Читать книгу Ramy und Chris - Doris Bühler - Страница 3

1. Woche

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Als sie in Bad Seeburg ankamen, fing es gerade an zu schneien. Die dicken weißen Flocken tanzten aus einem grauen, wolkenverhangenen Himmel und legten sich im Nu wie ein zarter weißer Schleier auf die vom letzten Schnee freigeräumten Straßen. Der Kombi, der vor dem Bahnhofsgebäude gewartet hatte und sie in die Waldhof-Klinik bringen sollte, hinterließ eine Spur aus gemusterten Bändern auf der dünnen Schneedecke, als er die Serpentine zum Weiherberg hinauffuhr.

Sie waren zu viert. Eine Frau hatte sich neben Tina Marton gesetzt, während zwei Männer auf der Bank vor dem Heckfenster Platz genommen hatten. Mit seinem Schnauzer erinnerte sie einer der beiden an ihren Onkel Willi aus Stuttgart. Der daneben war ein bulliger Kerl in großkarierter Wolljacke und mit einer Schirmmütze auf dem fast kahlen Schädel. Er war als Letzter eingestiegen, und der Wagen hatte leicht gewankt unter seinem Gewicht.

“Dann mal los!” hatte er gerufen und sich mit Schwung auf die Rückbank fallen lassen.

Die Frau neben Tina war klein und zierlich, nicht mehr ganz jung. In ihrem schwarzen, straff zurückgekämmten Haar zeigten sich erste Silberfäden. Die großen Creolen, die an ihren Ohren hin- und herbaumelten, wenn der Kombi eine Kurve nahm oder über eine schadhafte Stelle im Asphalt rumpelte, gefielen Tina. Vielleicht hätte auch sie das eine oder andere Schmuckstück mitnehmen sollen, überlegte sie und griff instinktiv an ihr Ohrläppchen. Zum Beispiel die Ohrringe, die ihr Volker zu Weihnachten geschenkt hatte, die hätten es ganz sicher mit denen ihrer Nachbarin aufnehmen können. Doch ihr Ehering an der rechten und ein kleiner schmaler Silberreif mit einem blassen Aquamarin an der linken Hand waren der einzige Schmuck, den sie sich für die Reha zugestanden hatte.

Die beiden Frauen schauten einander an. Der Blick der Fremden war nur flüchtig. Obwohl ihr Tina freundlich zulächelte, wurde ihr Lächeln nicht erwidert, - im Gegenteil. Demonstrativ wandte die Frau den Kopf ab und schaute auf der anderen Seite aus dem Fenster. Na gut, dachte Tina und hob die Schultern. Es würde andere in der Klinik geben, nette Frauen, mit denen sie sich anfreunden konnte. Schließlich mußte es nicht gerade diese sein.

Der Fahrer, ein schwarzhaariger junger Mann mit dunklen Augen mochte Türke sein. Oder Araber. Während der Fahrt ließ er das Radio laufen, und die leise, orientalisch anmutende Musik hatte etwas Einschläferndes. Erst dadurch wurde Tina bewußt, wie müde sie inzwischen war. Den Abend zuvor hatte sie mit Packen ihrer Reisetasche verbracht und damit, Notizzettel für Volker und Anweisungen für die Mädchen zu schreiben. Und jedesmal, wenn ihr etwas Neues eingefallen war, etwas, das unbedingt während der nächsten vier Wochen erledigt werden mußte, hatte sie zu Papier und Kugelschreiber gegriffen. Selbst dann noch, als sie längst zu Bett gegangen war und sich schlaflos von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Die vierstündige Eisenbahnfahrt, die nun hinter ihr lag, hatte ihr schließlich den Rest gegeben. Vielleicht hätte sie im Zug ein wenig schlafen sollen, dachte sie, doch es war ihr schwergefallen, die Augen zu schließen und möglicherweise etwas von dem zu verpassen, was es unterwegs zu sehen gab. Jetzt aber rächte sich die Anspannung der letzten Stunden, sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten.

“So a Sauwetter!,” brummte Onkel Willis Ebenbild auf der Rückbank. “Und des, wo mer bald Frühling habbe. Da sollt mer doch meine, mit dem Winter sei’s endlich vorbei.”

Der Holzfäller-Typ in der karierten Jacke neben ihm brummte Zustimmung. “Scheinbar dauert hier alles ein bißchen länger."

“Da meget Se recht habbe.”

Die fremde Frau schaute haarscharf an Tina vorüber, als sei sie gar nicht da. Das ärgerte sie, und gerade deshalb betrachtete sie sie nun ihrerseits mit unverhohlener Neugier. Sie war schlecht geschminkt, fand sie. Das Make-up war zu dick aufgetragen, und aus nächster Nähe war die Körnigkeit des Puders zu erkennen. Die schwarzen Striche auf den Lidern hatten keine glatten Konturen, so als hätte ihre Hand beim Aufmalen ein wenig gezittert, und das Rot ihrer Lippen war für Tinas Geschmack viel zu grell. Sie selbst schminkte sich selten, eigentlich nur zu ganz besonderen Anlässen. Und gewiß ging sie dabei geschickter vor, als diese Dame, da war sie sich sicher. Schon bedauerte sie, daß sie ihr Make-up zu Hause gelassen hatte, doch wer hätte ahnen sollen, daß man in einer Reha Verwendung für solche Dinge haben könnte? Die Fremde schaute sie wieder an. Nur kurz, aber voller Verachtung. Ein alternder Star, mutmaßte Tina, eine Ballerina vielleicht, die es nicht verwinden konnte, daß der Zahn der Zeit an ihr nagte, daß von ihrer einstigen Schönheit inzwischen kaum mehr etwas übriggeblieben war. Eine Frau, die alles haßte, was jünger und schöner war, als sie. Naja, jünger vielleicht, aber schöner? Tina seufzte. Eine Schönheit war sie wohl nie gewesen. Ganz ansehnlich, gewiß, aber immer hatte es andere gegeben, die sehr viel hübscher gewesen waren, als sie. Andere, die sie im Geheimen bewundert und beneidet hatte. Inzwischen genügte es ihr, wenn man sie nett fand. So gesehen hatte sie nicht viel zu verlieren, wenn sie eines Tages die Grenze der Vierzig oder gar Fünfzig überschreiten würde.

Nach einer halben Stunde Fahrt tauchte rechter Hand am Straßenrand ein aus Holz geschnitztes Schild auf, und da der Kombi leicht abbremste, war die Aufschrift gut zu lesen: Waldhof-Klinik Bad Seeburg, Rehabilitationszentrum für Herzerkrankungen.

Das Auto bog in eine Auffahrt ein, die sich durch eine parkartige Anlage zog und geradewegs auf ein bezauberndes schloßartiges Gebäude zuführte. Verschneit und romantisch lag es vor ihnen, eng an einen Berghang geschmiegt, eingerahmt von schneebedeckten hohen Tannen. “Heidenei”, brachte Onkel Willis Doppelgänger begeistert hervor, und der Holzfäller pfiff durch die Zähne und meinte: “Kaum zu glauben! Soll das unsere Klinik sein?”

Auch Tina war ein erstauntes “Oh!” über die Lippen gekommen. Nur die Ballerina starrte unbeeindruckt geradeaus, als bekäme sie so etwas Schönes jeden Tag zu sehen.

Der Kombi hielt vor dem Hauptportal. Vermummte Gestalten, die sich vor dem Eingang zu einem Schwätzchen oder auf eine Zigarette zusammengefunden hatten, machten den Neuankömmlingen Platz und standen Spalier, als sie ausstiegen und der Fahrer begann, die Reisetaschen auszuladen und in der Eingangshalle abzusetzen.

“He, Harkan, bringst uns wieder eine neue Fuhre?” rief ihm ein grauhaariger Mann in abgetragenem Jogginganzug zu, während er Tina anzüglich zuzwinkerte. Sie übersah das geflissentlich und folgte Harkan neugierig die Stufen zur Eingangshalle hinauf. Beim Anblick des Inneren des Gebäudes blieben die Neuankömmlinge erstaunt stehen. Sie alle wußten, wie es normalerweise in einer Klinik aussah, hatte doch jeder von ihnen einen mehr oder weniger langen Klinikaufenthalt hinter sich. Hier jedoch war alles anders. Man schritt über hellgesprenkelten Marmorboden, der, in raffinierten Mustern verlegt, auf der einen Seite von einer kleinen Sitzgruppe aus blauem Leder begrenzt wurde, auf der anderen von der Rezeption und einer Front in die Wand eingelassener numerierter Briefkästen. Die Sitzgruppe war fast vollständig besetzt, und auf den mit Teppichen belegten Fluren und Treppen, die in die Halle mündeten, herrschte ein stetes Kommen und Gehen. Sie waren nicht die einzigen, die neu angekommen waren, und auch viele der Patienten, die ihre Reha an diesem Tag beendeten, hielten sich in der Halle auf und warteten darauf, abgeholt zu werden. Fasziniert schaute sich Tina um, und ihr Blick blieb an einem großen Aquarium in der Ecke der Halle hängen. Selbst aus der Ferne waren die bizarr geformten Felsbrocken darin zu erkennen, die schlanken dunkelgrünen Pflanzen, die sich in einer Fontäne aus Sauerstoffperlen hin- und herwiegten, und eine Unzahl kleiner bunter Fische, die in Schwärmen an der Frontscheibe vorüberjagten. Sie war versucht, hinzulaufen, um es sich genauer anzusehen, sagte sich aber, daß sie noch vier Wochen lang Zeit dazu haben würde, es gebührend zu bewundern. Zunächst war es wichtiger, zuzuhören, was ihnen die Hausdame in kariertem Dirndl zu sagen hatte. Mit einem Lächeln und einer freundlichen Geste hatte sie die Neulinge um sich geschart und sprach nun ein paar herzliche Worte zur Begrüßung.

