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2. ER

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Ich ertappte mich dabei, daß ich langsamer fuhr, je näher ich dem Haus kam. Das war nicht das erste Mal, und nicht das erste Mal überfiel mich dieser grenzenlose Stolz, als ich es sah, - eingebettet in Buschwerk und blühende Sträucher. Kurz vor Weihnachten, nachdem alle Renovierungsarbeiten abgeschlossen waren, waren wir eingezogen. Was war das für ein Gefühl gewesen, endlich etwas Eigenes zu haben und herauszukommen aus dem altmodischen möblierten Zimmer bei Frau Fischer, in dem ich seit meiner Einstellung im Konrad-Hupbauer-Krankenhaus gewohnt hatte. Und wie war vor allem Gaby froh, daß nun das heimliche Treppen-hinauf-und-hinunterschleichen ein Ende hatte. Nicht, daß die alte Dame etwas gegen Damenbesuche gehabt hätte, - im Gegenteil: Sie war geradezu versessen darauf. Das war ja das Übel.

Meine Mutter war nicht glücklich darüber, daß Gaby und ich noch nicht heiraten wollten. Es sollte alles 'seine Richtigkeit' haben, wenn wir in das neue Haus einzogen, und 'richtig' war es eben erst mit dem Trauschein. Zuerst machte sie mir Vorwürfe, weil sie mich für den Alleinschuldigen hielt. Mit einigem Befremden stellte sie dann aber fest, daß auch Gaby vorerst noch nicht daran interessiert war, und daß sie das auch noch lachend zugab.

"Bist du's, Bernie?", rief Gaby, als ich die Haustüre aufschloß.

Sie saß in ihrem Arbeitszimmer und korrigierte Diktathefte. Sie war Lehrerin an der hiesigen Grundschule, und, soweit ich das beurteilen konnte, sogar eine sehr gute.

"Jawohl, ich bin's. Oder wen hast du denn sonst erwartet?" Ich ging zu ihr hinüber und gab ihr zur Begrüßung einen Kuß. "Vielleicht den hübschen schwarzhaarigen Mathelehrer, der vor vierzehn Tagen bei euch angefangen hat? Den Auerhahn oder Aughahn, - oder wie heißt er doch gleich?"

Sie lachte. "Auermann", sagte sie. "Ja, wahrhaftig, ein toller Typ. Wenn ich's darauf anlegen würde..."

Sie legte den Stift aus der Hand, schob die Hefte zu zwei Stapeln zusammen und stand auf.

"Du bist spät dran", stellte sie fest, "hast du wenigstens etwas gegessen in der Klinik?"

Im Vorübergehen gab sie mir einen Klaps auf den Bauch. "Wenn du so weitermachst, fällst du mir noch vom Fleisch." "Hab gegessen", log ich, weil ich keinen Appetit hatte und vermeiden wollte, daß sie mir etwas aufzwang.

"Dann komm", meinte sie und zog mich ins Wohnzimmer auf die Couch. "Jetzt erzähl mir erst mal, was heute so los war bei euch."

Ich seufzte. "Das Übliche. Vier Neueinlieferungen, davon zwei Ski- und zwei Verkehrsunfälle."

Erst jetzt wurde mir bewußt, wieviel Streß der Tag gebracht hatte, und wie müde ich war.

"Schlimm?", fragte Gaby.

Ich zuckte die Schultern. Es war immer schlimm, fand ich. Dann fiel mir Marion Nowak wieder ein, der Splitterbruch. "Vor allem macht mir die junge Frau, von der ich dir neulich erzählt habe, große Sorgen. Du weißt schon, die von einem Auto angefahren wurde und sich dabei einen komplizierten Bruch des Schienbeines zugezogen hat. Es hat Schwierigkeiten gegeben, und der Jonas wird nun eine Korrektur-OP vornehmen müssen."

"Die Ärmste. Hoffentlich kriegt er's wieder hin. - Und was glaubst du, was mir heute passiert ist?"

Sie lachte, und dann erzählte sie mir verschiedene Episoden von ihren Erst- und Zweitklässlern, die sie, wie man heraushören konnte, über alles liebte.

