann nur mit dem Hintern wackeln. Wenn die beiden nebeneinander auf einer Bank sitzen, verhalten sie sich wie zwei Schurken!“
Nach dem Abendessen fing meine Mutter an, zu packen. Sie legte die Kleidungen von ihr und Blümchen ordentlich in den alten Lederkoffer und auch die halbe Flasche Parfüm. Ich fragte: „Mutter, was ist mit meinen Sachen?
„Wir können nicht alle wegfahren. Du musst hierbleiben, um für deine Mutter auf das Haus aufzupassen.“
An jedem Feierabend packte meine Mutter den Koffer neu. Manchmal erinnerte sie sich an ein Buch, manchmal plötzlich an ein Album oder an einen Kamm. Alles, was sie finden konnte, steckte sie in den Koffer. Schließlich konnte der Koffer wirklich nichts mehr aufnehmen. Sie nutzte zusätzlich ein Tragenetz, in das bald auch nichts mehr ging. Sie begann dann die Sachen aus dem Koffer und dem Netz heraus zu nehmen und änderte ständig die Strukturen, mal heraus und wieder hinein, mal hinein und wieder heraus. Das wiederholte sie mehrere Tage.
Eines Abends, als mein Vater niedergeschlagen wieder zu Hause ankam, packte meine Mutter den Koffer: „Wir haben zusammen zwei Kinder. Jeder sorgt für eines.“ Mein Vater fragte: „Wo willst du hin?“ „Zusammen mit Tieren im Zoo zu leben, ist besser als mit dir.
Wenn dir das klar geworden ist, komme ich zurück. Dann lassen wir uns scheiden.“
Mein Vater hockte auf dem Boden, griff mit beiden Händen an seinen Kopf. Meine Mutter nahm noch das Netz in die Hand und ging mit Blümchen aus dem Haus. Ich versetzte einen Fußtritt gegen den Hocker und schimpfte: „Verdammt Scheiße!“
Mein Vater hob den Kopf: „Zu wem sagst du Scheiße?“
„Das weißt du nicht?! Ich hätte das nicht geglaubt, du bist unverbesserlich.“
Mein Vater stand augenblicklich auf: „Das ist Liebe! Kapierst du?“ „Liebe ist, die eigene Frau zu lieben. Die Frau eines anderen zu lieben ist ein Schurkenstück!“
Mein Vater sprang auf und ab: „Wie kann ich dir das erklären? Ich umschreibe das einfach so. Nachdem du zum Beispiel zehn Jahre keinen Tropfen Öl genossen hast und dir plötzlich jemand eine Mahlzeit mit Fleisch anbietet, wie kannst du das vergessen, wie kannst du den wegschicken?“
„Aber Mutter hat doch sicher einen Teller Fleisch für dich zubereitet. Warum hast du das vergessen? Warum hast du gemacht, daß sie weg geht?“
„Du weißt einen Furz! Deine Mutter hat mir zehn Jahre kein Fleisch zum Essen gegeben. Du kannst sie fragen. Wie hätte ich derart handeln können, hätte sie mir nur ein kleines bisschen Ölblümchen gegeben? Du bist noch kein Mann. Das verstehst du nicht. Ohne das würde kein Mann weiterleben.“
„Was hast du mir gesagt, als du verletzt warst? Du hast deine eigenen Worte vor die Hunde geschmissen!“
Mein Vater seufzte: „Du wirst das eines Tages verstehen können.“ „Auch im Alter von hundert Jahren werde ich das nicht verstehen können. Du bist gemein!“
11
Wenn damals die Fotoalben meiner Familie übereinander gestapelt wurden, machte das etwa einen halben Meter aus. Meine Mutter nahm die zwei für sie wichtigsten mit. Ich durchstöberte alle Fotos und suchte die Gruppenaufnahmen mit meinem Vater heraus und schnitt sein Porträt mit der Schere weg. Die meisten Fotos waren schwarzweiß. Nur die besonders Guten waren in Farbe. Einige davon waren nur drei Finger breit und die Gesichter nicht größer als Sojabohnen. Auf manchen Fotos rückten die Fotografierten eng zusammen. Um meinen Vater auszuschneiden, musste ich oft entweder die Schulter meiner Mutter oder die von mir entfernen. Das Ausschneiden von meinem Vater, der mich als Baby auf den Armen trug, war nicht weniger schwierig als eine Schulprüfung. Der Schnitt musste dem Umriss meines Vaters entsprechen, um ihn optisch zu entfernen. Auf dem Foto blieben nur noch die beiden mich haltenden Hände zurück, bei deren Anblick ich Gänsehaut bekam. Ich musste auch diese entfernen. Also schabte ich sie mit Klinge ab, bis sie nicht mehr zu erkennen waren.
