Читать книгу Teile das Glück, dann kommt es doppelt zurück - Doreen Brigadon - Страница 3
ОглавлениеDie Hausdame
Anna Berger verabschiedete sich von ihren Kindern.
„Es tut mir leid. Aber ihr müsst hier im Internat bleiben. Ich habe den Job nur bekommen, weil ich unabhängig bin. Aber ich werde euch jeden Sonntag besuchen.“
„Aber wieso musst du arbeiten, Mama?“, fragte der Junge, der mit seinen braunen, kurzen Haaren, seinem Vater sehr ähnlich sah, „Wir haben doch genug Geld von Papa, oder nicht?“
„Doch, aber ich will mein Geld selbst verdienen. Und das Geld soll für euch bleiben. Ein großer Teil ist gut angelegt und ihr bekommt es mit 25 Jahren ausbezahlt. Einen Notgroschen haben wir auch. Und damit gehe ich auch den Mitgiftjägern aus dem Weg. Denn ihr habt es selbst mitbekommen, was nach Papas Tod los war.“
Sie nickten.
„Wie die Männer mich umschwärmt haben. Und euch so zuckersüß umschmeichelt haben. Und dann habt ihr per Zufall mitbekommen, wie sie hinter meinem Rücken gesprochen haben. Ich bin froh, dass ihr es mir erzählt habt. Denn dadurch wusste ich, wie sie zu mir standen. Deswegen sind wir auch heimlich verschwunden. Und keiner weiß, wo wir sind. Außer meinem Anwalt, der alles verwaltet. So, und jetzt muss ich euch verlassen. Seid brav. Ihr habt ja meine Nummer für den Notfall, und ich rufe euch am Abend immer an, wenn ich kann. Sofern es meine Zeit erlaubt. Ich hab euch lieb. Und sobald es möglich ist, werde ich euch zu mir holen. Aber es kann noch eine Weile dauern. Ich kann es ihm ja nicht gleich auf die Nase binden, denn dann verliere ich den Job. Und wir wollen doch einen Neuanfang.“
Sie drückte jeden noch einmal fest. Anna Berger, eine gut gebaute Frau von Mitte 30, die Haare streng zurückgekämmt und zu einem Knoten gesteckt. Die Haare aufgehellt, wollte sie schon damit die ersten grauen Härchen verstecken? Sie stand auf und sah ihre Kinder fröhlich an. Ihr war aber gar nicht danach. Sie hatte es ihnen schon so oft erklärt. Nur, wie sollten das Kinder im Alter von zehn und acht Jahren verstehen?
Die Betreuerin nahm die Kinder an sich und Anna ging zu ihrem Auto. Ein kleiner, blauer Polo. Mit dem fuhr sie zu dem Gut von Hubert von Wallersberg. Es war nur eine halbe Stunde entfernt, aber es schien ihr so weit weg. Weit weg von ihren Kindern. Melchior war schon zehn und versuchte, zu verstehen, war aber trotzdem noch zu klein dafür. Anna-Maria war acht. Sie verstand noch gar nichts.
Annas Mann war vor anderthalb Jahren auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er war nicht reich gewesen. Sie hatten jedoch eine gute Lebensversicherung gehabt und hätten von dem Geld gut leben können, wenn sie sparsam damit umgegangen wären. Es gab ja auch noch die Rente. Den Rest verwaltete ihr Anwalt. Ihm konnte sie vertrauen. Er war ein sehr guter Freund ihres Mannes.
Sie war eine gute Partie. Die Männer, die sie umschwärmten, wollten nicht sie, sondern ihr Geld. Sie hatte das Geld mit in die Ehe gebracht. Aber er hatte sie nicht wegen des Geldes geheiratet, sondern weil er sie aufrichtig geliebt hatte.
Die anderen Männer hätten die Kinder gern in ein Internat gesteckt und mit ihr oder auch ohne sie das Geld durchgebracht. Aber nicht mit ihr. Sie fiel nicht auf deren Geschwätz herein. Sie liebte ihren Mann und so würde es auch immer bleiben. Egal, was für ein Mann auch daher kommen mochte.
Ihr Herz war schwer, dass sie die Kinder in ein Internat schicken musste. Aber allein zu Hause lassen unter der Obhut von …? Sie hatte niemanden. Und so waren sie wenigstens in ihrer Nähe. Dort waren sie auch geschützt vor den Mitgiftjägern, die sie vielleicht umgarnen könnten und dadurch möglicherweise auch die Kinder.
Sie hielt den Wagen an und sah sich das ganze Anwesen erstmal an. Das würde ihr neues Heim werden. Und sie hoffte es, auch bald für ihre Kinder. Dass sie es dem Hausherrn bald sagen und erklären konnte. Zwei Monate hatte sie Probezeit.
Es sah in der Morgensonne herrlich aus. Mit der Allee, die hinter dem Tor begann und sich zu einem gekiesten Platz vor dem Haus schlängelte. Vor der Eingangstür befanden sich große Tröge, in denen die Blumen noch in voller Blüte standen. Auf der Hälfte des Weges, wo die Einfahrt eine Kurve machte, befand sich ein Brunnen mit einem gelben Rosenstrauch davor, der noch seine letzten Blüten zeigte.
Da Anna ja noch nicht offiziell eingestellt war und auch nicht wusste, wo der Dienstboteneingang war, läutete sie am Vordereingang. Es dauerte einen Moment, bis ein Mann, anscheinend der Butler, die Tür öffnete.
„Guten Tag. Ich bin Anna Berger und soll mich heute bei Herrn von Wallersberg melden.“
„Guten Tag. Kommen Sie herein und warten Sie hier. Ich werde Sie bei dem Grafen anmelden.“
Sie wartete in der großen Halle, während er in ein Zimmer links von ihr ging. Nach einer Weile kam er zurück.
„Der Herr Graf erwartet Sie.“
Er hielt ihr die Tür auf.
Sie hatte heute extra ein dunkelblaues Kostüm mit einer leicht rosa Bluse angezogen. Die Haare hatte sie fest hochgesteckt. Sie wollte wie eine Hausdame aussehen und nicht wie eine Dame von der Welt. Einige Kleidungsstücke hatte sie ausmustern müssen. Nicht alles passte für eine Hausdame. Vorläufig hatte sie je zwei Koffer für sie und die Kinder mitgenommen. Das andere musste sie sich nebenbei aus dem Lager holen, wo sie den Rest der Kleidung und die wichtigen Sachen eingelagert hatte. Ihr Mann hatte von seinen Eltern ein Haus geerbt. Das hatte sie vermietet. Was sollte sie damit? Sie hatte selbst ein Haus. Ein viel größeres, in dem sie gewohnt hatten.
Ihr zukünftiger Chef saß hinter dem großen Eichentisch und las gerade in einer Mappe. Er sah zu ihr auf und sagte: „Guten Morgen, Frau Berger. Sie sind ja früher da als erwartet.“
Sie sah ihn das erste Mal persönlich. Bisher hatten sie nur per Telefon Kontakt gehabt. Seine Stimme war ihr schon am Telefon sympathisch gewesen. Doch als sie ihn jetzt das erste Mal sah, fing ihr Herz an, deutlich schneller zu schlagen. War es wegen der neuen Situation? Er sah netter und sympathischer aus, als er ihr beschrieben worden war. Er hatte braune, kurze Haare, die er in einem Seitenscheitel trug. Er war etwas besser gebaut als ihr verstorbener Mann. Sie wollte beim ersten persönlichen Gespräch nicht nervös werden und holte einen tiefen Atemzug.
Dem Grafen ging es auch nicht besser. Als er sie hier in natura erblickte, musste er an seine verstorbene Frau denken. Es gab ihm einen kleinen Stich in der Herzgegend. Sie hatte auch meistens ein Kostüm angehabt und die Haare hochgesteckt. Sie waren sehr glücklich gewesen, bis bei der Geburt seiner zweiten Tochter etwas Unvorhergesehenes passiert und sie an einem Blutsturz gestorben war.
Am Anfang hatten ihm noch seine Mutter und eine Cousine geholfen, doch seine Mutter war vor einem Jahr gestorben und seine Cousine stand kurz vor ihrer Hochzeit. Ihren Mann hatte sie auf seinem Gestüt kennengelernt. Er hatte ein Pferd kaufen wollen und nahm seine Cousine auch gleich mit. Seit einem Jahr war der Graf auf der Suche nach einer Frau, die sich um Haushalt und Kinder kümmern konnte. Derzeit wurde es zwischen Köchin, Butler, Chauffeur, den Dienstmädchen und ihm aufgeteilt.
Aber so konnte es nicht weitergehen. Sie waren alle um die Kinder bemüht, aber es gab keine richtige Bezugsperson. Er hatte zwar eine Freundin - zumindest glaubten sie und die anderen das -, doch wenn es um die Kinder ging, wollte sie sie am liebsten weit weg in ein Internat schicken. Sie schwärmte ihm immer vor, wie schön das Leben ohne die Kinder sein könnte und was sie alles unternehmen könnten. Und wenn er noch etwas abnehmen würde, sehe er noch besser aus.
Das wollte er nicht. Sich für etwas abrackern, was er gar nicht wollte. Nur Salat, Gemüse und gedünstetes Fleisch. Was wäre das dann für ein Leben? Doch er konnte sich das alles nicht leisten und auch nicht vorstellen. Das Gestüt ging zwar gut, aber er scheffelte keine Millionen, so wie sie glaubte und es ausgeben wollte. Es hielt sich alles gerade so in Grenzen. Dazwischenkommen durfte nichts. Außerdem waren die Kinder sein Ein und Alles, seitdem seine Frau gestorben war.
Zuerst hatte er es begreifen und verarbeiten müssen. Seine Mutter hatte immer wieder auf ihn eingeredet, denn er stand kurz davor, sich selbst das Leben zu nehmen. Er wollte ohne seine Frau nicht leben. Doch seine Mutter und die Kinder hatten es geschafft, ihn wieder zurück ins Leben zu holen. Und seitdem waren die Kinder sein Ein und Alles. Wer etwas gegen seine Kinder sagte oder tat, hatte keinen Stein im Brett bei ihm.