Mit Räumen ging es Tina, wie mit Menschen: Manche mochte sie auf Anhieb, bei anderen brauchte sie etwas Zeit, um sich an sie zu gewöhnen. Und wieder andere konnte sie gar nicht leiden, so hübsch sie auch sein mochten. Das Zimmer im Waldhof gefiel ihr sofort, es hatte die Nummer 215 und lag am Ende eines Seitenflügels im zweiten Stock. Da es nicht sehr groß war, enthielt es nur wenige, dafür aber sehr zweckmäßige Möbelstücke. Hell und freundlich, mit vielen Fächern und Schubladen. Am besten aber gefiel ihr das große hohe Fenster, das, neben einem Blick auf den Eingangsbereich der Klinik, auch einen fantastischen Blick auf das Tal freigab, in dem Bad Seeburg lag, als hätte ein Engel es im Darüberfliegen einfach verloren: Schneebedeckte Dächer, im Zentrum eine Handvoll Hochhäuser sowie die Türme zweier Kirchen. In der Ferne, vor der Kulisse einer schroffen Bergkette, war eine Sprungschanze zu erkennen.

In der Anmeldung hatte man ihr empfohlen, sich zunächst einmal im Speisesaal einzufinden, da sonst die Gefahr bestand, daß es nichts mehr zu essen gab. Wo aber war der Speisesaal? Obwohl ihr jemand den Weg beschrieb, verlief sie sich und fand sich nach einigen Irrwegen bei den Trimmradfahrern wieder. Erstaunt blieb sie an der Tür stehen und schaute ihnen zu. Voller Mitgefühl, denn schweißnaß und mit roten Gesichtern radelten sie unermüdlich und mit größter Kraftanstrengung auf der Stelle wie ein Hamster im Laufrad. Dabei ahnte sie, daß auch sie selbst, vielleicht schon morgen, einer von ihnen sein könnte, der um die Wette strampelte. Sie seufzte. Zumindest kannte sie nun schon einmal diese Folterkammer, - was allerdings nicht bedeutete, daß sie sie jemals ohne fremde Hilfe wiederfinden würde. Ein älterer Herr in grün-weißem Sportanzug, der der Tür am nächsten radelte, half ihr wieder auf den richtigen Weg.

Der Speisesaal lag im ersten Stock. Eine automatische Tür öffnete sich, als sie näherkam, und sie blieb stehen, um einen neugierigen Blick hineinzuwerfen, bevor sie eintrat. Auch hier huschten dienstbare Geister in karierten Dirndln durch die Tischreihen. Sie verteilten die Speisen, nahmen Wünsche entgegen und vielleicht auch Beschwerden, - sofern es sie hier überhaupt geben konnte. Sie schienen bemüht zu sein, all ihre Gäste zufriedenzustellen. Doch waren sie wirklich Gäste hier, oder auch wieder nur Patienten? Tina war nie zuvor in einer Reha gewesen, deshalb wunderte es sie, daß sie sich, entgegen ihrer Erwartung, nun doch eher als Gast fühlte, denn als Patient, - was einen Augenblick lang ein unbeschreibliches Hochgefühl in ihr auslöste. Sollte das Patientendasein nun wirklich endgültig vorbei sein? Hatte Dr. Petri recht gehabt? "Sie werden sich wohlfühlen dort", hatte er gesagt, als sie sich anfänglich gegen die Reha gesträubt hatte. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt hatte sie nicht noch weitere vier Woche ohne ihre Familie sein wollen. Doch er hatte ihr versichert: "Es wird Ihnen guttun, einmal richtig verwöhnt zu werden und auszuspannen. Und danach werden Sie sich gesund und fit fühlen und ein ganz anderer Mensch sein.” Tina seufzte tief. Möge er recht behalten, dachte sie.

Noch unsicher folgte sie dem Strom der Mittagsgäste, die rechts und links an ihr vorüber ihrem Platz entgegenstürmten, - hungrig von langen Spaziergängen, vom Schwimmen oder vom Auf-der-Stelle-radeln. Und während sie noch mitten im Saal stand und sich umschaute, war eine der netten Dirndl-Damen an ihrer Seite, zog eine Liste aus ihrer Schürzentasche und fragte freundlich: “Sie sind heute erst angekommen, nicht wahr? Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?”

“Marton", antwortete Tina, während ihr Blick über die Tische flog, an denen lachende, plappernde und zufriedene Gesichter zu sehen waren. “Christina Marton”.

“Marton. Richtig, da haben wir Sie ja schon! Tisch Nr. 5, Frau Marton. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?”

Tisch Nr. 5 war ein Vierertisch am Fenster mit Blick in den Park hinter dem Hauptgebäude. Auf der Serviettentasche, die auf dem leeren Platz lag, stand ihr Name. Die drei Leute, die bereits dort saßen, - zwei Männer und eine Frau mittleren Alters, - schauten neugierig von ihren Tellern auf, als sie an den Tisch trat. Eine Sekunde lang wußte sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Man hatte ihr erzählt, daß man sich in einer Reha im allgemeinen duzte, doch sie war sich nicht sicher, ob das überall so war.

“Hallo, ich bin die Christina", sagte sie und nickte ihnen zu. Die beiden Männer rechts und links von ihr nickten zurück und murmelten ihre Namen, die sie in der Aufregung nicht verstand, die Frau aber, die ihrem Platz gegenübersaß, streckte ihr die Hand entgegen und sagte freundlich: “Hallo Christina, ich bin die Rozalia. Es ist schön, dich kennenzulernen.” Tina lächelte. Das hatte sie nett gesagt, fand sie, und von der ersten Minute an war sie ihr sympathisch.

Der für Tina zuständige Stationsarzt war Dr. Wintrup, sie sollte sich pünktlich um 15 Uhr zur Aufnahmeuntersuchung bei ihm einfinden. Die Zeit war knapp, wollte sie bis dahin die Koffer ausgepackt, den Inhalt in den Schränken verstaut und sich noch etwas frisch gemacht haben. Sie schaffte es nur deshalb, weil sie zunächst einmal alles wahllos in den Schrankfächern verschwinden ließ, um es aus den Augen zu haben. Sie wollte es später noch ordnen und sortieren und so unterbringen, daß sie alles auf den ersten Griff wiederfand, sobald sie es brauchte.

Das Zimmer des Arztes befand sich im entgegengesetzen Flügel des gleichen Stockwerks. Es war leicht zu finden, denn eine Stuhlreihe entlang der den Türen gegenüberliegenden Wand erinnerte an ein Wartezimmer, und dort saß auch schon jemand. Sie prüfte das Schildchen neben der Tür und verglich den Namen des Arztes mit dem, der auf dem Merkzettel stand. Alles war korrekt, also klopfte sie an.

“Es ist noch jemand drin", sagte der Mann, der bereits wartend auf der Stuhlreihe saß.

Sie sah sich flüchtig nach ihm um. “Ich habe um drei einen Termin", antwortete sie, “und jetzt ist es drei.”

“Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern.”

“Sind Sie etwa noch vor mir dran?” Das Timing schien nicht besonders gut zu funktionieren. “Wann sollten Sie denn hier sein?”

"Ich bin erst nach Ihnen dran", sagte er, “erst um vier.”

“Und dann sitzen Sie jetzt schon hier und warten?”

Er lachte. “Warum nicht? Ich habe doch Zeit. Es ist nicht uninteressant, den Leuten zuzusehen und sie zu beobachten.”

Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Sollte er, wenn es ihm Spaß machte, dachte sie.

Sie lief ein paar Schritte weiter und schaute sich den Renoir an, der zwischen den beiden nächsten Türen an der Wand hing. Die Pariserin, - natürlich! Wenn irgendwo in einer öffentlichen Einrichtung ein Renoir-Bild hing, dann war es meistens die Pariserin. Aber sie mochte sie. Während ihrer romantischen Phase als Teenager war sie eine Zeitlang ganz verrückt nach Renoir-Bildern gewesen, hatte eine ganze Wand ihres Zimmers mit den Drucken aus einem Kalenders tapeziert. Später waren sie dann von Pop- und Film-Größen abgelöst worden, - aber sie gefielen ihr noch immer. Inzwischen waren es bereits zehn Minuten über der Zeit. Resigniert ließ sie sich nun doch auf einem der Stühle nieder. Sie ließ zwei Plätz frei zwischen sich und dem Mann und schaute in die entgegengesetzte Richtung, um ihm zu signalisieren, daß sie keine Lust hatte, sich mit ihm zu unterhalten, und daß er es gar nicht erst zu versuchen brauchte.

Der Stationsarzt Dr. Wintrup war ein sehr netter junger Mann. Breit und wuchtig und mit Bart. Ein freundlich lächelnder Buddha, - obwohl... Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie jemals einen Buddha mit Bart gesehen hatte. Zumindest schien ihm der Doktor, was seinen Umfang betraf, in nichts nachzustehen. Die Untersuchung bestand zum größten Teil darin, daß er ihr Fragen bezüglich ihres Krankheitsverlaufs stellte und die Antworten dann fein säuberlich in ein Formular eintrug. Danach nannte er ihr die Termine für die cardiologischen Untersuchungen, die am nächsten Tag stattfinden sollten, und er erklärte ihr, wie er sich ihre Behandlung in den kommenden Wochen vorstellte. Zum Abschluß ermahnte er sie, auch ihrerseits alles dafür zu tun, um die Genesung voranzutreiben, indem sie gewissenhaft jede Anwendung wahrnahm und jeder Anweisung Folge leistete. Und während er sie noch darauf hinwies, wie wichtig es für sie und ihr Herz sei, in Zukunft unbedingt ihr Gewicht zu halten, konnte sie nicht umhin, einen Blick auf sein mächtiges Hinterteil zu werfen, das hüben und drüben über den kleinen Sitz seines Drehstuhles hinausragte.