Wir hatten Marion Novak auf 224 gelegt. Von Anfang an schien sie keine Ahnung zu haben, wie schlimm es wirklich um ihr Bein bestellt war, und das war auch gut so. Der Prof hatte selbst operiert, hatte Knochenteile ersetzt und genagelt, trotzdem war es schon damals fraglich gewesen, ob alles gut zusammenheilen würde. Marion war eine geduldige Patientin. Wir hofften, daß die kleine lebhafte Petra sie ein bißchen von ihren Problemen ablenken würde, hatte doch ihr unermüdliches Geplapper auch schon der Frau Neubauer so manches Lachen abgerungen.

Wie ich vermutet hatte, zeigte uns eine neue Röntgenaufnahme, daß tatsächlich nicht alles so gelaufen war, wie wir uns das vorgestellt und gewünscht hatten. Die Fraktur hatte sich verschoben, und das bedeutete, daß ein Korrektur-Eingriff vorgenommen werden mußte. Dem Prof schien nicht wohl dabei zu sein, ihr gegenüber zugeben zu müssen, daß die OP nicht den erhofften Erfolg gebracht hatte. Er gab sich zwar Mühe, ihr die Sachlage genau zu erklären, doch bei ihm klang immer alles so technisch und trocken, und oft verstanden die Patienten gar nicht, was genau er ihnen sagen wollte. Kein Wunder, daß Marion hilflos von einem zum anderen schaute, als mache sie jeden einzelnen von uns für dieses Mißgeschick verantwortlich. Sie hatte uns vertraut und nicht mit Komplikationen gerechnet.

Der Prof tätschelte ihre Hand, Winter malte mit der Schuhspitze imaginäre Kreise auf den Fußboden, und die Bergeiner drückte ihr gleich das Flipboard mit der Einverständniserklärung in die Hand und wartete auf ihre Unterschrift. Im Gegensatz zu der OP bei ihrer Einlieferung, als es sich um einen Notfall gehandelt hatte, brauchten wir diesmal ihre Zustimmung.

Marions Blick blieb an mir hängen. Es war wie ein Hilferuf, - fast glaubte ich, ihn akustisch zu hören.

'Keine Angst', versuchte ich ihr zu übermitteln und nickte ihr zu. 'Du schaffst das schon. Sei ein mutiges Mädchen. Ich werde alles tun, um dir zu helfen.' Und als hätte ich diese Worte tatsächlich ausgesprochen, entspannte sie sich und ließ den Kopf in die Kissen zurücksinken.

"Ja gut, in Ordnung", sagte sie und unterschrieb ohne weitere Fragen. Und der Professor sah sich erleichtert nach uns um und verbuchte den Erfolg für sich.

Es war nicht das erste Mal, daß ich glaubte, die Gedanken und Gefühle eines Patienten zu spüren. Im letzten Jahr hatte es einen dreizehnjährigen Jungen unter meinen Patienten gegeben, mit dem es mir ähnlich gegangen war. Timo war ein sehr empfindsames und sensibles Kind gewesen, und all seine ängstlichen Gedanken schien ich aufzufangen und zu hören, als hätte er sie mir ins Ohr geflüstert. Und allein durch meine gedachten Ermunterungen schien ich ihn beruhigen zu können. Die Geschichte damals war der Anlaß dafür gewesen, daß ich angefangen hatte, mich mit dem Thema 'Gedankenübertragung' zu befassen. Ich hatte mir einige Bücher darüber gekauft und die Experimente studiert. Doch letztendlich kam ich nicht wirklich dahinter, was es damit auf sich hatte. Tatsächlich mochte es aber unter den Menschen 'Sender' und 'Empfänger' geben, Menschen, die fähig waren, ihren Mitmenschen ihre Gedanken zu übermitteln und andere, die sie auffangen konnten. Im Kollegenkreis war man darüber unterschiedlicher Meinung, doch die meisten hielten das Thema generell für Unsinn. Wobei das wahrscheinlich auch daran lag, daß Orthopäden im allgemeinen nicht unbedingt den besten Zugang zu Geist und Seele eines Patienten haben. Ich persönlich hielt es aufgrund meiner Erfahrungen mit Timo durchaus für möglich, - zumindest bis zu einem gewissen Grad. Außer bei ihm hatte ich Ähnliches nämlich auch schon bei anderen Patienten erlebt, wenn auch viel weniger stark. Nur angedeutet manchmal.