Außer Jill. Sie wollte unbedingt Gräfin werden und wie, das war ihr egal. Doch ihm nicht. Sie versuchte es immer wieder, ihn zu umgarnen. Einmal hätte sie es fast geschafft, doch da war die dreijährige Viktoria ins Büro gekommen und hatte gesagt, sie könne nicht schlafen, weil sie einen Albtraum gehabt habe. Jill war sofort in die Luft gegangen, begann zu schimpfen. Viktoria hatte zu weinen angefangen. Hubert hatte Jill böse angesehen, hatte Viktoria auf den Arm genommen und war mit ihr in ihr Zimmer gegangen.
„Du findest sicher selber raus!“, hatte er zu Jill gesagt.
Sie hatte einige Zeit geschmollt, doch sie hielt es nie lange aus. Wieso er sie immer wieder an sich heran ließ, konnte er selbst nicht sagen. Es gab so wenige Frauen, die einen Witwer mit zwei kleinen Kindern nehmen wollten. Und sie war die Einzige, die ihn umwarb, was ihm schmeichelte. Nur nicht, wenn es um seine Kinder ging. Sie hatte etwas von der Leichtigkeit seiner verstorbenen Frau. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, auch das wirkliche Leben anzunehmen. Ihre Eltern waren reich und ließen ihr viel durchgehen. Dadurch glaubte sie auch, sie könnte sich alles herausnehmen. Ihre Eltern hatten eine gut gehende Firma. Jill fehlte es an nichts, außer dass sie keinen Titel hatte. Aber den hatte er! Sie wollte unbedingt Gräfin werden. Darum kam sie immer wieder zu ihm zurück. Doch er sprang nicht auf sie an. Sie war ein Zeitvertreib für ihn.
Er schob die Gedanken beiseite und musterte Anna.
„Laut Ihrer Bewerbung haben Sie noch nicht sehr oft als Hausdame gearbeitet.“
„Nein, nur als Kindermädchen bei den von Eibesbergs.“
Sie hatte sich ein Zeugnis von der Baronin von Eibesberg besorgt. Wenn er die Wahrheit wüsste, hätte sie nie die Chance bekommen, hier zu arbeiten. Hier kannte sie keiner, also sollte es funktionieren.
„Na gut, versuchen wir es. Sie waren die Beste unter den Bewerbern.“
Er hielt ihr seine Hand hin und sie nahm sie. Ein Blitz durchfuhr sie. Der Graf zuckte sogar auch leicht. Was war das gewesen?
Dass sie die einzige Bewerberin gewesen war, sagte er ihr nicht. Am Anfang hatten sie ihm förmlich die Tür eingetreten. Ein junger Witwer und vermögend noch dazu. Doch er wollte keine neue Frau. Das hatten sie bald alle gemerkt. Und eine nach der anderen war gegangen. Oder er hatte sie entlassen müssen, denn einige hatten, nachdem die Kinder im Bett waren, in seinem Bett auf ihn gewartet. Sie hatten gedacht, so würden sie ihn schnell rumkriegen. Doch weit gefehlt. Es sprach sich herum, dass er schnell jähzornig wurde und nicht besonders nett wäre. Ja, das stimmte, aber die Hintergründe dazu kannte keiner. So waren nur noch selten Bewerbungen gekommen. Viele waren ihm zu alt oder konnten nicht gut Deutsch.
Diese Anna war die einzige Passable in der letzten Zeit. Er hoffte, dass sie nicht so wie die anderen war. Und sich mit seinen Kindern gut verstehen würde. Elisabeth war acht und Viktoria sechs. Sie brauchten eine weibliche, mütterliche Bezugsperson. Er hoffte, dass sie es war. Sie gefiel ihm auf Anhieb. In natura sah sie noch besser aus als auf dem Foto.
Er räusperte sich.
„Friedrich, der Butler, wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Sobald Sie sich eingerichtet haben, stelle ich Ihnen meine Kinder und den Rest des Personals vor.“
Er drückte auf einen Knopf, und bald darauf betrat der Butler das Zimmer.
„Friedrich, bringe bitte Frau Berger auf Ihr Zimmer. In einer Stunde sollen dann alle in der Halle sein und ich stelle euch die neue Hausdame vor.“
Es war für die Leute schon Routine. Sie wetteten schon, wie lange diese hier bleiben würde. Das längste war ein halbes Jahr gewesen. Sie war zwar älter gewesen, dafür hatte sie es nicht auf ihn, sondern auf die Wertgegenstände abgesehen. Sie war hochkantig rausgeflogen. Die anderen hatten es keine drei Monate geschafft. Der Graf ging auf Anna zu und hielt ihr nochmals die Hand hin.
„Auf eine gute Zusammenarbeit.“
Das hatte er bisher noch nie gemacht. Der Butler staunte. Anna ergriff seine Hand und drückte sie. Durch sie ging wieder ein Schauer. Er starrte sie jedoch nur wie durch eine Wand an. Dann ließen sie einander los, und es blieb ein Kribbeln in ihrer Hand.
„Auf gute Zusammenarbeit“, sagte auch sie, drehte sich um und folgte dem Butler. Sie dachte, er würde sie zu den Dienstbotenzimmern bringen, doch er ging mit ihr über die große Treppe hoch zu den Zimmern.
„Entschuldigung. Ich will ja nichts sagen, aber sind wir hier nicht falsch?“
„Nein, der Herr Graf hat das so angeordnet. Sie schlafen zwischen den Zimmern der Mädchen, damit Sie in ihrer Nähe sind, falls etwas sein sollte. Und …“
Er überlegte, ob er weiter sprechen sollte. Doch sie sah so natürlich und sympathisch aus.
„… Sie sind die Erste, der er das erlaubt.“
Damit drehte er sich um und ging weiter. Anscheinend kam es einer Sensation gleich, wenn es sogar für den Butler neu war. Sie brauchten nicht weit zu gehen und er öffnete eine Tür.
„Das hier ist Ihr Zimmer und links und rechts sind die Zimmer der Mädchen. Früher war es das Zimmer der gnädigen Frau. Also halten Sie es in Ehren. Und drei Zimmer weiter ist des Grafens Zimmer, das ist für Sie tabu“, erklärte er und ließ sie allein.
Als ob sie es auf den Grafen abgesehen hätte! Sie sah sich in dem Zimmer um. Es war dezent in Pastellfarben Rosa, Gelb und Hellblau gehalten. Sie hatte jetzt eine Stunde Zeit für sich, so holte sie ihre Koffer aus dem Auto um sich einzurichten, von dem sie nicht wusste, wo sie es parken konnte und durfte. Sie ließ die Eingangstür offen, doch ein Windzug schlug sie ihr vor der Nase zu. Da sie noch keinen Schlüssel hatte, musste sie läuten. Der Butler war diesmal schnell zur Stelle. Er musste das Zuschlagen der Tür gehört haben.
„Sollten Sie noch mehr Gepäck reintragen wollen, hier gibt es einen Keil.“
Er nahm ihn und schob ihn unter die Tür.
„Danke vielmals. Aber ich habe derzeit nur diese beiden Koffer. Aber wo darf ich das Auto hinstellen? Ich glaube nicht, dass ich es hier stehen lassen kann?“
„Nein, aber geben Sie mir die Autoschlüssel, und der Chauffeur wird es hinten zu den anderen Autos stellen.“
Sie drückte ihm den Schlüssel in die Hand und wollte ihre Koffer wieder nehmen, als sie sah, dass er mit gerunzelter Stirn, hinter sie blickte.
„Die hat uns gerade noch gefehlt“, murmelte er vor sich hin.
Sie drehte sich auch kurz um und sah einen gelben Wagen die Auffahrt herauf kommen. Da sie neu war, traute sie sich nicht, zu fragen, wer das war. Sie würde es sicher noch früh genug erfahren. Damit nahm sie ihre Koffer auf und ging zur Treppe. Doch auf einmal war der Butler neben ihr und nahm ihr einen der schweren Koffer ab.
„Sie müssen sich ja nicht gleich zu Tode schleppen.“
Er wusste selbst nicht, wieso er das tat. Aber sie hatte etwas Besonderes an sich. Und Frau Hennesy konnte warten. Es war eine kleine Genugtuung für ihn, das gnädige Fräulein wegen einer Angestellten warten zu lassen. Er trug ihr den Koffer so locker ins Zimmer, als hätte er kein Gewicht.
Friedrich war groß, schlank und um die 50. Die dunklen Haare trug er glatt gekämmt. Anna hatte erst die Hälfte der Treppe zurückgelegt, als es schon an der Tür läutete. Der Butler kam zurück, aber ohne Eile. Sie konnte noch einen Blick von oben zur Tür werfen, die Friedrich gerade öffnete. Es hatte noch einmal geläutet. Eine gereizte Frau trat ein.
„Wo bleiben Sie denn so lange, Friedrich? Wenn Sie es nicht mehr schaffen, rechtzeitig an der Tür zu sein, dann sollte sich Hubert einen neuen Butler anschaffen. Und wer stellt sich so frech vor die Eingangstür, dass ich nicht mal richtig parken kann?“
Sie hatte doch trotzdem noch genug Platz gehabt.
„Das ist das Auto unserer neuen Hausdame. Sie ist gerade angekommen und hat ausgeladen.“
Dennoch stellte es eine Genugtuung dar, dass sie sich nicht so hatte hinstellen können, wie sie wollte. Sie murmelte etwas, bevor sie von oben herab fragte: „Ist Hubert in seinem Büro?“
„Ja, ich werde Sie gleich anmelden.“
„Brauchen Sie nicht, sonst ist es Mittag, bis ich bei ihm bin. Sie können gehen!“
Sie tat schon so, als wäre sie hier die Herrin, aber das würde sie sicher nie werden. Er war nur viel zu nett, es ihr deutlich zu sagen. Sie brachte zwar etwas Schwung in dieses Haus, dem eine Frau und Herrin fehlt, aber nicht sie.