Gegen Abend, nachdem alle Formalitäten erledigt waren, rief sie zu Hause an. Sie konnte sich ausmalen, wie ungeduldig ihre Familie bereits um das Telefon herumschlich und auf ihren Anruf wartete: Volker, ihr Mann und die beiden Töchter Steffi und Lissy. So nahm dann auch Volker gleich nach dem ersten Klingelton den Hörer ab.

"Hallo Tina, bist du's, mein Schatz?"

"Ja, ich bin's."

"Wie geht’s dir denn?” wollte er wissen. “Bist du gut angekommen? Und gefällt dir die Klinik? Glaubst du, daß du es dort vier Wochen lang aushalten kannst?”

Tina lachte. "Ich werde es müssen", sagte sie. "Und ja, ich bin gut angekommen. Die Klinik gefällt mir gut, sie ist viel schöner, als ich sie mir vorgestellt habe."

Nun hörte sie auch die Mädchen im Hintergrund. "Mama?" - "Mama!" riefen sie gleichzeitig ins Telefon. Tina stellte sich vor, wie sie darum stritten, wer den Hörer halten durfte.

"Hast du ein schönes Zimmer, Mami?", fragte Lissy, die Kleine.

"Und einen Fernseher?", wollte Steffi wissen.

Tina lächelte. "Ja, ich habe beides. Es ist sehr schön hier. Die Klinik gleicht fast einem Schloß, ich werde euch eine Postkarte schicken."

"Adressier sie an mich."

"Nein, an mich. Du weißt doch, daß ich Postkarten sammele."

Volker fuhr dazwischen. "Jetzt laßt mich mal wieder mit der Mama reden."

Maulend räumten sie das Feld. "Tschüß, Mama!" - "Schreib mir mal, Mami!"

"Seid brav, wenn die Oma da ist", ermahnte sie sie noch schnell, "damit sie sich nicht zu sehr aufregen muß."

Dann war Volker wieder am Apparat. "Weiß du schon, wie es mit dir weitergehen wird?", fragte er, "und welche Anwendungen sie für dich vorgesehen haben?"

"Morgen stehen zuerst mal diverse Untersuchungen an: Belastungs-EKG, Echocardiographie... Das Übliche, du weißt schon. Später werde ich dann sicher auch mein Anwendungsheft bekommen."

"Mal sehen, was sie in den nächsten Tagen mit dir vorhaben. Ich werde versuchen, mich so oft wie möglich bei dir zu melden. Gib mir mal deine Durchwahlnummer."

Sie las die Telefonnummer von ihrem Merkblatt ab.

"Solltest du mich mal nicht erreichen, dann mußt du es eben so lange versuchen, bis es klappt. Innerhalb der Klinik ist das Handy verboten, aber wenn ich draußen unterwegs bin, werde ich es natürlich mitnehmen."

Volker lachte. "Aber vergiß nicht wieder, es einzuschalten, sonst nützt es dir nicht viel."

"Ja ja!" Sie wurde nicht gern an ihre Schandtaten erinnert.

"Gut, dann werden wir jetzt Schluß machen. Ich melde mich morgen nachmittag bei dir, dann wirst du sicher schon Näheres wissen." Und dann fügte er zärtlich hinzu: "Schlaf gut in der neuen Umgebung, mein Liebling. Gute Nacht!"

"Gute Nacht, Bärchen."

Trotz des aufregenden und abwechslungsreichen Tages fühlte sie sich nun doch ein wenig traurig und allein, als sie den Hörer auflegte.

Es wurde keine besonders gute Nacht, denn sie schlief denkbar schlecht. Sie hatte so viel Neues zu verarbeiten, daß es ihr schwerfiel, einfach abzuschalten und zur Ruhe zu kommen. Sie durchlebte noch einmal die Fahrt im Zug, die Ankunft in der Klinik, das Mittagessen im Speisesaal und die Aufnahmeuntersuchung bei Dr. Wintrup. Außerdem fehlte ihr ihr kleines Dinkelkissen, daß sie zu Hause in den Nacken legen oder in den Arm nehmen konnte.

Gleich am nächsten Morgen hatte sie sich einem ausführlichen Test-Programm zu unterziehen. Besonderes Augenmerk legte man natürlich auf das Herz, denn schließlich war sie hier, weil es in den vergangenen Wochen eine ziemlich schwere Attacke zu überstehen gehabt hatte. Es begann im Labor, dann ging es über Röntgen, EKG und Ultraschall zur Echocardiographie. Und auf einmal fühlte sie sich doch wieder ganz als Patient, der von Ärzten, Schwestern und Therapeuten abhängig war. Selbst der Marmorboden in der Halle, die Teppiche auf den Fluren und das hübsch eingerichtete Zimmer konnten nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß sie sich eben doch in einer Klinik befand. Natürlich waren all diese Untersuchungen notwendig, das wußte sie, schließlich hatte sie keinen Wellness-Aufenthalt in einem Luxus-Hotel im Preisausschreiben gewonnen, sondern sollte und wollte so schnell wie möglich wieder ganz gesund werden.

Auf dem Weg zur Echocardiographie landete sie zunächst in der Massage-Abteilung, wo ihr ein hübscher braungebrannter Physiotherapeut zwinkernd erklärte, daß er zwar gern ihr Herz klopfen hören würde, daß er aber für ganz andere Dinge zuständig sei. Ein bißchen atemlos vom Treppauf und Treppab kam sie schließlich vor den richtigen Untersuchungsräumen an, - und stellte bestürzt fest, daß sie nicht die einzige war, die man herbestellt hatte. Die Stuhlreihe entlang der Wand war bereits bis auf den letzten Platz besetzt, deshalb ließ sie sich gegenüber auf den Treppenstufen nieder, die in das nächste Stockwerk führten. Bald schon merkte sie jedoch, daß das keine besonders gute Idee gewesen war, denn nun saß sie buchstäblich auf dem Präsentierteller, und die Augen der Wartenden starrten ihr, aus Ermangelung eines interessanteren Objekts, neugierig entgegen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und wieder gegangen, doch da das unmöglich war, tat sie das einzige, was sie in dieser Situation tun konnte: Sie starrte zurück. Dabei fiel ihr auf, daß alle Patienten Jogginganzüge trugen, und daß es sie in den unterschiedlichsten Ausführungen und Variationen gab. Da sah man abgetragene und ladenneue, eintönige und farbenfrohe, langweilige und ausgefallene... Sie waren die Uniform der Patienten. Ihr eigener war lila mit Moosgrün, Volker hatte ihn ihr eine Woche vor der Abreise extra für die Reha gekauft, und die Mädchen hatten ihm bei der Auswahl geholfen. Und ja, sie fand, sie hatten einen guten Geschmack bewiesen.

Außerdem stellte sie fest, daß sie einige der Wartenden bereits kannte. Die Ballerina zum Beispiel, sie trug einen rosa Anzug aus seidig glänzendem Stoff. Dann Onkel Willi, der in einem uralten dunkelgrünen Exemplar steckte, das schon, im wahrsten Sinne des Wortes, so manches Jahr auf dem Buckel zu haben schien. Und auch der Mann war da, den sie am Tag zuvor vor dem Dienstzimmer des Arztes getroffen hatte. Sein Anzug war dunkelblau, mit einem großen V aus Weiß und Hellblau auf der Brust. Da er am intensivsten zu ihr herüberschaute, versuchte sie, ihn einfach zu ignorieren und konzentrierte sich auf die Ballerina neben ihm. Nur manchmal wechselte sie zu Onkel Willi auf seiner anderen Seite hinüber, indem sie ihren Blick einfach über ihn hinwegspringen ließ. Im Grunde hätte sie nicht einmal sagen können, was sie gegen ihn hatte. Wahrscheinlich war es das leicht ironische Lächeln, das er fortwährend zur Schau trug, das ihr nicht gefiel.

Und dann kam Uschi. “Hi, Leute!”, rief sie schon von Weitem. “Wie gehts denn voran? Auf wieviel Stunden Wartezeit muß ich mich denn einstellen?”

Ein Gemurmel war die Antwort, denn Genaues wußte niemand. Mit einem Plumps ließ sie sich neben Tina auf die Treppenstufe fallen und lachte sie an.

“Du bist auch neu hier, stimmt's? Auch gestern erst angekommen?" Und noch während Tina nickte, plapperte sie bereits weiter: “Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie das hier schon mit mir gemacht haben.”

Sie ließ ihrem Gegenüber keine Zeit, zu fragen, warum, sondern gab unaufgefordert gleich die Antwort darauf: “Ich habe nämlich von Geburt an einen Herzfehler. Ventrikelseptumdefekt, - wird dir wahrscheinlich nichts sagen, oder? Hat mit der Scheidewand in der Herzkammer zu tun."

Als ein Klingelzeichen ertönte, war der Mann mit dem V-Anzug an der Reihe. Er stand auf und verschwand durch die Tür, auf der geschrieben stand: "Beim Klingelzeichen der Nächste bitte". Tina fragte sich, warum er nicht allen anderen den Vortritt ließ, da er doch so gern wartete und Leute beobachtete. Hier hätte er reichlich Gelegenheit dazu gehabt.

Das Mädchen Uschi plapperte weiter drauflos. Sie mochte noch keine zwanzig sein, vielleicht war es aber auch nur ihr wirres krauses Haar, das sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, das sie jünger aussehen ließ, als sie tatsächlich war. Sie hatte funkelnde graugrüne Augen und lustige Sommersprossen über der Nase, und Tina wunderte sich, wie ein Mensch, der von Geburt an an einer Herzkrankheit litt, so vor Lebendigkeit und Frohsinn sprühen konnte. Selbst in ihrem Jogginganzug spiegelte sich ihre Fröhlichkeit wider, denn er war kräftig türkisfarben, mit einer über die Schultern reichenden Passe in wildem grellbuntem Muster.