Nachdem ich all das erledigt hatte, fühlte ich mich innerlich nur wenig entspannt. Denn, eigentlich war da immer noch ein Gedanke. Ich hasste es, nicht alle seine inneren Organe heraus nehmen zu können, um sie auch sauber zu waschen. Ich würde die Seifen zehn Mal, zwanzig Mal benutzen und sie danach wieder zurücklegen. Ich verachtete ihn und beabsichtige daher konkrete Maßnahmen zu ergreifen, nämlich, keine Hausarbeit zu erledigen. Ich schlug stattdessen meine Beine übereinander und las die Zeitungen, die er nach Hause brachte. Während meines Lesens kam er mit gesenktem Kopf ins Zimmer, legte die neue Ausgabe vor mich hin und ging sofort wieder, ohne was zu sagen, um in der Küche etwas zu kochen. Während ich jedes Schriftzeichen und jeden Artikel bis zu Ende las, hörte ich, daß er in einem unterwürfigen Ton fragte: „Kannst du jetzt essen kommen?“ Ich legte die Zeitung weg, setzte mich an den Tisch und fing an mit ihm zu speisen, ohne aufzublicken, ohne mit ihm ein Wort zu wechseln. Seine Augen guckten mich ständig an, in der Hoffnung, daß ich etwas sagen würde. Aber durch mein Verhalten zeigte ich, daß ich nicht sprechen wollte. In der Zeitung stand klar geschrieben: Gegen schlechte Menschen soll man sich wie ein strenger Winter kalt und frostig verhalten. Ein Lump muss links liegen gelassen und verachtet werden.
Mein Vater wurde als Jungherr geboren. Wie konnte er solch eine Antipathie ertragen? Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Initiative ergriff, mit mir zu reden: „Guang-xian, du brauchst mir keinen kalten Blick zuzuwerfen. Du weißt doch, ich könnte mit meiner Identität in der Alten Gesellschaft vier oder fünf Frauen heiraten. Wie hätte ich mit einer Frau wie Bergfluss nicht schlafen sollen? Deine Mutter konnte das nicht begreifen, weil sie mit mir nicht von gleichem Blut ist. Aber du stammst von mir ab und bist mein leiblicher Sohn. Kannst du das denn nicht verstehen und für mich Verständnis empfinden?“ Aus seiner Art zu sprechen begriff ich, daß er seinen finsteren Plan, mit Bergfluss den Kontakt aufrecht zu erhalten, nicht aufgeben wollte. Woher aber konnte er wissen, daß der vor ihm sitzende Zeng Guang-xian nicht mehr der Alte war. Dieser Zeng Guang-xian hatte nicht umsonst so viele Zeitungen gelesen. Er verstand bereits, seinen Kopf mit den darin vermittelten Theorien zu füllen und für sein Handeln zu benutzen.
Eines Abends fiel aus dem Hosengürtel meines Vaters unerwartet ein Buch, das von Altzeitungen umgewickelt war. Die Buchseiten fielen mit einem Krach weit auseinander. Es zeigte sich dabei der blanke Po einer Frau, und sogar farbig. Ich war wegen der hässlichen Darstellung völlig konsterniert. Mein Vater bückte sich, las das Buch auf, klopfte dagegen und steckte es erneut hinter den Gürtel. Mit dem Buch am Gürtel stand er am Wasserbecken, wusch Schüsseln und schaukelte sacht mit dem Oberkörper. An seinem T-Shirt zeigten sich einige Löcher. Er hatte lange graumelierte Haare und besonders die weißen stachen mir in die Augen. Sein fleißiges Tun und seine ärmliche Rückenansicht bewegten zwar mein Herz, aber dennoch konnte ich mich nicht von dem Verdacht befreien, er könnte darauf verfallen, Frauen zu belästigen oder sogar Notzucht betreiben. Wie war dem abzuhelfen? Wie könnte ich mit einer solcher Schmach und Schande fertig werden?
Du würdest heutzutage dies als Prahlerei bewerten, wenn ich das so erzähle. Ich kann dir aber versichern, daß ich nicht lüge. Ich war politisch frühreif, ganz anders als die jetzige junge Generation, die sich kein bisschen um Politik kümmert und keine Zukunft vor sich sieht. Mir war noch nie aufgefallen, daß Tausendjahr jemanden hoch einschätzte. Sogar während des Pinkelns richteten sich seine beiden Nasenhöhlen nach dem Himmel. Er senkte selten seinen Kopf, um jemand anzuschauen. Aber mich bewunderte er, weil ich ihn seinerzeit aufsuchte, um meinen Vater zu retten.
Er meinte: „Verurteilung hin, Verurteilung her, es geht bloß um das Miststück Bergfluss. Keiner hat ein Interesse mehr daran.“
„Es gibt aber in der Tat noch einige unerwähnte Sachen zur Klarstellung.“
Er hob seinen Kopf und guckte mich zum ersten Mal aufmerksam an.