Jill Hennesy steuerte direkt auf das Büro zu. Sie klopfte nicht mal an, sondern trat sofort in sein Reich ein.
„Hallo, mein Lieber!“
Mehr hörte man nicht mehr, da sie die Tür hinter sich schloss.
***
Anna trug ihren Koffer in ihr Zimmer und fing an, ihre Sachen auszupacken. Als sie das meiste schon verstaut hatte, fiel ihr ein, dass sie ja noch eine große Tasche im Auto hatte.
Hinter ihr hörte sie etwas rascheln. Sie drehte sich um und sah zwei Blondschöpfe, die neugierig durch den Türspalt lugten. Waren das die Mädchen des Grafen? Sie wusste zwar, dass sie die Kinder mitbetreuen musste, aber dass sie gleich neben ihnen schlafen würde? Er hatte sie als Hausdame aufgenommen und nicht als Kindermädchen.
„Na, wer seid ihr denn?“, fragte sie.
„Wir sind die Kinder vom Grafen von Wallersberg. Weißt du das nicht? Bist du nicht unser neues Kindermädchen?“, fragte die größere der beiden.
Sie kamen langsam auf sie zu.
„Hallo! Ich bin Anna, und euer Papa hat mich als Hausdame eingestellt. Und auf euch soll ich auch etwas aufpassen“, erklärte sie ihnen.
„Was macht eine Hausdame? Passt die auf das Haus auf? Aber das macht doch Friedrich“, sagte die kleinere.
„Nein, eine Hausdame achtet darauf, dass alles seine Ordnung hat. Dass jeder seine Arbeit ordentlich macht. Bestellt oder kauft die Lebensmittel, macht den Speiseplan für die ganze Woche, teilt die Zimmermädchen ein, was sie machen sollen. Und noch vieles mehr.“
„Aber das macht doch alles Elfi, unsere Köchin. Aber die jammert sowieso immer, dass alles zu viel ist für sie. Vielleicht freut sie sich, wenn sie Hilfe bekommt“, meinte die größere.
„Ja, das werden wir dann sehen. Und wie heißt ihr beiden Süßen?“, fragte sie.
Sie ging in die Hocke, damit die Mädchen nicht zu ihr hochsehen mussten.
„Ich bin Elisabeth und das ist meine kleine Schwester Viktoria.“
Jetzt musterte Anna sie erst richtig. Beide hatten die gleichen rosa Kleidchen an, doch diese waren vom Spielen schmutzig geworden.
„Was habt ihr denn angestellt?“, fragte sie und deutete auf ihre Kleider.
„Wir haben draußen noch gespielt, doch der Ball ist in eine Pfütze geflogen und hat uns vollgespritzt. Viktoria ist schuld, weil sie ihn mir nicht richtig zugeworfen hat“, verteidigte sich die Große.
Viktoria konterte sofort: „Du kannst nicht richtig fangen, sonst hättest du den Ball erwischt.“
„Aus! Das ist jetzt egal. Ich glaube, wir sollten uns umziehen.“
Sie hatte sofort in der Mehrzahl gesprochen. So wie sie es immer bei ihren Kindern tat.
„Aber du bist ja nicht schmutzig und musst dich nicht umziehen“, belehrte die Kleine sie.
„Doch. Ich habe eine lange Fahrt hinter mir. Ich ziehe mir auch eine neue Bluse an.“
Es wäre zwar nicht nötig gewesen, aber so kam kein Streit in Gange. Sie holte sich rasch die hellblaue Bluse, zog Jacke und die andere Bluse aus.
„So, und jetzt zieht ihr euch um.“
Elisabeth lief in das rechte Zimmer, aus dem sie gekommen waren, und Viktoria zog Anna ins linke Zimmer. Sie fanden ein schönes, blaues Kleid mit weißen Blumen darauf. Dann gingen sie zu Elisabeth, die ein zartblaues, mit weißen Pünktchen gemustertes Kleid gewählt hatte.
Nachdem Anna sie alle betrachtet hatte, sagte sie: „Wir passen wunderbar zusammen. Wie eine Familie. Alle in Blau. Jetzt braucht euer Papa nur noch ein blaues Hemd.“
Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er sogar ein hellblaues Hemd an. Es klopfte und Friedrich kam herein. Zuerst starrte er sie an, dann sagte er: „Alle warten schon auf Sie und die Kinder.“
Als er sich umdrehte, konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die Kinder hatten sie schon voll akzeptiert. Das war in letzter Zeit nie vorgekommen. Und alle hatten sogar die gleiche Farbe an. Mit einem Lächeln ging er die Treppe wieder hinunter.
***
Nachdem Friedrich und die Hausdame gegangen waren, drehte der Graf sich zum Fenster und sah zu seinen Mädchen hinaus. Die spielten im Garten mit einem Ball. Elisabeth sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Viktoria kam mehr nach seiner Mutter.
Er dachte daran, wie er Theresa kennengelernt hatte. Seine Mutter hatte ihm eröffnet, dass die Tochter ihrer besten Freundin käme und hier im Haus ein Praktikum absolvieren würde. Sie würde alles machen müssen - Zimmermädchen, in der Küche und sogar auf dem Gestüt mithelfen. Er konnte sich noch gut an das schlaksige, ungelenke Mädchen mit der Zahnspange erinnern. Ihm hatte es davor gegraut.
Das erste Mal hatte er sie auch von hier aus gesehen. Ein Lachen hatte ihn ans Fenster gelockt. Dann sah er sie. Sie lief im Garten herum und spielte mit den Seifenblasen. Er verliebte sich sofort in sie und diesen Anblick.
Seine Mutter trank nachmittags gern und oft Kaffee oder Tee draußen. Er gesellte sich dann öfter zu ihnen. Seine Mutter wusste sofort, was los war, obwohl er sich am Anfang gewehrt hatte, etwas mit Theresa zu unternehmen. Er zeigte ihr an den Wochenenden die Umgebung. Sie gingen dann auch am Abend öfter aus. Keine freute es mehr als seine Mutter. Und es freute sie dann noch mehr, als sie ihnen eröffneten, dass sie heiraten würden. Das Glück schien perfekt zu sein. Er war damals 24, sie 22.
***
Ein Knall riss ihn aus seinen Gedanken. War Jill schon wieder da? Sie konnte die Tür nie leise schließen. Das überließ sie anderen. Sie war ja reich und die geborene Herrin. Er hatte ihr aber gesagt, dass sie heute nicht zu kommen brauchte, da die neue Hausdame ankommen sollte. Aber so etwas ignorierte sie ständig. Er wusste nicht, wie er sie höflich hinauskomplimentieren sollte, ohne dass sie beleidigt war. Außerdem hatte er einen Kredit bei ihrem Vater laufen. Und er konnte es sich nicht leisten, den sofort zurückzahlen zu müssen. Somit war er in der Zwickmühle. Auf einmal wurde die Tür aufgerissen und Jill kam wie immer wie ein Wirbelwind herein.
„Hallo, mein Lieber! Kannst du deinem Personal endlich mal anständige Manieren beibringen?“, polterte sie.
Sie sprach von Manieren? Sie hatte selbst keine. Kam ohne Anmeldung und anzuklopfen einfach herein und grüßte nicht mal. Und wollte, dass andere sie akzeptierten und Manieren hatten.
Sie sah immer wie aus dem Ei gepellt aus. Immer nach der neuesten Mode gekleidet. Schlank und kein Gramm Fett zu viel. Sie mied alles, was dick machen könnte. Fettes Essen, Süßes, Brot nur spärlich usw.
„Zuerst mal: Guten Tag! Und habe ich dir nicht gesagt, dass du heute nicht kommen brauchst, da wir einen Neuzugang haben?“, erklärte er ihr in einem ruhigen, höflichen Ton.
Eigentlich wollte er auch so lospoltern wie sie. Doch dann hätte er seine Manieren vergessen und wäre nicht anders gewesen als sie.
„Ach, Tigerchen. Sei nicht so grob zu mir. Hast du nicht gesagt, dass sie erst gegen Abend kommt? Und was stört sie mich? Das alte Mütterchen wird mir schon nicht den Rang ablaufen. Und wieso brauchst du eine Hausdame, wenn du mich haben könntest?“, schmeichelte sie ihm und strich ihm über die Brust.
„Weil du ständig unterwegs wärst und ich dann trotzdem eine brauchen würde.“
Jetzt hatte er sie mit den eigenen Waffen geschlagen. Sie war sogar kurz stumm. Nur hielt das nie lange an.
„Papperlapapp! Das könnte man auch alles telefonisch regeln und wir könnten es uns am Meer oder Strand gemütlich machen.“
„Jill, ich habe dir schon oft gesagt, dass ich mir das nicht leisten kann und ich auch längere Zeit von hier nicht weg kann.“
„Aber das würde ja aus unserer gemeinsamen Kasse bezahlt werden. Denn du weißt, mein Vater würde gerne alles bezahlen.“
„Ja, ganz genau. Von deinem Vater. Ich will nicht auf Kosten deines Vaters oder deines Geldes leben.“
„Aber das wäre doch egal, wenn wir verheiratet wären.“
Das behagte ihm ganz und gar nicht. Das ging wieder in die Richtung, in die er nicht wollte. Er wollte sie nicht heiraten. Auch keine andere. Er liebte immer noch seine verstorbene Frau. Und es würde auch keine andere ihren Platz einnehmen. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor 10 Uhr. Die Dienstboten sollten sich um 10 Uhr in der Halle einfinden.
„Jill, würdest du bitte gehen? Ich habe um 10 Uhr einen Termin mit den Dienstboten und der neuen Hausdame.“
„Wieso soll ich gehen? Die stören mich ja nicht. Ich werde einfach hier warten, bis du zurückkommst, und dann können wir zu meinem Vater fahren und dort zu Mittag essen.“
„Jill! Ich bleibe am Sonntag zu Hause bei meinen Kindern. Das ist der einzige Tag, an dem wir wirklich alle miteinander in Ruhe essen können. Unter der Woche habe ich oft keine Zeit. Und anschließend planen wir die folgende Woche.“
„Du bist ein Spielverderber! Ich bleibe sicher nicht hier bei dir zum Essen. Die Köchin kann ja nur etwas Gewöhnliches kochen.“
„Es ist dir überlassen, was du machst. Ich gehe jetzt in die Halle“, erklärte er, stand auf und ging.