Sie streckte Tina die Hand hin. “Ich bin die Uschi, und wer bist du?”

“Christina", antwortete sie und schlug ein, und da sie annahm, daß sie sie als nächstes nach dem Grund ihres Hierseins fragen würde, machte sie es genauso wie sie und kam ihrer Frage zuvor. “Ich hatte Myocarditis. Eine Virusinfektion.”

Das Mädchen nickte und musterte Tina nun ihrerseits mit ihren flinken graugrünen Augen, die es keinen Moment lang auf einem einzigen Punkt auszuhalten schienen. “Da kannst du aber von Glück sagen, daß du noch so frisch-fröhlich herumlaufen kannst. Ich kenne Leute, die es danach schlimmer erwischt hat.”

Beim Belastungs-EKG traf Tina den Holzfäller wieder. Fast hätte sie ihn nicht erkannt, denn statt seiner karierten Jacke trug nun auch er, wie alle anderen, die übliche Patienten-Uniform: Einen Jogginganzug. Nur auf die Schirmmütze schien er keinesfalls verzichten zu wollen, denn jetzt war es eine weiße statt der roten, die er bei der Anreise getragen hatte.

"Hey, auch da?" Er begrüßte Tina wie eine alte Bekannte. Das war keinesfalls verwunderlich, denn man klammerte sich an jedes bekannte Gesicht, um sich in diesem riesigen Komplex nicht allzu verloren vorzukommen.

"Wie geht’s denn so? Mit dem Essen und dem Zimmerservice zufrieden in diesem feinen Etablissement?”, fragte er mit einem Augenzwinkern.

“Was bleibt uns denn anderes übrig! Hier gefällt's mir immer noch besser, als im Dreibettzimmer im Koblenzer Krankenhaus."

Er nickte und lachte ein tiefes dröhnendes Lachen. "Das kann ich mir vorstellen. Genauso geht's mir auch."

*****

Ich hab mir die Neuen ganz genau angesehen, - jede einzelne. Und zwei von ihnen haben mir besonders gut gefallen: Eine kleine Lebhafte und eine hübsche Brünette. Ich werde sie beobachten und versuchen, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Obwohl das für mich gar nicht so einfach sein wird. Oh ja, es ist ein gutes Gefühl, die Gewißheit zu haben, daß das Warten bald ein Ende hat. Es hat viel zu lange gedauert.

Zugegeben, die Pause war notwendig, um mein Umfeld zu beschwichtigen und wieder Ruhe in mein Leben zu bringen. Doch nun ist es an der Zeit, daß ich wieder auf ein interessantes und aufregendes Abenteuer hoffen darf.

Noch hab ich mich nicht entschieden, welcher von beiden ich den Vorzug geben werde, - der kleinen Lebhaften oder der hübschen Brünetten... Man wird sehen. Schließlich habe ich noch fast vier Wochen Zeit...

*****

Es dauerte nicht lange, und die Tage im Waldhof liefen nach einem genau festgelegten Rhytmus ab. Der lächelnde Buddha hatte Tina eine ganze Reihe der unterschiedlichsten Anwendungen in ihr Behandlungsheft geschrieben. Nicht nur Übungen, die ihrem angeschlagenen Herzen wieder auf die Sprünge helfen sollten, sondern auch einige, die fürs allgemeine Wohlbefinden gedacht waren, wie zum Beispiel Mineralbäder zum Entspannen, Massagen, Gymnastik und Bewegungsübungen im Wasser.

Am dritten Morgen hatte sie schon vor dem Frühstück den ersten Termin beim Trimmradfahren. Trimmradfahren wurde hier vornehm als Ergometer-Training bezeichnet. Aus Angst, zu verschlafen, hatte sie sich den Wecker gestellt und war schon eine Viertelstunde vor Beginn an Ort und Stelle. Doch wer saß schon wartend da? Richtig, der V-Mann, der so gern früher kam, um die Leute zu beobachten.

“Guten Morgen”, grinste er, “heute auch so früh?”

Sie war noch müde. “Ja,” antwortete sie und gähnte, “hab schlecht geschlafen.”

Er grinste noch immer. Eigentlich sah er recht nett aus, stellte sie mit einem schnellen Blick aus den Augenwinkeln fest. Dennoch ließ sie auch diesmal wieder einen Sitz zwischen sich und ihm frei.

Allmählich trudelten auch die anderen ein, die auf sieben Uhr bestellt worden waren. Sie freute sich, Uschi wiederzusehen, und sie winkte ihr und zeigte auf den freien Platz zwischen sich und dem Beobachter. Doch die schlug vor: “Rutsch mal’n Stück”, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als einen Sitz näher an ihn heranzu-rücken.

“Wir haben gestern Abend Karten gespielt,” erzählte Uschi. “Vor allem Skat, das kannte ich bis jetzt noch gar nicht. Hat aber echt Spaß gemacht. Heute Abend wollen wir uns wieder treffen, gleich nach dem Abendbrot im Aufenthaltsraum. Komm doch auch hin und mach mit.”

“Das einzige Kartenspiel, das ich kenne, ist Mau-Mau”, antwortete Tina. "Ich spiele das manchmal mit meinen Töchtern und bin ganz gut darin. Dazu vielleicht noch ein bißchen Rommé, das ist aber auch schon alles.”

“Das macht doch nichts, zwischendurch spielen wir vielleicht auch mal Mau-Mau, das gefällt mir nämlich auch. Für heute abend ist allerdings Canasta angesagt. Kennst du den Rolf? Der will es mir beibringen. Falls du es nicht kennst, könntest du es doch auch gleich mit lernen.”

Tina hob die Schultern, sie war noch unschlüssig, ob sie mitmachen sollte oder nicht. Und während sie noch darüber nachdachte, sah sie, wie der Beobachter auf ihr Anwendungsheft schielte. Sie hatte es so in der Hand gehalten, daß ihr Name oben auf dem Einband zu lesen war. Oh, da mußte sie wohl besser aufpassen, dachte sie, und rasch zog sie es aus seinem Blickfeld und rückte ein wenig von ihm ab.

“Keine Angst, ich beiße nicht”, raunte er ihr amüsiert zu.

“Das würde ich Ihnen auch nicht raten.”

Er lachte. “Dir!”

Sie sah ihn fragend an. “Was: dir?”

“Das würde ich

dir

nicht raten.”

“Was würdest du mir nicht raten?”

Er verdrehte die Augen. “

Du

warst es doch, der mir was nicht raten würde, oder?”

Es dauerte eine Weile, bis sie begriff. Und dann mußte auch sie lachen, ob sie wollte oder nicht.

m Ergometerraum gab es acht Trimmräder, alle schön nebeneinander in einer Reihe. Jedes war an einen Monitor angeschlossen, damit die Therapeutin Puls und Blutdruck eines jeden ihrer Schäfchen überwachen und falls es notwendig sein sollte, eingreifen konnte. Für die Frauen war es gar nicht so einfach, die Kontakte an der Brust zu befestigen, wollten sie nicht allzuviel von dem zeigen, was unter ihren Jogging-Blousons oder T-Shirts versteckt war.

Der Beobachter saß auf dem Rad links neben Tina, und wie es schien, war wieder ausschließlich sie das Objekt seiner Beobachtungen. Das ärgerte sie insofern, als ihr bewußt war, welch dummes Gesicht sie mitunter machte, wenn sie sich anstrengte. Rechts von ihr saß Uschi und plapperte unentwegt weiter, bis die Therapeutin sie ermahnte und ihr den Rat gab, ihre Energie lieber beim Treten der Pedale einzusetzen.

Vor dem Mittagessen traf sie in der Halle auf Rozalia, ihr Gegenüber vom Tisch Nr.5, und sie beschlossen, einmal um den Kliniktrakt herum zu laufen, um sich Appetit zu holen.

Rozalia war erst Mitte vierzig, obwohl man sie gut auf zehn Jahre älter hätte schätzen können. Ihr schmales Gesicht war bereits von tiefen Falten durchzogen und wurde von einem Paar dunkler trauriger Augen beherrscht. Und doch war zu erahnen, daß sie einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein mußte.

"Ich werde dich Röslein nennen, das paßt besser zu dir", hatte Tina gleich am ersten Tag zu ihr gesagt, denn Rozalia klang ihr zu fremd und zu pathetisch. Rozalia hatte gelächelt, und in ihren Augen hatte man lesen können, daß sie sich sogar ein bißchen darüber gefreut hatte.

Während sie um die Klinik-Anlage herum marschierten, erzählten sie sich ihre Geschichten. Röslein hatte es nicht leicht gehabt in ihrem Leben. “Ich komme aus Polen”, sagte sie, “aus Kattowitz. Als meine Mutter starb, war ich zwanzig. Bis dahin war sie der einzige Mensch gewesen, den ich gehabt hatte, mein Bruder war schon Jahre zuvor in die Bundesrepublik gegangen. Nach Mutters Tod setzte ich mich mit ihm in Verbindung, und er organisierte meine Einreise nach Deutschland.”

Sie redete langsam und bedächtig. So, als sähe sie mit jedem Satz, den sie sprach, noch einmal die dazugehörenden Bilder. “Doch hier habe ich weder das große Glück gefunden, noch den Reichtum, den ich mir damals, als junge Frau, erträumt habe. Im Gegenteil, das Schicksal hat es nie besonders gut mit mir gemeint. Jahrelang habe ich schwer gearbeitet, zwei Ehen sind gescheitert, Krankheiten und Fehlgeburten habe ich überstehen müssen.” Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach. “Und als ich schließlich doch noch den Mann gefunden habe, mit dem ich hätte glücklich werden können, überlebten wir mit knapper Not einen schweren Verkehrsunfall. Vierzehn Tage nach unserer Hochzeit. Seither sitzt mein Mann im Rollstuhl. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wir wären damals beide gestorben.”

“Das darfst du nicht sagen. Wichtig ist doch, daß ihr einander noch habt.”