„Wie Onkel Zhao führte er eine Heirat mit drei, vier Frauen ständig im Mund. War das ein Überbleibsel der feudalistischen Gedanken? Er dachte, die Familie Zhao sei früher seine Dienerschaft gewesen. Deshalb war das von ihm eine Ehre für die Zhaos, mit Bergfluss ins Bett zu gehen. Ist das eine bürgerliche Überlegenheitstheorie?“ Tausendjahr schnalzte mit der Zunge, als ob ihm ein guter Wein geschmeckt hätte. Ich sagte weiter: „Darüber hinaus las er ein Pornobuch, das hundertmal dekadenter ist als Hundepaarung.“
Ich bemerkte, daß seine Bewunderung ähnlich wie Wasser aus seinen Augen floss. Er klopfte mir auf den Kopf: „Du bist verdammt noch einmal ein geborener Politiker!“
Auf Grund meiner Informationen durchsuchten dann die Rotgardisten unser Haus und holten meinen Vater mitsamt dem Buch ab. Zwei Großgewachsene fesselten die Arme meines Vaters im Gefolge von weiteren Gardisten. Eine Menge grüner Anzüge umringte meinen Vater. Er versuchte sich zu wehren, sein Körper schoss mal in die Höhe, mal sank er wieder und zum Schluss wurde sein Kopf in die Tiefe gedrückt, wobei sein Gesäß in die Luft gehoben wurde. Sie steckten ihn in einen Wagen. Als der Wagen anfuhr, reckte er seinen Kopf durch sieben, acht Hände, warf sich gegen die Lehne und schrie aus vollem Hals: „Guang-xian, Vater kann nicht mehr für dich kochen. Die Getreidemarken liegen unter der Bambusmatte, das Geld ist unter den Steinen neben dem Schrank. Bleibe am Abend zu Hause. Benutze einen Türriegel mehr als sonst. Geh schlafen bei Hunderthaus, wenn du Angst hast. Komme ich nicht zurück, dann suche deine Mutter auf. Sage ihr, sie soll mich nicht hassen. Hast du gehört, Guang-xian...?“ Mit der Entfernung des Wagens wurde seine Stimme immer kleiner und zum Schluss zu einem schmerzlichen Schrei.
Ich wollte eigentlich nicht weinen, aber die Tränen quollen mir aus den Augen. Ich sah nicht aus wie ein standhafter Mensch. Tausendjahr verabschiedete sich als Letzter. Bevor er in einen Jeep einstieg, klopfte er mir auf den Kopf: „Alle Revolutionen bedürfen der Opfer. Es gab viele bedeutende Persönlichkeiten, die dafür ihren Nächsten opferten.“ Anschließend fuhr er stolz mit dem Wagen davon. Ich war der Meinung, alles war gut so. Auch wenn er Leid ertragen musste, lohnte es sich, wenn sie seine unzüchtigen Angewohnheiten wie meine verschriebenen Schriftzeichen ausradieren konnten.
Einige Tage später brachte der Jeep meinen Vater zurück. Im Wagen waren knapp vier, fünf Rotgardisten. Sie öffneten die Schutzbretter und traten ihm in den Hintern. Er stürzte vom Wagen zu Boden und schlug mit den Zähnen auf die Erde. Onkel Yu und Onkel Zhao halfen ihm beim Aufstehen. Seine Mundwinkel, Wangen, Arme und Brust waren überall mit Blutstriemen bedeckt, als hätte man ihn mit Lederriemen geschlagen. Sie halfen ihm ins Lagerhaus, er ging mit wackligen Beinen. Mein Vater spuckte viel Blut aus dem Mund, und im Blut sah man einen gebrochenen Zahn. Er sagte: „Wegen eines Buches aus Hongkong beschuldigten sie mich als Staatsverräter, als einen Geheimagenten. Sie wissen nicht, daß in Hongkong solche Bücher öffentlich zu kaufen sind. Weder haben sie Kunst studiert, noch verstehen sie, daß auch der Menschenkörper eine Ästhetik hat. Sie sind dümmer als Tiere!“
Am Abend lag er im Bett und seufzte. Das einzelne Stöhnen klang eines nach dem anderen immer länger. Schließlich ließ er mich das Licht ausschalten und sagte leise: „Wenn sie mich weiter quälen, will ich nicht mehr leben.“ Er sagte das wie damals meine Mutter. Sie wollte auch nicht mehr leben. Sie beide sagten das wie in einem „Wettkampf.“ Wer das am häufigsten betont, der ist der Champion. Ich gab keinen Laut von mir.