Er drehte sich nicht noch einmal um, um zu schauen, was sie machte. Er kannte sie. Sie würde sicher schmollen und glaubte, wenn sie ein sehr trauriges Gesicht machte, würde er alles tun, was sie wollte. Vielleicht klappte das bei anderen und bei ihrem Vater, aber bei ihm nicht!
Friedrich kam gerade die Treppe runter.
„Wo sind die Kinder?“, fragte er.
„Die kommen gleich.“
Das Personal wartete schon aufgereiht in der Halle. Friedrich gesellte sich dazu. Er zeigte der Köchin den Daumen hoch. Sie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Aber sie würde es bald sehen.
Der Graf wurde auch schon nervös. Jeder sah die Treppe hinauf und wartete darauf, dass die Kinder stürmisch herunter rennen würden, das Kindermädchen bzw. die Hausdame hinterher, um sie aufzuhalten. Doch um die Ecke bog die neue Hausdame und hielt an jeder Hand ein Mädchen.
Der Graf starrte sie an und war sprachlos. Das Personal tuschelte leise. Unten angekommen zogen die Mädchen Anna gleich zum Personal. Sie warteten gar nicht erst, bis ihr Vater eine Ansprache hielt. Der war immer noch sprachlos. Seine Kinder so gesittet, hübsch und sauber angezogen zu sehen. Es war ein sehr schönes Bild.
„Anna, wir stellen dir gleich alle vor“, meinte Elisabeth. „Das ist Friedrich, unser Butler. Er scheucht alle herum.“
Er hüstelte bei dieser Aussage. Anna gab ihm die Hand und begrüßte ihn nun auch offiziell.
„Guten Tag, Friedrich. Wir haben ja schon Bekanntschaft gemacht.“
„Ja, und hier ist Ihr Autoschlüssel.“
„Danke fürs Wegbringen.“
„Das hat der Chauffeur erledigt. Bei ihm müssen Sie sich bedanken.“
Elisabeth zog sie auch schon weiter.
„Das ist unsere Köchin Elfriede oder, wie wir sie nennen, Elfi.“
Auch ihr gab sie die Hand und begrüßte sie freundlich. Die Köchin war überrascht über so viel Freundlichkeit. Man merkte, diese Frau hatte Manieren. Sie gab einem jeden die Hand. Egal, wer er war.
Die meisten neuen Kindermädchen sprachen nur ein paar Worte, oder sie stellten sich gar erst nicht richtig vor und glaubten sich schon am Ziel als Herrin des Hauses.
„Das ist Franz, unser Fahrer. Er bringt uns in die Schule und fährt auch unseren Vater.“
„Hallo! Und danke fürs Wegbringen meines Autos. Ich hoffe, Sie hatten keine Probleme beim Starten. Manchmal hat er einige Mucken.“
„Danke der Nachfrage. Ich bin gut damit klargekommen. Ich werde ihn mir mal ansehen, wenn ich Zeit habe. Wann benötigen Sie ihn wieder?“
„Spätestens am Sonntag.“
„Bis dann geht er wie eine Eins.“
Franz fand sie sehr sympathisch. Und bereute es nicht, das Auto umgeparkt zu haben.
Der Graf wunderte sich über sein Personal. So freundlich waren sie noch nie zu jemandem gewesen. Aber Anna war auch freundlich und nett zu allen. Seine Kinder waren wie ausgewechselt. Sie war erst eine Stunde da und hatte schon alle um den Finger gewickelt. Oder was war hier los?
„Das sind Andrea und Fritzi, unsere Zimmermädchen. Sie helfen auch in der Küche, wenn Not am Mann ist.“
Vor lauter Nervosität machten die beiden sogar einen Knicks.
„Meinetwegen braucht ihr keinen Hofknicks zu machen.“
Sie wurden rot vor lauter Verlegenheit.
„Ich bedanke mich für den Empfang und hoffe, dass wir gut miteinander auskommen werden. Mein Name ist Anna Berger, um mich auch richtig vorzustellen. Und bitte nennen Sie mich Anna.“
Sie alle klatschten Beifall. Jetzt wurde auch der Graf wach.
„Ja, ich möchte mich bei euch auch für den herzlichen Empfang bedanken. Und hoffe auf gute Zusammenarbeit. Ich denke, meine Töchter haben das Wichtigste erklärt. Jetzt kann jeder wieder an seine Arbeit gehen. Und wir sehen uns dann zum Mittagessen um Punkt 12. Frau Berger, ich hoffe, Sie geben uns heute die Ehre und essen mit uns. Wie ich sehe, haben meine Kinder Sie schon ins Herz geschlossen und wären mir sicher böse, wenn Sie in der Küche mit den anderen essen sollen.“
Was redete er denn da? Hatte sie ihm auch schon den Kopf verdreht? Er hatte ja nur ein paar Worte mit ihr gewechselt. Aber sie hatte etwas an sich, dass man nicht anders konnte.
Die Kinder zogen sie sofort wieder mit ihnen mit. Das Personal zog sich ebenfalls zurück. Er ging wieder in sein Büro. Dort wartete Jill an der Tür. An sie hatte er gar nicht mehr gedacht.
„Was für eine rührende Szene. Können wir jetzt fahren? Wenn deine Kinder jetzt eine Nanny haben, können wir doch zu mir fahren. Sie brauchen dich jetzt nicht mehr.“
„Jill! Ich habe es dir schon vorhin gesagt. Ich bleibe bei meinen Kindern! Denn die Kinder darf ich zu dir ja nicht mitnehmen. Wenn du fahren willst, dann fahre!“, gab er schroff zurück und ging demonstrativ zu seinem Schreibtisch.
Er sah nicht zu ihr und suchte sich eine Arbeit. Sie drehte sich wütend um, verließ fluchend das Zimmer und schmiss die Tür zu.
Er war froh, sie losgeworden zu sein, schob den Sessel zum Fenster und sah hinaus. Er konnte dieses Bild nicht vergessen, wie Anna mit den Kindern die Stufen herunter gekommen war. Alle in Blau gekleidet. Wie hatte sie das zustande gebracht? Das musste er sie fragen. Die Kindermädchen, Zimmermädchen oder die Köchin hatten immer Schwierigkeiten, die Mädchen schön anzuziehen. Und Anna war nicht mal einen Tag, geschweige denn eine Stunde da, und schon waren sie eine Einheit. Sie nahmen sie sogar schon in ihre Mitte. Was hatte sie, was andere nicht hatten? Das beschäftigte ihn so sehr, dass er nicht mal mitbekam, dass es schon 12 Uhr war.
***
Am Anfang war er einmal bei Jill eingeladen gewesen. Mit den Kindern. Da diese aber zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein waren, war an ein ruhiges Gespräch nicht zu denken. Außerdem gab es etwas, das die Kinder gar nicht mochten. Hummer! Und als Jill ihnen bei der Vorspeise erklärte, dass Kaviar nichts anderes sei als Fischeier, fanden sie das nur eklig. Fischsuppe war gar nicht gut. Vom Hummer war dann gar nicht mehr zu sprechen. Und eine Nachspeise gab es nicht. Als sie nach Hause kamen, musste Elfriede ihnen etwas kochen. Die Mädchen waren natürlich noch immer hungrig, weil sie ja nichts gegessen hatten. Auch der Graf hatte nicht viel gegessen. Er war den Mädchen nachgegangen und bekam ebenfalls etwas Gutes zu essen. Geselchtes Kraut und Knödel.
***
Friedrich betrat das Speisezimmer und deckte für vier Personen. Dann ging er in die Küche, wo die Köchin schon auf ihn wartete und letzte Hand an die Speisen legte.
„Was war das denn vorhin? Ansonsten brauchen wir Stunden, bis sie sich angezogen oder umgezogen haben. Und die schafft das in ein paar Minuten?“
Friedrich konnte auch nur die Schultern zucken.
„Ich glaube, mit ihr werden wir noch einige Wunder erleben. Wollen wir wetten, dass es die Kinder schaffen, dass sie bei ihnen im Esszimmer bleibt?“
„Da brauchen wir nicht erst wetten, die schaffen das. Oder sie schafft es“, antwortete die Köchin.
Die anderen gaben ihr recht. Normalerweise wären heute nicht alle hier, aber zum Empfang und Begrüßung der neuen Hausdame hatte der Herr Graf es so angeordnet. So überlegte man, was noch alles passieren könnte.
Inzwischen war Anna mit den Kindern wieder oben in den Schlafzimmern angelangt, und die Mädchen wollten sofort wieder raus und das schöne Wetter ausnutzen.
„Nein, das machen wir jetzt sicher nicht. Erstens seid ihr noch hübsch angezogen und ihr wollt euch doch nicht wieder schmutzig machen, oder? Wir werden uns jetzt nicht wieder umziehen und zum Essen wieder die Kleider wechseln. Wir können auch so etwas spielen. Habt ihr nicht einige Gesellschaftsspiele?“
So lenkte sie die Kinder in ruhigem Ton ab.
„Aber nach dem Essen dürfen wir wieder raus, oder?“
„Ja, wenn es euer Vater erlaubt. Aber dann ziehen wir uns etwas bequemes an und gehen nicht mit den Kleidern raus.“
Sie bezog sich immer wieder mit ein. Dann kam es nicht einem Befehl oder einer Aufforderung gleich, sondern als etwas ganz Normales. Die Zeit bis zum Mittagessen vertrieben sie sich mit Gesellschaftsspielen. Pünktlich um 12 Uhr gingen sie wieder runter. Da Anna ja nicht wusste, wo gespeist wurde, zogen die Mädchen sie mit sich. Sie wollten rasch hin laufen, doch Anna hielt sie mit leichtem Druck zurück.