“Ja, vielleicht hast du recht. Im Augenblick bedrückt es mich, daß ich hier bin und ihn allein lassen mußte. Während dieser Zeit müssen sich fremde Menschen um ihn kümmern, das tut mir weh."

“Was war denn der Grund dafür, daß du hier gelandet bist? Ich meine, was ist mit deinem Herzen passiert? Hattest du einen Herzinfarkt?"

“Eine Bypass-Operation, aber der Arzt hatte mich vor einem Herzinfarkt gewarnt.”

“Da kannst du doch froh sein, daß alles gutgegangen ist. In ein paar Wochen bist du wieder ganz in Ordnung. Dann hat dich dein Mann wieder, und du kannst dich wieder selbst um ihn kümmern. Du darfst nur nicht denselben Fehler ein zweites Mal machen. In Zukunft solltest du alles ein bißchen ruhiger angehen.”

Sie nickte. “Das weiß ich, aber das ist leichter gesagt, als getan.”

Zum Mittagessen gab es Fisch, - kein Wunder, es war Freitag. Der Duft kam ihnen schon entgegen, als sie die Treppe zum Speisesaal hinaufstiegen. Mit dem Essen im Waldhof war Tina vollauf zufrieden, - wobei zu erwähnen wäre, daß sie diesbezüglich niemals wählerisch war und fast alles mochte, was man ihr vorsetzte. Das konnte zwar sehr praktisch sein, führte aber auch manchmal dazu, daß sie mehr aß, als gut für sie war. Vor allem, wenn sie anderen dabei behilflich sein wollte, ihren Teller leerzuräumen. Das war zu Hause so, wenn Lissy partout ihr Gemüse nicht mehr essen mochte, und das zeichnete sich inzwischen auch schon am Tisch Nummer 5 in der Waldhof-Klinik ab. Obwohl der Ernährungsberater, ein Mann in weißem Kittel, der allgemein nur der

Sheriff

genannt wurde, zu jeder Mahlzeit durch die Tischreihen schlich und aufpaßte, daß jeder nur das aß, was für ihn vorgesehen war, war es unter den Patienten zur Gewohnheit geworden, das Essen untereinander auszutauschen. Und am Tisch Nummer 5 war es meistens Tina, die sich der ungeliebten Reste erbarmte. Röslein betete zwar vor jeder Mahlzeit und dankte dem Lieben Gott für Speis’ und Trank, doch auch für sie gab es das eine oder andere, das sie geschickt auf den Teller gegenüber bugsierte. Manfred, der Fuchs mit den schmalen lauernden Augen, der Tina zur Linken saß, mochte keinen Käse und tauschte ihn gern gegen die Blutwurst ein, während Wendelin, - eigentlich hieß er Wenzel, doch das erinnerte Tina zu sehr an einen Heiligen, und das schien er nun wirklich nicht zu sein, - Wendelin also schob ihr blitzschnell seine Nachtischration zu.

Nach dem Essen, sie saßen noch bei Mineralwasser und rotem Tee beieinander und erzählten sich, wie sie den Vormittag verbracht hatten, war von irgendwoher ein leises “Christina!” zu hören. Sie hatte sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, daß man sie hier so nannte. Dennoch horchte sie auf und schaute sich um. Es war der Beobachter, er hatte seinen Platz am Nebentisch. Bisher war ihr das noch gar nicht aufgefallen, weil er ihr den Rücken zuwandte.

“Was machst du am Wochenende, Christina?”, fragte er mit einem Grinsen.

Aha, dachte sie, da hatte sie ihr Heft wohl doch nicht schnell genug aus seinem Blickfeld gezogen. Eigentlich gab es keinen Grund, ihm nicht zu antworten, abgesehen davon, daß es ihn nun wirklich nichts anging, was sie sich für das Wochenende vorgenommen hatte. Er würde doch nicht wirklich glauben, daß sie es zusammen mit ihm verbringen würde? Sie war schließlich nicht hier, um Männerbekanntschaften zu machen, sondern um sich zu erholen und fit und gesund zu werden. Natürlich hatte sie davon gehört, daß es Leute gab, die es in einer Reha darauf anlegten, ein Abenteuer zu erleben und fernab der Familie alle Grundsätze über Bord zu werfen, doch so eine war sie nicht, und das würde sie jeden merken lassen, der auch nur den leisesten Versuch unternahm, sich ihr zu nähern. Wenn der Beobachter auf so etwas aus war, dann, bitte schön, mußte er sich eine andere suchen.

“Das weiß ich noch nicht”, antwortete sie deshalb kurz angebunden. Als sie dann aber ein anzügliches Zwinkern von Reineke Fuchs auffing, ärgerte sie das so sehr, daß sie den Beobachter dafür büßen ließ.

“Vielleicht gehe ich spazieren”, sagte sie spitz, “aber nur wenn die Sonne nicht scheint, an einem Schatten bin ich nämlich ganz und gar nicht interessiert.”

Dann ließ ihn einfach links liegen, wandte sich stattdessen an Röslein und fragte sie: “Was hast du eigentlich am Wochenende vor? Hättest du nicht Lust, am Sonntag mit mir in die Stadt zu fahren? Oder bekommst du Besuch von deinem Mann?”

Röslein schüttelte traurig den Kopf. “Nein, er kann nicht kommen. Es ist zu schwierig mit dem Rollstuhl, wir haben niemanden, der ihn herbringen könnte.”

“Das tut mir leid", sagte Tina. "Mein Mann kommt an diesem Wochenende auch nicht, aber ich hoffe, daß es in der nächste Woche klappt. Oder wenigstens an meinem Geburtstag.”

Hinter vorgehaltener Hand, weil sie nicht wollte, daß es Zuhörer gab, flüsterte sie ihr zu: “Am Dienstag in einer Woche."

Röslein lächelte. “Der wievielte ist es denn?", fragte sie flüsternd zurück.

"Der dreiunddreißigste." Tina zog ein Gesicht. "Schon!"

Röslein lachte. "Oh mein Gott, du bist noch so jung.”

Tina seufzte tief. “Na, ich weiß ja nicht... Wenn man erst mal den Dreißigsten hinter sich hat.."

Später versuchte sie noch einmal, Röslein für einen sonntäglichen Stadtbummel zu gewinnen, weil sie fürchtete, allein könnte es ihr keinen rechten Spaß machen. “Komm doch mit", bat sie, "wir könnten uns einen schönen Nachmittag machen...”

Unschlüssig hob die Gefragte die Schultern. “Was sollen wir denn dort unten, wenn die Geschäfte geschlossen sind?”

Tina lachte. “Was wir dort sollen? Na hör mal! - Durch die Straßen schlendern, uns die Schaufenster ansehen. Es soll dort sehr schöne und exklusive Läden geben. Und danach bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Käsekuchen am Fenster eines hübschen Cafés sitzen und den vorüberflanierenden Damen zusehen...”

Nun mußte auch Röslein lachen. “Ausgerechnet Käsekuchen?”

Tina winkte ab. “Von mir aus auch Erdbeertorte mit Sahne, oder Schwarzwälder-Kirsch. Was immer du willst. Irgendetwas Gutes eben. Ich persönlich schwärme nun mal für Käsekuchen. In allen Variationen. Dafür lasse ich die raffinierteste Torte stehen.”

Röslein seufzte tief. “Vielleicht hast du recht, es würde nichts schaden, wenn ich mal ein bißchen auf andere Gedanken käme. - Na gut, ich werde mitkommen."

Abends rief Volkers Mutter an. Bevor sie fragte, wie es der Patientin ging, mußte sie erst einmal los werden, wie sehr sie sich über Lissy geärgert hatte. “Sie ist ein so störrisches Kind, Tina”, beschwerte sie sich. “Ihr habt sie einfach viel zu sehr verwöhnt.”

“Aber Mama, sie ist nur einfach lebhafter, als Steffi. Sie hat ihren eigenen Kopf.”

Und dann kam der Satz, den sie schon tausendmal gehört hatte: “Von Volker hat sie das nicht, der war immer ein ruhiges und liebes Kind.”

“Ja, ich weiß, Mama. Aber Kinder sind nun mal verschieden.” Und um das Thema zu beenden und der Schwiegermutter einen kleinen Seitenhieb zu verpassen, fügte sie hinzu: “Es interessiert dich doch sicher auch, wie es mir hier geht, oder?”

Schwiegermama schien zu verstehen. “Aber ja doch, Tina, natürlich. Volker hat mir schon ein bißchen was erzählt. Du hast ein sehr hübsches Zimmer, nicht wahr?”

“Ja, ein einmalig schönes Zimmer. Mit Blick auf Bad Seeburg. Und auch das Essen ist wirklich sehr gut..”

Die alte Frau schien nicht recht bei der Sache zu sein. Natürlich wollte auch sie, daß es der Schwiegertochter gut ging, doch da sie sie in guten Händen wußte, war das Thema 'Kinder' weitaus wichtiger für sie. Tina fürchtete, sie könnte eine weitere Salve über Lissy auf Lager haben, deshalb versuchte sie, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen und begann, ihr ausführlich zu berichten, was sie an Untersuchungen schon über sich hatte ergehen lassen müssen, und welche Anwendungen ihr der Stationsarzt für die nächste Zeit verordnet hatte.

Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Entweder hatte Schwiegermama etwas vergessen, dachte sie, oder es war Lissy, die sich nun ihrerseits über die Oma beschweren wollte. Doch dann meldete sich jemand, mit dem sie so gar nicht gerechnet hatte. “Hallo, Tina, ich bin's. Laura.”