Plötzlich sagte er: „Guang-xian, komm her.“ Ich rührte mich nicht. „Du kommst hierher, ich habe dir etwas zu sagen. Mein größtes Missgeschick des Lebens liegt an Frauen. Ich hoffe, daß dir das nicht passiert. Ich bringe dir eine Methode bei, mit der du das ganze Leben ohne Frau aushalten kannst. Mir ist das zu spät eingefallen. Sonst hätte ich nicht so eine Tracht Prügel verdient. Ursprünglich wollte ich dir das nicht verraten. Die heutige Situation ist sehr kompliziert geworden. Dein Vater kann jeden Moment sterben. Ich habe Angst, dann keine Gelegenheit mehr zu haben, um dir das mitzuteilen. Komm näher und hör zu.“ Er dämpfte seine Stimme noch leiser, „wenn du tatsächlich an Frauen denkst und keinen Fehler machen willst, so kannst du dir selber mit der Hand helfen, verstehst du? Du reibst damit hin und her. Das ist allein dein Körper. Auch wenn du dich selbst damit kaputt machst, weiß das keiner in der Welt, solang du es nicht weitersagst. Ich habe immer geglaubt, daß man nur mit einer Frau erst ein vollständiger Mann ist. Heute ist mir endlich ein Licht aufgegangen. Mein Himmel! Wozu sind die Frauen geschaffen worden, wenn Du willst, daß wir das selbst erledigen sollen...“
Entgegen meiner Erwartung besaß mein Vater nach wie vor einen Kopf voll Schmutz. Ich drehte mich um, lief aus dem Haus und schlug die Tür hinter mir so stark zu, daß es lauter war als ein Gewehrschuss.
12
Was war es, was ich damals am meisten hasste? Das war ein Verbrecher, so einer wie mein Vater. Deshalb war ich so gelassen und standhaft, als mein Vater durch eine Gruppe Rotgardisten deportiert wurde. Ich ging sogar nicht einmal aus dem Haus. Nachdem sich draußen die störenden Geräusche abebbten und der Motorlärm unsere Ohren verließ, sang ich überraschenderweise mit heller Stimme: „Rote Blüten blühen auf roten Felsen, tausend Li Frost unter den Füßen, die kälteste Periode des Winters ist nicht zu fürchten, ein rotes Herz sehnt sich nach der Sonne, nach der Sonne...“ Während des Singens platzte eine Fensterscheibe. Anfangs glaubte ich, daß meine Stimme das verursacht hätte, sah aber sofort, daß ein Stein hereingeflogen war und daraufhin noch ein anderer Stein durch das andere Fenster flog. Ich wusste, daß Hunderthaus Yu und Helllicht Rong mit ihren Katapulten geschossen hatten. Die zwei Steine waren Ausdruck ihrer Verachtung. Ich hatte aber nicht deswegen aufgehört zu singen. Ich stand auf dem alten Platz und sang das Lied erregt zu Ende. Feiner Schweiß stand mir auf der Stirn, als hätte mir das Lied Wärme gegeben. Es war aber eiskalter Winter. Ohne festen Willen durchzuhalten wäre ich nicht ins Schwitzen geraten.
Am nächsten Morgen kamen zwei Lastkraftwagen herangefahren und hielten vor unserem Haus. Eine Menschengruppe sprang aus dem Wagen. Sie luden jeweils den Hausrat der Familie Zhao und der Familie Yu auf den Wagen. Onkel Yu lief mit Zahnbürste und Schaum im Mund im Haus heraus und brüllte: „Soll´s heißen, daß ihr unser Vermögen konfisziert?“ Der Leiter der Gruppe behauptete lediglich: „Das Lager wird eine andere Rolle spielen. Ihr müsst alle umziehen.“
Onkel Yu spuckte den Schaum und die Bürste auf den Boden. „Wie kann man so einen Abtransport anfangen, ohne vorher Bescheid zu geben?“ Der Leiter schimpfte: „Hör auf mit deinem Geschwätz! Willst du einen Spitzhut und eine Verurteilung?“ Diese Gruppe stiftete große Unruhe und bestürmte das Schlafzimmer der Familie Yu. Tante Fang-bo schrie vor Schreck laut auf und Onkel Yu zeterte: „Auch wenn ihr den Umzug macht, darf es nicht so eilig passieren. Lasst meine Frau sich mindestens zuerst anziehen.“ Der Leiter brauste auf: „Ihr seid verdammte Stinkkapitalisten und wisst wirklich das Leben zu genießen. Die Sonne bescheint schon euren Po und ihr seid immer noch unbekleidet!“