„Hallo, hallo! Ich kann doch nicht laufen wie ihr. Das gehört sich nicht, das können wir dann draußen nachholen“, meinte sie, und schon drosselten die Mädchen das Tempo.
Sie waren die Ersten im Speisezimmer. Der Herr Graf war noch nicht da.
„Wo ist Papa? Der ist sonst immer der Erste und der Pünktlichste“, meinte Elisabeth.
Hinter ihnen kam auch schon Friedrich zur Tür herein. Auch er staunte nicht schlecht, dass die Kinder schon da waren und der Herr Graf noch nicht. Er stellte die Suppenschüssel auf den Tisch und ging hinüber ins Büro. Vielleicht wurde der Graf noch von einem Telefongespräch aufgehalten. Er klopfte und trat nach dem Herein ein.
„Herr Graf, die Suppe wäre serviert.“
Er sah auf die Uhr und stand so abrupt auf, dass er fast den Sessel umgeworfen hätte.
„Danke, Friedrich. Holen Sie bitte die Kinder?“, fragte er gewohnheitsmäßig.
„Die Kinder warten schon mit Frau Berger im Speisezimmer.“
Er wäre fast gestolpert bei der Aussage. Im Speisezimmer saßen sie schon am Tisch. Er saß immer am Kopfende und die Kinder links von ihm. Anna hatte ihnen gegenüber Platz genommen.
„Entschuldigung, dass ich zu spät komme, aber ich war so in die Arbeit vertieft.“
Friedrich bekam große Augen. Denn der Graf hatte nur da gesessen und aus dem Fenster gesehen und hatte darüber wohl die Zeit vergessen. Er sagte aber nichts.
Die Mädchen tuschelten, was ihrem Vater nicht gefiel.
„Wir tuscheln nicht am Tisch, wenn, dann sprechen wir laut, dass es auch die anderen hören können. Also?“, fragte er sie.
„Warum sitzt Anna auf der anderen Seite alleine?“, fragte Viktoria.
„Wo sollte sie sonst sitzen?“
„Na, bei uns!“
Und schon standen sie auf, nahmen Annas Teller und Besteck und platzierten sie zwischen ihren Tellern. Friedrich musste den Stuhl nachbringen, da er für Viktoria zu schwer war, die ihn aber unbedingt tragen wollte. Beide Männer staunten nicht schlecht und waren sprachlos. Somit musste Anna sich zwischen die beiden setzen. Elisabeth gab jedem zwei Schöpfkellen voll Suppe in den Teller. Außer ihrem Vater. Der war zu weit weg. Das musste wie immer Friedrich übernehmen.
„Mahlzeit!“, sagten beide Mädchen.
„Mahlzeit“, sagte auch Anna.
Der Graf musste sich erst räuspern, bevor er auch „Mahlzeit“ sagen konnte. Verwirrt sah er zu Friedrich. Der konnte auch nur mit den Schultern zucken. Inzwischen kamen die Dienstmädchen, brachten die Salate und waren auch überrascht, dass Anna zwischen den Mädchen saß.
„Wir wollen jetzt immer neben Anna sitzen. Sie ist bis jetzt das beste Kindermädchen, das du je eingestellt hast“, hörte Friedrich noch, ehe er mit der leeren Suppenschüssel das Zimmer verließ.
Er lächelte. Er hatte recht gehabt, dass sie im Speisezimmer bleiben würde. Er trug dann mit Andrea die Hauptspeise auf. Schweinsbraten, Kraut und Knödel. Die Mädchen waren davon nicht sehr begeistert. Er war schon neugierig, was Anna machen würde, wenn die Kinder anfingen zu jammern. Der Herr Graf schimpfte immer nur, dass sie es essen sollten, und die Kinder schmollten.
Inzwischen hatte der Graf Anna schon gefragt, wie es ihr hier gefiel. Jetzt hatte sie etwas mehr Zeit, ihn zu betrachten. Er war ein gut gebauter Mann Mitte dreißig, hatte kurz geschnittenes, braunes Haar und braune Augen.
„Ich kann leider noch nicht viel sagen, da die Mädchen mich ja schon voll in Beschlag genommen haben.“
„Das werden wir nachmittags ändern und einen Rundgang durchs Haus machen und Ihnen das Gestüt zeigen.“
„Nein! Wir wollten doch nachher mit ihr im Garten spielen!“, riefen die Mädchen.
„Das könnt ihr ja dann auch machen. Vorher zieht ihr euch noch um und dann starten wir einen Rundgang im Haus, danach zum Gestüt und dann könnt ihr mit Anna spielen.“
Er sagte das erste Mal Anna zu ihr, wenn auch indirekt. Es war schon komisch, von ihm so genannt zu werden. Er hatte es einfach von den Mädchen übernommen.
Friedrich brachte mit Andrea die Hauptspeise, legte auch gleich dem Grafen, dann Anna und zum Schluss den Mädchen das Essen auf den Teller.
„Bah!“, sagte da auch schon Viktoria.
Ihr Vater sah sie sofort böse an. Friedrich wartete neugierig ab, was jetzt kommen würde.
Welch ellenlange Diskussion.
Zuerst mussten sie trotzdem immer etwas Kraut essen, danach durften sie sich Salat nehmen.
„Was ist denn?“, fragte Anna rasch.
„Ich mag kein Kraut“, maulte Viktoria.
„Aber Kraut ist gesund und gut für die Augen. Dann braucht man lange keine Brille. Und weißt du, was man noch mit dem Kraut machen kann?“
Sie hatte bemerkt, dass Viktoria manchmal die Augen verengte. Das hatte Melchior auch lange gemacht, bis sie darauf gekommen waren, dass er eine Brille zum Lesen und Schreiben brauchte.
„Nein, was denn?“, fragte Viktoria neugierig.
„Ganz klein schneiden, denn wenn es so lange ist, kann man es schlecht essen, so wie die Spagetti. Ich schneide mir alles immer klein.“
Sofort fing Anna an, das Kraut klein zu schneiden, nahm einen Bissen mit Fleisch und Knödel.
„Mmhhhhh. Das schmeckt gut.“
Friedrich stand auf der Seite und wartete ab, was sich noch tun würde oder ob noch jemand etwas benötigte.
Viktoria schnitt sich das Kraut nun ebenfalls klein, Elisabeth tat es ihnen gleich. Sie war auch keine begeisterte Krautesserin. Sie aß etwas, damit man nicht mit ihr schimpfte oder sie nötigte, es zu essen. Friedrich hatte den Mädchen nur kleine Portionen gegeben.
Viktoria machte es Anna nun nach. Sie verzog den Mund, denn besser kam es ihr dadurch nicht vor. Elisabeth hingegen gefiel das. Denn das Kraut war ihr meistens zu lang, aber ans Kleinschneiden hatte sie nie gedacht, da es jeder so aß, wie es serviert wurde. Der zweite Bissen schmeckte Viktoria wohl schon besser, denn sie verzog den Mund nicht mehr so sehr.
Da Anna vor lauter Aufregung heute noch nichts gegessen hatte, wusste sie nicht, ob sie sich noch etwas nachnehmen durfte.
Friedrich half ihr aus der Misere, kam an den Tisch und fragte: „Nachschlag gefällig?“, und gab ihr von jedem noch etwas auf den Teller.
Auch der Graf bat noch um einen Nachschlag. Die Kinder waren weiterhin keine Fans von Fleisch und Kraut, aber sie aßen ganz brav ohne weiter zu murren. Natürlich durften sie sich danach einen Salat nehmen. Der Graf und Friedrich waren sehr verwundert. Sie sahen sich fragend an.
Als sie fertig waren, servierte Friedrich wieder ab.
„Soll ich die Nachspeise und den Kaffee schon bringen?“
„Nein, den werden wir später nehmen. Die Kinder sind schon so unruhig, die halten wir nicht mehr länger auf den Stühlen.“
Sie lächelten verlegen.
„Ich werde es der Köchin ausrichten.“
Als er in die Küche kam, fragte sie ihn natürlich sofort, wie lange der Streit mit den Mädchen gedauert hätte.
„Welcher Streit?“, fragte er unbeteiligt.
„Na, haben sie nicht sofort gemault, weil es Kraut gab?“
„Nein, nur Viktoria wollte es nicht essen, aber nachdem Anna ihr zeigte, wie man das Kraut angenehmer essen kann, war die Debatte vom Tisch.“
Auch er übernahm es von den Kindern, sie Anna zu nennen. Elfriede blieb der Mund offen stehen. Dann fing sie sich wieder.
„Und wie viel Kaffee brauchen wir?“
„Gar keinen derzeit. Sie nehmen ihn später ein. Jetzt zeigt er ihr mit den Kindern das Haus und das Gestüt.“
Jetzt setzte sich Elfriede verwirrt auf einen Stuhl.
„Sieh mich nicht so verwirrt an, es ist wahr. Ich schätze, sie werden dann so gegen 15 Uhr Kaffee und Kuchen wollen.“
„Jetzt brauche ich auf diesen Schock einen Schluck“, meinte sie und holte ihre Likörflasche raus.
„Du auch?“
Statt einer Antwort hielt er schon zwei Gläser in der Hand.
***
„So, ihr geht euch schon mal umziehen, dann kann ich mit Frau Berger noch etwas besprechen.“
Die Mädchen maulten sofort.
„Herr Graf, darf ich etwas vorschlagen?“
„Ja bitte?“
„Ich würde mich auch gerne umziehen, wenn es Ihnen recht ist. Wenn wir das Gestüt ansehen wollen, bin ich, glaube ich, auch nicht richtig gekleidet, und die Kinder wollen nachher noch mit mir spielen. Da ist, glaube ich, ein Rock die falsche Kleidung und meine Schuhe sicher auch“, befand sie und sah an sich herunter.
Er musste ihr recht geben, und so gingen sie alle drei wieder nach oben. Besser gesagt, die Kinder liefen diesmal.