Laura war ihre Kollegin von der M21, der Station im Koblenzer Krankenhaus, auf der sie über Jahre zusammen gearbeitet hatten. Auch als sie mit der Herzmuskelentzündung auf der Nachbarstation gelegen hatte, hatte es sich Laura nicht nehmen lassen, trotz der zusätzlichen Arbeit, die durch ihren Ausfall auf ihr lastete, täglich wenigstens kurz nach ihr zu sehen. Tina hatte ihr eine Karte von Bad Seeburg mit der Telefonnummer geschickt, nun freute sie sich, daß sie sich gemeldet hatte.

“Das ist lieb von dir, daß du anrufst, Laura, - trotz der vielen Arbeit. Bist du noch immer im Dienst, oder schon zu Hause?”

“Ich bin zu Hause, ich habe heute frei. Wir sind bei meinem Bruder zum Geburtstag eingeladen, daher kann ich jetzt auch nicht lange mit dir reden, Tina. Wir sind eh' schon viel zu spät dran, und Wolfgang drängelt schon. Ich wollte dich nur schnell fragen, ob es dir recht ist, wenn ich dich am nächsten Wochenende besuchen komme?”

“Da fragst du noch?” Tina war begeistert. “Aber sag, ist es nicht ein bißchen weit, nur um einen Krankenbesuch zu machen?”

Laura lachte. “Das wäre es tatsächlich, aber ich kann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir sind für eine Woche bei Wolfgangs Tante in Kempten eingeladen, und ich konnte ihn dazu überreden, mich von dort aus für einen Nachmittag in Richtung Bad Seeburg ziehen zu lassen.”

“Das war eine gute Idee, ich freu mich riesig. Weißt du schon, wann du kommst? Ich meine, vormittags oder nachmittags? Nicht, daß ich gerade auf Achse wäre, wenn du eintriffst.”

“Ich werde gleich nach dem Mittagessen losfahren und so gegen zwei Uhr bei dir sein. Ist das in Ordnung?"

“Aber ja doch. Ich werde dich in der Halle erwarten.”

“Prima. Eigentlich wollte ich dich an deinem Geburtstag überraschen, aber das klappt nicht, denn am Montag fahren wir schon wieder nach Hause. Machen wir's also kurz jetzt, Tina. Morgen in einer Woche sehen wir uns, dann haben wir Zeit genug, um in aller Ruhe zu quatschen.

"Ich freu mich, Laura."

"Ich freu mich auch, Tina."

*****

Inzwischen habe ich mich für die hübsche Brünette entschieden. Nicht, daß mir die kleine Lebhafte nicht gefallen würde. Im Gegenteil, es wäre eine Herausforderung, diese kleine quirlige Person zu bezwingen, sie zum Stillhalten und ihren hübschen Mund zum Schweigen zu bringen, doch ich fürchte, sie könnte mir größere Schwierigkeiten machen, als die sanftere dunkelhaarige Schönheit. Der Name der Brünetten ist Christina, und ja, sie hat etwas, was mich total fasziniert. Es ist schwer zu beschreiben. Sie ist von einer mädchenhaften Schönheit und Natürlichkeit, von einer Anmut, die mich erschauern läßt, wenn ich sie beobachte. Sie gleicht einer Prinzessin, und es wird etwas ganz Besonders sein, sie eines Tages zu berühren...

Doch ich darf nichts übereilen, - je länger ich warten kann, desto größer wird sie eines Tages sein, die Glückseligkeit...

*****

Das zweite Wochenende im Waldhof war also bereits gesichert, doch jetzt stand zunächst einmal das erste vor der Tür. Der Sonnabend drohte ein langweiliger Tag zu werden. Vormittags waren ein Massage- und ein Bädertermin so gelegt, daß es sich nicht lohnte, dazwischen etwas zu unternehmen. Die freie Zeit füllte Tina mit Lesen aus, sie hatte sich in der Klinik-Bücherei einen Krimi besorgt:

Die Tote von Westwood Castle

. Für den Nachmittag hatte Röslein eigentlich einem Spaziergang zugesagt, doch schon beim Mittagessen mußte sie absagen, weil sie sich nicht gut fühlte. Ihr Blutdruck war leicht angestiegen, ihr war schwindelig, und außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Einerseits fand Tina das sehr schade, denn sie mochte Röslein und hätte gern mit ihr etwas unternommen, es war aber auch kein Beinbruch für sie, allein zu gehen. Ihr gefielen lange einsame Spaziergänge. Es gab wohl kaum eine bessere Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen und sich über dieses oder jenes Klarheit zu verschaffen, als irgendwo mutterseelenallein in der freien Natur. Sie hatte Bad Seeburg vorher nicht gekannt, und die Umgebung der Klinik war zauberhaft, selbst zu dieser Jahreszeit, da alles tief verschneit war. Sie war neugierig, wohin die schmalen gewundenen Bergsträßchen führten, denen sie vom Waldhof aus bereits so weit wie möglich mit den Augen gefolgt war.

Sie zog sich warm an und machte sich auf den Weg, und trotz der kalten Witterung fand sie es herrlich. Sie lief ganz langsam und sog die frische kalte Luft tief in sich hinein. Beim Ausatmen schaute sie der kleinen weißen Wolke nach, die aus ihren Lungen strömte. Sie fühlte sich so fit und gesund, wie schon lange nicht mehr. Der Gedanke daran, daß es Volker lieber wäre, sie würde ihren Job nach der Reha aufgeben, bedrückte sie manchmal ein wenig, denn sie hielt sich für zu jung, um fortan die Hände in den Schoß zu legen. Außerdem liebte sie ihren Beruf und war überzeugt davon, daß sie ihn bald wieder ohne Probleme meistern konnte. Natürlich verstand sie, daß er sich Sorgen um sie machte, sie hielt sie aber für völlig unbegründet. Bisher waren die Ärzte mit ihrem Gesundheitszustand sehr zufrieden gewesen, und auch alle Nachuntersuchungen waren positiv verlaufen. Sie mußte unbedingt noch einmal mit Volker darüber reden, wenn sie erst wieder zu Hause war.

Sie blieb stehen und schaute sich um. Hier im Gebirge war der Frühling noch längst nicht so weit, wie zu Hause in Koblenz. Die Bäume und Sträucher waren unter Eis und Schnee noch so kahl wie im tiefsten Winter, und die kleinen Pfützen aus tagsüber angetautem Schnee waren über Nacht wieder zugefroren und glitzerten in der Sonne, - sofern sie ausnahmsweise einmal schien. Sie mochte die Gegend um Bad Seeburg, die so ganz anders war, als daheim. Auf der einen Seite ging der Blick bis tief hinunter ins Tal, auf der anderen hinauf zu schneebedeckten Hängen, verschneiten Wäldern, und hier und da schroffen Felswänden, die den Himmel zu berühren schienen. Man fühlte sich wie in einem fremden Land, in einer fremden Welt, - ja, manchmal sogar, wie auf einem fremden Stern. Aber es war wunderschön. Aus einem Seitenweg bog plötzlich ein Mann in die Straße ein. Vermummt, wie sie selbst, eine weiße Atemwolke vor dem Gesicht. Als er näher kam, erkannte sie den Beobachter.

“Verdammt kalt heute, was?”, bemerkte er.

“Ja, verdammt kalt.”

Unschlüssig blieben sie voreinander stehen und wußten nicht, was sie sagen sollten.

“Was machst du hier so alleine?”, fragte er überflüssigerweise.

“Wahrscheinlich dasselbe wie du.”

Er nickte. “Ja, ich liebe die Einsamkeit auch. Es ist herrlich, mit sich und der Welt alleine zu sein und nachzudenken. Sich über verschiedenes klarzuwerden und Entschlüsse zu fassen... Wo könnte man das besser, als allein inmitten der Natur, unter freiem Himmel.”

Sie schaute ihn zweifelnd an. Vor einigen Minuten hatte sie dasselbe gedacht, aber... Meinte er das wirklich ernst? Oder spielte er ihr nur Theater vor, weil er darauf hoffte, daß ihr das gefiel? Bisher hatte sie einen ganz anderen Eindruck von ihm gehabt. Tat sie ihm vielleicht unrecht?

“Na gut”, ging sie darauf ein, “dann will ich dich nicht länger stören...”

Sie machte Anstalten, weiterzulaufen, aber er bekam sie am Arm zu fassen und hielt sie zurück.

“Warte doch.”

Sie mochte es nicht, wenn man sie berührte oder gar anfasste, deshalb schaute sie leicht verstimmt auf seine Hand hinunter. Er schien zu verstehen. “Entschuldige”, murmelte er und ließ sie los. Doch anstatt gekränkt zu sein, lächelte er. Diesmal grinste er nicht, er lächelte.

“Mißverstehst du immer alles?”

Sie hob die Schultern. Er hatte ja recht, sie benahm sich ihm gegenüber wirklich unmöglich. Warum nur? - Sie wußte es selbst nicht. Bisher hatte er doch nichts Unrechtes getan.

“Ich habe da vorhin ein kleines Plateau entdeckt, von dort aus hat man einen wunderschönen Blick über das Tal. Noch viel schöner, als von der Klinik aus”, sagte er und wies den Weg zurück, den er gekommen war. “Wenn Du Lust hast, dann komm mit. Ich zeig's dir.”

Sie hatte das Gefühl, einiges wieder gutmachen zu müssen, deshalb nickte sie und rang sich gleichfalls zu einem Lächeln durch.

Es war nicht weit zum Plateau, und sie überlegte, wie sie eine Unterhaltung beginnen sollte. Ihr fiel jedoch nichts ein, worüber sie mit ihm hätte reden können. Außerdem fand sie, daß es seine Aufgabe sei, ein Thema anzuschneiden, da er es gewesen war, der sie zu diesem Spaziergang eingeladen hatte. Doch auch er schwieg.

Auf dem Plateau stand eine Bank, deren Sitzfläche sie grob vom Schnee befreiten. Sie setzten sich vorn auf die Kante, weil sie eiskalt war. Frierend und mit in den Taschen vergrabenen Händen saßen sie da und schauten ins Tal hinunter. Immer noch schweigend.