Onkel Zhao lag auf der Schwelle zur eigenen Wohnung und behinderte den Umzug. Die Leute schritten über seinen Körper hinweg rein und raus, mit Holzkisten, Bettgestellen und Bettwäsche sowie Hausgeräte in Händen. Onkel Zhao wurde gar nicht beachtet. Nur an der Schwelle machten sie einen großen Schritt. Über dem Kopf Onkel Zhaos bewegten sich lauter Hosenböden hin und her. Er sah endlich ein, überschritten zu werden, ohne sie aufhalten zu können. Was für ein großer Schaden wurde ihm zugefügt. So stand er mit einem Ruck auf und schrie laut: „Aufhören mit eurem Unsinn! Ich bin der Vater vom Schuldirektor.“ Manche lachten: „Gerade Direktor Zhao hat uns geschickt!“
Nachdem der gesamte Hausrat ausgeräumt war, hielt sich Onkel Zhao am Türrahmen fest und wollte nicht gehen. Einige junge Leute hoben ihn einfach hoch und trugen ihn wie ein Stück Möbel nach draußen. Wie ein Hahn vor dem Tod focht Onkel Zhao in ihren Händen seinen letzten Verzweiflungskampf aus und schimpfte:
„Tausendjahr Zhao, du bist ein Hurensohn! Ich habe hier mein halbes Leben verbracht! Wohin willst du mich deportieren? Du sollst mich lieber töten als fortschaffen. Lasst mich lieber hier im Haus sterben. Du weißt, nur hier im Haus, kann ich mich wohl fühlen, sonst nirgendwo, auch nicht in Peking in der Verbotenen Stadt. Du zum Teufel wirst eines Tages vom Himmel bestraft...“ Mit Schimpfen kam er auf mich zu und wurde plötzlich ruhig, seine Augen waren so groß wie die Öffnung eines Wasserglases, und starrte mich lange an. Dann machte er einen hässlichen Ausspruch: „Dein Scheißmund ist an allem schuld!“
Nicht nur Aufrichtig Zhao, sondern auch Zierapfel Fang und Hellhübsch Chen spuckten mich an, als sie mich verließen. Sie machten ein finsteres Gesicht, als wäre man ihnen Geld schuldig. Sie spuckten ihren Speichel kräftig und zielgenau vor mich und beschmutzten teilweise meine Schuhe. Nur Hunderthaus kam noch nicht aus dem Lagerhaus. Ich glaubte nicht, daß er ebenso niederträchtig war wie die Erwachsenen. Aber hatten wir denn nicht miteinander Freundschaft, wenn es so wäre? Der Wagen hupte einige Male. Hunderthaus trug vor seiner Brust einen Haufen kaputter, verstaubter Schuhe und stand vor mir. Er bespuckte meine Hose und mein Gesicht. Er spuckte nicht nur einmal, er spuckte zweimal und sogar in mein Gesicht. Ich warf mich auf ihn, um seinen Hals zu würgen. Mit einem Faustschlag schleuderte er mich zu Boden. Wegen der Schlägerei verlor er seine alten Schuhe. Warum spuckte man auf einen Menschen, dessen Gedanken korrekt waren, der unschuldig war? Hatten denn die Zeitungen falsch berichtet?
Ich eilte in den Zoo zum Wohnheim meiner Mutter. Die Tür war angelehnt, heraus tönte eine Stimme: „Nein, nein, nein!“ Durch den Türspalt war zu sehen, daß der Zoodirektor dabei war, meine Mutter zu entkleiden. Die Hände meiner Mutter schoben die des Direktors weg. Beider Hände schoben sich hin und her, so daß es aussah, als ob sie einander irgendwelche wertvollen Sachen höflich überließen. Mit einem Fußtritt stieß ich die Tür auf und es wurde im Zimmer auf einmal hell. Direktor He hustete zweimal, ließ seine Hände zum Rücken pendeln und ging hinaus. Meine Mutter brachte ihre chaotischen Kleider wieder in Ordnung. Ihr Gesicht und Hals waren überall rot, so rot wie die Berge und Flüsse des ganzen Vaterlandes. Ich dachte an meine vor zwei Stunden erlittenen Demütigungen und spuckte in gleicher Weise vor ihr ununterbrochen ein paarmal aus, mehr als Hunderthaus und Seinesgleichen zusammen. Meine Mutter sagte: „Guang-xian, lass es mich erklären...“
„Ich will das nicht hören!“
„Eine schlimme Sache ist das, wirklich! Ich kann mich nie mehr sauber waschen, auch wenn ich in das Wasser vom Kehrtfluss springe. Du weißt, Mama ist nicht von der Art, wie du jetzt denkst. Er war es, der mich zwang, deinen Vater zu entlarven. Das wollte ich nicht. Er begann mich anzufassen und fummelte an mir herum. Du kannst dir vorstellen, wie könnte ich mir eine solche Schmach antun! Aber sie haben Macht und Einfluss. Ich traute mich nicht, ihn zu ohrfeigen. Ein bedrängter Hund beißt zurück. Eine widerliche Sache ist das, wirklich. Mutters erhabener Name ist fürs ganze Leben dadurch beschädigt...“ Während ihrer Erklärung verlor das rote Gesicht seine Farbe nicht.