Anna half ihnen beim Aussuchen. Beide Mädchen zogen Hosen, bequeme Leibchen und ihre Turnschuhe an. Auch Anna zog Hose, Pullover und Turnschuhe an. So kamen sie nach ein paar Minuten wieder in die Halle, wo der Graf auf sie wartete. Zuerst zeigte er ihr das kleine Büro neben seinem Büro, in dem sie arbeiten konnte. Sein Arbeitszimmer und das Speisezimmer kannte sie ja schon. Außerdem gab es noch den Salon, in dem seine Mutter die Gäste empfangen hatte. Dann gingen sie in die Küche, wo Elfriede erschrocken aufstand. Sie war gerade dabei, Kuchen zu essen.
„Das hier ist Elfriedes Reich. Da lässt sie so schnell keinen hinein“, erklärte der Graf.
„Elfriede - ich hoffe, ich darf Elfriede sagen? - bitte sehen Sie nicht so erschreckt drein, als hätten wir Sie bei etwas Schlechtem erwischt“, beruhigte Anna sie.
„Ja, dürfen Sie“, erwiderte sie noch immer verwirrt.
„Und Sie dürfen ruhig auch Anna zu mir sagen.“
„Ja, danke, Frau Anna.“
„Das Frau muss nicht sein“, sagte sie leise zu ihr.
Elfriede sah genau so aus, wie man sich eine Köchin vorstellte. Etwas kleiner als Anna, mollig und mit Lachfalten, die Haare zu einem Dutt zusammengebunden.
Dann gingen sie auch schon weiter. Speisekammer, Vorratskammer, Dienstbotenzimmer.
„Hinter dieser Tür ist die Garage“, erklärte der Graf und wollte schon weitergehen.
„Steht da auch mein Auto?“, fragte sie rasch.
„Ich denke schon, wieso?“
„Ich habe noch etwas im Auto, das ich holen müsste, und wenn wir schon hier sind, könnten wir bitte rasch hinein gehen.“
„Ja, bitte.“
Anna ging in die Garage und stieß fast mit dem Chauffeur zusammen.
„Hoppla! Nicht so stürmisch. Wo wollen Sie so eilig hin?“, fragte Franz.
Er war über 1,80 groß, hatte braunes, gewelltes Haar und trug seinen Chauffeuranzug.
„Ich wollte zu meinem Auto, noch etwas holen, das ich vorhin nicht mitnehmen konnte.“
„Das hier etwa?“
Er hob eine große Tasche hoch.
„Ja, genau die“, erwiderte sie und wollte sie ihm schon abnehmen.
„Franz, würden Sie bitte die Tasche von Frau Anna in ihr Zimmer bringen? Wir machen gerade einen Rundgang und dann muss sie die Tasche nicht mit sich herumtragen. Und wir werden nicht aufgehalten.“
„Ja, mache ich gerne.“
Somit hatte sich das Problem erledigt. Sie verließen das Haus durch den Dienstboteneingang raus und gingen in Richtung Gestüt. Die Kinder liefen voran.
„Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass Franz die Tasche hochbringt.“
„Ja, ist schon ok.“
„Ich hätte da eine Frage. Wenn ich sie stellen darf?“, fragte er immer noch etwas verwirrt.
„Ja, bitte, und welche?“
„Was haben Sie mit meinen Kindern gemacht? Die wirken ja wie verzaubert und ausgewechselt und folgen Ihnen aufs Wort, murren nicht und lassen sich ohne viele Diskussionen von Ihnen anziehen.“
Sie sah ihn von der Seite an.
„Das verstehe ich nicht. Die folgen ja ganz brav. Wie man heute beim Essen gesehen hat. Und ich dachte, sie suchen sich die Kleidung immer selber aus. Das haben sie alles von ganz alleine gemacht.“
Jetzt war er verwirrt.
„Bei den Dienstmädchen und bei der Köchin gab es immer Probleme.“
„Vielleicht weil sie ihnen etwas anziehen wollten, was die Mädchen nicht mochten. Das führt immer zu Streit. Ich habe kein Problem bei der Kleidung gesehen, die die Kinder ausgewählt haben. Ich sagte ihnen, wenn sie rausgehen wollen, dann müssen wir uns vorher umziehen.“
„Müssen wir?“
„Ja ich muss mich ja auch umziehen. Kann doch nicht in dem engen Rock und den Stöckelschuhen hier herum laufen. Das wäre sicherlich komisch gewesen. Und wir brauchen uns auch nicht fürchten, dass sie die Kleider wieder schmutzig machen. Die liegen auf dem Bett. Und in den Hosen haben sie mehr Bewegungsfreiheit, und wenn sie schmutzig werden, was soll´s. Dann waschen wir sie eben. Dafür sind sie ja da, zum Anziehen und nicht zum Ansehen.“
„Das mit dem Essen haben Sie auch wunderbar hinbekommen. Ich muss mit ihnen immer streiten, damit sie es wenigstens kosten.“
„Das ist schon falsch. Man muss es ihnen schmackhaft machen, sonst hassen sie es.“
Das leuchtete ihm ein. Inzwischen waren sie beim Stall angekommen. Die Mädchen warteten auf sie.
„Wo bleibt ihr solange? Wir wollen rasch durch, damit wir noch Ball spielen können.“
Der Graf zeigte Anna, die Boxen der Pferde. Jetzt waren sie alle auf der Weide. Man nutzte noch das schöne Wetter aus. Einige Pferde gehörten ihm, andere waren als Einsteller hier. Das einzige Pferd, das noch im Stall stand, hatte es Anna sofort angetan. Man merkte sofort, dass es ein Hengst war. Er schnaubte und ging unruhig in seiner Box hin und her. Anna ging auf ihn zu. Er streckte seinen Kopf raus. Im Vorbeigehen nahm sie aus einem Korb ein paar Karotten. Sie näherte sich dem Hengst vorsichtig. Der Graf wollte sie noch warnen, aber schreien wollte er nicht, sonst hätte sich das Pferd erschreckt.
Anna sprach leise mit dem Rappen und kraulte ihm die Stirn. Dann zog sie die Karotten hinter dem Rücken hervor, und er knabberte sofort daran. Der Graf war überwältigt. Bis jetzt hatte er den Hengst noch nie so ruhig gesehen. Die Kinder hielten sich auch im Hintergrund, denn sie wussten, sie durften allein nicht in die Nähe der Tiere. Viktoria zupfte an seiner Hose. Er sah zu ihr und musste sich zu ihr runter beugen, weil sie ihm etwas leise sagen wollte.
„Warum darf Anna alleine zu dem Pferd und wieso ist er so ruhig?“
Das wunderte ihn auch. Aber bevor er noch etwas sagen und tun konnte, kam der Verwalter und schrie schon von Weitem.
„Gehen Sie sofort von dem Pferd weg! Der ist unberechenbar!“
Jetzt erst merkte er, dass auch der Graf anwesend war. Sofort wurde das Pferd wieder unruhig und sprang zurück in die Box. Anna konnte sehen, dass das Pferd Striemen auf dem Rücken hatte. Sie drehte sich wütend um. Der Verwalter war schon in ihrer Nähe und wollte sie packen und wegzerren. Doch das Pferd streckte den Kopf heraus, und der Verwalter musste zurückspringen.
„Gehen Sie sofort von dem Pferd weg! Der ist unberechenbar.“
„Ja, das sehe ich, wer hier unberechenbar ist. Erschrecken Sie niemals ein Pferd so. Und außerdem: Wieso hat das Pferd Striemen auf dem Rücken?“
Sie kannte sich mit Pferden aus. Der Verwalter sah sie perplex an. Anna kraulte wieder das schwarze Pferd, und es war sofort wieder ruhig. Jetzt gab sie ihm die zweite Karotte.
„Herr Graf, sagen Sie der Person, dass sie von der Box und dem Pferd weggehen soll.“
Der Graf holte tief Luft und sagte: „Diese Person, wie Sie sie nennen, ist unsere neue Hausdame. Ich zeige ihr das Gestüt. Und wie Sie sehen, ist Black Beauty ein Lämmchen bei ihr. Und nur durch Ihr Gebrüll ist er wieder unruhig geworden. Und wieso ist er eigentlich in der Box eingesperrt? Sollte er nicht draußen bei den anderen sein?“
Inzwischen war er auch langsam an die Box ran getreten und besah sich den Rappen. Auch er sah, dass er Striemen hatte.
„Wieso schlagen Sie das Pferd? Folgen Sie nicht den Anweisungen des Besitzers? Er hat ihn vertrauensvoll in unsere Hände gegeben. Wollen Sie, dass er ihn woanders unterstellt? Wenn wir keine Tiere haben, dann haben Sie auch keinen Arbeitsplatz mehr. Also behandeln Sie das Tier so, wie es sich gehört. Sogar meine Hausdame kann das besser“, sagte er, jetzt mittlerweile wütend.
Das Pferd stand ganz friedlich vor Anna und ließ sich die Stirn kraulen.
„Sie werden den Tierarzt verständigen, seine Wunden pflegen und dann lassen Sie ihn auch raus.“
„Aber er ist immer so stur und eigenwillig. Ohne Peitsche kann man gar nicht zu ihm“, erklärte der Verwalter und kam mit der Peitsche in der Hand näher.
Natürlich machte das Pferd wieder einen Satz zurück. Anna drehte sich um, ging wütend auf den Verwalter zu, riss ihm die Peitsche aus der Hand und vor lauter Zorn zerbrach sie die Peitsche. Der Verwalter starrte sie nur an.
„Wenn ich etwas höre, dass Sie wieder ein Tier mit einer Peitsche schlagen, dann komme ich vorbei und schlage Sie damit. Und mich können Sie beim Wort nehmen.“
Damit wandte sie sich an den Grafen.
„Was sagen sie dazu?“
Die Kinder hatten sich hinter dem Rücken ihres Vater versteckt.
„Ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich werde jetzt jeden Tag einen Kontrollgang machen, damit so etwas nicht wieder passiert. Die Leute zahlen viel Geld für die Pflege der Tiere und Sie schlagen sie?!“
Er drehte sich um und sagte wütend: „Kommt, wir gehen.“
Die Kinder liefen rasch aus dem Stall und in Richtung des Hauses. Zuerst gingen der Graf und Anna still nebeneinander her.