Er hatte recht gehabt, es war ein traumhaftes Plätzchen. Wie schön mochte es hier im Sommer sein, dachte sie, wenn die Bäume und Sträucher ringsum in grünem Laub standen und die Blumen auf der Wiese blühten?

“Vielleicht sollte man im Sommer mal hierher kommen”, sagte sie schließlich.

“Seltsam”, antwortete er, “ich habe gerade dasselbe gedacht.”

Sie lächelten einander an. “Aus welchem Grund bist du eigentlich hier? Ich meine, in der Klinik?", fragte er. “Myocarditis, Herzmuskelentzündung. Es war eine Virusinfektion.”

“Mein Gott, wie kriegt man sowas?”

Sie hob die Schultern. “Keine Ahnung.”

“Es scheint, Gott sei Dank, rechtzeitig bemerkt worden zu sein.”

“Ja, das hab ich meiner Kollegin und meinem Hausarzt zu verdanken. Eigentlich hatte ich geglaubt, ich brüte mal wieder eine Grippe aus. Wenn ich mich nicht so elend gefühlt hätte, hätte ich ihn vielleicht gar nicht aufgesucht, aber ich dachte, wenn er mir ein bißchen was verschreibt, dann geht es schnell wieder vorbei.”

“Und?”

“Glücklicherweise hat er ein EKG geschrieben. Obwohl Mattigkeit und allgemeines Unwohlsein normalerweise nicht gleich ein Grund für ein EKG sind.”

“Du mußt einen Schutzengel gehabt haben.”

Sie nickte. “Ja, wahrscheinlich.”

Wieder lächelten sie. “Und du?” fragte sie. Dieses Einander-freundlich-zulächeln war ihr fast peinlich. “Was ist mit deinem Herzen passiert?”

Wieder flog ein Lächeln über sein Gesicht, doch nur ganz kurz, dann wurde er wieder ernst. “Herzinfarkt.”

“Liegt das an deinem Beruf? Ist der so stressig?”

“Mitunter schon. Ich arbeite in einer Werbe-Agentur.”

“Ah! Dann bist du einer, der sich solche Sprüche ausdenkt, wie:

Haribo macht Kinder froh

oder

Dr.Best, die Zahnbürste, die nachgibt

?”

Er mußte lachen. “So ungefähr, ja. Allerdings bin ich für die Graphiken zuständig.”

“Du kannst also gut malen.”

“Zeichnen.”

“Ist das ein Unterschied?”

“Schon.”

“Was ist am Zeichnen so aufregend, daß man dabei einen Herzinfarkt kriegt?”

“Hektik, Zeitdruck, Konkurrenzdenken. Am besten sollte immer alles schon gestern fertig gewesen sein, damit einem die Konkurrenz nicht den Auftrag vor der Nase wegschnappt. Oder auch einer der Kollegen.”

“Scheußlich.”

“Du sagst es.”

"Was wirst du tun, wenn du zurück bist? Geht dann alles wieder von vorne los?"

Er hob die Schultern. "Ich weiß es noch nicht. Vielleicht sollte ich die Firma wechseln."

Am Sonntagmorgen schien die Sonne. Die Frühstückstische waren hübsch gedeckt, mit je einem Sträußchen aus Schneeglöckchen und Winterlingen in der Mitte. Es gab Hefezopf mit Butter, dazu Marmelade und Honig und für jeden ein weichgekochtes Ei. Tina warf einen flüchtigen Blick zum Beobachter hinüber, er war gerade damit beschäftigt, seinen Tischgenossen Kaffee einzuschenken. Röslein saß ihr blaß und elend gegenüber, sie hatte die Nacht über schlecht geschlafen.

Unsensibel wie immer machte Reineke Fuchs seine albernen Späßchen. “Wem hast du denn letzte Nacht dein Türchen offen gelassen, weil du so fertig bist?”, fragte er sie mit zweideutigem Zwinkern.

Selbst Wendelin hielt das für unpassend und warf ihm einen tadelnden Blick zu.

Reineke aber lachte nur. “Was ist denn los mit euch, könnt ihr keinen Spaß vertragen?”

“Auf deine Späße können wir verzichten”, wies ihn Tina zurecht. Und zu Röslein sagte sie: “Du solltest versuchen, Dr. Wintrup oder seine Vertretung zu erreichen."

Als sich der Beobachter mit einem lächelnden “Guten Morgen” nach ihnen umschaute und Tinas Erwiderung diesmal etwas freundlicher ausfiel, als an den Tagen zuvor, ließ sich Reineke prompt wieder zu einer geschmacklosen Bemerkung hinreißen. “Nimm dir ein Beispiel an Christina”, sagte er zu Röslein und wies mit dem Kopf in Richtung Nebentisch. “Sie ist schon dabei, ihren Widerstand aufzugeben. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er sie rumkriegt.”

“Du solltest jetzt lieber den Mund halten”, unterbrach ihn Tina ärgerlich, und mit einer aufgesetzten Unschuldsmiene hob er die Schultern und meinte: “Seid doch nicht so prüde!”

Beim Mittagessen fehlte Röslein, und gleich nach dem Nachtisch machte sich Tina auf den Weg, sie in ihrem Zimmer zu besuchen.

"Mein Blutdruck war ein bißchen zu hoch", erzählte Röslein. Sie war beim Stationsarzt gewesen, und er hatte ihr Medikamente und vor allem Bettruhe verordnet. Und alle zwei Stunden kam eine Schwester, um nach ihr zu sehen und den Blutdruck zu kontrollieren.

“Das tut mir so leid, Röslein", sagte Tina und streichelte ihren Arm. "Eigentlich wollten wir zwei doch heute nachmittag Bad Seeburg unsicher machen.”

Röslein lächelte schwach. “Daraus wird nichts, Christina. Mir tut es auch leid."

"Ich hatte mich so darauf gefreut. Aber...", sie zwinkerte der Patientin zu, "...aufgeschoben ist nicht aufgehoben, wir holen das ein anderes Mal nach, in Ordnung?"

"Ja, das machen wir. Irgendwann, wenn es mir wieder besser geht. Vielleicht findest du ja heute eine andere, die mit dir geht. Frag doch mal die nette Dame vom Nebentisch, die im dunkelroten Jogginganzug.”

“Du meinst Rotkäppchen?”

Nun mußte Röslein lachen. “Wie es scheint gibst du allen Leuten hier einen neuen Namen. Warum nennst du sie Rotkäppchen?”

“Bist du ihr schon mal draußen begegnet? Sie trägt immer eine rote Mütze, so eine Strickmütze mit Schirm. Deshalb ist sie für mich nun das Rotkäppchen. Aber nein, Röslein, ich glaube, ihre Gesellschaft würde mir nicht so besonders gefallen. Da gehe ich doch lieber alleine.”

Zuerst nahm sie sich tatsächlich vor, ohne Röslein in die Stadt zu fahren, dafür wäre Rotkäppchen wirklich nicht die richtige Begleitung gewesen. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit ihr einen interessanten und unterhaltsamen Nachmittag zu verbringen. Doch vielleicht würde sie im Bus die eine oder andere Mitpatientin treffen, mit der sie ein bißchen reden oder irgendwo eine Tasse Kaffee trinken konnte?

Letztendlich war es der Wettergott, der ihr die Entscheidung abnahm, denn es fing wieder an zu schneien. Ganz sacht zuerst, dann immer stärker, und auf einmal brach ein heftiger Schneesturm über sie herein, der schlimmer war, als alles, was sie bisher erlebt hatten.

Eine Weile schaute Tina zum Fenster hinaus und sah den tanzenden Schneeflocken zu, schaltete dann den Fernseher ein, fand aber nichts, was ihr gefallen hätte und griff schließlich nach ihrem Kriminal-Roman. Doch selbst die Geschichte der

Toten von Westwood Castle

konnte sie an diesem Nachmittag nicht wirklich begeistern. So beschloß sie, ein wenig auf Entdeckungsreise zu gehen. Die Klinikanlage war riesig, und sie hatte längst noch nicht alles gesehen. Sie stieg Treppen hinauf und hinunter, streifte durch Gänge und Hallen, steckte neugierig den Kopf in Therapie- und Anwendungszimmer, sofern sie nicht verschlossen waren, doch letztendlich landete sie immer wieder in der Eingangshalle. Dort las sie die Nachrichten am Schwarzen Brett, schaute im Briefkasten nach, ob irgendwelche Anordnungen für sie hinterlegt worden waren, und weil sie von den Leuten, die diskutierend auf der blauen Ledergarnitur beisammensaßen, niemanden kannte, ließ sie sich auf der Stuhlreihe vor dem Aquarium nieder und schaute den Fischen zu.

Das Aquarium war sehr gepflegt. Die Scheiben waren sauber, und der Kies am Boden blütenweiß. Steffi träumte schon seit langem von einem Aquarium, und ehrlich gesagt, ihr selbst hätte es auch gefallen. Natürlich nur ein kleines. Doch so klein es auch sein mochte, wahrscheinlich gäbe es nicht sehr lange saubere Scheiben oder blütenweißen Sand, sofern nicht sie es wäre, die sich erbarmen und das Wohlergehen der Fische in die Hand nehmen würde. Für Steffi wäre die Arbeit nur am Anfang interessant.

“Darf ich dich zu einem Kaffee oder zu einer Limonade einladen?” fragte plötzlich jemand hinter ihr. “Wer so intensiv ins Wasser starrt, der muß doch irgendwann Durst kriegen.”

Der Beobachter kam um die Stuhlreihe herum und setzte sich neben sie.

Sie ging nicht auf sein Angebot ein, sondern verfolgte den Schwarm bunter Neons, der das Becken durchzog und hinter einem großen Felsbrocken verschwand. Vor dem Stein hielt sich eine Gruppe Skalare auf. Ihre zierlichen Mäuler öffneten und schlossen sich, als hätten sie sich zu einem Schwätzchen zusammengefunden. Weiter hinten tummelten sich Schmerlen und Barben, und ganz vorn zog ein Feuerschwanz-Pärchen seine Runden.