„Mit unserem Lagerhaus ist was passiert.“
„Dein Kopf ist von Schweiß bedeckt. Ich kann mir schon vorstellen, daß etwas Unangenehmes passiert ist.
Ein gellendes Heulen kam vom Eisenkäfig herüber. Es lief mir wie ein kalter Schauer über Rücken. Meine Mutter hörte erneut mit ihrer Erklärung nicht auf. Auch im Bus fuhr sie damit fort. Der Bus fuhr durch die Ost-Eisenpferd-Straße. Als wir sahen, wie über unseren Dachziegeln Staubwolken Welle für Welle hoch stiegen, erstarrte ihr erklärender weit geöffneter Mund wie bei einem eingefrorenen Fisch. Die Bustür öffnete sich und sie sprang als erste aus dem Bus. Ich lief hinter ihr her zum Lagerhaus und kletterte ein Fenster hoch. Im Haus wirbelte undurchsichtiger Staub auf. Die jungen Rotgardisten schwangen gerade ihre Eisenhämmer, um unsere Ziegelwände zu zerstampfen. Die letzte Mauer stürzte mit lautem Krach zusammen und begrub unseren Hausrat. Es wirbelte nun immer mehr Staub in die Höhe und drehte sich wie eine Pilzhaube über dem Dach zum Himmel. Meine Mutter stürmte in das Haus, stürzte sich auf die Ziegelsteine und wühlte in ihnen. Durch das Graben bluteten ihre Finger, sie konnte nichts Wertvolles meiner Familie mehr finden. Nur ein Foto entdeckte sie, das genau in der Zeit gemacht wurde, als sie in das Haus einzog. Auf dem Foto stand geschrieben: „Fotografiert im Jahr 1950“. Sie kam mit dem Foto Schritt für Schritt aus dem Haus. Ihre Augen waren voll Tränen, ihre Finger mit Blut verschmiert und ihr Gesicht war voller Staub. Ihre normalerweise sauber gehaltene Kleidung war nun nicht mehr sauber. Sogar jetzt noch vergaß sie jene Geschehnisse mit dem Direktor nicht und bekräftigte: „Guang-xian, du musst deiner Mutter glauben. Mama wollte lieber sterben als so etwas Unverschämtes anzustellen!“
13
Ich hatte den festen Glauben, daß meine Mutter wirklich lieber vor Scham sterben würde. Diese Ansicht vertrete ich bis heute noch. Sie war in meinen Augen rein und unbefleckt, so perfekt wie ein sauberes weißes Stück Papier. Sie selbst hasste nicht nur Schurken allein, sie wollte, daß auch wir gleich ihr zusammen Schurken hassten. Nachdem sie uns dazu angeregt hatte, durfte sie uns in Folge nicht enttäuschen, indem sie sich halbwegs anders besann. Deshalb wollte sie keinesfalls, daß man sah, wie sie befummelt wurde. Was für ein Vorbild vor uns hatte sie zehn Jahre lang dargestellt? Es war eine Frau, die nie durch fremde Hände betatscht worden war. Aber jetzt ist es passiert. Es wäre absurd gewesen, wenn sie sich nicht geschämt hätte. Auch ich schämte mich für sie!
Nachdem meine Mutter am folgenden Mittag meine Schwester Blümchen verabschiedet hatte, nahm sie ein Stück Fleisch vom Zoo, um den Tiger mit dem Namen Orchidee zu füttern. Es befand sich am Rücken des Käfigs eine Tür, hinter der Tür war der Bereich von Orchidee. Es gab dort Bäume, künstliche Grottenanlagen, umgeben von hohen Zementmauern. Meine Mutter ließ Orchidee durch die Hintertür herein, schmiss ihm das Fleisch aber nicht hin, stattdessen opferte sie sich selbst für den Tiger. Auf diese Weise wurde ein Teil des Körpers meiner Mutter vom Tiger gefressen. Der unter Gefahr geborgene schwer verletzte Körper wurde dann sofort mit einem vom Betrieb gekauften weißen Tuch eingewickelt. Um das Tuch herum standen geschockt ihre Arbeitskollegen und Direktor He. Das Bild meiner Mutter mit ihrem geröteten Gesicht ging mir durch den Kopf, ein Bild, wie ich es in Erinnerung hatte, wie sie, völlig verstaubt das Foto aus den Steinen ausgrub. Und letztendlich nahm sie ihrem Leben ein Ende, das war meine feste Überzeugung, aus unüberwindbarer Scham. Daß sie gestorben war, wusste mein Vater nicht, er wusste auch nicht, daß Blümchen nirgendwo zu finden war. Jetzt befiel mich Angst, und ich fand jetzt erst heraus, in so einer großen Stadt keinen Verwandten zu haben, auf den ich mich verlassen konnte. Nicht nur in dieser großen Stadt, sondern auch auf dieser großen Erde, auf der ich keinen Vertrauten besaß.