„Das war mein Verwalter, Roland Hübinger. Eigentlich sollte er ein guter Tierpfleger sein. Es tut mir leid, dass er Sie so scharf angegangen ist.“
„Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man Tiere so misshandelt. Man muss sie nur zu nehmen wissen.“
„Ja, das habe ich gesehen. Wie haben Sie das gemacht? Ich wollte Sie noch warnen, doch dann war es schon zu spät, und schreien wollte ich nicht, sonst hätte sich das Pferd erschreckt. Wie wir dann ja gesehen haben.“
„Man muss mit dem Tier nur reden und ihm fest in die Augen sehen. Und keine Angst zeigen.“
Er blieb stehen und sah sie überrascht an. Jetzt sah sie ihm fest in die Augen. Er ertrug es nicht lange und ging weiter. Was machte sie mit ihm? Jeden nahm sie in ihren Bann auf. Sogar Pferde! Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
„Gehen wir dann gleich in mein Büro und besprechen noch alles Wichtige?“
„Tut mir leid, aber ich habe den Kindern ja versprochen, mit ihnen zu spielen. Aber wie wäre es mit 15 Uhr? Da könnte ich sie zu einer Pause mit Kakao und Kuchen überreden, und wir könnten bei einem Kaffee gemütlich über alles Weitere sprechen.“
Er sah in ihre dunkelbraunen Augen und musste sich mit Gewalt von ihr loslösen. Die Augen passten so gar nicht zu ihrem Haar. Das war blond. War es echt oder gefärbt? Wie es so viele Frauen machen?
„Okay, gut, dann ... bis später“, stotterte er.
Er musste weg von ihr, bevor sie ihn auch in ihrem Bann zog wie Friedrich und Black Beauty. Und er ihr auch aus der Hand fraß wie das Pferd die Karotten. Er beeilte sich, in sein Büro zu kommen.
Elisabeth hatte schon den Ball geholt, und sie fingen an, damit zu spielen. Zuerst warfen sie ihn sich so zu. Dann spielten sie abschießen und danach Fußball. Der Graf sah immer wieder verstohlen aus dem Bürofenster. Anna war wunderbar und undurchschaubar zugleich. Gerade schoss Viktoria so unglücklich, dass sie Anna am Kopf traf. Die anderen waren immer gleich stinksauer, wenn so etwas passierte. Zuerst hielt sich Anna auch den Kopf. Die Kinder warteten ab, was geschah. Testeten sie sie aus? Das hatten sie bei den anderen auch gemacht. Nur war es immer offensichtlich gewesen und die waren immer sofort wütend geworden. Bis jetzt war Anna immer ruhig geblieben und jetzt? Er wartete ab.
Zuerst sah es aus als würde sie mit Viktoria schimpfen wollen. Elisabeth sah ebenfalls erwartungsvoll auf Anna. Die rieb sich inzwischen den Kopf. Er konnte nicht hören, was sie sagte. Doch auf einmal kam Bewegung in die Kinder. Anna rannte mit dem Ball hinter ihnen her.
***
Nachdem Anna sich von dem Schuss erholt hatte, nahm sie den Ball und sagte: „So, jetzt kommt die Rache.“
Beide fürchteten sich jetzt, dass sie geschlagen werden und liefen weg. Anna hinter ihnen her. Sie hatte beide bald eingeholt und fing an, Viktoria zu kitzeln.
„Das ist jetzt meine Rache! Ich kitzle dich jetzt zu Tode.“
Elisabeth wollte ihr helfen, und auch sie wurde von Anna gekitzelt. Dann kitzelten die Mädchen zurück. Bald lagen sie auf dem Boden und kitzelten sich gegenseitig.
„Aufhören, aufhören! Ich kann nicht mehr“, sagte Viktoria unter Lachtränen.
Auch Elisabeth konnte nicht mehr.
„Das ist doch keine Rache“, meinte Viktoria.
„Wieso ist das keine Rache?“
„Na, weil man da lachen muss!“
„Wieso muss man denn unbedingt weinen? Das ist die schlimmste Rache.“
„Von der habe ich noch nicht gehört.“
„Natürlich nicht! Weil man es nicht schafft, jemanden so lange zu kitzeln, bis er stirbt. Weil man es nicht so lange aushält. Und man sagt ja auch, der hat sich zu Tode geweint, aber bisher hat sich noch nie jemand zu Tode gelacht.“
„Stimmt!“, sagten die Mädchen.
„So, und jetzt gehen wir wieder rein und stärken uns etwas. Denn euer Papa will auch noch etwas mit mir besprechen. Danach können wir dann wieder etwas spielen. Jetzt rein mit euch.“
Die Mädchen liefen schon voraus.
„Wer zuerst in der Küche ist!“
Anna ging noch rasch ins Bad und richtete sich etwas her. So wollte sie nicht zum Grafen gehen. Sie steuerte zuerst das Büro an, weil sie nicht wusste, ob er dort auf sie warten oder schon im Speisezimmer sein würde.
Er war noch im Büro. Er hatte ein leichtes Lächeln im Gesicht. Hatte er sie gesehen? Oder war ihre Kleidung nicht in Ordnung? Dann sagte er auch schon:
„Wir nehmen den Kaffee und Kuchen hier ein. Friedrich weiß schon Bescheid. Sie können gut mit Kindern umgehen“, meinte er noch im gleichen Atemzug.
„Danke. Sie sind auch sehr nett.“
„Das bezweifle ich etwas. Sie haben sie heute den ganzen Tag schon ausgetestet. Nicht so sehr, dass es auffällt, aber wer sie kennt, weiß Bescheid.“
„Ist ja irgendwie zu verstehen, oder? Wenn sie in letzter Zeit einige Kindermädchen hatten.“
„Schuldig! Ich bekenne mich schuldig. Die Gründe, wieso wir so oft wechseln mussten, will ich jetzt lieber nicht nennen. Es waren verschiedene.“
Das sagte er mit so einer Trauermine, dass zuerst Anna und dann der Graf zu lachen begannen. Und er dachte: ‚Wer weiß, vielleicht würde ihr dann auch einfallen, mich heiraten zu wollen.‘
Friedrich kam in diesem Moment herein. Heute wunderte ihn gar nichts mehr. Er stellte Kaffee und Kuchen auf den Tisch. Der Graf stand auf und bat Anna, sich zu ihm auf die Couch zu setzen. Ihr war gar nicht wohl dabei.
„Sie dürfen sich ruhig setzen, ich beiße nicht! Auch wenn es vielleicht andere erzählen.“
Sie setzte sich mit etwas Abstand neben ihn. Friedrich schenkte Kaffee ein und legte jedem ein Stück Kuchen auf den Teller.
„Brauchen Sie mich noch?“, fragte er.
„Nein, Friedrich, du kannst gehen.“
So zog er sich wieder zurück. Anna hatte gehofft, dass er bleiben würde, damit sie nicht allein bei dem Grafen bleiben musste.
„Wie machen Sie das alles nur?“
„Was?“, fragte sie erschrocken.
„Na, das mit den Kindern und den Tieren. Black Beauty frisst Ihnen aus der Hand und mein, sagen wir mal, guter Tierpfleger kann ohne Peitsche nicht zu ihm. Sieht so aus, als würden die Kinder Sie mögen. Der Schuss auf Ihren Kopf war sicher Absicht. Und dann statt zu schimpfen, kitzeln Sie die Mädchen.“
Also hatte er alles gesehen, wie sie schon vermutet hatte.
„Man muss sie nur richtig zu nehmen wissen. Und im Grunde sind Ihre Mädchen gut. Sie gehören noch in die richtige Richtung gebracht. Ich habe aber Hoffnung, dass wir sie noch gut hinbringen können. Ich konnte den meisten Schüssen ausweichen, doch der kam dann doch zu schnell und zu stark. Ich habe abgewartet, was sie machen würden, und sie warteten ebenfalls. Also habe ich das Beste aus der Situation gemacht.“
Sie trank einen Schluck Kaffee, in den sie etwas Zucker und Milch zugegeben hatte. Der Graf hatte die gleiche Angewohnheit. Dann aßen sie etwas von dem Kuchen.
Er nahm den vorbereiteten Vertrag vom Tisch und gab ihn ihr.
„Das ist Ihr Vertrag. Lesen Sie ihn sich bitte sorgfältig durch. Wie besprochen haben Sie zwei Monate Probezeit, jeden Sonntag frei und gegebenenfalls auch an einem Wochentag. Oder zwei halbe Tage. Sie können sich die Arbeit selbst einteilen. Wegen Küche, Keller und dem Haus fragen Sie am besten Elfi oder Friedrich. Die kennen sich am besten mit allem aus.“
Dann nahm er noch einen Schluck Kaffee.
„Wollen Sie noch eine Tasse?“, fragte er höflich.
Er wollte, dass sie noch ein bisschen länger bei ihm blieb. Wieso wusste er nicht.
„Ja, bitte etwas. Der Kuchen ist sehr gut. Ich muss Elfriede nach dem Rezept fragen.“
„Ob sie Ihnen das geben wird? Sie ist sehr eigensinnig, wenn es um ihre Rezepte geht.“
Anna nahm sich noch ein Stück Kuchen. „Sie auch?“, fragte sie ihn.
„Ja, bitte, denn mit Ihnen schmeckt der Kuchen noch einmal so gut.“
Was gab er denn da von sich? Er wollte doch nicht so freundlich sein und sie nicht umschmeicheln. Vielleicht kam sie dadurch doch noch auf falsche Gedanken. Aber sie hatte ihn schon wieder in ihrem Bann gezogen. Er musste woanders hinsehen, um nicht in ihre tiefbraunen Augen zu blicken. Er konzentrierte sich auf seinen Kuchen. Dann fiel ihm ja noch ein, dass ja morgen Schulbeginn war.