“Sieh mal, die Skalare, sind sie nicht hübsch?” fragte sie, ohne ihn anzusehen. “Ich hab eigentlich auch immer ein Aquarium haben wollen.”

“Und warum hast du keines?”

"Als Kind konnte ich meine Eltern nicht davon überzeugen, aber heute verstehe ich sie. Einem Kind ist nicht klar, wieviel Arbeit ein Aquarium macht, wenn es immer hübsch und sauber aussehen soll. Letzten Endes würde alle Arbeit nur an mir hängenbleiben. Ich kenne doch meine Pappenheimer.”

Er beobachtete sie von der Seite. Sie tat, als bemerke sie es nicht, schaute weiterhin interessiert den Fischen zu. "Aber wenn es dir selbst doch auch Spaß machen würde?", fragte er.

"Mit Spaß alleine ist es nicht getan. - Hast du Haustiere?"

Er lachte. "Sind Fische auch Haustiere?" Dann wurde er wieder ernst. "Nein, dafür hat bei uns niemand Zeit. Schade eigentlich, aber..."

Bevor sie dieses Thema weiter ausspinnen konnten, wiederholte er seine Frage. “Was ist nun, kommst du mit ins Kasino? Oder willst du ewig hier sitzenbleiben?”

Im ersten Augenblick wußte sie nicht, ob sie mitgehen sollte oder nicht. Hätte Röslein sie gefragt, oder Uschi, dann hätte sie nicht darüber nachdenken müssen. Im Gegenteil, das hätte ihr gefallen. - Aber warum sollte sie es ihm dann abschlagen? überlegte sie. Nur, weil er ein Mann war? Blödsinn! Er war doch eigentlich recht nett. Und worin lag der Unterschied, ob sie hier in der Halle mit ihm zusammensaß oder im Kasino? Bezahlen würde sie ihren Kaffee eh’ selbst, sie hatte immer etwas Kleingeld in der Hosentasche.

"Also gut", entschied sie, "ich bin dabei. Ich hätte nie gedacht, daß ein anwendungsfreier Tag so schrecklich langweilig sein kann.”

“Das liegt am Wetter”, meinte er. “Wenn man raus könnte, wäre es nur halb so schlimm.”

Das Kasino glich einem modernen Café, Tina hatte zuvor schon ein paarmal einen Blick hineingeworfen. Die Tische mit den dezent gemusterten Decken waren gruppenweise zusammengestellt, getrennt durch hohe großblättrige Kübelpflanzen. Die großen Fenster schauten in den verschneiten Garten hinaus. Es war gut besucht, wegen des Schneesturmes hatten viele darauf verzichtet, in die Stadt hinunterzufahren oder spazierenzugehen.

Sie suchten sich einen freien Tisch, und er fragte: “Möchtest du Limonade oder ein Wasser? Oder soll ich dir einen Kaffee mitbringen?”

“Ja bitte, einen Kaffee.”

Der Beobachter hieß Ramon Brandner, sie hatte zu Mittag schnell einen Blick auf seine Serviettentasche geworfen, bevor er zum Essen erschienen war. Ramon war ein ziemlich außergewöhnlicher Name, und im ersten Augenblick hatte sie gedacht, er passe zu ihm, weil er ihr zu Anfang ziemlich anmaßend und selbstgefällig vorgekommen war. Inzwischen hatte sie jedoch ihre Meinung über ihn geändert. Für den Namen konnte er nichts, und sie glaubte auch nicht mehr, daß er wirklich ein Angeber war, der nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Möglicherweise waren es ungeschickte Versuche gewesen, nett zu sein und eine leichte Befangenheit zu überspielen.

Sie beobachtete ihn, während er den Kaffee holte. An diesem Sonntag trug er keinen Jogginganzug, sondern Jeans und einen dunkelblauen Pullover, bei dem er die Ärmel leicht hochgeschoben hatte. Er sah wirklich gut aus. Er kam mit einem Tablett zurück, stellte es auf dem Tisch ab und schob ihr, zusammen mit dem Kaffee, einen Teller mit einem Stück Käsekuchen herüber.

“Ich glaube, den magst du besonders gern, stimmt’s?”

Sie war erstaunt. “Woher weißt du denn das?”

Er lächelte und machte ein geheimnisvolles Gesicht. "Das haben mir meine Spione verraten.”

“Danke, aber...”

“Was aber?”

“Ich wollte eigentlich ein paar Kilo abnehmen solange ich hier bin.”

Er schaute an ihr hinunter. “Wo denn, bitte schön?”

“An den Hüften zum Beispiel.”

“Du lieber Himmel. Bleib bloß, wie du bist.”

Sie beobachtete ihn, wie er versuchte, das Milchbecherchen zu öffnen, der Deckel klemmte ein wenig. Sie fand es lustig, wie er sich dabei ungeduldig auf die Unterlippe biß. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte vierzig. Seine Haare waren so kurzgeschnitten, daß es kaum auffiel, daß schon vereinzelt ein paar graue dazwischen waren. Seine Augen waren klar und hell, sie schienen alles zu taxieren und zu analysierten, was ihm ins Blickfeld kam. Betrachtete man sein Gesicht von der Stirn bis zur Nase, hätte man ihn für einen Intellektuellen halten können, sein Mund jedoch war der eines großen Jungen, der gern lachte.

Er nahm Zucker und Milch in den Kaffee und schob beides zu Tina hinüber.

Sie schüttelte den Kopf. “Entweder Milch oder Kaffe”, sagte sie, “nicht beides zusammen.”

“Ich vertrage ihn besser mit Milch.”

“Machst du dir da nicht etwas vor? Es ist dieselbe Menge Koffein drin.”

“Schon, aber wegen der Säure.”

“Ach so.”

Sie freute sich nun doch über den Käsekuchen und machte sich genüßlich darüber her. Lächelnd sah er ihr dabei zu. “Erzähl mir von dir”, bat er, während er in seiner Kaffeetasse rührte. Er hatte schöne Hände. Keine besonders gepflegten, sondern Jungenhände. Sie stellte sich vor, wie sie schüchtern und noch ein wenig unbeholfen den Körper einer Frau erforschten. - Herrgott, warum mußte sie ausgerechnet jetzt an so etwas denken? Was, um alles auf der Welt, gingen sie seine Hände an?

“Da gibt es nicht viel zu erzählen”, antwortete sie und hob die Schultern.

Er schaute ihr ins Gesicht. “Laß mich raten. Verheiratet, zwei Kinder, Häuschen im Grünen. Berufstätig als..., vielleicht als Sekretärin?”

“Fast alles richtig, bis auf die Sekretärin. Ich bin Krankenschwester. Aber nach der Reha werde ich meine Arbeit wahrscheinlich aufgeben.”

“Krankenschwester”, wiederholte er nickend. Er schaute sie noch immer an. “Da wundert es mich nicht, daß du so selbstbewußt und resolut bist.”

Sie fuhr auf. “Resolut? Wie kommst du denn darauf? Ich bin doch nicht resolut. Du kannst nicht alle Krankenschwestern über einen Kamm scheren.”

Er hob abbittend die Hände. “Natürlich nicht, es war ja auch gar nicht negativ gemeint. Aber ich glaube, du weißt sehr gut, was du willst. Krankenschwestern müssen so sein, wenn sie sich bei ihren Patienten durchsetzen wollen, das ist schließlich kein Makel.”

“Hab ich mich jemals resolut aufgeführt, seit du mich kennst?”, fragte sie leicht pikiert.

“Mmh! Du hast manchmal so einen Unterton, der keinen Widerspruch duldet.”

Sie war empört, merkte fast zu spät, daß er sie nur aufzog.

“Erinnerst du dich beispielsweise an die Aufnahmeuntersuchung?”, fragte er lachend. “Wie war das doch damals vor der Tür von Dr. Wintrup?”

“Ich wüßte nicht, wo ich da resolut gewesen sein sollte.”

Er lachte und hob wieder die Hände. “Nein, nein, reg dich nicht auf. Ich mag das. Mir gefällt es, wenn Frauen wissen, was sie wollen. Nicht diese kleinen schüchternen Schäfchen, die ohne ihren Mann hilflos und verloren sind.”

Der Käsekuchen schmeckte wunderbar. 'Was streite ich mich da mit diesem Typen über Frauen', dachte sie. Sie senkte den Blick und ließ den nächsten Bissen auf der Zunge zergehen. “Es ist mir gleichgültig, welche Art von Frauen du magst. Der Kuchen ist jedenfalls Klasse.”

“Willst du noch ein Stück?” Er machte Anstalten, aufzustehen.

“Um Gottes Willen, bist du verrückt?”

Er lachte. Sie mochte es, wenn er lachte.

*****

Oh mein Gott, ich glaube, ich habe mich verliebt. Das ist nicht gut, ich könnte dadurch mein Ziel aus den Augen verlieren. Doch inzwischen bedeutet mir Christina mehr, als sie eigentlich sollte. Zwar habe ich viel zu wenig Gelegenheiten, ihr zu begegnen und sie zu beobachten, doch wenn ich sie sehe, schlägt mir mein Herz bis zum Halse. Das ist mir nie zuvor passiert. Zugegeben, auch andere vor ihr haben mich gereizt, mich erregt, doch bei ihr ist es anders. Ich liebe ihr Haar, möchte mich darin verlieren. Ich liebe ihre Augen und ihr Lachen. Ich liebe es, wie sie sich bewegt, wie sie anmutig den Gang entlang schreitet. Ich möchte sie berühren, nur ein einziges Mal.

Doch dafür ist es noch zu früh, ich würde alles zunichte machen.

Ich muß noch warten...!

*****

Ramy und Chris

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