Abends saß ich verlassen vor der Tür des ruinierten Lagers. Kalter Wind wehte um meine Nase und Ohren. Die Gerüche der Ziegel und des Zementes zogen vom Eingang zu mir herüber, sehr stark und sehr schwer. Allmählich verzogen sich diese neuen Gerüche. Stattdessen drängten sich die alten auf. Das war der Uringeruch Onkel Yus, sein Tabakgeruch, der Schweißgeruch meines Vaters und dazu das Parfüm meiner Mutter. Sie glichen Wasser, das in meine Nase eindrang. Ich bekam einen Hustenanfall. Nach Mitternacht ruhte die Straße, und in dieser Stille erinnerte ich mich an meinen Vater. Das gefiel mir nicht. Ich erinnerte mich an sein Fehlverhalten, in der Hoffnung, daß alles nur eingebildet gewesen wäre. Das lag mir auf dem Herzen, wie ein Eisenstück, dessen Gewicht mich schwer belastete. Auf eine schlimmere Weise sogar sagte mir ein verschwommenes Gefühl, irgendwie einen schrecklichen Schicksalsschlag erlitten zu haben und daß das Leben voller Lügen ist.
Am Tag darauf suchte ich Tausendjahr Zhao auf, um mich nach meinem Vater zu erkundigen. Tausendjahr antwortete: „Dein Vater ist im Augenblick sehr gefragt. Sogar ich selber weiß nicht, wo er ist. Diejenigen, die Ausbeuter verurteilen, suchen ihn; diejenigen, die Schurken verurteilen, suchen ihn, und diejenigen wollen die verurteilen, die keine Spur von Reue zeigen. Es sieht so aus, daß jedes Beispiel seines Verhaltens als ein lebendiger Lehrstoff genutzt werden kann. Gehe ihn suchen bei jenen großen Verurteilungsversammlungen, nicht allein bei unserer Fraktion, sondern auch bei den anderen Fraktionen, denen manchmal Verurteilungsobjekte fehlen. Sie könnten deinen Vater von uns ausgeliehen haben.“
Überall auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die Einkäufe zum Jahresfest erledigten. Das Neujahr stand unmittelbar bevor. Aber ich verschränkte nur meine Arme und wanderte von einer Straße zur anderen, von einer Schule zur anderen, von einer Versammlung zur anderen. In der Drei-Bindungen-Straße sah ich, wie junge Rotgardisten einem Alten mit schneeweißen Haaren die Arme verrenkten. Es hatte den Anschein, als ob die Hände vom Rücken auswuchsen. Auf dem Schulsportplatz in der Pro-GewaltStraße erblickte ich einen an Händen und Hals gefesselten Mann im mittleren Alter, dessen Brille zerschlagen wurde. Die Glassplitter stachen ihm in die Augen. Blut quoll aus den Wunden. In der Gasse der Eisen-Pferd-Straße konnte ich feststellen, daß durch die jungen Kämpfer einer Schar schlechter Elemente die Kleidung abgerissen wurde, die mit allen vier Gliedern gegen den Himmel gerichtet, auf eiskalten Steinplatten lagen. Ich bekam so viele Szenen zu sehen, die ich mir so nicht vorstellen konnte. Meinen Vater konnte ich allerdings nirgendwo finden. Es fing bald zu schneien an und ich konnte meinen Vater noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Habe ich ihn vielleicht an irgendeinem Ort verpasst? Oder war er wahrscheinlich schon gestorben? Der Gedanke war mir sehr unangenehm. In der Nacht schlief ich in der Dachstube des Lagers, tags saß ich vor dem Eingang des Hauses. Onkel Zhao lud mich in sein neues Zuhause ein, was ich ablehnte. Auch Onkel Yu wollte mich einladen, dort war ich ebenfalls nicht hingegangen. Ich erklärte ihnen: „Ich warte hier, bis mein Vater zurückkommt.“ Ich hoffte, daß er am Neujahrstag zurückkommen würde. Sollte er dann nicht wieder da sein, konnte er nirgendwo hingegangen sein. Er wäre wohl gestorben.