„Morgen bringe ich die Mädchen mit dem Chauffeur in die Schule. Ist Viktorias erster Schultag. Ich würde Sie bitten, mitzufahren. Denn jeden Tag kann ich leider nicht dorthin. Falls es etwas Dringendes mit den Mädchen in der Schule zu erledigen gilt, würde ich Sie bitten, hinzufahren. Denn ich weiß nicht, ob ich dann rasch Zeit habe. Zu Elternabende oder dem Elternsprechtag fahre ich selbstverständlich, denn darüber weiß ich ja schon eine Weile vorher Bescheid.“
Sie wollte schon sagen, dass sie das ja nicht ohne Weiteres machen könne, als er auch schon sagte: „Eine unterschriebene Bestätigung liegt vor, dass Sie mich vertreten dürfen, falls es Probleme geben sollte.“
Inzwischen hatten sie den Kuchen gegessen und der Kaffee war auch leer.
„Wie wäre es mit einem Schluck Wein oder Likör? Stoßen wir so auf gute Zusammenarbeit an?“, fragte er, um überhaupt etwas zu sagen und um sie noch zum Bleiben zu überreden.
„Darf ich das denn? Bin ja bei Ihnen angestellt.“
„Nein, noch nicht. Eigentlich ja erst ab morgen. Also dürfen Sie mit mir einen Schluck trinken, ohne dass ich etwas dagegen haben kann“, erwiderte er und lächelte sie an.
„Ja, wenn Sie meinen?“
Sie wusste auch nicht so recht, was sie machen sollte, und am liebsten wäre sie gegangen. Aber es wartete nichts, womit sie sich hätte entschuldigen können. So holte er zwei Gläser und einen Likör. Damit stießen sie auf gute Zusammenarbeit an.
Danach wusste keiner, was er sagen sollte. Die Kinder erlösten sie aus ihrem Dilemma. Hinter ihnen kam Friedrich, der das Geschirr abservierte. Er war verwundert, als er die Likörgläser entdeckte.
„Anna, Anna, hast du schon Zeit? Können wir schon mit dir spielen?“, fragten die Mädchen gleichzeitig.
Anna sah den Grafen an.
„Haben Sie noch Fragen?“
„Nein, ich glaube, das war momentan alles. Nehmen Sie die Rasselbande mit, damit ich wieder meine Ruhe habe“, grinste er verschmitzt.
Sogleich ging Anna mit den Mädchen in Elisabeths Zimmer, wo sie bis zum Abendessen um 18 Uhr noch ein paar Gesellschaftsspiele spielten.
***
Während Friedrich den Kaffee und Kuchen servierte, erzählten die Mädchen abwechselnd, was vorhin alles passiert war. Elfriede fiel fast vom Stuhl, wenn sie nicht so gut gesessen wäre.
Elisabeth: „Weißt du, was wir gemacht haben?“
Viktoria: „Wir haben Ball gespielt, und ich habe Anna ganz toll erwischt. Zuerst glaubten wir, sie würde jetzt ganz toll schimpfen.“
Elisabeth: „Sie sagte, sie nimmt jetzt Rache und fing an, Viktoria zu kitzeln und dann mich.“
Viktoria: „Aber das war ja keine Rache. Aber wir konnten bald nicht mehr vor lauter Lachen.“
Elisabeth: „Sie erzählte, dass noch keiner am Lachen gestorben ist, aber vom Weinen schon.“
Viktoria: „Und dem Verwalter hat sie Prügel angedroht!“
„Wieso denn?“, fragte Elfriede dazwischen.
Elisabeth: „Weil er Black Beauty geschlagen hat, und sie nahm ihm die Peitsche weg und zerbrach sie.“
Viktoria: „Ja, und der war bei ihr ganz lammfromm. Sie hat ihn ja auch mit einer Karotte gefüttert.“
Elisabeth: „Ja, und von Papa hatte er auch Schimpfer bekommen.“
Elfriede war überrascht davon, und auch Friedrich war mehr als verwundert darüber. Nachdem die Kinder ihren Kuchen und ihren Kakao getrunken hatten, liefen sie auch schon zum Büro. Friedrich ging ihnen nach. Vielleicht brauchten sie noch etwas. Aber ihm fiel fast die Kinnlade runter, als er sah, dass der Graf und Anna einen Likör tranken. Das hatte der Graf noch nie mit einer seiner neuen Angestellten getan. Als er das Elfriede erzählte, war die auch wieder sprachlos. Und jeweils zwei Stück Kuchen fehlten auch. Obwohl der Herr Graf doch ganz selten mehr als einen aß.
„Ich glaube, da kommt noch einiges auf uns zu. Und wundern brauchen wir uns nicht mehr. Die hat unseren Grafen verzaubert oder verhext! Mich würde es nicht wundern“, meinte Elfriede, „Oder haben wir eine Mary Poppins oder eine Hexe namens Samantha im Haus?“
Sie begann dann, das Abendessen zuzubereiten. Sonntagabend gab es nur etwas Kaltes zu essen. Aufschnitt, Aufstriche, Brote, Gemüse und Butter.
***
Der Graf sah seinen Mädchen nach, wie sie mit Anna das Büro verließen. Friedrich hatte alles abgeräumt, und der Graf glaubte, im Gesicht des Butlers Staunen und Überraschung gesehen zu haben. Was dachten die Angestellten jetzt über ihn? Er machte das nie mit jemand Neuem. Und dann - zur Überraschung aller und auch zu seiner eigenen Überraschung - machte er es. Er versuchte, sich mit Arbeit abzulenken. Was ihm nicht viel half. Wieso musste er immer wieder an sie denken? Er liebte seine verstorbene Frau, und es würde keine andere in seinem Leben geben. Aber das Leben hatte etwas anderes mit ihm vor. Nur wusste er es noch nicht.
***
Beim Abendessen bot sich das gleiche Bild. Friedrich hatte wieder normal aufgedeckt. Der Graf an der Stirnseite, die Kinder links von ihm und Anna rechts von ihm. Die Kinder stellten sofort wieder alles um. Er würde noch eine Genicksteife bekommen, denn er musste sich ständig zur Seite drehen, um auch Elisabeth sehen zu können. Das würde er ändern müssen. Wenn die Kinder sie schon hier haben wollten, musste er es akzeptieren. Sie waren schon lange nicht mehr so lustig und brav gewesen. Sie hatten Anna auf eine harte Probe gestellt. Doch sie sah immer noch frisch aus und lächelte sogar.
Anna hatte sie beim Schummeln ertappt, hatte jedoch nicht geschimpft, sondern hatte ihnen erklärt, worum es beim Spiel ging. Ob sie es verstanden hatten, wussten beide nicht. Dann hatten sie sich noch darüber gestritten, wer als Erstes ins Bad durfte. An sich wäre das kein Problem, denn jeder hatte eines, doch Anna musste jeder beim Waschen und Anziehen helfen. Anna hatte das Problem gelöst, indem beide in der größeren Wanne bei Elisabeth badeten. So waren sie heute schon vor dem Abendessen gebadet worden. Die Haare waren zu Zöpfen geflochten.
Der Graf konnte sich nur wundern. Beim Essen kam auch kein Streit auf. Jeder durfte seine Lieblingswurst essen. Elfriede hatte genug aufgeschnitten. Er und Anna aßen den Rest. Anna hatte eine Vorliebe für eine bestimmte Wurstsorte. Das musste er Elfriede sagen, damit sie von der in Zukunft mehr aufschnitt. Er hatte lieber Salami und Kantwurst. Die Mädchen stritten sich meistens um die Extra, Krakauer und Gemüsewurst. Anna griff zur Polnischen, Wiener und Schinkenwurst.
Als die Mädchen satt waren, zogen sie sich in ihre Zimmer zurück. Sie durften noch etwas fernsehen, dann Zähne putzen und um 20 Uhr hieß es Bettruhe. Denn morgen mussten sie wieder früh raus und zur Schule.
Anna ging auch auf ihr Zimmer, packte noch die große Tasche aus, räumte noch auf und ging duschen, bevor sie sich ins Bett legte. Sie wollte noch etwas lesen, kam dann jedoch nicht mehr dazu, als sie hörte, wie die Tür zu Elisabeths Zimmer geöffnet wurde. Auch Viktoria war bei ihr. Sie sollte eigentlich in ihrem Zimmer sein.
„Dürfen wir zu dir kommen?“, fragten die Mädchen.
„Ja, natürlich. Was ist denn?“
„Dürfen wir zu dir ins Bett kommen?“
„Aber ihr habt doch selbst große Betten?“, fragte sie verwirrt.
„Wir wollen heute bei dir schlafen“, beharrten sie und schon waren beide neben ihr auf dem Bett.
„Außerdem müssen wir dir noch etwas gestehen“, sagte Elisabeth zerknirscht.
„Was denn?“
Sie wusste nicht, was sie ihr gestehen wollten.
„Wir haben dich absichtlich mit allem provoziert.“
„Und?“
„Bist du uns böse?“
„Wieso sollte ich euch böse sein? Ich finde das ganz normal. Und so arg war es nicht, wie ihr glaubt. Da bin ich Schlimmeres gewohnt.“
„Hast du vorher auch schon auf Kinder aufgepasst?“
„Ja, und die haben auch alles Mögliche gemacht, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.“
Dass es ihre eigenen Kinder waren, die so viel Aufmerksamkeit forderten, konnte sie ihnen nicht erzählen.
„Erzähl uns von ihnen“, baten die Mädchen, und schon waren sie unter ihrer Decke.
Anna rutschte etwas zurück, damit sie mehr Platz hatten, und deckte sie noch zu. Dann fing sie an, von ihnen zu erzählen, ohne dabei zu verraten, dass es ihre eigenen Kinder waren. Sie brauchte aber nicht lange zu erzählen, denn Elisabeth und Viktoria schliefen schon bald ein. Sie dachte an ihre Kinder. Was die wohl jetzt machten?
Die beiden kuschelten sich auch in ein Bett und dachten an ihre Mutter. So schliefen alle ein. Auch der Graf lag noch wach und dachte über diesen Tag nach. Wieso gingen ihm diese braunen Augen nicht aus dem Kopf?