Bei Marion Nowak schien es wieder genauso intensiv zu sein, wie damals bei Timo, und ein zweiter Vorfall bestätigte mich in dieser Vermutung. Wir waren noch nicht ganz durch mit der Visite, als ich Marion wieder 'hörte'. Sie weinte, und sie schien von der Angst besessen zu sein, nie mehr laufen zu können. Ihr Ruf galt nicht eigentlich mir, nur hörte ihn sonst niemand. Ich war der einzige, der ihre Angst spürte. Ich versuchte, mich auf den Patienten zu konzentrieren, an dessen Bett wir gerade standen, schließlich hatte er ein Recht darauf, daß wir uns zu hundert Prozent mit ihm und seinen Beschwerden beschäftigten. Doch es gelang mir einfach nicht, - immer hatte ich dieses Weinen im Ohr.

"Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick", sagte ich zu Prof. Jonas, "ich bin sofort wieder da."

Er sah mich ein wenig erstaunt an. Ich wußte, daß er es nicht mochte, wenn man während der Visite nicht bei der Sache war, doch er sagte nichts und nickte nur.

Marion hatte tatsächlich Tränen in den Augen, als ich zu ihr ans Bett trat. "Sie sind sehr tapfer, Marion", sagte ich. Es war eigentlich nicht meine Art, Patienten mit dem Vornamen anzureden, es war mir einfach so herausgerutscht.

"Nein, ich bin überhaupt nicht tapfer", sagte sie leise, "ich habe ganz schreckliche Angst."

Ein paar Tränen rollten über ihre Wange und verloren sich in ihrem Haar.

"Das verstehe ich, aber das ist vollkommen unnötig", sagte ich. "Sie spüren doch gar nichts von der Operation. Sie müssen eben nur eine Weile länger bei uns bleiben, das ist alles."

"Und wenn ich vielleicht nie wieder richtig...?"

'Oh mein Gott, welche Gedanken macht sich dieses Mädchen', dachte ich. Laut aber sagte ich: "Sie werden ganz sicher wieder richtig laufen können, das verspreche ich Ihnen."

Sie sah mich an. - 'Du mußt nur ganz fest wollen', dachte ich, 'dann wird alles wieder gut.'

Sie rieb sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

"Ok?", fragte ich, und sie nickte und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

"Glaubst du an Telepathie?", fragte ich Gaby, als wir abends beim Fernsehen saßen. Sie lachte. "Wie kommst du denn jetzt darauf?"

"Ich hab da heute was gelesen", schwindelte ich. Es wäre zu umständlich gewesen, ihr das, was mich bewegte, zu erklären. Außerdem mochte ich nicht darüber reden.

"Sag, glaubst du daran?"

"Mm", meinte sie, "manchmal könnte man schon meinen, du könntest Gedanken lesen."

"Ich? - Wieso?"

"Weil du immer im richtigen Augenblick das Richtige tust", sagte sie, aber ich merkte trotzdem, daß sie dieses Thema nicht besonders ernst nahm.

"Erklär mir das genauer."

"Ganz einfach: Du kommst genau in dem Augenblick in die Küche, in dem das Schnitzel fertig ist", lachte sie, "und du küßt mich genau in dem Moment, in dem ich denke, jetzt sollte er mich eigentlich küssen. Und wenn ich mich gerade mit irgendetwas herumplage und denke, wo ist Bernie jetzt, - immer, wenn man ihn braucht, ist er nicht da, - dann kommst du und sagst: 'Schimpf nicht! Kann ich dir irgendwie helfen?'"

Ich dachte nach. "Ist das wirklich so?"

"Natürlich, deshalb bin ich doch auch mit dir zusammengezogen. Das ist so praktisch, verstehst du?"

Sie kicherte und kuschelte sich enger an mich. "Es funktioniert aber leider nicht immer. Heute zum Beispiel klappt es ganz und gar nicht. Ich wette, du hast überhaupt keine Ahnung, woran ich jetzt gerade denke."

Und der Schalk blitzte ihr aus den Augen.

Irrlichter

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