Tag für Tag, es wurde immer kälter, wartete ich auf Silvester. Es roch überall nach geschmorten Schweineknochen. Es begann zu schneien. Nicht einmal ein halber Tag war vergangen, bis Hausdächer und Straßen mit dickem Schnee bedeckt waren. Selten waren Passanten zu sehen. Fahrzeuge rutschten. Der Schnee drückte die Baumzweige langsam in die Tiefe. Ein halber Mensch kroch wie ein Hund auf der Straße und hinterließ zwei tiefe Spuren. Ich schrie laut: „Pa!“ und lief auf ihn zu. Er tat so, als hätte er nichts gehört und kroch mit gesenktem Kopf weiter. Ich fiel auf die Knie, um ihm aufzuhelfen. Er schob mich weg: „Lass mich! Du Bastard!“ Ich erschrak. Die Hälfte seiner Haare war weg; eine sogenannte „YinYang-Frisur“. Sein Gesicht war mit Blutkrusten bedeckt, an seinem Bart hingen einzelne Schneekristalle. An seinen Händen und beiden Knien formten sich Schneehaufen, wie vier aus Baumwolle angefertigte Stützen. Er kroch in Richtung Lagerhaus. Sein rechtes Bein wurde die ganze Zeit schlaff und bewegungslos hinterher gezogen. Gerade wegen des gebrochenen Beines war er zum Kriechen gezwungen. Ich schaute zurück, die beiden Spuren, lang und tief, schlängelten sich von seinem Unterleib bis zur Straßenbiegung. Sie waren auffälliger als Wagenspuren. Es schien, sein Körper wäre schwerer als ein Lkw.
Ich hockte mich wiederholt hin, um ihm zu helfen. Er schob mich mit noch mehr Kraft weg und brüllte mich an: „Fass mich nicht an, fass mich mein ganzes Leben nicht mehr an! Ich habe immer gedacht, jemand anderer hätte mich gemeldet und ich kann nicht glauben, daß du das getan hast! Du hast Tausendjahr sogar verraten, ich hätte dir Masturbation beigebracht. Bist du eigentlich sein Sohn oder mein Sohn? Hau ab, je weiter, desto besser! Komm nie mehr in meine Sichtweite.“ Mein Vater schimpfte und setzte sein Kriechen fort. Er konnte nicht wissen, noch zwanzig Meter, und er würde sehen, daß sein Zuhause für immer verschwunden war. Es waren drin nur heruntergerissene Ziegelsteine. Schlimmer noch, er wusste nicht, daß Blümchen verschollen und meine Mutter gestorben war. Er stellte sich vor, daß sein Bett, seine Kanne für gekochtes Wasser und sein Zuhause alles noch dort existierten. Ich wollte ihm das alles sagen, schlug mir wie gewöhnlich auf den Mund und schluckte die Worte wieder herunter. Bei dem Anblick, wie er Schritt für Schritt zum Lager kroch, konnte ich mich nicht beherrschen, in Schreie auszubrechen. Ich schrie und stieß meinen Kopf gegen den Schneeboden, schnell und kräftig, ich wollte in dem Augenblick lieber sterben, wenn ich nur könnte!
14
Entschuldigung, ich benehme mich ungehörig. Wenn ich dies alles erzähle, kann ich mich nicht beherrschen. Warum weinst du auch. Hier sind Taschentücher zum Abwischen. Du weinst, das heißt, du hast Sympathie für mich. Im Moment sind diejenigen, die wie du Sympathie haben, immer seltener anzutreffen. Ich mache kein Hehl daraus, daß sogar Hunderthaus und Helllicht mir nicht zuhören wollen. Sie laufen mir wie Schuldner aus dem Weg, in der Befürchtung, daß ich ihr Geschäft störe. Turbulenz Zhang hat noch mehr übertrieben. Sie hat sich beim Fernmeldeamt gemeldet, um Aufzeichnungen eingegangener Telefonie machen zu können und einen teuren Apparat mit Mehrfunktionen besorgt. Viele Funktionen sagen ihr nichts, sie kennt davon nur eine Funktion, nämlich zu den Nummern Musik einzuspeichern, um zu hören, wer gerade anruft. Wenn mein Anruf kommt, erklingt im Apparat die Musik „Jasmin“. Wenn diese Volksmusik erklingt, nimmt sie nicht ab. Manchmal hatte sie genug davon, dann wechselte sie zu Musik „Rotsee-Wellen“ oder „Gedenken an Kameraden“. Kurzum, sie hat in den letzten Jahren nicht wenig Volksmusik gehört. Die Zunahme ihres musikalischen Niveaus glich einem Hausbau, Stock um Stock in die Höhe. Ich habe auch direkt bei ihr zu Hause geklingelt, angeblich um das Kind zu besuchen. Das Kind sperrte hinter dem Türspalt und sagte mir kalt: „Mama läßt dir sagen, sie ist nicht zu Hause.“ Das war wie ein dicker Korb.
Oh, ich bin wieder vom Thema abgeschweift. Ich erzähle dir lieber über Weiherchen.